Der Feuervogel von Istradar - Ria Winter - E-Book
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Der Feuervogel von Istradar E-Book

Ria Winter

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Beschreibung

*1.Platz des tolino media Newcomerpreises 2021* Zwei Frauen auf der Suche nach einem gestohlenen Wunder ... Als Firaya beim Einbruch in die Festung von Istradar erwischt wird, rechnet sie mit dem sicheren Tod. Doch anstatt sie zu verhaften, schlägt die Gardistin Alina ihr einen Handel vor: Sie lässt Firaya davonkommen, wenn diese ihr hilft, den gestohlenen Feuervogel zu finden, dem mystische Kräfte zugeschrieben werden. Der Diebstahl des legendären Schatzes droht Istradar in einen Krieg mit dem Zaren zu stürzen, den Alina um jeden Preis verhindern will. Mit Firayas Hilfe taucht sie in die Unterwelt der Stadt ein. Doch die Frau selbst ist für Alina fast so ein großes Rätsel wie der Feuervogel. Je näher sie einander kommen, desto mehr fühlt Alina sich zu ihr hingezogen, auch wenn diese Gefühle ihre Welt auf den Kopf zu stellen drohen. Firaya hütet jedoch ein großes Geheimnis. Gibt es für die beiden eine gemeinsame Zukunft, wenn der Feuervogel den Himmel in Brand setzt?

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Ria Winter

Der Feuervogel von Istradar

 

Slavic Fantasy

  

 

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© 2020 Ria Winter

Martha Wilhelm

Am Diggen 38b

21077 Hamburg

 

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung der Autorin wiedergegeben werden.

 

Umschlaggestaltung: Christin Giessel, www.giessel-design.de

Lektorat: Rabea Güttler

Satz: saje design, Bonn

Karte: Amalia Zeichnerin

   

Für Anna. 

Für alle, die schon mal dachten, es sei zu spät, um etwas auszuprobieren und sich selbst neu zu entdecken. Es ist okay, nicht auf alles eine Antwort zu haben.

 

„Es sät der Schweif des Feuervogels

Den Wahn in unsres Landes Brust.

Mit dem Versprechen seines Fluges

Entfacht er eine Mordeslust.

 

Die Äcker ruhn, die Sensen schweigen,

Die Bauern starren wie entrückt.

Bis unser Fürst das Schwert ergreifet

Und dieses Biest vom Himmel pflückt …“

 

– Auszug aus „Der Tod des Feuervogels“

Prolog

 

Den Feuervogel von Istradar zu sehen bedeutete, Wunder und Wahn zu riskieren. Zahllose Geschichten warnten davor, sich ihm zu nähern – und ebenso viele schilderten die Reichtümer und Zauberwerke, mit denen derjenige belohnt wurde, der eine seiner Federn gewann. Vor zweihundert Jahren hatte der Großfürst von Istradar der Gefahr ein Ende bereitet und das Wundertier getötet.

Doch ein Fragment seiner Macht lebte weiter …

„Keine Angst, meine geschätzten Gäste. Euer Verstand ist nicht in Gefahr.“

Großfürstin Oksana lächelte. Sie war so schön wie ein Heiligenbild und ebenso unnahbar. Die Fürsten und Fürstinnen, die aus ganz Istradar zum Empfang in den Kreml geströmt waren, hingen an jedem ihrer Worte. Einzig Fürst Vadim, der Abgesandte aus Radagrad und damit der wichtigste Gast des Tages, wandte seinen Blick nicht vom verhüllten Podest hinter der Großfürstin ab.

„Seit zwei Jahrhunderten hat niemand diesen Schatz zu Gesicht bekommen“, sagte sie. Ihre seidige Stimme trug mit Leichtigkeit durch den blühenden Innenhof, in dem sich alle versammelt hatten. „Doch heute, zu Ehren der neuen Allianz zwischen Istradar und Radagrad, will ich ihn mit euch teilen – das letzte Wunder der Welt, der Feuervogel von Istradar!“

Eigenhändig riss sie das samtene Tuch vom Podest.

