Der Feuerkuss - Elizabeth Knox - E-Book

Der Feuerkuss E-Book

Elizabeth Knox

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Beschreibung

Im Jahr 1903 explodiert vor der kargen Hebrideninsel Skilling ein Fährschiff. Nur Sekunden vor dem Unglück springt die 20-jährige Billie von Bord, doch ihre geliebte Schwester ist unter den vielen Toten. Zusammen mit ihrem Schwager Henry wird Billie auf Kiss Castle aufgenommen, dem Familiensitz Lord Hallowhulmes, der die Siedlerkolonie der Insel gegründet hat. Billie fühlt sich von der männlichen Aufmerksamkeit überfordert, die sie mit ihrem leuchtend roten, langen Haar auf Kiss Castle erregt. Henry beginnt, in ihr einen Ersatz für seine Frau zu sehen. Und auch Hallowhulme entwickelt mehr als nur pädagogisches Interesse an Billie und ihrer rätselhaften Leseschwäche. Ein Mann aber bringt sie in wirkliche Schwierigkeiten: Murdo. Der gut aussehende Verwalter und Cousin des Lords hat Billies waghalsigen Sprung von Bord beobachtet und argwöhnt nun, sie könne etwas mit der Katastrophe zu tun haben. Denn es stellt sich heraus, dass bei dem schrecklichen Schiffsunglück Sabotage im Spiel war. Zwischen den beiden entwickelt sich eine explosive Beziehung, in der sich Abneigung und eine unwiderstehliche Anziehungskraft mischen. Unterdessen erfährt Billie mehr über die Menschen auf Kiss Castle, als ihr lieb ist. Warum ist Murdo so misstrauisch? Was ist das düstere Familiengeheimnis der Hallowhulmes? Während Billie und Murdo das Puzzle Teilchen für Teilchen zu einem Ganzen fügen, fühlt sich der wahre Drahtzieher der Explosion in die Enge getrieben. Ohne es zu ahnen, befinden sich die beiden in großer Gefahr.

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Elizabeth Knox

Der Feuerkuss

Aus dem Englischen von Miriam Mandelkow

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Im Jahr 1903 explodiert vor der kargen Hebrideninsel Skilling ein Fährschiff. Nur Sekunden vor dem Unglück springt die 20-jährige Billie von Bord, doch ihre geliebte Schwester ist unter den vielen Toten. Zusammen mit ihrem Schwager Henry wird Billie auf Kiss Castle aufgenommen, dem Familiensitz Lord Hallowhulmes, der die Siedlerkolonie der Insel gegründet hat.

Billie fühlt sich von der männlichen Aufmerksamkeit überfordert, die sie mit ihrem leuchtend roten, langen Haar auf Kiss Castle erregt. Henry beginnt, in ihr einen Ersatz für seine Frau zu sehen. Und auch Hallowhulme entwickelt mehr als nur pädagogisches Interesse an Billie und ihrer rätselhaften Leseschwäche.

Ein Mann aber bringt sie in wirkliche Schwierigkeiten: Murdo. Der gut aussehende Verwalter und Cousin des Lords hat Billies waghalsigen Sprung von Bord beobachtet und argwöhnt nun, sie könne etwas mit der Katastrophe zu tun haben. Denn es stellt sich heraus, dass bei dem schrecklichen Schiffsunglück Sabotage im Spiel war. Zwischen den beiden entwickelt sich eine explosive Beziehung, in der sich Abneigung und eine unwiderstehliche Anziehungskraft mischen.

Unterdessen erfährt Billie mehr über die Menschen auf Kiss Castle, als ihr lieb ist. Warum ist Murdo so misstrauisch? Was ist das düstere Familiengeheimnis der Hallowhulmes?

Während Billie und Murdo das Puzzle Teilchen für Teilchen zu einem Ganzen fügen, fühlt sich der wahre Drahtzieher der Explosion in die Enge getrieben. Ohne es zu ahnen, befinden sich die beiden in großer Gefahr.

Über Elizabeth Knox

Elizabeth Knox wurde 1959 in Wellington, Neuseeland, geboren und hat an der Victoria University englische Literatur studiert. Sie publizierte mehrere preisgekrönte Romane und Erzählungen und lebt heute als freie Schriftstellerin mit ihrem Mann und ihrem Sohn in Wellington.

Inhaltsübersicht

In Gedenken an ...1 Die Gustav Edda2 Stolnsay3 Unter den Toten4 Betler, der Ältere5 Kiss Castle6 Billie wird erneut untersucht7 Diebstahl in Diensten8 Scouse Beach9 Clo Mor (Das große Tuch)10 Milch und Rogen11 Glück und die vier Winde12 Unglücksfall13 Ein leichenstarrer Griff14 Sprengraum, Spielraum15 Redlich bleiben16 Port ClarityDanksagung

In Gedenken an meinen Vater, Ray Knox. 1926–2001

1 Die Gustav Edda

DIE ÜBERFAHRT WAR STÜRMISCH und Edith unpässlich. Billie konnte nicht lesen, daher sang sie ihrer Schwester etwas vor. Edith hatte die Augen geschlossen und hielt das Gesicht ins Kissen gedrückt. Billie sah Schweißperlen unter dem rötlichen Flaum auf ihrer Wange, dem Flaum, der vom Wangenknochen zum Kinn stetig dunkler wurde, je näher der Geburtstermin heranrückte. Es war Billie, als verwandelte sich ihre Schwester in ein anderes Geschöpf, mit pelziger Haut, einer zusätzlichen weichen Fettschicht auf den Armen und einer straff gespannten Taille, nicht eng geschnürt wie sonst, sondern gewölbt. Sogar Ediths Haar hatte sich verändert, es wuchs nun derart üppig, dass ihre losen Zöpfe so dick waren wie Billies Unterarme. Aber es ging noch eine andere Veränderung mit Edith vor sich, und während Billie ihrer Schwester vorsang, legte sie die rechte Hand auf Ediths Bauch, zwischen Bauch und Stützkissen, um das andere zu fühlen, die Bewegung, heftig und unregelmäßig und so unsichtbar wie die des Meeres.

Die Flamme der Schiffslampe an der Kabinendecke brannte einigermaßen ruhig, da die Lampe an Kardanringen hing und sich kontrapunktisch zum schwankenden Schiff bewegte. Alle Schatten im Raum neigten sich hierhin und dorthin wie zweifellos auch jedermann an Deck.

Unter Billies Hand und Ediths Haut rumorte das Kind. Billie hielt zwischen den Strophen inne, um vor sich hin zu flüstern: «Lass die Katze aus dem Sack.» Diesen Ausdruck hatte sie immer gemocht. Sie waren wohl nicht ganz und gar auf das Baby vorbereitet – sie: Edith, Henry, Billie –, und aus Säcken gelassene Katzen bedeuteten Ärger. Aber als Kind hatte sich Billie, wann immer ihr der Vater mit dem Zeigefinger auf den Lippen zugeflüstert hatte: «Lass die Katze nicht aus dem Sack», stets eine Katze vorgestellt – auf der Fensterbank an einem offenen Fenster, mit geplustertem Fell wie einem dunklen Glorienschein vor dem Hintergrund eines Gartens –, die mit Augen wie Bernstein zurückblickte.

Edith kniff Billie in den Arm und keuchte: «Warum mussten wir ausgerechnet heute weiterfahren?»

Edith war es zufrieden gewesen, mit dem Zug zu reisen, aber vor einer Seereise war sie zurückgeschreckt. Folglich hatte ihr Mann, Henry Maslen, eine Route festgelegt, welche die Inneren Hebriden als Trittsteine benutzte und dazwischen Fähren, die an den engsten Stellen übersetzten. Henrys Route zufolge sollten sie von Dorve auf den Inneren Hebriden auf einem Dampfer ablegen, der so klein war, dass er sich zwischen den Riffen hindurchfädeln konnte, die zwischen Dorve und Southport lagen, an der südöstlichen Küste einer Insel namens Kissack and Skilling. Von Dorve nach Southport war es eine kurze Schönwetterfahrt, und von Southport aus lediglich eine Tagesreise Richtung Norden zu ihrem endgültigen Ziel Stolnsay, der einzigen größeren Stadt auf Kissack and Skilling. Als aber Edith und Henry Maslen und Ediths Schwester Billie in Dorve ankamen, fanden sie einen sturmgepeitschten Hafen vor und ein Riff, mit dem man es besser nicht aufnahm. Nicht in den nächsten Tagen, sagte man ihnen. Mr. Maslen könne, wenn er wolle, seine Familie über Land zum Hafen von Luag bringen, wo sie zeitgleich mit der Gustav Edda eintreffen würden. Die Gustav Edda war ein großer, unter schwedischer Flagge verkehrender Dampfer, der die Inseln jeden Monat von Stockholm aus anfuhr. Henry Maslen hatte gezögert, bevor er sich entschied, dem größeren Schiff entgegenzueilen. Er zögerte, und seine Schwägerin sah, wie er seine Sorge und seine Berechnungen verbarg, sah, wie seine Lippen sich hinter dem Handrücken bewegten, mit dem er seinen Mund verdeckte. Dann ließ Henry die Hand sinken. Er sah seine Schwägerin an. «Billie, du und Edith könntet hier weiter Quartier beziehen und mir folgen, wenn das Wetter sich beruhigt hat. Aber …»

Aber ihre Mittel waren begrenzt, und seine Frau sollte ein Heim haben, wenn das Kind zur Welt kam. Die Niederkunft stand unmittelbar bevor. Henrys neue Anstellung hatte sich genau zur richtigen Zeit ergeben, nicht aber die Reise. Mr. Johan Gutthorm, der sich nach eigenen Aussagen um Lord Hallowhulmes «inhäusige Angelegenheiten» kümmerte, hatte Henry geraten, vor Beginn des Sommers einzutreffen. Da Mr. Maslen seine Frau und deren Schwester mitzubringen gedenke, schrieb Gutthorm, sei es «weitaus ratsamer, nach Möglichkeit unsere günstigsten Wetterverhältnisse zu nutzen». Henry hatte Billie und Edith Johan Gutthorms Brief vorgelesen, als sie in der winzigen Stube ihres Cottages in Crickhowell beisammensaßen. Edith hatte gesagt: «Wir sollten alle sogleich aufbrechen. Wir sind hier sehr beengt.»

