Der Fengshui-Detektiv und der Computertiger - Nury Vittachi - E-Book

Der Fengshui-Detektiv und der Computertiger E-Book

Nury Vittachi

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Was für ein Glückstag! Der schrullig merkantile Fengshui-Meister C. F. Wong könnte vor Freude tanzen, wenn er könnte: Für einen Handels-Multi soll er Fengshui-Analysen erstellen, alles im Voraus bezahlt, fette Spesen inklusive. Und das Beste: Die Aufträge sind so simpel, dass selbst seine quirlig-quasslige Assistentin Joyce McQuinnie sie erledigen könnte. Wong wittert leicht verdientes Geld. Doch weit gefehlt! Denn schnell wird die Routine zum Rätsel, und Wong und seine Assistentin müssen in einer turbulenten Tour de force um den halben Globus ihr ganzes Können einsetzen, um einer Reihe höchst obskurer Geschehnisse auf den Grund zu gehen. Zur Belohnung entdeckt das ungleiche Paar dafür den Ort mit dem definitiv besten Fengshui auf Erden.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 406

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Über dieses Buch

Was für ein Glückstag! Der Fengshui-Meister C. F. Wong wittert leicht verdientes Geld bei seinem neuen Auftrag. Doch schnell wird die Routine zum Rätsel, und Wong und seine Assistentin müssen in einer turbulenten Tour de force um den halben Globus ihr ganzes Können einsetzen, um einer Reihe höchst obskurer Geschehnisse auf den Grund zu gehen.

Zur Webseite mit allen Informationen zu diesem Buch.

Nury Vittachi (*1958) gilt - laut BBC – als »Hongkongs witzigster Kommentator«. Er lebt seit 1986 in Hongkong, wo er sich als Kolumnist, Buchautor und Herausgeber einer Literaturzeitschrift Kultstatus verschafft hat. Er arbeitet als Dozent an der Hong Kong Polytechnic University.

Zur Webseite von Nury Vittachi.

Ursula Ballin, geboren 1939 in Hamburg, wuchs in England und Finnland auf. Viele Jahre verbrachte sie in China und Taiwan, zuletzt als Professorin für Geschichte in Taipeh. Sie arbeitet als freie Übersetzerin.

Zur Webseite von Ursula Ballin.

Dieses Buch gibt es in folgenden Ausgaben: Taschenbuch, E-Book (EPUB) – Ihre Ausgabe, E-Book (Apple-Geräte), E-Book (Kindle)

Mehr Informationen, Pressestimmen und Dokumente finden Sie auch im Anhang.

Nury Vittachi

Der Fengshui-Detektiv und der Computertiger

Kriminalroman

Aus dem Englischen von Ursula Ballin

Der Fengshui-Detektiv (3)

E-Book-Ausgabe

Unionsverlag

HINWEIS: Ihr Lesegerät arbeitet einer veralteten Software (MOBI). Die Darstellung dieses E-Books ist vermutlich an gewissen Stellen unvollkommen. Der Text des Buches ist davon nicht betroffen.

Impressum

Dieses E-Book enthält als Bonusmaterial im Anhang 1 Dokument

Die Originalausgabe erschien 2003 unter dem Titel The Feng Shui Detective’s Casebook bei Chameleon Press, Hongkong.

Originaltitel: The Feng Shui Detective’s Casebook (2003)

© by Nury Vittachi 2003

© by Unionsverlag, Zürich 2022

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: Photodisc

Umschlaggestaltung: Martina Heuer

ISBN 978-3-293-30601-1

Diese E-Book-Ausgabe ist optimiert für EPUB-Lesegeräte

Produziert mit der Software transpect (le-tex, Leipzig)

Version vom 23.11.2022, 16:35h

Transpect-Version: ()

DRM Information: Der Unionsverlag liefert alle E-Books mit Wasserzeichen aus, also ohne harten Kopierschutz. Damit möchten wir Ihnen das Lesen erleichtern. Es kann sein, dass der Händler, von dem Sie dieses E-Book erworben haben, es nachträglich mit hartem Kopierschutz versehen hat.

Bitte beachten Sie die Urheberrechte. Dadurch ermöglichen Sie den Autoren, Bücher zu schreiben, und den Verlagen, Bücher zu verlegen.

http://www.unionsverlag.com

[email protected]

E-Book Service: [email protected]

Unsere Angebote für Sie

Allzeit-Lese-Garantie

Falls Sie ein E-Book aus dem Unionsverlag gekauft haben und nicht mehr in der Lage sind, es zu lesen, ersetzen wir es Ihnen. Dies kann zum Beispiel geschehen, wenn Ihr E-Book-Shop schließt, wenn Sie von einem Anbieter zu einem anderen wechseln oder wenn Sie Ihr Lesegerät wechseln.

Bonus-Dokumente

Viele unserer E-Books enthalten zusätzliche informative Dokumente: Interviews mit den Autorinnen und Autoren, Artikel und Materialien. Dieses Bonus-Material wird laufend ergänzt und erweitert.

Regelmässig erneuert, verbessert, aktualisiert

Durch die datenbankgestütze Produktionweise werden unsere E-Books regelmäßig aktualisiert. Satzfehler (kommen leider vor) werden behoben, die Information zu Autor und Werk wird nachgeführt, Bonus-Dokumente werden erweitert, neue Lesegeräte werden unterstützt. Falls Ihr E-Book-Shop keine Möglichkeit anbietet, Ihr gekauftes E-Book zu aktualisieren, liefern wir es Ihnen direkt.

Wir machen das Beste aus Ihrem Lesegerät

Wir versuchen, das Bestmögliche aus Ihrem Lesegerät oder Ihrer Lese-App herauszuholen. Darum stellen wir jedes E-Book in drei optimierten Ausgaben her:

Standard EPUB: Für Reader von Sony, Tolino, Kobo etc.Kindle: Für Reader von Amazon (E-Ink-Geräte und Tablets)Apple: Für iPad, iPhone und Mac

Modernste Produktionstechnik kombiniert mit klassischer Sorgfalt

E-Books aus dem Unionsverlag werden mit Sorgfalt gestaltet und lebenslang weiter gepflegt. Wir geben uns Mühe, klassisches herstellerisches Handwerk mit modernsten Mitteln der digitalen Produktion zu verbinden.

Wir bitten um Ihre Mithilfe

Machen Sie Vorschläge, was wir verbessern können. Bitte melden Sie uns Satzfehler, Unschönheiten, Ärgernisse. Gerne bedanken wir uns mit einer kostenlosen e-Story Ihrer Wahl.

Informationen dazu auf der E-Book-Startseite des Unionsverlags

Inhaltsverzeichnis

Cover

Über dieses Buch

Titelseite

Impressum

Unsere Angebote für Sie

Inhaltsverzeichnis

DER FENGSHUI-DETEKTIV UND DER COMPUTERTIGER

Hinweis des VerfassersProlog — Ein Häppchen auf die SchnelleDie anrüchige WohnungFit auf Gedeih und VerderbFliegende AutomobileEin paar ComputerproblemeSchulische Leistungen: ungenügendHinter den KulissenLetzte Meldungen vom TageEpilog — Briefe von Freunden

Anmerkungen

Mehr über dieses Buch

Über Nury Vittachi

Zhuang Lee: Ein asiatischer Autor tritt ins Rampenlicht

Über Ursula Ballin

Andere Bücher, die Sie interessieren könnten

Bücher von Nury Vittachi

Zum Thema Hongkong

Zum Thema Spannung

Zum Thema Kriminalroman

Zum Thema Großstadt

Hinweis des Verfassers

Die Fengshui-Anwendungen in diesem Buch wurden zumeist der Schule des Fliegenden Sterns und der Form School of East Asia entlehnt. Die Vaastu-Lehren gehören zur nordindischen Schule. Worte altchinesischer Philosophen, Anekdoten und sonstige Zitate sind größtenteils authentisch und stammen aus bis zu 2500 Jahre alten Texten. Die Gesammelten Sprüche östlicher Weisheit, von denen wir Auszüge wiedergeben, wurden von C.F. Wong verfasst und mit orthografischen und grammatikalischen Korrekturen von J. McQuinnie versehen.

Prolog

Ein Häppchen auf die Schnelle

Der Tiger, der durch den Supermarkt streifte, hatte blaue Augen, aus denen er träge blinzelte, um gemächlich die Auslagen in den Regalen zu prüfen. Es war ein zweihundertvierzig Kilo schwerer Panthera tigris tigris, ein Exemplar von enormer Größe, muskulös und fast doppelt so lang wie ein Mensch.