Der kostbare Vogel hockte auf einer Stange, als könnte er sich jeden Moment in die Lüfte erheben. Die lebensgroße Sperberstatue war mit Gold, Diamanten, Saphiren und Onyxsteinen verziert. Der Sonnenschein fing sich in den sorgsam eingefassten Edelsteinen und ließ den Rubin auf der Stirn des Sperbers wie eine Flamme lodern.

Ein aufgeregtes Raunen ging durch die Gäste. Alle streckten sich in die Höhe, um einen Blick auf den Schatz des Großfürstentums zu erhaschen. Doch nur Fürst Vadim durfte zwischen den Wachen hindurchgehen und sich die Statue aus der Nähe ansehen. Ein seltsames Lächeln spielte über sein Gesicht.

„Juwelen und falsche Federn“, sagte er leise. „Ist das alles, was vom mächtigsten Wundertier des Landes übrig geblieben ist?“

„Oleg der Große versenkte den Kadaver in der Istra, um die Menschen für alle Zeiten vor der Raserei zu schützen, in die der Feuervogel sie trieb“, erklärte Oksana. „Aber sein Blut fiel auf diesen Rubin. Ist er nicht wundervoll? Ein angemessenes Geschenk für den Zaren von Radagrad, meint Ihr nicht?“

Vadim sagte nichts. Um das Podest herum verneigten sich die anderen Gäste vor der Statue und dem blutbefleckten Rubin. Kein anderer versuchte auch nur, sich ihm zu nähern. Oksana hielt nichts von alten Geschichten und Aberglauben, doch die versammelten Fürsten und Fürstinnen wollten nichts riskieren. Wer wusste schon, ob der Wahnsinn des Feuervogels nicht doch im Rubin überdauerte? Sein satter Glanz hatte etwas Lebendiges an sich.

Die Diebin stand unbemerkt zwischen den hohen Gästen und betrachtete ebenso wie sie das, was vom Wundertier übrig geblieben war. Sie verstand die Angst mancher Menschen vor der Macht eines wahren Wunders. Aber je länger sie diesen Rubin ansah, desto mehr kam sie zu dem Schluss, dass ihn niemand fürchten musste.

Er war wunderschön. Aber er war eine Fälschung.

Die Diebin

 

Der öffentliche Empfang im Kreml hatte Firaya die perfekte Gelegenheit geboten, sich in die Festung einzuschleusen. Sie mischte sich einfach unter die Dienerinnen, die jeden Tag vor Sonnenaufgang am großen Rusalka-Tor darauf warteten, kontrolliert und eingelassen zu werden. Viele der üblichen Wachen waren zum Hafen abbestellt worden, um das Chaos in den Griff zu bekommen, das durch die Ankunft der zahlreichen hochstehenden Gäste entstanden war. Diejenigen, die heute am Tor Dienst hatten, waren nicht geübt darin, die Gesichter der Fremdländerinnen auseinanderzuhalten.

„Das ist Zaya“, hatte Aziza einem der Männer erklärt, als sie an der Reihe waren. Das Mädchen hatte nervös gelächelt, aber ihre Stimme klang ruhig. „Sie kann nicht so gut Zhan sprechen, aber sie hat geschickte Hände und die brauchen wir heute in der Küche.“

Firaya senkte den Blick demütig, spürte aber, wie der Wachmann sie musterte. Nachdem sie so viele Jahre in Hosen verbracht hatte, fühlte sie sich in dem schlichten Rock verletzlich und angreifbar. Sie musste sich daran erinnern, ruhig zu atmen und die Schultern nicht abwehrend hochzuziehen.

„Solange sie ihre Hände vorher gut wäscht“, sagte der Wachmann schließlich mit einem verächtlichen Schnauben. Aziza zwang ein Lachen hervor. Firaya atmete.