Das waren sie, beengt – während die klammen Frühlingsnebel um sie aufzogen und auf den Lack der Fensterrahmen schwarze Schimmelsterne malten – durch Ediths Bauch, Henrys Bücher, Billies Klavier und durch einen quälenden Gefühlsstrom, der sie weder tragen noch forttragen konnte. An jenem Nachmittag in Crickhowell hatte Henry seiner Frau beigepflichtet. Er hatte noch einmal das in Aussicht gestellte Gehalt wiederholt, auf Pfund und Shilling, jedoch gleichzeitig zu bedenken gegeben, es sei durchaus nicht auszuschließen, dass sie sich auf Kiss Castle in Stolnsay wiederum beengt fühlen würden. Und dann hatte Henry sie angeschaut – Billie –, doch seine Augen sagten: «Edith.» Er konnte den Namen ihrer Schwester aussprechen, ohne die Lippen zu bewegen. Henry wirkte traurig. Die hellen Enden seines blonden Backenbarts – ohne Schnurrhaare – waren so rasiert, dass sie genau parallel zu den feinen Linien rechts und links der Mundwinkel ausliefen: zwei exakte Linien, die seinem Gesicht stets einen nüchternen Ausdruck verliehen, der Mund eingefasst, eingeklammert, diszipliniert. Was hatte er mit seinem Blick bei ihr gesucht, fragte sich Billie, Ermutigung oder Ermahnung?

Das Schiff stampfte und schlingerte, und Billie sang für ihre Schwester Hymnen, Liebeslieder und einen Operettenschlager aus dem Varietétheater. Das Schiff rollte, und das pendelnde Licht jagte die Schatten in eine Ecke der Koje, wo sie sich derart ballten, dass Billie schon meinte, sie verschmelzen zu sehen, bis etwas Festes zurückblieb.

Edith wälzte sich herum, wandte Billie ihr schweißnasses Gesicht zu und fragte: «Warum sagst du das, ‹Katze aus dem Sack›?»

«Ich dachte an das Kind.» Billie strich ihrer Schwester über den Bauch.

«Also wirklich, Billie. Wie kann denn ein Kind an eine Katze im Sack erinnern? Katzen steckt man in Säcke, um sie zu ertränken.» Ediths Unterlippe bebte, dann sagte sie, es tue ihr Leid, sie habe nicht so spitz sein wollen. Ob Billie wohl an Deck gehen und nachsehen könne, wie weit sie von der Landspitze entfernt seien, über die der Kapitän gesagt hatte, sie biete von Norden etwas Schutz? Das Schiff könne sich doch wohl nicht mehr auf offener See befinden. «Und schicke mir Henry herunter», sagte Edith. «Und nimm den Eimer mit und leere ihn. Bitte, Liebes.»

Billie stand auf. Sie sagte, sie habe gehört, dass der Ausdruck nautisch sei, jedenfalls irgendetwas mit der Seeschifffahrt zu tun habe, dass «Katze» eine Peitsche sei. Auf den dringenden Wink ihrer Schwester hin musste sie den Zinneimer wieder zurückreichen. Ediths Mund füllte sich, sie beugte sich vor und spuckte einen weiteren zähflüssigen Klumpen Galle aus. Der feuchte Lappen, mit dem Billie das Gesicht der Schwester betupft hatte, lag bereits im Eimer, also drehte Billie ihren Rocksaum um und nahm die baumwollene Spitzenkante ihres Unterrocks. Sie wischte Edith den Mund ab. «Ich lass dich nur ungern allein.»

Mit schwacher Stimme entgegnete Edith, dass Billie ihr mit ihren Nachforschungen ein bisschen Hoffnung geben könne. «Finde heraus, wo wir sind», sagte sie erneut. «Aber Henry soll oben an der frischen Luft bleiben, falls ihm unwohl ist.»

Billie wickelte sich ihre Stola um den Kopf und trug den Eimer aus der Kabine. Sie wankte den Gang entlang und stützte sich mit der freien Hand an der Wand ab. Bei der Luke huschte ein länglicher Lichtschein umher und erkundete das Dunkel, zerschnitten durch die Sprossen der Leiter, deren eigener Schatten so heftig schwankte, dass es ein gefährliches Unterfangen schien, sie zu erklimmen. Billie nahm eine Sprosse nach der anderen. Sie wagte nicht, den Eimer über sich abzustellen.

Die See war höher als zuvor, und ihre Wellen waren schaumgekrönt, aber es wehte nur noch eine steife Brise. Der Sturm der vergangenen Nacht hatte sich gelegt. Billie suchte festen Halt an einem Seil. Der Hanf vibrierte in ihrer Handfläche, als der Wind an den wenigen Tauen und Stricken des Dampfers zerrte. Er gab ein Stöhnen von sich, als verzehrte er sich nach etwas. Der Wind schob den schwarzen Sott vom Schornstein herunter, sodass mehrere heiße Flocken auf Billies Wangen landeten – wie Schnee in der Hölle. Billie dachte an einen weiteren Ausdruck und stellte sich vor, wie der verschmolzene Schatten aus der Ecke von Ediths Koje, eine schwarze Katze, aus ihrem Jutesack stieg und auf das schwarze Eis einer gefrorenen Hölle trat. Sie schüttelte den Kopf.

Henry stand an der Reling, mit dem Rücken zu einer Gruppe elegant gekleideter Herren – zwei Jugendlichen und zwei Männern. Einer der Männer steckte soeben resigniert seine Pfeife in die Tasche zurück, so als wäre er an etwas gescheitert – dem Versuch, sie anzuzünden, vermutlich. Die Jungen trugen die Uniform einer Militärakademie, graue Mäntel mit schwarzen Paspeln und roten Kragenaufschlägen. Sie hatten die Schals hochgebunden und die Mützen tief in die halbierten Gesichter gezogen. Der zweite Mann trug einen langen Astrachanmantel und hatte den zotteligen schwarzen Zobelkragen bis zu den Ohren hochgeschlagen. Er hielt den Kragen mit einer schwarz behandschuhten Hand fest. Der Kopf war unbedeckt, und sein dichtes, phosphoreszierend helles Haar wehte nach vorn.

Als Billie an der dicht gedrängten Gruppe vorbeiging, nickte sie ihnen höflich zu. Sie sah niemanden an. Es war ihr ein wenig peinlich, sie so unbehaglich beisammenstehen zu sehen, denn diese Männer hatten ursprünglich die Kabine bewohnt, in der nun Edith lag.

Es war der erste Juni, und im Sommer dauerte die Überfahrt von Luag nach Stolnsay ungefähr zehn Stunden und wurde zwischen Mitternacht und Morgen unternommen. Die Gustav Edda hatte zuvor größere Häfen angelaufen, sodass für den letzten Reiseabschnitt keine Kabinen mehr frei waren. Als Henry und seine hochschwangere Frau unvermutet am Kai von Luag erschienen waren, hatte der Kapitän des Dampfers Henry aufgefordert, doch einige Bittschreiben an «die Herren» zu richten, die die vier Kabinen belegten. Drei von ihnen, mit je einer Kabine, waren befreundet, und so vermutete der Kapitän, dass sie bereitwillig zusammenrücken würden.

Doch einzig das Schreiben, das in ein Hotel am Hafen überbracht worden war, wurde beantwortet. «Werter Herr», las Henry, «gern kommen wir Ihnen entgegen. Ich wünsche Ihnen und Ihrer Frau eine angenehme Überfahrt, so angenehm wie bei nördlichen Winden eben möglich. Mit freundlichen usw. MH.» «Mr. Hesketh», erklärte der Kapitän. «Ein Vetter von Lord Hallowhulme. Hesketh war Offizier in König Oskars berittener Leibgarde. Jetzt kümmert er sich um Lord Hallowhulmes Belange. Die Einheimischen sind Hesketh nicht eben gewogen. Lord Hallowhulme heckt viele Pläne aus, aber sie sagen, er sei ein gutmütiger Zeitgenosse mit dem Herzen am rechten Fleck; sein Vetter sei derjenige, der die Pläne vorantreibt, sobald sie ins Stocken geraten.»

Obwohl sie zusammen an Deck standen, hatte Henry dem zuvorkommenden Mr. Hesketh und seinen Mitreisenden nun den Rücken zugekehrt. Er beugte sich über die Reling, aber als Billie sich neben ihn stellte, sah sie, dass er nicht seekrank war, sondern scheu, und dass er die anderen mied.

 

HENRY. Edith hatte ihn in ihrer ersten Anstellung kennen gelernt, bei den Lees in Falmouth. Henry war Hauslehrer. Edith schrieb ihrer Schwester, dass ein Mr. Maslen eingetroffen sei, um die Jungen auf Höheres vorzubereiten. «Um ihrem Schöpfer gegenüberzutreten, in Gestalt von Eton, wie er sagt. Da die Zwillinge nun bei Mr. Maslen Latein und Deutsch lernen, habe ich nur noch die drei Mädchen in meiner Obhut. Dennoch habe ich nicht mehr Zeit. Mrs. Lees und ich verbringen die Nachmittage damit, Exlibris zu drucken und sie in jeden Band der Bibliothek zu kleben. Wir begannen mit den untersten Regalen, bis Mrs. Lees nebenbei die Vorzüge des Staubwischens entdeckte. Billie, der Staub hat mir die Jugend aus den Händen gesogen – du solltest sie sehen, schlimmer noch als nach Tantes Frühjahrsputz.» (Letzteres hatte Edith hinzugefügt, um ihre Tante zu ärgern, die Billie immer ihre Post vorlesen musste.)