Er zögerte. Die Entscheidung zwischen Betty Crockers extra lockerem Zitronenkuchen-Mix und Pillsburys Edelschokocreme-Kuvertüre fiel ihm anscheinend schwer. Er schwenkte seinen wuchtigen Kopf zur andern Seite des Gangs, um dort Thai-Duftreis »Erste Wahl« und Mi-Goreng der Marke Golden Noodle zu begutachten, worauf er weitertappte, und zwar törichterweise zu Krafts Fertigmenü »Käsemakkaroni«.

Als sich zu seiner Linken eine Öffnung zeigte, schnellte der mächtige Leib in einem einzigen Satz durch den Spalt und trottete nun einen Gang entlang, in dem laut Hinweisschild Frühstücksflocken und Milchprodukte angeboten wurden.

Der Tiger, ein ausgewachsenes Männchen mit dem weißen Fell und den schwarzen Streifen eines Zebras, blieb stehen. Langsam sondierte er das Terrain. Seine hochmütig abwärts gebogenen Lippen erinnerten an einen übersättigten königlichen Weinverkoster. Offenbar langweilte er sich, denn er ließ den Kopf ein wenig hängen, sodass sich seine Schulterknochen unter dem glänzend weißen Fell abzeichneten.

Am Rand seines Gesichtsfeldes hatte sich etwas bewegt.

Zwanzig Meter von ihm entfernt am andern Ende des Gangs spiegelte sich ein Reflex in der Glasscheibe der Aufschnitttheke. Eine Mutter mit Kinderkarre ging auf das Kühlfach zu. Ihr Baby rührte sich im Schlaf.

Der Tiger witterte Frischfleisch und lauerte in einigem Abstand. Sein fast meterlanger Schwanz zuckte. Er duckte sich, spannte seine Bauchmuskeln und bog den Rücken durch. Dann schlich er sich heran. Unter seinem Fell spielten kräftige Muskeln wie der Sommerwind in einem Kornfeld, während er vorpreschte und zum Sprung ansetzte.

»Wong-sang! Wong-saang!«1

Madam Lins brüchige, schrille Stimme übertönte das Brummen der Lastwagen, die rückwärts in eine nahe gelegene Mülldeponie manövrierten.

»Wong-sang! Hier!«

Höchstwahrscheinlich befanden sich in Hörweite des gellenden Rufs etliche Personen namens Wong.2 Daher zog der hagere sechsundfünfzigjährige Mann den Kopf ein und trippelte eilig weiter, wobei er inständig hoffte, dass die Mitteilungen der Frau einem anderen galten. Er hatte die Stimme erkannt: Sie gehörte einer hiesigen Hauseigentümerin, der er einmal begegnet war, als er das Fengshui für einen Gemeindesaal eingerichtet hatte. Damals war er entsetzt gewesen, weil sie einen Plastik-Phönix an einer Stelle platzierte, wohin, wie jedes Neugeborene wissen musste, einzig und allein eine Schildkröte aus Rosenholz passte.

»Wong-sang! Fengshui-lo!«, schrie sie.

Aijaaa! Da half nun alles nichts. C.F. Wong drehte sich um und heuchelte Überraschung. Er deutete mit dem Zeigefinger fragend auf seine Nase: Meinen Sie mich?

»Kommen Sie, faidi-lah! Schnell!« Sie winkte ihn auf chinesische Art mit der Handfläche nach unten zu sich heran.

Der knochendürre Fengshui-Meister wartete, bis ein Taxi vorübergerumpelt war, trat auf den Fahrdamm und ging zögerlich auf den gegenüberliegenden Fußweg zu, wo Madam Lin Pui-yen aufgeregt herumhüpfte. Die fünfzigjährige Frau trug einen pyjamaartigen schwarzen Hosenanzug, dessen Beinlinge zwanzig Zentimeter über ihren Fußknöcheln endeten.

»Kommen Sie! Man braucht Sie!«

»Guten Tag, Lin-tai.3 Wie nett, dass wir uns treffen. Haben Sie schon Reis gegessen?«4

»Keine Zeit für Blabla. Kommen Sie! Bei Sing Woo haben sie einen weißen Tiger, können Sie sich so was vorstellen?«

»Weißen Tiger …«

»Ja. Im Sing-Woo-Supermarkt.«

Wong drehte die Augen gen Himmel. »Nie darf man weißen Tiger in ein Gebäude tun. Falsch, falsch, falsch! Nur außen, kleine Figur höchstens, nur im Westen.« Er schüttelte entgeistert den Kopf. Die Unwissenheit der Massen kannte wirklich keine Grenzen!

Die beiden gingen auf einen schäbigen Laden zu, über dem ein Schild verkündete: »Sing Woo Westlich-Asiatischer Supermarkt und Immobilienmakler«. Das Schaufenster war fast gänzlich zugeklebt mit abblätternden, handgeschriebenen Zetteln, die auf Englisch und Chinesisch Rabatte für Pak-Choi und andere Lebensmittel anpriesen.

»Tang müsste das eigentlich wissen«, fuhr Wong im Brustton schwerster Enttäuschung fort. »Niemals stellt man weißen Tiger im Innern auf! Bringt immer Unglück. Sagen Sie Tang: Ich kann das gegen Pferdefigur austauschen, ganz hübsch, ganz korrekt. Nur 98 Dollar für große Figur, zwei galoppierende Pferde in Rosenholz. Oder er nimmt stehendes Pferd, imitierte Jade, 25 Zentimeter, nur 65 Dollar, Aktionspreis.«

Sie erreichten die Vorderfront des Geschäfts, und Wong sah zu seiner Überraschung, dass es menschenleer wirkte. Der Inhaber, Wilfred Tang, der gewöhnlich von früh bis spät hinter der Kasse saß, war nirgends zu sehen. Der Geomant5 trat ein und spähte neugierig in die verlassenen Gänge.

»Wo ist Tang, Lin-tai?« Es wunderte ihn, dass Madam Lin ihm nicht in den Laden gefolgt war, sondern nervös vor der Tür stehen blieb. Daher wandte er sich zu ihr um und wiederholte: »Wo ist Tang? Und wo ist Fengshui-Tiger?«

Madam Lin schüttelte den Kopf. »Kein Fengshui-Tiger«, rief sie. »Weißer Tiger! Können Sie mir etwas Gai-lan besorgen? Ein Pfund.«

»Ach so.« Wong war fasziniert. Gute weiße Jade, falls sie echt war, kostete ein Vermögen! Hatte Tang tatsächlich für diesen heruntergekommenen Laden ein derart wertvolles Schmuckamulett gewählt? Konnte man ihn gar überreden, den Tiger aus weißer Jade für ein preiswertes Rosenholzpferd herzugeben? Wong witterte Profit.

Heiteren Gemüts schlenderte der Geomant auf der Suche nach dem Inhaber an Fleischkonserven vorbei, ging nach links, passierte Obst und Gemüse, Kaffee und Tee und kam dann in den Gang für Babypflege und Haushaltspapier. Verblüfft darüber, dass er nirgends einer lebenden Seele begegnete, beschleunigte er seinen Schritt.

Erst jetzt fiel ihm wieder Madam Lins Gesichtsausdruck ein, als sie ihm von außerhalb der Ladentür aus zugerufen hatte. Sie hatte sich auf die Lippe gebissen, und um ihre Augen lag ein angespannter Zug, fast als hätte sie Angst.

Aber was gab es hier zu fürchten?

C.F. Wong bog um die Ecke in den Gang mit Frühstücksflocken und Milchprodukten, blickte in die Abteilung für Fleisch und Aufschnitt und verstand.

Sechs Minuten verstrichen, in denen er sich kaum rührte. Er gab ebenso wenig Lebenszeichen von sich wie die zu seiner Rechten bis in Schulterhöhe aufgestapelten Gläser mit Buitonis Pastasoße.

Neben ihm stand eine Frau mit Brille, auch sie zur Statue erstarrt. Zu ihren Füßen lag in der Karre ihr schlafendes Kleinkind.

Vor ihnen, kaum drei Meter entfernt, hockte ein großer weißer Tiger. Es war ein männlicher Sumatratiger, der mindestens so viel wog wie die drei anwesenden Menschen zusammen. Eben mühte er sich, ein Päckchen Spinellis würzige Geflügelfleischwürstchen zu verspeisen, zerrte an der Verpackung und spie Plastikfetzen aus.