Ein anderer Zhan tastete sie auf Waffen ab. Firaya ließ auch das über sich ergehen. Es kam ihr gelegen, dass sie schon über dreißig Sommer zählte und kein junges Mädchen mehr war, bei dem der Wachmann beherzter zupacken mochte. So ließ er sie passieren, ohne die Dietriche und die anderen Einbruchswerkzeuge zu entdecken, die sie an der Innenseite ihrer Oberschenkel und in ihrem falschen Zopf versteckt hatte.

Der Kreml, die Festung am Ufer der Istra, beherbergte in seinen hohen Steinmauern nicht nur den Wohn- und Regierungssitz der Großfürstin, sondern auch die Verwaltung des Reiches, die Münzprägeanstalt, die Kasernen der Elitegarde der Sperber und weitere wichtige Gebäude. Die einfachen Bürger aus der Stadt am anderen Flussufer bekamen selten Zutritt zum Herz von Istradar. Firaya selbst hatte vor diesem Tag noch nie einen Fuß hineingesetzt.

Mit gesenkten Köpfen huschten sie und Aziza über die gut gepflegten Wege, an bunt verputzten Häusern und blühenden Innenhöfen vorbei. Aziza verbeugte sich vor allen Zhanka, die sie trafen. Firaya tat es ihr gleich, auch wenn sich alles in ihr dagegen sträubte. Aber hier und heute war die Herablassung der Zhanka gegenüber allen Fremdländern ihr größter Vorteil. Als eine unscheinbare Batyr im Dienstrock war sie innerhalb dieser Mauern so gut wie unsichtbar.

Der Glockenturm verkündete die frühe Stunde. Die Großfürstin und ihre Gäste waren vermutlich noch im Bett, aber im Rest des Kreml brach mit den ersten Sonnenstrahlen eine große Betriebsamkeit aus. Aziza führte Firaya schnurstracks in die Hauptküche, wo sie sich in den nächsten Stunden bedeckt halten sollte.

Die Küchenfrauen bedachten sie mit neugierigen Blicken, aber niemand sprach sie an. Aziza hatte ihnen eine ähnliche Geschichte erzählt wie dem Wachmann am Tor: Firaya sei eine Freundin, die dringend Arbeit brauche. Dass sie angeblich kein Zhan sprach, wunderte niemanden. Im Gegensatz zu den Wachmännern konnten sie sehr wohl Fremdländer auseinanderhalten und erkannten Firaya als Angehörige der Batyr – eines Volkes, das seine Steppe nur selten und nie für lange verließ. Aber zumindest hier spielte ihre Herkunft keine Rolle. An einem Tag wie diesem gab es für alle mehr als genug zu tun.

Es gefiel Firaya, die Wartezeit mit dem Scheuern von Pfannen und Töpfen zu verbringen, während das vielsprachige Geschnatter um sie herum wogte. Die Gesprächsfetzen in Genn oder Tarak fühlten sich vertrauter an als die harten Silben der Zhanka.

„Meint ihr, wir kriegen ihn zu Gesicht?“, fragte eine mehlbestäubte Genn ihre Freundinnen.

„Er ist verflucht“, zischte eine von ihnen. „Jeder, der ihn ansieht, verliert auf der Stelle den Verstand!“

„Erzähl keinen Unsinn! Dann wäre doch die Großfürstin längst dem Wahnsinn verfallen. Und warum sollte der Zar ihn haben wollen, wenn er verflucht ist?“

„Wenn es Unsinn ist, warum hat Oleg der Große ihn dann damals getötet?“

„Damals war er vielleicht eine Gefahr, aber heute doch nicht mehr. Oder hast du auch Angst davor, dass dich das gebratene Hähnchen zu Tode pickt?“

Gelächter lief durch die Reihe der Mädchen. Auch Firaya musste schmunzeln.