Henry Maslen war, wie sich herausstellte, ein geborener Katalogisierer, ein Mann, der seine Bücher – oder die anderer Leute – kannte und wusste, wo sie hingehörten. Als Mrs. Lees ihre Exlibris im Stich ließ, um das Küchenpersonal beim Einmachen anzutreiben, da die Unmengen von Pfirsichen und Aprikosen reif waren, arbeiteten Henry und Edith zusammen. «Mr. Maslen kommt am frühen Abend hinzu und unterhält sich nicht nur mit mir, sondern unterhält mich auch prächtig mit Erläuterungen seiner Vorgehensweise. Ich necke ihn hin und wieder und nenne ihn Mr. Methode. Er nimmt es gnädig auf – ein wenig wie ein nervöses Pferd mit guten Scheuklappen – und setzt seine Ausführungen zuversichtlich fort, gerade so, als würde ich von meinem Spott ablassen, sobald es ihm nur gelänge, mir seine Systematik und die maßgeblicher Kollegen nahe zu bringen. Natürlich spotte ich nur, weil an mich nach den langen Stunden mit den faden Mädchen jeder Ernst vergeudet ist, gleichwohl es die Arbeit natürlich ernst zu nehmen gilt. Du fehlst mir, Billie. Je länger ich lebe und unterrichte, desto rätselhafter finde ich, was Vater so rüde deine Begriffsstutzigkeit nannte (als sei sie gewollt, eine Widerspenstigkeit, die du der Welt entgegenbringst, und verursache nicht die bestürzenden Schwierigkeiten, unter denen du leidest). Die Lees-Mädchen sind brav, aber keineswegs wach oder klug oder gewitzt (so wie du). Aber sie lesen. Sie lesen, doch lesen sie so, wie sie Suppe essen, nicht so, wie du meinem Vorlesen lauschst.»

Als Edith und Henry zu einer Übereinkunft gelangten, war Billie natürlich die Erste, die davon erfuhr. Genau genommen war es Billie allein, die davon erfuhr, als Edith das Weihnachtsfest zu Hause verbrachte. Ihre Großtante, bei der die Paxton-Mädchen nach dem Tod des Vaters aufgewachsen waren, konnte sie nicht einweihen. Tante Blazey hätte eine «Übereinkunft» zwischen einer Gouvernante und einem Privatlehrer im selben Hause für unziemlich erachtet. Sie hätte eine solche gewissermaßen als niederträchtig der Familie gegenüber empfunden, in deren Diensten sie standen. Edith vermutete, dass ihre Herrschaften diese Empfindung teilen würden – und hatte daher Henry überredet, die Verbindung geheim zu halten. Sie trug ihm auf, andere über seine Zuneigung zu ihr im Unklaren zu lassen, seine Gefühle zu verbergen. Bei ihrem Besuch zu Hause hatte Edith ihrer Schwester anvertraut, es verwirre sie ein wenig, wie mühelos Henry die Verstellung gelänge. «Die Mädchen ahnen wohl, dass ich Gefühle hege. Wenn er mich überrascht, werde ich rot, fange an zu stammeln oder klappere mit Tasse und Untertasse, und die Lees-Mädchen starren mir gebannt ins Gesicht, als warteten sie auf den Augenblick der Reaktion bei einem chemischen Experiment. Henry dagegen – er zuckt nicht einmal mit der Wimper. Das ist furchtbar! Die Mädchen sind voller Anteilnahme und Sympathie für mich – und Mitgefühl.»

«Mir hätten sie sofort eine Verliebtheit angedichtet», sagte Billie, «wenn es derlei Zeichen sind, nach denen sie suchen. Ich werde immerzu rot, stammele und klappere mit Tassen.»

«Bei dir ist es umgekehrt, Liebes. Du wirst rot, weil du stammelst.»

Im darauf folgenden Jahr fand Henry eine Anstellung als Lehrer in einer Schule. Er überreichte der Familie seine Kündigung und seiner Liebsten einen vergoldeten Silberring. Dann verstaute er seine Truhe auf dem Lastkarren und machte sich auf nach Crickhowell in Wales. Edith teilte ihrer Herrschaft mit, dass sie im Juni zu heiraten gedenke und dass sie hoffe, den Lees damit hinreichend Zeit zu lassen, einen Ersatz für sie zu finden. Mrs. Lees war jedoch offenbar der Ansicht, man habe sie hintergangen, und ließ Edith wissen, ihre Anstellung sei hiermit beendet und sie habe unverzüglich zu gehen. Ohne Empfehlungsschreiben. «Eine Liebelei unter meinem Dach!», sagte Mrs. Lees. Und Edith rechtfertigte sich: «Aber wir haben doch mit der Verlobung gewartet. Wir haben gewartet, bis Henry aus dem Haus war. Ist es denn unrecht, sich zu verlieben?»

Edith wurde ohne Empfehlungsschreiben nach Hause geschickt, und es folgte ein Brief an die Tante über ihre Hinterlist und Unverfrorenheit. Es war der zweite Brief dieser Art, den Tante Blazey erhielt – Billies noch kürzerer Ausflug in die Arbeitswelt hatte nach nur vier Monaten mit ihrer Entlassung geendet. Tante Blazey war krank und sorgte sich um die beiden Mädchen. Sie würde ihnen so wenig hinterlassen. Ihre Zimmer – sowie die Kerzengießerei ihres verstorbenen Mannes, über der sie zusammen wohnten – würden an den Neffen ihres Mannes gehen, der ebenfalls Kerzengießer war. Da blieb nur noch ein wenig Geld, je vierzig Pfund, und Edith würde Wilhelminas Erbschaft verwalten müssen, bis die Schwester volljährig wurde. Vierzig Pfund und ein silbernes Teeservice, das Porzellan, die Leinen und einige kleine Schmuckstücke. Mehr konnte die Tante nicht tun. Sie hatte gehofft, die Paxton-Mädchen, zumindest Edith, hätten ein wenig von ihrem gesunden Menschenverstand geerbt. So bekundete Tante Blazey ihre Entschlossenheit, Henry Maslen einer gehörigen Prüfung zu unterziehen, bevor sie starb. Sobald er sich für die Reise von Crickhowell losmachen könne, würde er vorstellig werden müssen.

Tante Blazey starb in jenem Frühjahr, noch bevor Henrys erstes Schuljahr um war. Sie kam nicht mehr dazu, ihn in Augenschein zu nehmen. Henry blieb in Crickhowell und fand dort eine Bleibe, ein Cottage mit einem kleinen Kämmerchen hinter der Küche für Billie. In einem Brief beschrieb er das Haus und seine Pläne. Er und Edith bestellten das Aufgebot. Edith vereinbarte alles Nötige mit dem Vikar, der ihre Tante beerdigt hatte.

Im Sommer reiste Henry nach Süden, zur Hochzeit und um die beiden Schwestern in seine Obhut zu nehmen. Edith war allein, als er an einem heißen Tag ankam, und verstaute Untertassen zwischen den Laken und Kissenbezügen in einer Truhe in den Räumen über der Gießerei. Sie machte ihm einen Tee, und er musste ihr versprechen, sitzen zu bleiben – er war doch gewiss erschöpft? –, während sie Billie holte, die, nach ihrem langen Fernbleiben zu schließen, in der Bucht hinter dem Hafenarm herumkraxelte. Edith gab ihm einen Kuss, setzte ihren Hut auf und ging hinaus.

So stellte Billie sich die Situation immer vor, den dampfenden Kessel, Henry vor der Zinnkanne und einer der beiden noch nicht eingepackten Tassen und vor dem angeschlagenen Krug, den sie nicht mitnehmen würden und der mit Milch gefüllt und von einem perlengeschmückten Tuch bedeckt war – ihr Werk, der Sprung wie die Perlenverzierung. Edith gab Henry einen Kuss, setzte ihren Hut auf und schloss die Tür, und Billie stellte sich vor, wie Henry aufstand, um Edith vom Erkerfenster in der Stube aus die Straße entlanglaufen zu sehen. Die Ausschmückung dieser Ereignisse gehörte zu Billies Bildergeschichte, der Geschichte des ersten Zusammentreffens zwischen ihr und Henry. Billie stellte es sich gern aus seiner Sicht vor.

Folgendes war geschehen: Tante Blazey war seit sechs Wochen unter der Erde. Die reizbare, schrullige Tante Blazey, zu der sie ein gutes Verhältnis gehabt hatten, geprägt mehr von Sympathie denn von Zärtlichkeit oder Ergebenheit. Jetzt, da es schwül und heiß geworden war, bereute Billie inständig, dass sie ihr zweitbestes Kleid schwarz gefärbt hatte. Es war ein unregelmäßiges rostiges Schwarz geworden, nahm gleichwohl die Sonnenwärme auf und gab sie an das überflüssige Korsett weiter – Billie war nicht üppig gebaut, es gab nichts zu halten oder in Zaum zu halten. Sie trug ihr Kleid, ein Korsett, einen Unterrock, ein Hemd, einen Schlüpfer, Strümpfe und Schuhe und verging darin schier vor Hitze. Am Tag von Henrys Ankunft schlenderte sie am Hafen den Eselspfad entlang und folgte dann dem Zickzackpfad, den die Wellhornschneckensammler benutzt hatten, um das bröckelnde Kliff hinunterzugelangen. Sie ließ ihre Schuhe oben, ihre Kleider unten und glitt in Hemd und Schlüpfer in die Brandung.