Der Tiger war erstaunlich schön. Der strahlende Glanz seines kurzen, cremeweißen Fells würde jeder Shampoowerbung Ehre machen. Die senkrecht über seinen ganzen Körper laufenden Streifen hatten das tiefe, ins Violette spielende Schwarz ostindischen Rosenholzes.

Doch was an dem Tier vor allem verblüffte, war weniger die Tatsache, dass sein Fell nicht gelb war, sondern dass seinen Augen das typische Orange fehlte. Vielmehr zeigte das innere Oval der Pupillen seiner erstaunlich großen Augäpfel das tiefe Blau eines Sommerhimmels.

Der Tiger schaute hoch, und sein Publikum zuckte zusammen.

C.F. Wong war alles andere als ein Held. Obwohl er sich nicht bewegte, fiel es ihm enorm schwer, ein Schaudern zu unterdrücken, das sich vom Halswirbel über seinen Rücken bis in beide Arme ausbreitete. Sein Blick war derart starr auf den Kopf des Raubtiers fixiert, dass er zwischen scharfer und unscharfer Einstellung schwankte.

Der Tiger wandte sich wieder der so schwierig zu öffnenden Würstchenpackung zu.

Die Augen des Fengshui-Meisters schossen auf der Suche nach einem Fluchtweg umher. Als einzige Öffnung auf dieser Seite des Gebäudes bot sich ein etwa vier Meter vom Tiger entfernter offener Torbogen an, der anscheinend in einen Lagerraum führte.

Der Tiger, der Torbogen und die Menschen, die nicht gefressen werden wollten, formten ein elegantes Dreieck. Das Hirn des Geomanten, angefeuert durch Adrenalin, arbeitete auf Hochtouren. Schaffen wir es zum Tor? Wohin springt der Tiger? Oder sollten wir lieber zur Ladentür laufen? Bilden wir ein gleichschenkliges oder spitzwinkliges Dreieck? Wo bleibt Tang? Hat jemand die Polizei alarmiert? Oder die Feuerwehr? Den Zoo?

Freilich wusste er, dass sie im Moment nur eine einzige Hoffnung hatten, nämlich zu bleiben, wo sie waren. Wenn sie sich absolut still und lautlos verhielten, würde der Tiger sie vielleicht ignorieren, bis Hilfe eintraf.

In diesem Augenblick erwachte das Kind. Das kleine Mädchen reckte zwei winzige Arme über seinen Kopf und gähnte laut.

»Scht!«, flüsterte die Mutter.

»Mama!«, rief die Kleine.

Der Tiger blickte auf und starrte sie an.

Wong war klar, dass sie unverzüglich fortmussten. »Ich glaube, wir gehen dort hinüber«, wisperte er der Frau zu, einer Nonya Mitte zwanzig in einer Kebaya, die sich für die paar Lebensmitteleinkäufe absurd übertrieben zurechtgemacht hatte, mit hohen Absätzen und diversen Armbändern. Die Haare trug sie in einem Knoten. Ihre Unterlippe zitterte. Wongs Blick wies auf den Lagerbereich.

»Geht nicht«, gab sie mit bebender Flüsterstimme zurück und deutete auf ein Schild über dem Torbogen: »Nur für Personal«.

Aijaaa! Die Singapurer waren allesamt Schwachköpfe. Lieber ließen sie sich von einem Tiger fressen, als eine Vorschrift zu übertreten!

Wong beharrte: »Ich lenke Tiger ab, vielleicht. Sie nehmen Baby, laufen in Personalraum.«

Die junge Frau schüttelte den Kopf. »Zu weit. Ich glaube, er verfolgt uns dann. Er kann sehr schnell springen, denke ich.«

Der Geomant nickte. Auch ihm waren die langen, kräftigen Beine des Tigers aufgefallen. Würden sie zu fliehen versuchen, wäre er in zwei, allenfalls drei lockeren Sprüngen über ihnen.

Angestrengt horchte Wong, ob sich nicht Streifenwagen, Zoowärter, Leute mit Betäubungsgewehren näherten. Doch von vorn kam kein einziger Laut. Hatte diese dumme Gans, Madam Lin, überhaupt daran gedacht, die Polizei zu rufen? Womöglich stand sie noch immer vor dem Laden und war wütend auf ihn, weil er mit ihrem Pfund Gai-lan nicht erschien.

Allmählich dämmerte ihm, dass sie mit diesem Problem allein fertig zu werden hatten. Nur wie?

Der Tiger zerrte einen weiteren großen Plastikfetzen von der Packung. Unweigerlich malte Wong sich aus, wie er einem menschlichen Opfer die Haut herunterriss. Jetzt versuchte der Tiger, seine Schnauze in das rosige Würstchenfleisch zu wühlen, was ihm aber nicht gelang, denn die Ware war doppelt verpackt. Immer wieder blickte er zu dem Kind herüber.

»Geben Sie mir Handy«, bat Wong leise. Er setzte voraus, dass jede Singapurerin eins bei sich hatte.

Die Frau, der die Tränen ungehindert übers Gesicht liefen, griff in ihre Tasche und zog ein winziges Nokia hervor.

Der Geomant tippte die Nummer seines Freundes Dilip Kenneth Sinha ein.

»Ja-haaa?«, meldete sich eine tiefe, distinguierte Stimme.

»Sinha!«

»Ah! Hallo Wong. Sind Sie schon da? Ich treffe soeben auf dem Markt ein und dürfte in spätestens einer Minute bei unserm Stammtisch …«

»Notfall! Bitte gehen Sie nach Sing-Woo-Supermarkt. Sehr dringend!«

»Sing Woo?«

»Bei der Kreuzung, neben Stand mit Schweinepenissuppe von Long Kee. Kommen Sie nicht herein in Supermarkt. Suchen Sie Wilfred Tang, geben Sie ihm Handy. Dringend!«

»Verstanden.«

Der Tiger hatte aufgegeben. Er schüttelte den Kopf, schleuderte das unzugängliche Wurstpaket zur Seite und sah sich nach einer anderen Mahlzeit um.

»Mamaaa!«, nörgelte das Kind. Es hob die Händchen und wollte auf den Arm. Langsam beugte sich die noch immer weinende Frau zu ihrem Töchterchen. Als der Gurtverschluss an der Karre mit lautem Klicken aufsprang, fuhr sie zusammen. Sie hob die Kleine heraus, drückte sie an sich und schöpfte Luft.

Der Tiger starrte Mutter und Kind an. Das Kind legte das Kinn über die Schulter der Mutter und schlief wieder ein. Mit angehaltenem Atem beobachtete Wong die blauen Augen des Tigers und versuchte, dessen nächste Bewegung zu erraten.

Da erwachte das Handy wieder zum Leben. »Wong-sang! Sind Sie da drinnen?« Es war Tang. »Wo genau sind Sie jetzt? Der Tiger – ist er auch da?«

Im Hintergrund konnte Wong Stimmengemurmel hören. Das war vermutlich Madam Lin, die Sinha über den Stand der Ereignisse informierte.

»Wir sind hinten«, hauchte Wong, »ich und Lady und ein Baby.«

»Ich versteh Sie schlecht. Können Sie etwas lauter sprechen?«

»Nein!«

»Können Sie den Tiger ablenken, bis die Polizei kommt?«

Wong knirschte mit den Zähnen. »Gibt es hier Hinterausgang aus dem Laden?«

»Nur durch den seitlichen Lagerraum, soviel ich weiß.«

»Sind Sie sicher? Keine Tür auf Rückseite? Tiger sitzt vor dem Lager!«

»Keine Ahnung-lah! Ich bin ja nicht der Eigentümer, nur der Geschäftsführer.«

»Vielleicht Fenster oder so?«

»Nein, ich glaube nicht.«

Wong schwieg einen Moment und dachte nach. »Haben Sie hier irgendwelche Fengshui-Sachen gesehen? Als Sie Laden übernahmen, haben Sie erkundigt, was für ein Gebäude dies ist?«

Im Apparat war eine Weile außer Tangs Atem nichts zu hören. »Hab nicht gefragt, tut mir Leid.«

»Hat Eigentümer nicht erwähnt, ob es Chʼien-Haus oder Hum-Haus ist?«

»Aijaa! Hab nicht gefragt. Falls er was gesagt hat, hab ichs vergessen.«

Entrüstung und ungläubiges Staunen wetteiferten in Wongs Gesichtszügen. Nur ein Klotz konnte derart wichtige Daten einfach ignorieren!