„Ich will ihn trotzdem nicht sehen“, sagte das zweite Mädchen stur. „Zweihundert Jahre alte Knochen gehören auf den Friedhof, nicht auf ein Podest.“

„Wir wissen nicht einmal, ob es Knochen sind“, mischte Aziza sich ein, während sie mit resoluter Miene Teig knetete. „Niemand weiß, wie er aussieht, das macht es ja so spannend! Ich geh auf jeden Fall hin. Wann werden wir sonst wieder die Chance haben, den Feuervogel zu sehen?“

Firaya rieb sich geistesabwesend über die tätowierten Kranichfedern auf ihrem Handgelenk. Auch in ihrem Volk gab es viele Geschichten über den Feuervogel. Sie war nicht wegen des Reichsschatzes hier, aber sie musste sich eingestehen, dass sie neugierig war. Vielleicht würde sie einen Blick auf das Wundertier erhaschen können – oder zumindest auf das, was von ihm übrig war, ob nun alte Knochen oder ein blutiges Bündel Federn.

Für einen Moment lauschte Firaya in sich hinein und ließ den Atem in ihrer Brust kreisen. Sie war so ruhig wie die Oberfläche der Istra bei Nacht. Das Einzige, was ihr Sorgen bereitete, war Aziza. Das Mädchen war keine der erfahreneren Nachtigallen und immer noch sichtlich nervös über ihre Rolle als Menschenschmugglerin. Aber das musste Firaya in Kauf nehmen, dafür, dass niemand ihr Tun hinterfragte oder Details zu ihrem Auftrag wissen wollte. Sie hatte die Fragen in Azizas Augen gelesen, aber je weniger das junge Mädchen eingeweiht war, desto geringer die Gefahr – für sie beide. Weder die Sperber noch Latifa und die restlichen Nachtigallen durften je erfahren, dass Firaya heute hier gewesen war.

Die Sonne stand schon über den Kreml-Mauern, als der Empfang offiziell eröffnet wurde. Aziza überredete das ängstliche Küchenmädchen dazu, Firaya an ihrer Stelle das Essen auftragen zu lassen. So musste sie ihr Verschwinden aus der Küche nicht erklären. Und wenn sie erst mal so tief in den Kreml vorgedrungen war, konnte sie sich endlich an die Arbeit machen.

Der Empfang fand im Fliederhof statt, einem großen Innenhof zwischen dem Audienzhaus und einigen Verwaltungsgebäuden. Blühende Hecken umgaben den Hof, der mit Flieder- und Lindenbäumen durchsetzt war. Im Schatten der Bäume standen Holzbänke, auf denen die Gäste essen, reden und den süßen Duft genießen konnten. Ein Musiker entlockte den Saiten seiner flügelförmigen Gusli beschwingte Töne.

Die Gäste stolzierten in Seidentaft und Brokat umher wie bunte Vögel. Die Sommersonne glänzte auf perlenbestickten Ärmeln und Kragen. Alles, was in der Stadt und im Umland Rang und Namen hatte, war gekommen, um die neue Allianz zwischen Istradar und Radagrad zu feiern und dabei auch einen Blick auf den Feuervogel zu erhaschen.

„Welcher davon ist der Fürst aus Radagrad?“, fragte Firaya Aziza leise, während sie sich mit einem halben Dutzend anderer Küchenfrauen vorsichtig einen Weg zu den langen Speisetischen bahnten.

„Der mit dem Ebereschewappen.“ Aziza nickte in Richtung einer Gruppe, die sich um einen Mann in purpurnem Kaftan versammelt hatte. „Fürst Vadim, die rechte Hand des Zaren. Ihm gehört die große Strug im Hafen. Damit fahren sie nach dem Lindenfest wieder zurück nach Radagrad.“

Firaya riskierte einen Blick in die Richtung des Fürsten und prägte sich für alle Fälle sein Gesicht ein. Sein Schiff hatte sie bereits vom Fluss aus ausgekundschaftet – eine prächtig geschmückte Strug unter schwerer Bewachung. Zu gut bewacht, um sich für ihr Vorhaben an Bord zu schleichen. So viel sie auch im Kreml riskierte, hier waren ihre Chancen besser.