Billie konnte schwimmen. Ihr Vater hatte es ihr beigebracht, als sie fünf war, in Südfrankreich, wohin er mit den Töchtern vor seinen Schulden geflohen war. Sie hausten zu der Zeit in einem Hotelzimmer in Beaulieu-sur-Mer, als ihr Vater Billie um einer Wette willen das Schwimmen beibrachte. Die Männer, mit denen er gewettet hatte, Fischer und Fischhändler, liehen Mr. Paxton ein Boot und folgten ihm in geringem Abstand vom Ufer hinaus, wo die Farbe des Wassers von Azur über Wüstensand und Tiefblau bis zu dem Rot der Algen auf dunklem Fels wechselte. Edith saß am Ufer, die Stola hochgezogen, um ihre blasse Haut zu beschatten, und der Schatten machte ihre roten Locken schwarz. Mr. Paxton zog seiner Jüngsten Schuhe, Strümpfe und Kleid aus und ließ sie seitlich ins bewegte, salzgesättigte Wasser hinunter. Sie hielt sich am Heck fest, während er ruderte, die dünne Unterwäsche klebte durchsichtig an ihrem mageren, sommersprossigen Körper, die Haare wurden in geraden Strähnen durchs Wasser gezogen und verfärbten sich von Rotblond zu einem transparenten Orange. Mr. Paxton ruderte, Billie lachte, trat Wasser, löste eine Hand und ließ schließlich ganz los, während das Boot neben ihr auf und ab wippte, warf den Kopf in den Nacken und paddelte wie ein Hund, und die kleinen Wellen brachen sich an ihren versiegelten Lippen. Billies Vater rief: «Du meine Güte! Ich habe einen Krebs verloren!» Billie lächelte und wand sich im Wasser, während die Zuschauer in den Booten applaudierten und auf Französisch Worte des Lobes und der Bewunderung riefen. Einen Sommer lang betrieb Billie das Schwimmen als Beruf oder vielleicht besser als Theater. Paxton reiste mit seinen Töchtern nach Nizza oder Villefranche oder San Remo, und während sie auf der Steinmole oder einer Strandpromenade entlangschlenderten, rutschte Billie irgendwann auf ein Zeichen ihres Vaters aus und fiel hinunter, sodass das Wasser über ihr zusammenschlug. Darauf rief Mr. Paxton ihren Namen, warf den Mantel ab, schleuderte die Schuhe von sich und sprang hinterher. Billie ließ sich von ihm packen, und er watete, vor Sorge schluchzend, an Land. Sie wurde von einem zum anderen gereicht, ließ sich von Fremden das Gesicht tätscheln und die durchweichten Kleider lockern. Sie kam zu sich, und es flossen dankbare Tränen. Das Einzige, was Edith dabei je zustande brachte, war, bleich vor Scham, die wohl für Schock durchgehen konnte, im Hintergrund zu bleiben. Billie ergab sich den Decken, noch mehr Tränen, mit Wasser verdünntem Brandy, heißer Schokolade – und an einem bestimmten Punkt der Ereignisse nahm Edith Mantel und Schuhe des Vaters auf, woraufhin Mr. Paxton das Fehlen seiner Brieftasche bemerkte. Entwendet von irgendeinem herzlosen Nutznießer des Durcheinanders. Billies Schwimmausflüge brachten den Paxtons niemals weniger als ein Abendessen und den Unterhalt für mehrere Tage ein. Und für Billie gewann das Schwimmen vielfältige Bedeutung. Es war ein Geheimnis zwischen ihr und ihrem Vater; sein bleiches, angespanntes Gesicht, sein verschlagener Seitenblick und das Blinzeln als Einsatz für ihre Hingabe entzückten sie. Sie fiel gern, schnell durch die Luft, langsam und geräuschvoll durchs Wasser, und sie mochte das Gefühl, durch die dunkel dröhnenden, zischenden Luftblasen wieder aufzusteigen, die Oberfläche zu durchbrechen und das Geschrei zu hören: «Au secours! La petite! Vite!» Sie kreischte dann und strampelte, drehte sich rechtzeitig mit dem Gesicht ins Wasser, um die langen, behosten Beine und bestrumpften Füße ihres Vaters auf sich zukommen zu sehen. Dann hob er sie auf, durchnässt und benommen. Sie hing in seinen Armen, wurde gewiegt und gestreichelt und beatmet, konnte vorgeben zu weinen und wurde stundenlang umhegt. Es war wunderbar.

Und Henry sah sie zum ersten Mal schwimmend.

Billie war, fünf Meter vom steilen Kiesstrand des Ufers entfernt, über den kalten Schatten des Kliffs hinausgeschwommen. Sie hörte ihren Namen, drehte sich um und sah Edith, oben auf dem Kliff, wo der Pfad begann. Ediths Kleid ruckte über den obligatorischen zwei Unterröcken wie ein dichter Busch in einem Windstoß. Und Billie sah Henry hinter ihrer Schwester – oder vielmehr einen Mann, von dem sie annahm, dass es sich um Henry handelte. Er war Edith gefolgt, für Augenblicke von ihr unbemerkt, seine Schritte im Branden der Wellen auf dem Kies unhörbar. Billie wusste, dass er sie sah, denn er drehte sich zur Seite. Sie sah, wie er den Kopf abwandte. Und dann wanderte sein Blick zurück. Billie schwamm ans Ufer und tauchte, die Arme um den Körper geschlungen, aus den Wellen auf. Sie lief in den Schatten, außer Sichtweite des Vorsprungs, warf ihre Kleider über und kletterte hinauf, indem sie die von der nassen Unterwäsche durchtränkten Röcke raffte. Ihr Mieder war erst halb zugeknöpft, die Füße bloß, und das Haar hing in langen salzigen Zöpfen herab. Sie war zwar nicht sehr schicklich gekleidet, doch begierig darauf, Henry kennen zu lernen. Ediths geliebten Henry. Er errötete, wirkte scheu und ebenso eifrig. «Du bist inzwischen viel zu alt dafür», schalt Edith sie. «Man könnte dich sehen. Oder bedrängen.» Edith schob das Haar ihrer Schwester beiseite und knöpfte das Mieder ganz zu. «Sie ist so ein Wildfang», sagte Edith zu Henry, Koketterie und Klage zugleich.

Henry lächelte und nahm beider Hände, je eine, sodass sie dort im Wind und im Getöse der Brandung an einem Scheideweg standen – am Rand des Kliffs oder an der Schwelle zu ihrem neuen Leben. Es war ein Augenblick intimer Eintracht, aus der Billie schloss, dass Henry schon alles über sie erfahren hatte – ihre Tugenden ebenso wie ihre Verfehlungen – und dass er ihr Freund sein wollte. Und deswegen konnte sie ihm erzählen, weshalb sie geschwommen war, trotz der Risiken und der Unbill, die es mit sich brachte. «Es war das letzte Mal», erklärte sie. «Ich wollte mich verabschieden.»

 

ES WAR NUN GANZE ZWEI JAHRE HER, dass Billie kopfunter eingetaucht war. Sie war jetzt zwanzig. Aber sie konnte nicht lesen, und sie hatte Mühe gehabt, die Uhr zu entziffern, bis Henry ihr den silbernen Ring gekauft hatte, den sie am kleinen Finger ihrer rechten Hand trug; wenn sie nun vor einer Uhr stand, konnte sie bestimmen, ob der Minutenzeiger sich zur halben Stunde senkte oder zur vollen Stunde aufstieg. Sie konnte nicht lesen, und in bestimmten Belangen stellte sie sich noch immer tölpelhaft an – zum Beispiel konnte sie rennen und springen, aber nicht tanzen, sie konnte Brot backen und Bücher binden, stricken und sticken, konnte jedoch nicht mit einem Ponywagen betraut werden. Gemeinsam, einander Mut machend, hatten Edith und Henry ihr beigebracht, Noten zu lesen. Melodien nachsingen konnte sie bereits. Jetzt gelang es ihr, mit viel Geduld, ein Stück vom Blatt zu lesen. Und wenn sie das Lied einmal auf ihrem Klavier gespielt hatte, behielt sie es für immer im Kopf. Ihr Spiel verbesserte sich, und mit Ediths und Henrys Hilfe lernte sie sogar, ein paar eigene schlichte Melodien aufzuschreiben. Billie war innerlich gewachsen und hatte Fortschritte gemacht, sie wurde geliebt und war unentbehrlich, doch häufig schien es ihr, als habe noch nichts sie dafür entschädigen können, dass sie nicht mehr auf dem Kamm einer Welle getragen oder in der eisigen Gischt eines Brechers umhergerollt wurde.

 

BILLIE STELLTE DEN EIMER ZU IHREN FÜSSEN AB und beugte sich neben Henry über die Reling. Er hielt mit einer Hand seinen Hut fest. Seine Knöchel waren weiß, aber nur vor Kälte. «Das ist Alesund Head», sagte er zu ihr. «Siehst du die Felsen dort?»

Die Landzunge erstreckte sich direkt neben ihnen, zu nah, eine riesige Mauer braunen Torfs mit helleren, lebhafteren gelben Flächen dort, wo die Heide zu blühen anfing. Das Ganze sah zerklüftet, blank gewaschen und steinig aus, und leer.

«Die Felsen sind aus Kissack-Gneis. Kissack-Gneis ist der älteste Stein der Welt», klärte er Billie auf. «Ungefähr zweitausendachthundert Millionen Jahre alt.»

Es sah aus, als wäre dem Felsen in der Zwischenzeit nicht viel zugestoßen. Außer der Zwischenzeit.