Er ließ dennoch nicht locker. »Haben Sie gesehen, ob hier Fengshui-Ornamente aufgehängt sind?«

»Em … warten Sie mal.« Ein scharrendes Geräusch ließ vermuten, dass Tang sich den kurz geschorenen Schädel kratzte. »Ja doch, da gabs so was. Ein Bild von einer Schildkröte an der vorderen Außenwand. Ein kleiner Drache im Speicher nebenan, auf der Seite mit den Milchprodukten. Sonst kann ich mich an nichts erinnern.«

»Vielleicht roter Phönix irgendwo?«

»Was soll das sein – Felix?«

»Vogel! Gibt es roten Vogel? Bild oder Figur?«

»Ach so. Ja, da hängt ein Bild mit einem roten Vogel hinten beim Abstellraum, wo der Müll hinkommt.«

Die Augen des Fengshui-Meisters weiteten sich. »Danke!« Er schaltete ab.

Wieder wandte er sich der Frau zu. »Fengshui-Meister, der dies Gebäude eingerichtet hat, findet heraus, dass Vorderseite in Wirklichkeit Rückwand von Geländestufe ist.«

»Und?«

»Bedeutet, es gibt Öffnung bei rotem Phönix.« Er zeigte zur jetzigen Rückwand des Geschäfts.

»Wo?«

Wong deutete auf eine Wand links von ihnen, die sich hinter hohen Regalen mit Büchsenfleisch verbarg. »Dort, glaube ich.«

Der Tiger erhob sich und stieß ein kurzes, heftiges Brüllen aus. Es klang tiefer, lauter und fürchterlicher, als Wong es sich je hätte träumen lassen.

Ihnen blieb fast das Herz stehen.

Die Bestie öffnete ihr Maul und zeigte dreißig gelbweiße, zum Teil schartige, angekratzte Zähne – meist Eck- und Schneidezähne. Als sie ihre Lippen zurückzog, wurden hinter dem Fleisch fressenden Apparat des Oberkiefers die Backenzähne sichtbar. Der relativ schmale, mit dicken, kräftigen Muskeln bepackte Kiefer hatte eindeutig die Funktion, Knochen blank zu schälen.

Der Tiger richtete sich auf und reckte seinen Rücken. Er schüttelte abermals den Kopf. Dann trat er zwei Schritte direkt auf die Mutter zu, während sein Blick nach wie vor auf das Kind in ihren Armen gerichtet war. Seine Schulterblätter schwangen beim Gehen in großen Kurven vor und zurück, sodass er weit ausgreifende Schritte machen konnte. Elegant wie ein Tänzer trat er auf: Nur die fünf weichen Ballen seiner Zehen berührten den Boden, der übrige Fuß hob sich ein wenig. Die Krallen waren eingezogen, ihre nadelscharfen Spitzen ragten jedoch aus dem weißen Fell hervor.

Er tat einen weiteren Schritt.

Wong streckte links von sich eine Hand vor. Auf der Suche nach der Wand schlängelten sich seine Finger seitwärts um ein Regal, weiter und weiter, bis seine Fingerspitzen auf kalte, klebrige Fliesen stießen. Er schob seine Hand über die Fläche, beugte sich leicht vor und fand, wonach er suchte: eine Steckdose. An dieser Stelle war eine der Kühltheken mit einem Dreifachstecker angeschlossen. Unter einer Schicht öligen Staubs fühlte sich der Stecker pelzig und feucht an.

Mit ausgestreckten Fingern zerrte der Fengshui-Meister am Stecker. Doch der war offenbar seit langem nicht herausgezogen worden und saß fest. Wong schob ihn hin und her und schaffte es schließlich, ihn zu lockern. Im selben Moment sah er, wie das Licht der Joghurt- und Käsetheke hinter ihnen flackerte. Aus der Steckdose kam ein Prasseln und Zischen. In der Theke flimmerte es wieder.

Der Tiger starrte das Kühlfach an, Unruhe im Blick. Anscheinend identifizierte ein tief in seinem Hirn sitzender Instinkt helles, ungleichmäßiges Licht mit Feuer.

Wong fuhr fort, den Stecker zu bearbeiten. Wie zuvor flackerten und summten die Neonröhren in der Kühltheke. Ein leichter Brandgeruch machte sich bemerkbar. Der Tiger wich vier Schritte zurück, fort von den drei Menschen, bis seine Lenden sich in den Torbogen des Personalbereichs schoben, von dem Tang behauptet hatte, es sei ihr einziger Fluchtweg.

»Jetzt!«, flüsterte der Fengshui-Meister. »Gehen Sie nach hinten. Gehen! Nicht rennen.«

Alle drei wanderten rasch zu dem Regal mit Dosenfleisch an der Rückseite des Ladens. Von dem nervösen Tier aufmerksam beobachtet, schob Wong seine Hand hinter das Regal und zog mit aller Kraft, doch es rührte sich nicht. Nochmals zog er. Das Regal wackelte ein wenig, ließ sich aber nicht vorwärts schieben. Der Geomant begann zu schwitzen. »Klemmt!«, ächzte er. »Aijaaa!«

Die Frau setzte die Kleine zu Boden. »Lassen Sie mich mal«, sagte sie. »Mütter schleppen ja den ganzen Tag zwanzig Kilo schwere Kinder.«

Mit beiden Händen zog sie an einer Seite der Regalwand, Wong riss an der anderen. Das Gesicht der jungen Frau verzog sich vor Anstrengung. Sie stieß eine Reihe chinesischer Flüche aus und zerrte nach Leibeskräften. Schließlich begann das Regal in Zeitlupe nach vorn zu kippen. Im obersten Fach rutschten Dosen mit Libbyʼs Corned Beef vor und torkelten dann durch die Luft, gefolgt von einem Hagel Frühstücksfleisch Marke Hormel Spam aus den unteren Fächern.

Die Dosen klapperten und hüpften umeinander, knallten auf den Fliesenboden und federten wieder hoch. Es gab einen Heidenlärm.

Hinter sich sahen sie, wie der Tiger bei diesem unerwarteten Krachen die dunklen Brauen hob. Er schien sich erschrocken zu haben, denn er zog sich noch etwas tiefer in den Personalraum zurück.

Im schrägen Winkel verkeilte sich das Regal im Gang und gab den Blick frei auf eine uralte, verdreckte Tür in der Wand. Wong drückte dagegen, und sie gab nach – wenn auch nur um etwa dreißig Zentimeter, denn hinter ihr blockierte etwas.

Immerhin: Der Spalt war breit genug für zwei schlanke Erwachsene. Zuerst schlüpfte die junge Mutter hindurch. Dann reichte Wong ihr das Kleinkind. Schließlich zwängte auch er sich ins Halbdunkel hinaus und schob die Tür hinter sich zu.

Sie standen vor einer Wand aus Kartons mit dem Aufdruck Chee Foo. Daneben erhob sich ein Stapel Kisten, auf denen Great Wall stand. Wie man sah, führte die ursprüngliche Vordertür des Supermarkts jetzt in einen provisorischen Anbau, der als Lager für Spirituosen und Getränke diente.

Die Frau setzte ihr Kind auf einen Karton mit Dynasty-Wein und machte sich daran, den Weg frei zu räumen. Zu ihrer Linken bemerkte sie eine offen stehende Schachtel und las die seitliche Aufschrift: Kräutergeleegetränk Marke Yeo. »Gelobt sei Allah! Ich brauch was zu trinken. Möchten Sie auch?«

Auf dem Nachtmarkt setzte Wong sich auf seinen Stammplatz. Nichts unterschied diesen Tisch von den andern. Es war ein wackliges rundes Gestell mit Metallbeinen und einer angeknacksten Fläche aus Holzimitat. Darüber lag eine in rosa und weißem Gingan gemusterte Plastikdecke, ein billiges Einwegtischtuch, das man seit Monaten, vielleicht seit Jahren nicht ausgewechselt hatte.

Auch die Position des Tisches wirkte auf den ersten Blick unattraktiv. Andere Tische unter freiem Himmel, die näher an den Garküchen standen, waren viel früher besetzt. Nur ein Fengshui-Meister erkannte, dass man hier hinten eine alles beherrschende Stellung einnahm. Von hier aus, am weitesten vom Eingangsbereich entfernt, konnte man sämtliche Gäste überblicken. Was wichtiger war: Man sah genau, wann Ah-Fat eintraf, um seine legendären Austernpfannkuchen zu backen!