Doch anstatt den nächsten Teil ihres Plans auszuführen, verharrte Firaya unentschlossen.

„Siehst du die Großfürstin?“, fragte sie Aziza, während sie frischen Kwas aus einem Krug in aufgereihte Tonbecher goss. Aziza reichte die vollen Becher an vorbeigehende Gäste und verbeugte sich. Der Blick ihrer flinken dunklen Augen huschte durch die Menge.

„Ja, dort drüben – oh, ich glaube, sie enthüllt gleich den Feuervogel!“

Ihr aufgeregter Tonfall ließ Firaya aufsehen. In der Mitte des Hofs, sorgfältig von Lindenpollen befreit, erhob sich ein Podest. Vier Sperber standen darum verteilt, aber die Wachen waren nicht nötig: Die Menschen hielten von selbst Abstand und warfen nur verstohlene Blicke auf den verhüllten Schatz. Wie den Küchenmädchen gingen auch ihnen wohl die alten Schauergeschichten durch den Kopf. Von ihrer Position aus konnte Firaya nicht viel erkennen, aber zwischen den bunten Kleidern der Gäste blitzten Kettenrüstungen hervor: die Leibwache der Großfürstin. Und in ihrer Mitte, über die Helme hinausragend, entdeckte Firaya die Spitzen eines hohen Kopfschmucks.

Kurzerhand stellte sie einige gefüllte Becher auf ein Tablett und stieß Aziza mit der Hüfte an. Das Mädchen weitete erschrocken die Augen, folgte ihr dann aber tiefer ins Getümmel hinein.

Die Gäste beachteten sie kaum, auch wenn sie ab und zu nach einem Becher Kwas griffen. Alle zog es in Richtung des Podests, um einen Blick auf den Feuervogel zu erhaschen. Firaya schnappte Bruchstücke von Unterhaltungen auf. Wenn Sperber in der Nähe waren, hörte sie nur Lob über die Klugheit der Großfürstin, die diese wertvolle Allianz geschmiedet hatte. Sobald die Elitegarde der Großfürstin weitergezogen war, klangen die Gespräche auf einmal ganz anders.

„Sie ist nicht einmal aus Istradar. Ich verstehe nicht, warum der Zar eine Hexe aus Konsk gegen den rechtmäßigen Throninhaber unterstützt.“

„Weil sie ihm alles gibt, was er haben will – sogar den Reichsschatz! Und sieh nur, wie sie dem Abgesandten schöne Augen macht. Er genießt bestimmt eine ganz besondere Gastfreundschaft.“

„Ha, nicht bei ihr! Oksana liegt doch nur bei Frauen. Ihre Garde besteht nicht durch Zufall nur aus lauter hübschen Weibern …“

Firaya und Aziza waren gerade an den zwei Fürsten vorbei, die dieses Gespräch führten, als der Wortwechsel abrupt abbrach. Als Firaya einen Blick zurückwarf, sah sie, dass ein Sperber neben den beiden aufgetaucht war. Die Gardistin hatte in der Tat ein hübsches Gesicht, das in diesem Moment aber in einem eisigen Ausdruck erstarrt war.

„Ich bitte Euch, mir zu folgen, meine Herren. Kommandantin Sima wird sehr daran interessiert sein, Eure Meinung über die Großfürstin zu hören.“

Hatten die Männer eben noch über Oksana gesprochen wie über eine läufige Hündin, so spiegelte sich nun Entsetzen in ihren Mienen. Firaya verfolgte nicht weiter mit, wie sie ihre Unschuld beteuerten, rechnete ihnen aber keine großen Chancen aus. Oksana ging mit harter Hand gegen solche Schwätzer vor. Seit sie vor fünf Jahren ihren Ehemann gestürzt und aus der Stadt gejagt hatte, war das Reich gespalten zwischen ihren Anhängern und der treuen Gefolgschaft des Großfürsten. Kasimir hatte sich in die ihm ergebenen westlichen Landesteile zurückgezogen, immer wieder kam es zu Gefechten. Umso wichtiger war der Großfürstin nun das Bündnis mit dem Zaren, um ihre Macht zu festigen.