«Wenn wir erst einmal die Landzunge umschifft haben, können wir Stolnsay sehen», sagte Henry. Sein Gesicht war vom Wind gerötet, die Lippen spröde. Er deutete auf die Spitze der Landzunge, hinter der soeben ein kleiner Dampfer aufgetaucht war, eine gekräuselte Rauchfahne hinter sich herziehend, während er von einer Seite zur anderen schlingerte. «Das wird wohl das Lotsenboot sein, das wir am Donnerstagmorgen besteigen sollten, nur kam es nicht durchs Riff.» Henry lenkte den Blick seiner Schwägerin zurück auf den kurzen Streifen silbrigen Wassers zwischen Kissack und den Inneren Hebriden, deren Berge von hier weniger wie eine Landschaft denn ein Haufen Gewitterwolken aussahen. Das Riff zeigte sich als weichende Reihe von Biesen und Borden im Meer, als wäre das Wasser ein Webstoff mit ungleichmäßigem Zug von Kettfäden oder Einschlägen. «Das Lotsenboot scheint im Wash zu stecken. Der Wash ist eine unberechenbare Strömung, die um Alesund Head herumfließt.» Henry vermutete, dass der Lotse ausgelaufen war, weil die See noch immer rau war. Oder vielleicht kam er dem Dampfer immer an der Hafenmündung entgegen. Billie sagte, sie hoffe, dass die Gustav Edda nicht zum Halten aufgefordert würde. «Edith ist sehr unwohl. Sie schickt mich, dich zu holen – falls du nicht selbst frische Luft nötig hast.»

Henry legte ihr eine Hand auf den Rücken. «Ich gehe», sagte er und dann: «Vergiss den Eimer nicht, Billie.»

Zuweilen brauchte sie eine Ermahnung. Sie erinnerte sich an Gesichter und Jahre zurückliegende Gespräche, getreu, lebhaft, als hätte sie einer Person, einer Situation eben erst den Rücken gekehrt – ihrem Vater zum Beispiel in einem kleinen Hotelzimmer mit abblätterndem Putz an der Decke und Rostflecken an der schmiedeeisernen Balkonbrüstung. Aber sie hatte oft Mühe, sich daran zu erinnern, was sie als Nächstes vorgehabt hatte – die Reihenfolge der Tagesverrichtungen, was sie auf dem Markt einkaufen wollte oder ob Muskatnuss vor dem Zucker in den Frumenty Pudding kam.

Henry ließ sie allein. Sie sah ihm nach, sah, wie klein und adrett er wirkte, als er durch die dicht gedrängte Gruppe der Männer zwischen Kombüse und Steuerhaus hindurchging. Ihre Mäntel waren dunkel und dick und schwer – gute Qualität, das wusste Billie, aber Henry bewegte sich flink und ungeniert zwischen ihnen, eine Hand noch immer auf der Hutkrone, die andere zum Gruß an die Krempe erhoben. Die Männer nickten, traten beiseite, ließen ihn durch. Sie waren alle größer als Henry. Sie und Edith waren schmal, jedoch beide annähernd so groß wie er. Er lachte immer über seine Größe und beglückwünschte sich und sie dazu, wann immer sie auf der engen steilen Treppe des Cottage in Crickhowell aneinander vorbeimussten.

Billie fühlte sich beobachtet. So viel konnte sie durch die Tentakeln ihrer langen zerfahrenen Locken erkennen, die unter der Stola herausgerutscht waren und ihr ins Gesicht wehten. Sie sah ein ihr zugewandtes bleiches Antlitz, wie einen wohlgeformten Glanz über dem üppigen Schwarz des Zobelkragens und dem geschmeidig gekämmten Astrachanpelz.

Billie wandte sich ab, um den Eimer zu leeren, und weil sie nicht nachdachte, warf sie den guten halben Liter Schleim in den Wind. Der Wind fing den Auswurf auf, hielt ihn in der Luft fest und schleuderte ihn dann Billie entgegen, die sich duckte. Nichts von dem ekelhaften Inhalt traf sie. Sie richtete sich wieder auf, schob sich einige rote Ranken ihres Haars aus dem Gesicht und sah sich unverhofft dem schönen Zobelkragen gegenüber und dem mit Fäden körniger Galle bespritzten Astrachanmantel.

Billie ließ den Eimer fallen. Er schepperte und rollte davon. Sie stand mit offenem Mund da und versuchte zu hören. Es schrillte in ihren Ohren.

Er hatte die Hände abgespreizt, die Arme, und sah an seinem Mantel herunter, zu angewidert, um ihn anzufassen. Billie sah, wie der Wind sein helles Haar teilte, wie Wasser, das zu Wasser fließt. Er blickte hoch, als sie auf ihn zukam, taumelnd, aus dem Gleichgewicht gebracht durch ihre taube Tölpelhaftigkeit und das Schlingern des Schiffes. Billie nahm sich die Stola vom Kopf, um seinen Mantel zu säubern. Die Haarspitzen fielen ihr nach vorn und vermengten sich mit dem Schleim, aber sie wischte weiter, faltete die Stola und fand einen sauberen Flecken für weiteren Dreck. Sie sah, dass die Flüssigkeit Schlieren hinterließ wie Schneckenspuren auf der Ziegeltreppe des Hauses in Crickhowell. Sie konnte nicht sprechen, wusste, sie würde nur ein Stammeln hervorbringen.

Er unterbrach sie, hob langsam die Arme und schob ihre Hände auseinander. Aber er versuchte nicht, sie festzuhalten; er führte seine eigenen behandschuhten Hände zusammen, schob mit den sauberen Ärmeln ihr Haar zurück, sodass seine Arme sich in ihrem Nacken trafen, um ihr das Haar aus dem Gesicht zu halten. Er bewegte sich langsam, offensichtlich bemüht, sie nicht zu verschrecken oder zu beleidigen, und erweckte dadurch den Eindruck, als hebe er etwas Schweres oder finge etwas Lebendiges ein – ihr Haar.

«Es tut mir so Leid!», sagte Billie. Sie war eher verzweifelt als beschämt. Sie hatte ihre eigene Dummheit satt, hatte es satt, verständig genug zu sein, um Scham empfinden zu können, aber zu keiner Besserung imstande zu sein. Dann ließ sie die Stola fallen und duckte sich unter seinen Armen hinweg. Sie entfernte sich auf allen vieren, stand auf und stieß sich den Kopf an einem der kurzen hervorstehenden Ecktürmchen, die den Motorraum belüfteten. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, und sie blickte zurück zu der verschwommenen dunklen Masse all dieser Mäntel. Dieser Männer. Sie floh zum entgegengesetzten Ende des Dampfers und lehnte sich schwer gegen die Wand des Steuerhauses.

Von ihrem Zufluchtsort aus sah Billie, als sie sich etwas gefangen hatte, wie der Lotse längsseits kam und beide Schiffe ihre Motoren drosselten. Ein Boot wurde vom Lotsenschiff herabgelassen und eine Leine von der Gustav Edda geworfen. Der Kapitän der Gustav Edda wartete darauf, dass der Lotse und ein weiterer Mann über das hölzerne Fallreep hinaufgeklettert kamen, das von zwei Matrosen über die Bordwand entrollt worden war.

Acht Glasen wurden geläutet.

Der blonde Mann im Astrachanmantel kam hinzu, mit seinem Diener im Gefolge. Billie drückte sich flach gegen die geschlossene Tür. Doch er achtete gar nicht auf sie. Er wollte wissen, was es für ein Problem gab. Offensichtlich gehörte er zu jenen Menschen, die kein Problem anerkennen können, das sie nicht vorher in Augenschein genommen haben. «Was könnte das Problem sein?», fragte er. Das war ein weiterer Ausdruck, den Billie schon immer bemerkenswert gefunden hatte – das Zugeständnis, das im «Könnte» lag, im Gegensatz zum unbequemen «Ist».

Der Lotse fragte den Kapitän nach dem Ladungsmanifest. Er beäugte das von einer Persenning verhüllte Gebilde, das fest am Achterdeck festgezurrt war. Der Kapitän erklärte, dabei handle es sich um das neue Automobil von Lord Hallowhulme. Die Sitze und Türen befänden sich im Laderaum, wo das Leder vor dem Wetter geschützt sei. Der Lotse erwiderte, ihn interessiere mehr, wie die Kohle verstaut sei. Der Wash sei heute ganz besonders tückisch. Der Kapitän versicherte, die Ladung sei seefest, ließ jedoch den Lotsen und seinen Begleiter hinuntergehen, damit sie sich selbst davon überzeugen konnten.

Der Mann, den Billie mit Ediths Galle überschüttet hatte, verlor das Interesse und kehrte zu dem geschützten Plätzchen zwischen Kombüse und Steuerhaus zurück. Der Lotse tauchte wieder auf. Ihm folgte der andere Mann, der, wie Billie bemerkte, etwas Merkwürdiges tat – er stopfte seine Hemdzipfel in die Hose, als hätte er unten eine Veranlassung gehabt, seine Hose aufzuknöpfen und aufzugürten. Billie war ganz gebannt. Der Lotse wirkte zufrieden. Dann entdeckte er Billie und schien den Kapitän zu fragen, wer sie sei.

«Miss Wilhelmina Paxton», hörte Billie den Kapitän sagen, «sie reist mit ihrer Schwester und deren Mann, Mr. Henry Maslen.»

Der Lotse wandte ein, er sei davon ausgegangen, dass Mr. Maslen und seine weibliche Begleitung noch ein paar Nächte in Dorve ausharren würden. Er habe sie hinüberbringen sollen. Ihre Eile sei unnötig gewesen. Das sagte er so laut, dass Billie es hören konnte, und es klang bedauernd, als rechtfertige er sich für irgendetwas. Vielleicht hatte er Billies Schamesblässe für Seekrankheit gehalten.

Der Lotse und sein Begleiter kletterten zum Boot hinunter und ruderten zu ihrem kleinen Dampfschiff zurück, das sich binnen einer Minute wieder in Fahrt befand, auf leicht gebogenem Kurs auf die Landzunge und den Wash zu. Die Gustav Edda folgte.