Restlos erschöpft nach der Rolle, die er gerade im Fall des weißen Tigers gespielt hatte (das Tier war von einer allzu authentischen Eröffnungsparty der Bak-Fu-Theatertruppe entwichen), genoss Wong diesen friedlichen und vertrauten Ort, wo er still abwarten konnte, dass die Welt, die sich eine Weile gar zu hektisch gedreht hatte, wieder ihren normalen Rhythmus aufnahm.

In den letzten Minuten der Abenddämmerung war er am Stammtisch eingetroffen, zusammen mit dem hoch gewachsenen indischen Astrologen Dilip Kenneth Sinha in seinem perfekt geschneiderten schwarzen Nehru-Anzug mit Stehkragen. Während der Fengshui-Meister noch um sich blickte, wurde es plötzlich Nacht, als hätte jemand an einem Dimmerschalter gedreht. Der Himmel über den Wolkenkratzern, die den Markt überragten, färbte sich marineblau. Er sah zu Ah-Fats Stand hinüber – noch immer leer! Als er wieder zum Himmel aufblickte, war dieser nachtschwarz.

Der Mangel an Tageslicht schien alle übrigen Sinne zu schärfen. Geräusche wirkten deutlicher, lebendiger. Gemurmelte Gespräche schienen laut wie auf Partys, mit aufklingendem Gelächter und Geschrei. Gläser klirrten, Teller klapperten. Aus einer Wohnung in der Nähe hörte man ein Kind im Bad lachen und plantschen. Von einer Überführung drang das ferne, unablässige Brummen der Lastwagen herüber, die über die Ausfallstraße in westlicher Richtung aus der Stadt fuhren. Eine Stereoanlage fügte dem Ganzen – recht unpassend an diesem feuchtheißen Tropenabend – die melodische Stimme Bing Crosbys hinzu, die von Schneegestöber sang.

Verzweifelt bemühte sich der Fengshui-Meister, den Tiger aus seinen Gedanken zu verscheuchen. Er konzentrierte sich auf das reiche Angebot an Vorspeisen, die jeden Moment eintreffen mussten.

Auf dem Nachtmarkt gab es fünfunddreißig Stände, die alle nur erdenklichen Gerichte anboten, von Kapok kapok bis zu gebratenen Kwayteow. Wong kannte jeden. Wo sonst auf der Welt fand man eine derart reiche Auswahl köstlicher Speisen? Hier gab es außer Ah-Fats überbackenen Austern noch so manchen anderen Höhepunkt: Riesengarnelen mit Reis bei Ah-Lum, Hungs »Munch-Munch«, »Kang Kongs Korner«, Hong Kees »Weltberühmten Hühnerreis«, Tong Kees Fischsuppe. Heute Abend würde er bei jedem Stand etwas probieren.

Er schnupperte mit seiner breiten, flachen Nase. Auch die Gerüche kamen ihm seit Sonnenuntergang intensiver vor. Der Abendwind trug den Duft von Nüssen, Kurkuma, Garnelenpaste, Daun salam, Tamarindenmus und Jaggery herüber.

Auf einmal spürte C.F. Wong Heißhunger.

Zwar war dieses Treffen auf dem Nachtmarkt von ihm selbst vorgeschlagen worden: ein Arbeitsessen des Beiratsausschusses der Singapurer Gesellschaft der Berufsmystiker. Doch sein Appetit verdrängte vorerst den eigentlichen Zweck der Zusammenkunft. Falls er den beiden anderen erschienenen Ausschussmitgliedern, nämlich Sinha und Madam Xu Chongli, etwas Dringendes mitzuteilen hatte, ließ er sich Zeit damit.

Noch ehe die Wahrsagerin Madam Xu eintraf, begann Wong zu essen. Zwar handelte es sich um einen Etikettefehler, doch den beging man in Singapur zu häufig, als dass jemand sich empörte. Essen galt als heiligster religiöser Ritus. Wer aß, stand über den Konventionen der Profangesellschaft.

Madam Xu, die sich zu Verabredungen stets verspätete, war an Wongs Taktlosigkeiten gewöhnt. Doch selbst sie staunte, als er sich wie in einem Zeichentrickfilm in eine Ein-Mann-Essmaschine verwandelte, die alle ihm vorgesetzten Gerichte buchstäblich zu inhalieren schien. Ausstaffiert in teure Seide und feines Leinen, sah sie ihm fasziniert zu. Der Geomant hatte kaum einen Bissen gekaut, als er sich auch schon mit seinen Stäbchen den nächsten vor die Lippen hielt und in den Mund schob.

»Du meine Güte!«, sagte Madam Xu. »Übt er für eins dieser Chili-Wettessen oder was?«

»Nein«, sagte Sinha. »Er steht unter Schock.«

»Wieso? Hat einer seiner Kunden eine Rechnung bezahlt?«

Der betagte Astrologe schmunzelte über den Scherz der Wahrsagerin, ergriff eine Platte mit Assam pedas und legte ihr eine reichliche Portion Fisch mit Tamarinden vor. »Ein weißer Tiger sollte jemandem in der Oberstadt zugestellt werden, beschloss jedoch stattdessen, ein wenig einkaufen zu gehen.«

Mit ihren Stäbchen nahm Madam Xu einen Popiah-Pfannkuchen auf und biss zierlich hinein, während sich der warme, würzige Duft nach geschmortem Kopfsalat, Garnelen, Ei und Zwiebeln verbreitete.

»Ein echter Tiger?«

Sinha nickte. »Mi siam?«, bot er an und hob gekonnt ein paar Reisnudeln in saurer Soße mit seinen Stäbchen von der Platte. »Ja, ein echter Tiger. Dummerweise wollte Wong zur gleichen Zeit seine Einkäufe tätigen, sodass er sich vorübergehend mit der Bestie eingeschlossen fand, um mit ihr die Reispreise zu diskutieren.«

»Klingt ziemlich abscheulich.«

Der hoch gewachsene indische Astrologe zog verstohlen eine Platte mit Chee cheong fan von Wongs Tischseite zu sich heran und füllte den Rest auf den Teller seiner Begleiterin. »Hungrige Tiger sind nicht besonders amüsant«, gab er zu.

Madam Xu schüttelte den Kopf. »Nein, was an der Sache so verstört, ist nicht, dass es ein Tiger war. Sondern ein weißer Tiger! Sie dürften sich eigentlich nicht beklagen, wenn Ihr Freund von ihm gefressen worden wäre. Ein derart seltenes Tier! Es wäre im Grunde eine Ehre gewesen, falls Sie verstehen, was ich meine.«

»So, so.« Der Astrologe schielte zu Wong hinüber, um festzustellen, ob auch dieser es für ein Privileg gehalten hätte, von einer solchen Großkatze erlegt zu werden. Doch der Fengshui-Meister beschäftigte sich nach wie vor mit der Befriedigung seiner fleischlichen Gelüste und schlürfte eben die letzten Tropfen aus einer Schale mit Schwarzhuhn-Kräutersuppe.

Knallend stellte Wong sein Schälchen nieder und wischte sich mit dem Handrücken den Mund. »Jetzt ist Zeit!«, sagte er.

»Zeit, uns mitzuteilen, warum Sie dieses Treffen einberufen haben?«, fragte Sinha.

»Nein. Zeit für Luak. Ah-Fat ist da.«

Sinha, der Wongs Blick gefolgt war, entdeckte die hagere Gestalt von Ah-Fat, der gerade fachmännisch Austernpfannkuchen aus einem dampfenden Wok angelte.

Zwei Minuten später stand eine große Platte mit Luak auf ihrem Tisch, die ein kräftiges Aroma siedend heißer Meeresfrüchte mit Ei verströmte. Dazu wurde ein reichlich gefülltes Schälchen mit extra scharfer Chilisoße zum Dippen serviert.

Erst als die Platte so blank geputzt war, wie sie einst aus dem Brennofen kam, wofür die drei am Abendessen Beteiligten weniger als sechs Minuten benötigten, legte Wong seine Stäbchen nieder. Endlich gesättigt, lehnte er sich zurück.

»Ahhh!«, seufzte er, klopfte sich auf seinen gerundeten Bauch und reinigte sich mit einem Bambuszahnstocher die Zähne. »Besser, besser, besser. Jawohl!«

Sinha und Madam Xu sahen den Fengshui-Meister erwartungsvoll an. »Nun?«, fragte der Astrologe.

Wong zog den Zahnstocher heraus, betrachtete das Stückchen Hühnerfleisch daran und schob es wieder in den Mund.