Firayas Schritte wurden langsamer, als sie dorthin kamen, wo sich die meisten Gäste drängten. Sie nutzte die Gelegenheit und belauschte weitere Gespräche. Deswegen war sie zwar nicht hier, aber es war gut zu wissen, wer Oksanas Herrschaft in Frage stellte. Irgendwann stieß Aziza ihr unauffällig einen Ellbogen in die Seite. Das Mädchen starrte in Richtung des Podests. Zwischen ihnen und den bewaffneten Leibwächterinnen standen noch Reihen von Fürsten und Fürstinnen, aber endlich hatte Firaya einen guten Blick auf die Frau, deren eiserner Wille sie alle hier versammelt hatte: die Großfürstin.

Oksana war eine ungewöhnlich große Frau und gab eine imposante Gestalt ab in ihrer goldbestickten Brokatrobe, auf der sich Sperber und Hecht jagten – die Wappentiere von Istradar. Sie ging schon auf ihr dreißigstes Lebensjahr zu, doch die gepuderten Wangen und die schwarz nachgezogenen Augenbrauen verliehen ihrem Gesicht eine jugendliche Frische. Ihr Haar, das in Zöpfen rund um ihren hohen Kopfschmuck geflochten war, schimmerte wie poliertes Kupfer. Es war in Istradar bei Leibesstrafe verboten, sich die Haare rot zu färben, um der Großfürstin nachzueifern, aber die Zhan-Mädchen in der Stadt zerrieben trotzdem Blätter des Hennastrauchs und färbten ihr Haar damit, das sie dann stolz unter ihren Kopftüchern trugen.

Hexe, Thronräuberin, Männerhasserin – im Volk hatte Oksana viele hässliche Namen. Doch ebenso groß wie die Missgunst war auch die Verehrung, die ihr zuteilwurde, vor allem von den Frauen im Kreml, die unter der Herrschaft von Oksanas Ehemann gelitten hatten. Und dann waren da natürlich noch die Sperber, die ihr ergeben bis zum Tod waren.

Firaya sah die Herrscherin zum ersten Mal leibhaftig vor sich. Und der Hass, der in ihrer Brust aufschäumte, drohte für einen Moment, die glatte Oberfläche ihrer Gefühle in einen tobenden Fluss zu verwandeln.

„Senk deine Augen!“, zischte Aziza neben ihr und Firaya gehorchte instinktiv. Sie spürte einen prüfenden Blick in ihrem Nacken. Ihr ganzer Körper spannte sich an.

Doch niemand näherte sich oder rief Befehle, sie zu ergreifen. Es schien, dass ihre wahren Gefühle immer noch ihr Geheimnis waren. Als Firaya vorsichtig wieder hochsah, hatte die Großfürstin zu reden begonnen und niemand beachtete die beiden Dienerinnen in der Menge. Aziza stieß einen erleichterten Atemzug aus.

„… das letzte Wunder der Welt, der Feuervogel von Istradar!“, verkündete die Großfürstin und enthüllte mit einer eleganten Geste den Schatz.

Aziza schnappte nach Luft. Doch das satte Leuchten des Rubins beeindruckte Firaya nicht sonderlich. So viel Geflüster, so viel Rätselraten um den Feuervogel und nun das. Keine Knochen. Kein Bündel Federn. Bloß ein blutbeflecktes Juwel als Schmuck einer Statue.

Dann fiel ihr etwas anderes auf. Unwillkürlich trat sie einen Schritt vor und ignorierte, dass Aziza sie am Arm zurückzuhalten versuchte.