Billie blieb an Deck, auf der Windseite, außer Reichweite der übrigen Passagiere. Ohne ihre Stola war ihr sehr kalt. Als die Gustav Edda in den Wash geriet und in einer seltsamen Drehbewegung zu schwanken begann, hielt sich Billie an den dicken Schlepptauen an der Wand hinter ihr fest. Der Dampfer fing sich, als hätte die Strömung ihn wieder in seine Bahn gestoßen, und quälte sich dann um die Landzunge herum. Allmählich beruhigte sich die See.

Fünfzehn Minuten später erblickte Billie zum ersten Mal Stolnsay.

Das Land rings um die Stadt unterschied sich in nichts von der restlichen Landschaft – wenn das Wort überhaupt angebracht war. Es war nahezu baumlos, von einer Viertelmeile entlang eines Hafenarms abgesehen. Die Bäume dort bildeten einen Hexenwald aus flechtengebleichten Buchen, Birken und Haselnusssträuchern, die ein graues Kalksteinschloss einrahmten. Das Schloss war recht neu, eine Extravaganz aus ornamentalen Zinnen und Türmen, eingebetteten Steinwappen, Sphinxen, Drachen, Greifen und Löwen. Das Gebäude hatte zwei Flügel, die etwas unbeholfen ausgerichtet waren, gleich den Mutmaßungen eines Präparators über Anatomie und Haltung eines Geschöpfs, das er nie zu Gesicht bekommen hat. Von dem Waldstück abgesehen gab es nur einige wenige Bäume nahe den drei weithin sichtbaren Kirchen des Ortes. Die übrige Landschaft bestand aus Stein, behauenem Stein, Häusern, die den Hügeln an den Orten abgetrotzt worden waren, wo der grünbronzene Torf wie vom Fels geschrubbt wirkte, als wäre jeder Hügel ein massiver Stein unter fleischlosem, fettlosem Torfpelz.

Es war kein hässlicher Ort, doch er sah streng und abweisend aus, um die lange Bucht eines Fischereihafens herum gewachsen. Es herrschte Flut, und die entlang der Mauer im Hafenbecken vertäuten Fischerboote waren kaum drei Meter vom Kai entfernt. Hinter dem Kai verliefen mehrere Straßen mit zweistöckigen Häusern. Auf der dahinter liegenden Anhöhe standen weiß gekalkte Cottages, jedes für sich, nichts dazwischen, nicht einmal Steinzäune. Stolnsay war der größte Ort auf der Insel, doch Billie sah keine öffentlichen Gebäude außer den Kirchen und der Post. Ihr war sofort klar, was das bedeutete – dass es draußen keine Zuflucht vor drinnen gab, keine Gärten, beschnittene Bäume, Hecken, Gartenbänke, nicht einmal Veranden oder Gassen. Keine Zuflucht draußen vor drinnen – und drinnen waren Edith und Henry.

In den vergangenen zwei Jahren des schwesterlichen Ehelebens war es Billie bisher stets möglich gewesen, Hut und Stola zu nehmen und die beiden in ihren privaten Augenblicken, mit ihrem privaten Glück allein zu lassen. Oder es gab inhäusige Zufluchten, wie das kühne, entschlossene Ticken der Küchenuhr, das Plaudern des Kessels auf dem Kohleherd oder das Zwitschern des Singvogels in dem winzigen Schlafzimmer mit ihrem zinkgelben Kinderbett hinter der Küche, dessen Wände mit den gefirnissten Seiten des Handelsanzeigers zusätzlich isoliert waren. Billie dachte über ihre Zufluchtsmöglichkeiten nach – und über die Motive ihrer Flucht. Edith, auf der Polsterbank, lose Fäden von der Innenseite ihrer Unterröcke zupfend, neue Laufmaschen in der weichen Baumwolle. Ediths Gesichtsausdruck: selbstgefällig, großmütig, vornehm. Es gab auch den sanften wohligen Blick, den Edith zuweilen aufsetzte, wenn Billie ihr morgens eine Tasse Tee hinaufbrachte. Billie hatte sich oft gefragt, ob es Scham war, die sie verspürte, oder Neid. Sie war nicht außen vor. Beim Spazierengehen hakten Henry und Edith sie stets von beiden Seiten unter. In der Kirche saß sie zwischen ihnen; und Henry sorgte immer dafür, dass die einzige gute Lampe ihr Licht zu gleichen Teilen auf Ediths Nähzeug und Billies Noten warf – während er selbst auf dem Boden las, mit dem Rücken an Ediths Sessel und einem Fuß auf dem eckigen Pilasterfuß von Billies Klavier. Wenn Billie Henry auf der Treppe entgegenkam, auf dem Weg nach oben mit dem Tee für Edith – die jüngst Übelkeit verspürte oder Erschöpfung und ein Ziehen im Unterleib –, beugte sich Henry rasch hinab, mit sanftem Blick, und küsste Billie auf die Wange oder einmal aufs Ohr, wobei er einige Härchen an ihrer Schläfe traf und ihre ganze Kopfhaut zum Prickeln brachte.

Neben dem Steuerhaus, an Deck der Gustav Edda, schob Billie Paxton ihr loses Haar nach hinten, um ihren neuen Wohnort zu begutachten. Das Haar lag schwer auf den angewinkelten Armen und umflatterte sie. Billie merkte, wie die beiden uniformierten Jungen sie anstarrten. Sie schienen sich zu beraten, sich gegenseitig zu ermuntern und kamen dann auf sie zu. Sie nahmen die Mützen ab, doch der starke Wind konnte in ihrem kurz geschorenen Haar lediglich ein drahtiges Zittern erzeugen. Der eine sprach, der andere sah sie nur an. Der Junge, der sie ansprach, hatte leicht vorstehende blassblaue Augen, darüber hinaus aber ein ansprechendes Äußeres. Er mochte fünfzehn sein. Er stellte sich vor – Rixon Hallow, und dies sei sein Freund Elov Jansen. Er hoffe, Mrs. Maslen finde die Kabine bequem. Billie nickte sprachlos. Der Wind stach einen kalten Finger durch eine geplatzte Naht unter ihrem Arm. Der Junge wurde rot. Er wartete auf etwas. Billie besann sich darauf, dass die beiden, als Teil der Gruppe, die den unerwartet in Luag aufgetauchten Maslens ihre Kabine überlassen hatte, möglicherweise Dank von ihr erwarten mochten. Diese Jungen hatten während der zehnstündigen Überfahrt an Deck herumspazieren müssen. Überrumpelt – und unvermittelt – machte Billie einen jähen kurzen Knicks; sie knickste, wie sie es vor ihren Herrschaften während ihrer kurzen Anstellung getan hatte. Es widerstrebte ihr, dass man sie daran erinnert hatte, Dankbarkeit zu zeigen, dass sie – wieder einmal – für undankbar oder zögerlich befunden worden war.

«Mr. Hesketh sagt, er lässt Ihnen die Stola zukommen, sobald sie gereinigt wurde», sagte Rixon Hallow. Er war noch immer rot.

«Vielen Dank.» Billie entschuldigte sich und sagte, sie müsse ihrer Schwester beim Ankleiden helfen.

Der Motor war gedrosselt worden. Das Schiff lief nicht die geschützten Tiefen des eigentlichen Hafenbeckens an, sondern einen Ankerplatz auf der Seeseite des längsten Piers. Billie sah, dass der Pier als Verbindung zu einer weitaus älteren Burg errichtet worden war, genauer, einer kleinen Festung auf einem Eiland, das wohl einmal eine Felseninsel gewesen war. Aus der Nähe sah sie verfallen aus, die unteren Mauern überzogen von dicken Salzkrusten, die scheibenlosen Fenster geschützt von Stangen in Form rostiger Eisenpfeile.

Billie ließ die Jungen zu beiden Seiten stehen, noch bevor sie ihre Kappen wieder aufgesetzt hatten. Sie zog den Kopf ein und eilte um das Steuerhaus herum, achtete nur auf ihre Schritte, die Hand am Strickgeländer entlang der Steuerhauswand. Die See war jetzt so ruhig, dass Billie hören konnte, wie der Sott aus dem Schornstein zischend in die Wellen fiel. Sie drehte sich nach dem Geräusch um und sah das Wasser, klar und beinahe grasgrün über einer langen Sandbank zwischen Felsen, vielleicht zehn Meter tief. Die See wurde über den Felsen wieder grau, aber Grün war die wahre Farbe ihrer dichten Transparenz. Das Schiff fuhr seine Schrauben ein, und Billie sah kleine windgeblasene Wellen, die von noch kleineren, vom Motor aufgewühlten Furchen gekreuzt wurden; die Kreuzschraffierung bildete die Schwelle zwischen natürlichem, vom Wind aufgewühltem und unnatürlichem submarinem Tumult. War es die Farbe oder das Muster – dieser neuartige Ausdruck der von Motorenkraft bewegten Wassermassen –, die See wirkte auf einmal fremd auf Billie, wie seit der frühen Kindheit nicht.

An der Luke begegnete sie Henry. Er sagte, er sei ausgeschickt worden, um sie zu holen. Edith habe ihm gesagt, dass Billie den Stiefelknöpfer habe. Dann sagte er: «Sieh dir dein neues Zuhause an.»

«Ich habe es gesehen.»

Er berührte ihre Wange. «Du musst erschöpft sein, Liebes. Und durchgefroren. Bist du ohne deine Stola oben gewesen?» Seine Hand war warm. Billie neigte flüchtig den Kopf in seine Handfläche. Dann ging sie an ihm vorbei und stieg die Leiter in den düsteren Gang hinab.