»Muss verreisen«, sagte er. »Mr. Pun, er hat viel Außendienst für mich. Heute ruft er mich an. Ich fahre nächste Woche, vielleicht auch übernächste. Bin zwei, drei Wochen weg, glaube ich.«

»So lange?« Sinha war überrascht. »Mr. Pun hat anscheinend irgendwo eine ziemlich große Immobilie erworben.«

»Nein«, erklärte Wong. »Jedes Jahr schickt Mr. Pun Weihnachtsgeschenk an Mitglieder von internationalem Vorstand.«

»Wie das?«, erkundigte sich Madam Xu. »Lässt er Sie herumreisen und die Geschenke überreichen? Sind Sie denn jetzt sein Botenjunge?«

»Nein. Ich bin Geschenk.«

Sinha kicherte: »Er wickelt Sie wohl in Geschenkpapier mit roter Schleife und setzt Sie nackt unter die Christbäume?«

»Hmmm?« Der Scherz war Wong wieder einmal entgangen. »Das Geschenk ist mein Service. Jeder Gesellschafter, jeder Direktor von East Trade Industries Limited bekommt von Mr. Pun kostenlose Fengshui-Analyse. Fünf, sechs von den neun Gesellschaftern haben Angebot schon angenommen. Also bezahlt Mr. Pun meinen Besuch bei ihren Liegenschaften.«

Sinha, der einen bezahlten Job für sich selbst witterte, senkte seine Stäbchen. »Möchten Sie, dass wir Sie unterdessen vertreten?«

»Nein. Ich habe bereits Mr. Sum gebeten als meine Vertretung. Ich möchte, dass Sie mich begleiten zu ein paar von den Besuchen.«

»Übernimmt er denn auch unsere Spesen?«

Wong runzelte verärgert die Brauen, als ob er ausdrücken wollte: Hätte ich Sie sonst gefragt? »Jawohl. Drei Vorstandsmitglieder sind in Singapur, kann ich allein erledigen, kein Problem. Einer in Indien. Ich sage Mr. Pun, dass ich dafür Ihre Hilfe brauche, Sinha. Damit Sie etwas Vaastu machen, verstehen Sie?«

Der indische Astrologe nickte: »Selbstverständlich. Es wird mir ein Vergnügen sein.«

»Einer in Australien, einer auf Philippinen, einer in Thailand, einer in Hongkong, so weiter. Die Sache auf Philippinen, dabei können Sie mir helfen, Madam Xu, hoffe ich. Klientin dort bittet auch um Horoskop.«

Elegant beugte Madam Xu ihren parfümierten, wohlfrisierten Kopf: »Ich bin entzückt, wie ich wohl kaum zu betonen brauche.«

Sinha kicherte wieder: »Da greift er ja tief in die Tasche! Und wenn die nächsten Wochen denn also ein Freibillett sein sollen, dann setzt Pun vermutlich voraus, dass Sie auch Joyce mitnehmen?«

Sofort sank Wongs Stimmung. Mürrisch antwortete er: »Jawohl. Er will, dass Joyce ebenfalls mitkommt.«

Sinha lachte schallend, sah Madam Xu an und prustete: »Ha! Er würde gewiss den Tiger als Begleitung vorziehen!«

Die anrüchige Wohnung

Ein Gelehrter saß auf der Ebene der Krüge und las im Buch der Wandlungen.

Er wünschte zu wissen, woher die Lebenskraft kam. Daher schloss er sein Buch und tat ein Gelübde: Ich werde weiter und immer weiter wandern, ohne Rast, bis ich den Urquell des Chi gefunden habe.

Er spazierte durch die Stadt. Er ging über Land. Er durchwanderte das Königreich. Doch er konnte ihn nicht finden.

Da beschloss er, um die Erde zu fahren.

Er bestieg ein Schiff und segelte in weite Ferne. Er sah viel Seltsames. Im Ozean erblickte er einen großen Fisch. Der große Fisch wanderte auch in weite Ferne.

Die Quelle des Chi konnte er nicht entdecken.

Der Gelehrte gab nicht auf. Er reiste weit fort auf die andere Seite der Erde. Er fuhr zu den vier Enden der Welt und an die vier Ecken der Loban.6

Oft kreuzten sich seine Wege mit denen des großen Fisches, der gleichfalls etwas zu suchen schien.

Doch obwohl er tausend Orte aufsuchte, vermochte er die Quelle des Chi nicht zu finden.

Eines Tages kam er in das Land, wo Menschen mit Tieren und Tiere mit Menschen sprechen können. Er sah den großen Fisch an seinem Schiff vorüberschwimmen.

Er fragte den großen Fisch: »Suchst du etwas?«

Der Fisch antwortete: »Ja. Und suchst du auch etwas?«

Der Gelehrte sagte: »Ja. Ich suche nach dem Quell des Chi.«

Der Fisch fragte: »Was ist Chi?«

Der Gelehrte sagte: »Es ist Prana, es ist die Lebenskraft, es ist Tao, es ist der Weg, es ist der Himmel, es ist Gott. Du bist weit gewandert. Hast du es gesehen?«

Der Fisch sagte: »Nein. Ich bin überall auf der Welt gewesen. Die Quelle des Chi habe ich nicht gesehen.«

Der Gelehrte war sehr traurig. Er weinte heftig. Als seine Tränen getrocknet waren, fragte er den Fisch: »Wonach suchst denn du?«

Der Fisch antwortete: »Ich suche das Meer.«

Der Gelehrte sagte: »Aber du bist doch im Meer!«

Der Fisch blickte sich um. Er sagte: »Wie geht das zu? Ich kann es nicht sehen.«

Der Gelehrte sagte: »Du kannst es nicht sehen, weil alles, was du siehst, das Meer ist.«

Im selben Augenblick wurde der Gelehrte erleuchtet.

Grashalm, bedenke stets die Worte des Konfuzius: Fische vergessen, dass sie im Wasser leben, und Menschen vergessen, dass sie im Angesicht des Himmels leben.

Die Welt ist der Himmel, der Himmel ist die Welt. Damit beginnt alles Verstehen.

(Gesammelte Sprüche östlicher Weisheit, von C.F. Wong, Teil 121)

Er legte seinen Füllhalter nieder, blies die Seite trocken und schloss sorgfältig sein Notizbuch. Dann lehnte er sich gemächlich in seinem knarrenden, mit rotem Kunstleder bezogenen Bürostuhl zurück, faltete die Hände hinter dem Kopf und grinste.

C.F. Wong war glücklich! Am liebsten hätte er das auch körperlich zum Ausdruck gebracht. Aber wie? Gesungen hatte er seit Jahren nicht mehr. Tanzen? Das war noch länger her – seit seinem vorigen Leben, oder eher noch zwei, drei Inkarnationen zurück, nahm er an. Vielleicht sollte er sich zur Feier des Tages einen Löwenkopf7 zum Mittagessen leisten? Aber diese Teufel im Tong-Kee-Restaurant verlangten jetzt stolze 4,95 Sing-Dollar pro Portion, diese üblen Schurken aus der fünften Hölle!

Während der Fengshui-Meister noch überlegte, wie er den Anlass feiern sollte, wurde ihm klar, dass er vermutlich überhaupt nichts tun würde. Gefühlsausbrüche waren nie seine Art gewesen. Freilich hatte er beobachtet, wie andere Leute ihren Emotionen Luft machten, indem sie herumsprangen und jubelten, doch er selbst konnte sich nicht vorstellen, wie man dergleichen fertig brachte.

Egal! Er war jedenfalls so froh, dass er sich auf seinem Stuhl räkelte und ein Lächeln über seine Lippen huschte.

Heute würde er es langsam angehen lassen. Allenfalls noch ein paar Seiten mit lehrreichen Zitaten aus den chinesischen Klassikern füllen. Und vielleicht doch als symbolischen Festakt eine Portion frisch gebratene Wor Tip beim Shanghai-Café um die Ecke bestellen. Jawohl, das wäre genau das Richtige!

Sein plötzliches Hochgefühl hing mit dem Plan zusammen, den Wong gefasst hatte, als er an diesem Morgen um halb acht seine ewig schmerzenden Glieder ins Büro schleppte.

Wie alle Menschen trug auch Wong sein Kreuz. Doch in dieser Woche drückten ihn zwei besonders schwere Bürden.

Da war zum einen ein problematischer Klient. Natürlich hatte er jede Menge schwieriger Kunden, doch dieser erwies sich als extrem unangenehm: Mr. Tik Sin-cheung, eine Nachwuchskraft ohne geschäftliche Vollmacht, die gleichwohl als Gesellschafter der Firma East Trade Industries angehörte. Wongs erste Aufgabe des Tages bestand darin, Tiks Privatwohnung einzuschätzen.