Firaya hatte sich nicht wegen des Feuervogels in den Kreml geschlichen. Aber nun schien ihr das Schicksal genau das zu präsentieren, wonach sie seit Jahren suchte – eine Möglichkeit, die Großfürstin zu vernichten.

Der falsche Schatz

 

„Ich habe etwas anderes erwartet“, kommentierte Aziza leise. „Der Rubin ist sehr schön, aber er wirkt nicht gerade wie einem Märchen entsprungen.“

Kein Wunder, dachte Firaya. Er ist ja nicht einmal echt.

Aziza und sie hatten sich unauffällig aus der Menge ums Podest entfernt, doch Firayas Gedanken kreisten weiterhin darum.

„Was ist denn?“, fragte das Mädchen besorgt.

„Er wurde wirklich gestohlen“, murmelte Firaya. „Es war nicht bloß ein Gerücht.“

„Was? Wovon redest du?“

„Vom Feuervogel.“

Aziza runzelte die Stirn. „Aber hier ist er doch!“

Aber er war es nicht. Nachdem Firaya den Edelstein genauer betrachtet hatte, war sie sich sicher. Es war ein kostbarer Stein, keine Frage, aber er konnte damals nicht mit dem Blut des Feuervogels in Berührung gekommen sein. Die Großfürstin hatte gelogen.

Als Firaya nichts weiter sagte, zog Aziza sie mit sich in den Schatten der Bäume. Firaya ließ es zu. Ihre Gedanken überschlugen sich.

Oksana hatte den Feuervogel zum Pfand ihrer Allianz mit Radagrad gemacht. Der Zar war bekannt dafür, alles zu sammeln, was von den Wundertieren und Geisterwesen übrig geblieben war, die einst das Zhan-Reich durchstreift hatten. Es war kein Geheimnis, dass erst der Feuervogel ihn dazu bewogen hatte, sich mit Oksana und nicht mit ihrem Ehemann zu verbünden.

Als vor einigen Wochen Gerüchte aus dem Kreml sickerten, dass der Feuervogel gestohlen worden sei, fürchteten alle um die junge Allianz. Aber Firaya hatte nicht an den Diebstahl geglaubt. Die Einzigen, die den Kreml herauszufordern wagten, waren die Nachtigallen und Firaya war sich sicher, dass es keine von ihnen gewesen war. Und als dann der Kreml diesen Empfang und die offizielle Präsentation des Schatzes verkünden ließ, schienen die Gerüchte endgültig als Lügen entlarvt.

Doch nun sah es ganz anders aus.

Wusste der Abgesandte des Zaren, dass der ausgestellte Rubin nicht der Feuervogel war? Hatte Oksana einen Diebstahl – hier, im Herzen des Kreml – befürchtet und ihn deswegen für den Empfang durch eine Fälschung ersetzt? Oder war er tatsächlich gestohlen worden und sie hoffte, alle mit dem falschen Stein zu täuschen?

In dem Fall würde es vermutlich genügen, Radagrad darauf aufmerksam zu machen, damit das neue Bündnis zerfiel und Oksana in Ungnade gestürzt wurde …

Gerade als Firaya ihren Auftrag überdenken wollte, begegnete sie dem Blick eines Sperbers.

Es war kein Mitglied von Oksanas Leibwache, sondern die Gardistin, die zuvor die beiden Fürsten zurechtgewiesen hatte. Von den beiden war nichts mehr zu sehen, aber die Frau starrte Firaya unverwandt mit dem gleichen kalten Gesichtsausdruck an wie zuvor die Männer.

Ohne Aziza darauf aufmerksam zu machen, führte Firaya sie weg von der Gardistin und tiefer in die Menschenmenge hinein. Alle Fragen und neuen Ideen flogen ihr aus dem Kopf. Sie würde ihren Auftrag erfüllen und dann verschwinden. Das Rätsel um den Feuervogel hatte sie vergessen lassen, wie gefährlich es im Kreml war. Sie musste ausnutzen, dass im Moment niemand auf sie achtete.