Edith saß aufrecht in ihrer Koje, mit sauberem Gesicht und einem Hut lose auf dem feuchten Haar. Ihre Füße steckten in offenen Schuhen. Die Kabine stank nach Erbrochenem, Schweiß und Beklemmung. Billie hockte sich zu Füßen ihrer Schwester, holte den Stiefelknöpfer aus dem Beutel an ihrem Gürtel und begann, die ziegenledernen Knöpfe durch die gedehnten Löcher zu ziehen. Ediths Füße waren geschwollen, dick und empfindlich. «O Gott, mach, dass ich die restliche Zeit nicht liegen muss», sagte Edith. «Mir graut davor, dass sie mich vom Schiff tragen müssen. Was für eine Schmach.»

«Lord Hallowhulmes Vetter hat uns diese Kabine überlassen», entgegnete Billie. «Sicherlich wird ihn eine Kutsche erwarten.»

«Aber uns erwartet man in Southport, Billie», hielt Edith dagegen. «Am Donnerstag.»

«Ich meine, dass wir ihre Kutsche ebenso übernehmen können wie ihre Kabine.»

Edith lächelte. Sie entzog ihren Fuß den Händen ihrer Schwester. «Lass ihn am Knöchel ein wenig geöffnet, sonst werde ich lahm. Meine Füße brennen wie von tausend Stecknadeln.» Edith machte keine Anstalten, sich zu regen. Sie sagte, sie werde warten, bis das Schiff endgültig angelegt habe.

Billie ging Henry suchen. Sie sorgte sich, dass sie Edith zu zweit würden tragen müssen. Unter der Luke trafen sie zusammen und verharrten im nun reglosen Lichteck am Fuße der Leiter. Henry sagte, man könne den Matrosen, die seine Schreibmappe, das Mikroskop und die Druckpresse auf das Schiff getragen hatten, auch seine schwangere Frau anvertrauen. Er nahm Billies Hände und forderte sie auf, nicht länger zu zagen. «Das passt gar nicht zu dir.»

Die Gustav Edda vibrierte, als die Ankerkette herausglitt.

«Du musst dich ein wenig fangen», sagte Henry. «Ich meine, Lord Hallowhulme persönlich am Pier erblickt zu haben. Er wartet auf uns. Mit gerunzelter Stirn.»

«Er wartet auf seinen Vetter und die Jungen in Uniform», entgegnete Billie. Und dann brach sie in Tränen aus. «Das Wasser sieht so kalt aus», schluchzte sie. «Und wo sind die Bäume?»

Henry versuchte, ihr Gesicht zu sich zu drehen. Er drückte ihre Schultern leicht an die Holzwand und berührte ihr Kinn. «Liebes?», sagte er. «Mein armes Mädchen.» Er wischte eine Träne fort, um Billie sanft unter einem Auge zu küssen.

Sie wandte den Kopf, und ihre Lippen streiften sich. Henry fuhr zurück, einen Fingerbreit, löste sich. Sie atmeten beide aus, und ihr Atem verschmolz und umfing ihre Gesichter, warm und feucht wie Sommer im Süden. Henry starrte sie an, mit bleich glänzendem Gesicht, und kam wieder näher. Er legte seinen Mund auf ihren, öffnete die Lippen, und etwas ging von seinem Mund in ihren über.

Die Leinen wurden festgemacht. Billie hörte, wie von weit her, den Befehl, die Gangway auszufahren. Sie machte sich von ihrem Schwager los, stieß ihn beiseite und kletterte die Leiter hoch. Einmal trat sie auf ihren Saum, fiel auf den offenen Lukendeckel und hörte Nähte platzen. Henry packte ihren Knöchel. Seine Berührung verursachte Billie irgendwo in ihrem Körper lähmende Zuckungen. Sie strampelte sich frei, stolperte an Deck, die Beine unsicher, der Raum zwischen ihnen voll, als wäre dort etwas zu doppelter Größe angeschwollen.

Der kalte Wind brannte auf ihrem Gesicht.

Billie stürzte durch die Gruppe der vier Herren. Einer der Kadetten taumelte, seine Kappe fiel herunter und rollte auf der Krempe davon. Eine Hand ergriff ihren Arm – Hesketh, ungehalten und unnachgiebig. Sie warf sich mit ihrem ganzen Gewicht zurück, um seiner Umklammerung zu entkommen, fiel auf die Hüfte, schluckte Luft und eine Prise Teer zwischen den Hölzern an Deck, sprang erneut auf und rannte.

Sie lief auf die Gangway zu, die zwei Matrosen an der Reling noch justierten. Das Ende der Planke schwebte über den Steinen, eine Handbreit Luft zu beiden Seiten, eine darunter, eine darüber. Billie wollte das Schiff hinter sich lassen. Sie wollte auch das Ufer hinter sich lassen, Henrys «Zuhause», einen Ort ohne Bäume und Zäune. Sie wollte springen, als wären Schiff und Ufer Sprungbretter zu festerem Grund, zu einer lebbaren Zukunft. Billie stürzte zwischen den beiden Männern hindurch und an ihnen vorbei. Ihre Füße trafen geschickt die Mitte der Planke – und die Männer ließen sie fallen. Einen Moment hing sie in ihrer Verankerung, während die Gustav Edda sich Zentimeter um Zentimeter dem Pier näherte, dann sprang Billie erneut ab, die Gangway gab nach und verdrehte sich, ein Scharnier brach, und das Ende der Planken knallte auf den Rand des Steinpiers. Das ganze Gebilde zersplitterte. Doch Billie hatte es bereits hinter sich gelassen, die Planke, die brüllenden Männer – der Stein war nur noch wenige Zentimeter von ihren Füßen entfernt. Sie machte sich bereit, zu landen und weiterzulaufen.

Statt anzukommen, aufzusetzen oder zurückgezerrt zu werden, verspürte Billie einen heftigen Schlag. Eine unbekannte Kraft schleuderte sie nach vorn. Das Haar flog ihr ins Gesicht, ihre Beine wurden auseinander gerissen, und sie überschlug sich, flog nach vorn, mit weit geöffneten Augen. Urplötzlich sah sie den Pier, seine grüngrauen Steinplatten, auf dem Kopf. Sie sah weiß lackierte Holzsplitter und Stücke der Gangway unter ihrem Scheitel vorbeifliegen und schneller über den Stein wischen, als je das Stauwehr in Crickhowell ihre hingestreuten Gänseblümchen hinabgesogen hatte. Dann sah sie Hanfmatten und jutebedeckte Ballen unter sich. Sie streckte die Arme aus und fiel.

 

BILLIE HOB DAS GESICHT AUS DEM MUFFIGEN HANFBÜNDEL. Im linken Ohr hatte sie ein Dröhnen, doch ins rechte brandete das Rauschen des Meeres. Die See füllte ihren Kopf und kreischte wie Stahl auf Stein. Billie drehte sich um und sah den Schornstein des Schiffes, den schwarzen Zylinder, geradewegs auf sie gerichtet. Er spuckte eine Rauchwolke und brennende Glut aus. Sie spürte zwei Dutzend leichter Berührungen, dann stechenden Schmerz. Sie rappelte sich auf – sie hatte einen Schuh verloren –, schüttelte Haar und Kleider, schüttelte die Kohlen ab, bevor sie sich einbrannten. Sie konnte nicht aufrecht gehen, sondern kroch und strauchelte aus dem Rauch.

Als Nächstes sah Billie eine Frau mit einer roten Kappe, deren Mund weit aufgerissen war. Die Frau stand, schrie, aber – dachte Billie – gab kaum einen Laut von sich. Die Frau blickte auf eine umgekippte Kutsche, auf zwei mit verheddertem Zaumzeug kämpfende Pferde am Boden. Sie quiekten vor Schmerz und Furcht. Das Geräusch war entsetzlich. Doch auf dem Wasser war es schlimmer. Billie sah die Esse der Gustav Edda auf dem Pier aufschlagen und aufbrechen. Sie öffnete sich wie ein Kragen mit abgesprungenem Knopf und wurde dann außer Sichtweite getragen. Eine zerfranste Dampfwolke stieg auf, die sich so rasch im Wind auflöste wie eiliger Rauch. Durch den Dampf sah Billie etwas Unmögliches – das Schiff trieb vom Kai ab, angeschoben durch das brodelnde Wasser in der Esse. Sie sah die Trasse am Pier reißen, zurückschnellen und eine Gestalt vom senkrechten Steuerborddeck peitschen. Das Backborddeck war unter Wasser geraten, als das Schiff auf seinem Ankerplatz umherrollte, das Wasser brodelte ringsum, und Stichflammen schossen auf. Da waren Menschen in der See. Und Menschen hievten sich über die Backbordreling auf die glänzende Außenseite des Schiffes. Billie sah zwei Matrosen zum Bug klettern, immer wieder ausrutschen, ins Wasser gleiten und mit gehetzten Zügen vom rollenden Schiffsrumpf fortschwimmen. Fischer rannten zu ihren Booten, doch diese waren auf der Hafenseite des Piers festgemacht. Der Pier bestand aus solidem Stein und konnte nicht unterquert werden.

Eine Gruppe von Männern befand sich auf der Schiffsflanke. Sie mühten sich, auf dem Stahl ihren Halt nicht zu verlieren, doch das Schiff rollte noch immer. Der Mann im Astrachanmantel, Mr. Hesketh, lehnte sich gegen die Steigung und stemmte die beiden Jungen vor sich hinauf. Ihre Füße rutschten über die glatte Ölschicht des Rumpfes. Er hielt inne, setzte sich rittlings auf den Kiel und reichte seinem Diener unter ihm die Hand. Rufe erhoben sich über das Quietschen des Stahls und das grausige Fauchen des ins Schiff laufenden Wassers – ein Fauchen, das lauter wurde, als das Wasser die Luft verdrängte. Die Gustav Edda erbebte. Sie schüttelte Heskeths Diener über Bord und begann, gelassen zunächst, dann mit jäher Wucht, sich auf ihn zu wälzen. Hesketh, noch trocken in seinem schönen Mantel, beugte sich hinab, seinem Diener hinterher, einen Augenblick nur, und blickte in die schäumende See, während der Mann untergepflügt wurde. Dann warf er sich zur anderen Seite, stürzte über die Wölbung des Rumpfes hinunter, gleichwohl sie ihm entgegenrollte. Billie sah nicht, wo er landete. Henry konnte sie überhaupt nicht entdecken. Sie sah nur, wie das Schiff einen Augenblick die rechte Flanke nach oben kehrte, wie das Deck überschwemmt wurde und weißes Wasser aus der Kombüse und dem Steuerhaus schoss. Das Schiff wippte für einen Moment auf und ab und rollte dann erneut, bohrte sich mit einem furchtbaren verhaltenen Brüllen tiefer in die See hinein, und aus allen seinen Öffnungen entquoll Luft, Luft, die das Wasser weiß färbte, und Dampf, der die Luft weiß färbte.