Mr. Tik war ein mäßig erfolgreicher Makler, dem ein mittelgroßes Apartment in Singapurs Vorstadt bei Fort Canning gehörte. Wong hatte die Wohnung mehrmals besucht, ohne dass es dort viel für ihn zu tun gab. Der Geschäftsmann, ein extrem konservativer Mensch, stellte selten etwas um. Möglich, dass er gelegentlich ein neues Bild oder anderes Bettzeug kaufte, aber selbst das kam kaum vor. Das Einzige, was sich bei Wongs Besuchen jeweils geändert hatte, war die Anzahl der Zierfische, die Tik hielt, und die präzise Position der Aquarien, worin diese lebten. Beim letzten Mal hatte Tik acht seltene Riesenkarpfen in einem Becken mit Springbrunnen auf seiner Terrasse gehabt, ferner zwölf ebenso seltene Engelhaie in einem Panorama-Aquarium in der Südwestecke seines Wohnzimmers.

Es gab nur ein Problem: der Geruch. Die Wohnung stank nach Fisch. Mr. Tik stank nach Fisch. Jeder Fengshui-Experte, dessen Pech es wollte, dass er sich länger als eine Stunde dort aufhalten musste, stank nach Fisch. Nach früheren Besuchen hatte Wong immer drei Tage lang den Duft mit sich herumgetragen. Selbst der Durian-Verkäufer in seiner Gegend hatte gemeckert und ihm sein Lokal verboten. Wong, der seit seiner Jugend süchtig nach Durian war, hatte geschworen, Mr. Tiks Wohnung nie wieder zu betreten.

Die zweite Last, an der Wong trug, hatte ihm ebenfalls jener Mann auferlegt, der seinen Lebensunterhalt bestritt, nämlich Mr. Pun Chi-kin, der Singapurer Baulöwe und General Manager von East Trade Industries.

Wongs Fengshui-Agentur war ein Einmannbetrieb plus Sekretärin in der Telok Ayer Street am Rand des Geschäftsviertels von Singapur. Mr. Pun hatte das Personal jedoch ergänzt, indem er Wong Joyce McQuinnie aufzwang, eine Studentin britisch-australischer Herkunft. Die junge Frau, Tochter eines Immobilienhändlers und Geschäftspartners von Pun, war dem Geomanten ursprünglich nur zugeteilt worden, weil sie an einer etwa zwanzigseitigen Facharbeit zum Thema »Fengshui – Kunst oder Wissenschaft?« arbeitete. Doch zur maßlosen Verblüffung ihres zeitweiligen Chefs C.F. Wong hatte sie ihre ersten Wochen bei ihm so genossen, dass sie verkündete, ihr ganzes Jahr »Auszeit« – was immer das sein sollte – im Büro des Fengshui-Meisters bleiben zu wollen.

Nun hätte eine kostenlose Assistentin (Mr. Pun hatte Wongs monatlichen Bezügen ein nominelles Gehalt für Joyce hinzugefügt) im Prinzip zu seiner Entlastung beitragen können. Doch sie erwies sich schlichtweg als zu fremd, zu unberechenbar, zu gwai – ausländisch und seltsam –, als dass sie ihm irgendwie hätte nützen können. Ihre Gedankengänge waren ihm ein Rätsel, ihr Auftreten klobig und taktlos, über die Kultur, in und mit der sie hier arbeitete, wusste sie rein gar nichts, und zu allem Übel sprach sie kein Englisch – zumindest keine ihm je zu Ohren gekommene Version dieser Sprache.

Erst gestern früh war sie hektisch ins Büro geplatzt, völlig aufgebracht über einen Artikel in einem bunten Klatschblatt. »Himmel!«, hatte sie geschrien und ihm ein Foto vor die Nase gehalten. Es zeigte keineswegs jenes blaue Gewölbe über unserer Erdenwelt, sondern eine Horde betrunkener junger Leute. »P. Diddys fiese Exfrau geht jetzt offen mit Justin von The Dopes«, erklärte sie. »Irgendwie nicht zu fassen, absolut nicht!«

Wong hatte genickt, als ob er gerade genau dasselbe äußern wollte. In Wirklichkeit enthielt ihr Satz keine einzige ihm verständliche Aussage.

»Was findet so ʼn supersüßer Junge bloß an ʼner Assel wie der?«, fragte die Achtzehnjährige. »Also echt!«

Wong war um Antwort verlegen, aber das tat nichts, denn sofort lieferte sie selbst eine: »Klarer Fall von Massel. Die hat einfach so was von Sauglück!«

Der Geomant erwog, sein Wörterbuch der modernen englischen Umgangssprache zu Rate zu ziehen, entschied sich dann aber dagegen. Denn zu seinem Ärger hatte sich das Buch, obwohl erst im Vorjahr gekauft, als nutzlos erwiesen, was die Nachprüfung von Joyceʼ Redensweisen betraf. Wenn es nach den dort angegebenen Beispielen ginge, hätte sie ungefähr Folgendes sagen müssen: »Es regnet wieder mal Bindfäden«, »Du liebe Güte, was für ein Wortschwall« oder »An ihren Taten sollt ihr sie erkennen«.

Nur wenn er einmal völlig aufrichtig gegen sich selbst war (was so gut wie nie vorkam), gestand sich Wong, dass ihr Aufenthalt in seiner Firma denn doch auch kleine, aber spürbare Vorteile brachte. Von Anfang an hatte sich nämlich gezeigt, dass Klienten freundlicher auf eine munter plaudernde junge Frau reagierten als auf einen wortkargen, mürrischen alten Mann wie ihn. Aber derart heikle Gedanken ließ Wong gar nicht erst aufkommen. Denn jedes Mal, wenn Joyce sich tatsächlich nützlich machte, hatte sie prompt irgendetwas gesagt oder getan, das ihn in Harnisch brachte, sodass ihre Beziehung auf den Nullpunkt zurückfiel.

Diese Woche war sie wieder schrecklich anstrengend gewesen. Ihr unverständliches Geplapper von gestern Morgen unterstrich sein Dilemma. Er konnte unmöglich mit ihr kommunizieren! Es ließ sich nicht leugnen: Der Abgrund zwischen ihnen war unüberbrückbar. Ein Fengshui-Meister besaß ja vor allem die eine Gabe, nämlich harmonische Räume und Sphären zu schaffen. Bis er von dieser lauten, grässlichen Gwaimoi befreit war, hatte er sich mit der peinlichen Tatsache abzufinden, dass sein eigenes Berufsleben in ständiger Unrast und Disharmonie stagnierte.

Was also zauberte an jenem sonnigen Dienstag ein so vergnügtes Lächeln auf seine Lippen? Nun, ihm war plötzlich eingefallen, dass Joyce McQuinnie sich vor Fisch ekelte. Schon der bloße Gedanke daran war ihr zuwider. In Restaurants schob sie Fischgerichte angewidert von sich. Erblickte sie während eines Auftrags ein Aquarium, so machte sie einen weiten Bogen darum. Wenn sie auf einem Markt an einem Fischstand vorbeikamen, hielt sie sich die Nase zu.

Wong fasste einen Plan, der seine beiden Probleme auf einen Schlag lösen konnte. Sobald Joyce an diesem Vormittag im Büro eintraf, würde er ihr die Einschätzung von Mr. Tiks Wohnung übertragen, die sie allein und selbstständig erstellen sollte. Gesetzt den Fall, ihr wurde sterbenselend und sie warf den Job hin, so wäre er sie nicht nur endlich los, sondern Mr. Pun hätte ihm obendrein nichts vorzuwerfen. Sollte sie aber erfolgreich sein – nun ja, dann wollte er ihr eben all seine sonstigen schwierigen oder unangenehmen Klienten zuweisen, bis sie schließlich doch genug hatte und ging. Wie auch immer: Er konnte nur gewinnen!

Mit dem Mut der Verzweiflung redete er sich ein, dass ein goldenes Zeitalter für ihn begann. Im günstigsten Fall war er schon im Lauf dieses Tages von ihr befreit. Im schlimmsten konnte er ihr beibringen, zehn, zwanzig, dreißig Prozent seiner Aufträge für ihn zu erledigen. Seine Arbeitslast würde beträchtlich erleichtert, und als Bonus bliebe sie fast alle Tage dem Büro fern, womit er von seinen beiden größten Problemen erlöst war.