Die kleinen Boote, die den langen Pier umrundet hatten, eilten zur Unglücksstelle, die schnellsten mussten vor dem Sog und dem emporschießenden Treibgut weichen. Sie ruderten im Kreis, und die Männer mit Fischhaken holten Menschen aus dem Wasser, lebende Körper und leblose. Eine Menge hatte sich am Kai versammelt. Niemand schien zu wissen, wer das Sagen hatte, doch allmählich regte sich Geschäftigkeit, die nach Ordnung und Einsatz, Beistand und Hilfe aussah. Billie stand da und starrte. Etwas zog an ihrem Hals und ihrem Haar – Blut, das bereits trocknete. Ihr nackter Fuß war sehr kalt. Sie humpelte zum Rand des Piers und sah in die kochende See hinunter. Die entweichende Luft war beinahe aufgebraucht, und das Wasser beruhigte sich allmählich. Die schwarze Flanke des Schiffes befand sich vielleicht drei Meter unter Wasser. Es lebte noch, es atmete aus.

Billie wartete darauf, dass noch etwas auftauchte.

Dann wurde sie von hinten gepackt und zurückgezogen, von einer Frau, deren Hände nach frischem Hering rochen und die Billie in ihre raue gewebte Wollstola einwickelte und in einer fremden Sprache beruhigende Worte brummte. Weitere Frauen kamen, um zu helfen, und gemeinsam hoben sie Billie hoch. Sie versuchte, sich zu befreien. Sie sagte den Namen ihrer Schwester. So lange, bis dieser Name das Einzige in ihrem Universum war – ihr ganzes Leben in ihren Schrei hineinfiel –, das Einzige, das sie noch erkannte. «Das große E», hatte Edith gesagt, «ist leicht zu erkennen. Es sieht aus wie der Kopf einer Gartenharke.» Und sie schrieb auf Billies Schiefertafel: «Edith».

«Edith!», schrie Billie. «Edith! Edith!»

2 Stolnsay

MURDO HESKETH WAR AUSSER STANDE. Sie häuteten ihn, bevor sie ihn aufhoben. Sie ließen seinen triefenden Mantel wie eine Haut im Boot zurück und trugen ihn zu schützenden Wollballen, aus dem Wind heraus. Es gab nicht genügend Decken, obwohl Murdo selbst von seinem Lager aus, mit nur einem Ohr, ein Geräusch zu vernehmen meinte, das so sehr Steinen glich, die eine hölzerne Waschrinne hinuntergespült werden – Menschen in Holzschuhen eilten die gepflasterten Straßen von Stolnsay hinunter zum Hafen, um zu helfen. Ein Heringfischer an Murdos Seite nahm sein Messer, um einen Wollballen zu öffnen, dann zog er fettige Vliese heraus und stopfte sie um Murdo und Rixon, den Sohn seines Vetters, fest. Der Mann ging behutsam vor, und trotz der Kälte war Murdo, als finge er Feuer, ein halb ertrunkener Mann in einem Vliesnest wie ein Kohlenstück in trockenem Moos. Freundlichkeit machte ihn häufig rasend. Diese Freundlichkeit aber war unpersönlich, sie war allein den Umständen geschuldet.

Murdo konnte weder seinen Kiefer bewegen noch die Tasse halten, die man ihm anbot. Der junge Rixon Hallow war in besserem Zustand, er zitterte mächtig, verschüttete seinen Tee, war jedoch imstande zu sprechen. Er sagte, sein Freund Elov sei mit ihm im Heringboot an Land gekommen und lebe. Er wiederholte es mehrmals, aber «Wo ist er?».

Eine Frau mit bloßen Unterarmen, die schuppig glänzten, versuchte, Murdo Tee einzuflößen. Murdo merkte, dass er Rixons Worte von den Lippen ablas und dass sich das Klappern der Holzschuhe auf den Kopfsteinen in seinem unversehrten Ohr mit einem hohen Quietschen vermischte. Er schob den Becher beiseite und verlangte, die Frau möge ihm aufhelfen. Sie und Rixon fuhren zurück. Murdo merkte, dass er schrie. Die Frau presste die Lippen zusammen, tat aber wie geheißen. Murdos Absicht missverstehend, stand Rixon ebenfalls auf. Der Junge dachte womöglich, Murdo wolle Elov Jansen suchen.

Die Frau mit dem schönen Haar war Sekunden vor der Explosion von Bord gesprungen. Sie war an ihnen vorbeigepoltert, weiß vor Angst, hatte ihre Röcke gerafft und war gesprungen. Murdo hatte versucht, sie zu packen – weil sie ihm im Vorbeirauschen ihren spitzen, anmaßenden Ellbogen in die Rippen gestoßen und ihm die Luft genommen hatte. Er war getaumelt, hatte nach ihr gegriffen und sah dann, dass sie etwas Verrücktes tat, wie im verzweifelten Bemühen, einer großen Gefahr zu entrinnen. Ein Knall ertönte, und das Deck ruckte und hob sich. Es war eine Explosion im Laderaum des Schiffes, auf der dem Pier zugewandten Seite. Murdo spürte, wie ihm heiße Luft ins Gesicht fuhr, und sah, wie sie die Matrosen an der losen, überfrachteten Gangway hochschleuderte. Sie wurden mit blutigen Gesichtern rücklings über Bord geworfen. Rixons Hut flog davon, dann begann das Deck, sich den großen behauenen Steinen des Piers zuzuneigen.

Halb taub, vom Zittern geschwächt, packte Murdo den Arm eines Passanten. Er fragte – schrie: «Wo ist die Frau? Die gesprungen ist?»

Der Mann schüttelte den Kopf.

Rixon scherte aus – er hatte Elov entdeckt. Sein junges Gesicht zuckte, erhellte sich und fiel in sich zusammen. Noch unter dem Eindruck der knappen Rettung brach der Junge in Tränen aus und warf sich dem Freund in die Arme. Die angeschlagenen Kadetten klammerten sich aneinander fest, bis Wasser aus dem dicken Stoff ihrer Uniformen sickerte. Murdo ging weiter. Er brüllte seine Frage, bis er schließlich zu seiner großen Erleichterung auf Rory Skilling traf, der neben einem halb ertrunkenen Matrosen am Boden kniete. Rory Skilling arbeitete für Lord Hallowhulme, unterstand jedoch Murdo. Rory sprang behände auf, um sich anzuhören, was der Verwalter von ihm wollte. Er lauschte, mit der Hand im Nacken, und machte ein paar zaghaft beschwichtigende Gesten, bis Murdo die Stimme senkte. «Ich höre mich selbst nicht», erklärte Murdo taub. Es knackte und pfiff in seinen Ohren.

«Können Sie mich hören?», fragte Rory und klang dabei so dumpf, als wäre sein Kopf in Honig getaucht.

Murdo nickte. «Finden Sie sie. Halten Sie sie auf.»

«Ich muss sie erkennen, Mr. Hesketh», entgegnete Rory. Beim zweiten Mal verstand ihn Murdo. Er sagte: «Sie ist jung. Sie hat rotes Haar. Oder orange – eher orange. Sie erkennen sie am Haar.»

Rory Skilling ließ Murdo zurück, der sich auf ein Salzfass hockte und das Gesicht in den Händen vergrub.

Wieder sah er das entsetzte Gesicht seines Dieners vor sich, sah den Augenblick, in dem Ian Betler begriff, dass sein Bemühen hochzuklettern vom Abwärtsdrang des Schiffes bezwungen wurde. Murdo sah das kraftlose Klammern der Arme, wie ein Kätzchen, das von der Stuhlkante fällt und mit den Tatzen keinen Halt mehr findet, die Muskeln wehrlos gegen die Wucht des Falls. Murdo sah Angst in Entsetzen umschlagen, sah dann die vertraute Gestalt untergepflügt unter den Rumpf, zermahlen zwischen den Walzen von Schiff und Meer. Ians Hände verschwanden zuletzt, hilflos paddelnd und nach den schlüpfrigen Stahlplatten greifend. Einen Augenblick lang hatte Murdo diesem jüngsten Verlust nachgehangen, über ihm verharrt. Dann hatte er sich über den Kiel zurückgeworfen und war gefallen, gerutscht und schließlich ins Freie gestürzt. Er hatte sich gerettet.

Irgendwo in der Nähe und für ihn unhörbar waren die beiden Jungen Rixon und Elov vermutlich noch immer am Schluchzen und Austauschen von Erfahrungen, schockiert, erschüttert, dankbar – und Murdo empfand nichts als eine seltsame Enttäuschung, als hätte er eine Gelegenheit verpasst oder eine Prüfung nicht bestanden. Sie verursachte ihm Übelkeit. Sie gab ihm den Wunsch ein, sein kaltes, taubes, verwundetes Ich abzustreifen, wie er den Mantel abgestreift hatte. Doch er war auch neugierig – wenn dieser grimmige Verdacht Neugier genannt werden konnte. Sein Trost würde sein, herauszufinden, warum