Und Mr. Pun würde alles bezahlen. Jawohl, so hatte er zu funktionieren, der Kapitalismus!

Ein dumpfer Schlag dröhnte durchs ganze Büro, als die Tür aufgestoßen wurde. Aus Stereo-Kopfhörern zischelte das unablässige Sch-tschka-sch-tschka-sch.

Joyce McQuinnie, ein schlaksiger Teenie mit streifig gefärbten Haaren, die zwischen blond und braun changierten, schlenderte herein. Ihr Kopf steckte hinter einer Illustrierten. Es war zehn nach zehn. Wong hatte vor über zweieinhalb Stunden mit der Arbeit begonnen. Sie grinste ihm kurz und nervös zu: »Hallo, C.F.!«

»Kommen Sie! Ein Job für Sie, heute.« Er zeigte auf die Papiere, die vor ihm lagen. »Sie besuchen Mr. Tik. Sehr netter Mann, ziemlich alt. Leichte Arbeit. Ich zeige Ihnen Berichte von letzten Malen. Sie prüfen, ob etwas verändert ist. Neue Kalenderdaten habe ich schon berechnet. Kein Problem, glaube ich.«

Joyce sah ihn mit großen Augen an. »Cool! Wollen Sie sagen, dass ich das ganz allein machen darf?«

Er neigte den Kopf.

»Super, aber echt!«

»Vergessen Sie nicht, Fisch zu zählen.«

»Fisch? Äääh!«

»Er hat zwei Aquarien. Aber kein Problem. Sehr leicht.« Er versuchte, sich an eine passende Redewendung aus seinem Lehrbuch zu erinnern. »Dieser Auftrag ist ein Länderspiel. Oder sagt man Kinderspiel?«

Sie schmunzelte, sah sich den Grundriss an und blätterte die Protokolle früherer Besuche derselben Wohnung durch. »Supi!«, sagte sie. »Sieht echt wie ʼn Sonntagsspaziergang aus.«

»Nein. Heute Werktag.«

»Nee, ich mein, das wird ein Zuckerschlecken.«

»Sie wollen Zucker essen?«

»Ich mein bloß – ach, lassen wirs!«

Wong hatte wieder mal das grausige Gefühl, ihr nicht folgen zu können. »Hier ist Adresse. Von jetzt an müssen Sie mehr Aufträge allein machen.«

»Cool!« Joyce wäre am liebsten sofort aufgebrochen, aber Wong zweifelte doch ein wenig, ob er ihr die volle Verantwortung für einen Gesellschafter Mr. Puns übertragen konnte.

Er ließ sie Platz nehmen, ging mit ihr durch, was sie bei Mr. Tik zu tun hatte, und achtete darauf, dass sie sich alles notierte.

»Fisch. Sie müssen Fisch nachzählen.«

»Iiii! Muss ich? Ich mag keinen Fisch. Höchstens manchmal Ikura Sushi mit Wasabi als Beilage, wenns ein echt edles Lokal ist.«

Wongs Miene verfinsterte sich. »Sie sollen Mr. Tiks Fisch nicht essen!«

»Das sollte ʼn Witz sein. Gott!«

Er erklärte, dass die Fische dort nicht bloß als Glück bringender Raumschmuck dienten. Zierfische wie die von Mr. Tik kosteten hunderte, wenn nicht tausende amerikanische Dollar das Stück. Sie erzielten auf Auktionen regelmäßig Höchstpreise. Es kam sogar vor, dass tüchtige Zuchtfische Opfer von Fischnapping wurden. In den letzten paar Monaten hatte sich die Beratung in Sachen Fisch-Sicherheit zu einer qualvollen Routine seines Berufsalltags entwickelt. Wiederholt waren im vergangenen Jahr Diebe in Wohnungen eingestiegen, hatten Geld und Juwelen liegen lassen und wertvolle Fische gestohlen.

»Fisch sehr wichtig. Bedeutung von Fisch für Fengshui in Mr. Tiks Wohnung kann man nicht genug übertreiben.« Wong legte beim Sprechen die Fingerspitzen aneinander. Seit er einmal eine Darstellung des Konfuzius in dieser Haltung gesehen hatte, ahmte er sie nach, wenn er einer Bemerkung besonderen Nachdruck verleihen wollte.

Joyce schrieb seine Anweisungen in ein Notizheft.

Bei einer Nachfolge-Einschätzung wie dieser lief die Arbeit eines Fengshui-Beraters ganz unkompliziert ab, erklärte er. Erstens war zu fragen, ob sich beim Mobiliar, den Installationen, der Dekoration oder der Nutzung der verschiedenen Zimmer etwas geändert hatte. Dann mussten Anzahl und Art der Fische überprüft und verglichen werden. Drittens waren Baudatum der Wohnung und Geburtstag ihres Bewohners anhand des aktuellen Fengshui-Kalenders zu beurteilen. Viertens war ein Blick in die Umgebung nötig, um nach möglichen Veränderungen äußerer Einflüsse zu sehen. Fünftens hatte Joyce detaillierte Berichte über alle genannten Punkte zu schreiben.

»Nummer sechs am wichtigsten. Aber das brauchen Sie nicht machen.«

»Was denn?«

»Rechnung schreiben und auf Scheck warten. Nur – diesmal zahlt Mr. Pun direkt. Spezialauftrag für seine Gesellschafter.«

Er forderte sie auf, ihren Fengshui-Kompass vorzunehmen, damit er prüfen konnte, wie sie die Loban handhabte und die Ergebnisse auswertete.

Das Ergebnis war, wie er sich widerstrebend eingestand, recht beachtlich. Sie hatte in ihrem ersten Halbjahr eindeutig eine Menge gelernt. Dabei hatte er ihr keinerlei systematischen Unterricht erteilt. Joyce hatte einfach jedes englischsprachige Fengshui-Buch, das sie auftreiben konnte, durchstudiert und ihm außerdem bei allen Aufträgen aufmerksam zugeschaut. Ihre technischen Kenntnisse, darüber konnte er beruhigt sein, stellten kein Problem mehr dar. Die Grundprinzipien waren ihr geläufig – die acht Trigramme, die Kreise der Zerstörung und Hervorbringung, Yin und Yang und die Interpretation der Kalenderdaten nach der Methode des Fliegenden Sterns.

Zwei weitere Punkte bereiteten ihm allerdings noch Sorge. Der eine betraf die Frage, ob sie ein Gespür für die Symbolik besaß, die so entscheidend war für einen Zugang zur chinesischen Mystik. Das ließ sich nicht aus Büchern lernen. »Diese Form ganz schlecht, denn sieht aus wie ein chinesisches Grab«, erläuterte er und zeigte ihr ein Diagramm, das Joyce an einen Widderkopf erinnerte. »Also ist alles, was diese Form hat, schlecht.«

Er wies in den Winkel des Büros, wo die Küchengeräte lagen. »Messer, Mülleimer, Toiletten, solche Sachen – sehr negativ. Auch alles, was wie solche Sachen aussieht oder Sie an solche Sachen erinnert – ganz schlecht. Verstehen Sie? Sie dürfen Mr. Tik oder seinen Beruf oder seine Wohnung niemals mit solchen Sachen verbinden, verstehen Sie oder nein?«

»Ja, ja. Alles klar!«

Der zweite Punkt, der Wong nervös machte, war ihr Slang. »Auch, bitte, sprechen Sie so mit Mr. Tik, dass er versteht.«

»Spricht er Englisch?«

»Jawohl, er spricht Englisch.«

»Na dann …?«

Der Fengshui-Meister überlegte einen Moment, wie er es ihr beibringen sollte. Er nahm sein Wörterbuch der modernen englischen Umgangssprache und klopfte darauf. »Mr. Tik, er spricht nicht Ihr Englisch. Er spricht dieses Englisch: Es regnet Bindfäden. Die Tat soll man erkennen. Meine Güte, was für ein Schwall.«

»Was haben Sie gesagt?«

»Sprechen Sie einfache Worte mit ihm, bitte.«

»Bloß kein Stress! Ich bin voll cool. Das ist ja wohl megakrass.«

Er schloss die Augen. Da half nur noch beten!

Joyce raffte sämtliche Papiere zusammen, stopfte sie in ihren Beutel und machte sich auf den Weg zu dem Wohnblock in der Fort Canning Road. Die Tür schlug zu, das Sch-tschka-sch-tschka-sch verklang in der Ferne, und wie ein Vorhang senkte sich Stille nieder.