„Welches ist das Haus der Hafenverwaltung?“, fragte sie Aziza leise.

„Das neben der Banja – da, siehst du den Dampf?“

Firaya folgte ihrem Blick. Hinter den Fliederbäumen erhoben sich einige Holzbauten, von denen weißer Dampf aufstieg, der den Geruch nach Kräutern mit sich brachte. Selbst an einem Tag wie diesem war jemand dafür zuständig, die Öfen des Badehauses zu heizen.

„Danke.“ Firaya legte eine Hand auf Azizas Arm und drückte ihn kurz. „Geh jetzt zurück in die Küche und bleib dort.“

„Bist du dir sicher? Brauchst du nicht noch jemanden, der dir den Rücken freihält?“

„Du hast schon genug für mich getan. Ich möchte dich nicht weiter in Gefahr bringen. Geh jetzt, na los. Und kein Wort zu den anderen, ja?“

Aziza musterte sie zweifelnd. Sie wusste nur wenig über Firayas Auftrag, aber ihr Vertrauen in die Nachtigallen hielt sie davon ab, Fragen zu stellen. Firaya hoffte bloß, dass sie wirklich den Mund über ihren Alleingang halten würde. Wenn Latifa davon erfuhr, würde sie ihr die Haut vom Leib ziehen.

Schließlich nickte Aziza, flüsterte: „Viel Glück“, und huschte davon.

Allein fühlte sich Firaya gleich unauffälliger, auch wenn von ihnen beiden sie hier der Eindringling war. Aziza hatte das Tablett mitgenommen, aber Firaya wand sich weiter zielstrebig zwischen den Gästen hindurch. Hoffentlich würde die misstrauische Gardistin nur das sehen, was auch alle anderen sahen – eine unscheinbare Fremdländerin, die ihrer Arbeit nachging.

Das Verwaltungshaus lag ruhig vor ihr. Auch wenn in einigen Räumen noch gearbeitet wurde, wusste Firaya, dass die Schreibstube des Hafenmeisters leer sein würde – sie hatte den Mann eben erst mit seiner Gattin im Garten gesehen. Sie ging an einer weiteren Wache vorbei, die sie keines Blickes würdigte, und ließ wenige Schritte später die Geräuschkulisse des Empfangs hinter sich.

In der Eingangshalle brannten Lampen, aber es war niemand zu sehen. Mehrere Korridore, aus denen gedämpfte Stimmen drangen, führten tiefer ins Gebäude hinein. Bis auf einige Stühle für Boten und Bittsteller gab es keine Einrichtung. An der Wand gegenüber dem Eingang waren riesige Hechtköpfe angebracht, die Firaya stumpf anstarrten. Sie starrte unbeeindruckt zurück.

In einer Ecke lehnte ein Besen, den Firaya kurzerhand an sich nahm. Ohne Eile fing sie an, sich durch den kargen Raum zu fegen. Ein Mann in den einfachen Kleidern eines Schreibers durchquerte die Halle, ohne ihr mehr als einen flüchtigen Blick zu widmen. Obwohl es helllichter Tag und der Kreml voller Wachen war, fühlte Firaya sich so unsichtbar wie sonst nur auf ihren nächtlichen Streifzügen.

Aziza hatte ihr in groben Zügen den Grundriss des Gebäudes beschrieben, aber auch sie wusste nicht genau, wo die Schreibstube des Hafenmeisters lag. Firaya lauschte auf die Stimmen und wählte dann den größten Korridor, der von der Eingangshalle fortführte und völlig still dalag. Fast lautlos bewegte sie sich über die Holzdielen, den Besen immer noch in der Hand.

Hier hingen dicke Teppiche an den Wänden. Viele zeigten den blauen Bogen der Istra, an dem die Hauptstadt von Istradar errichtet worden war, manchmal mit stilisierten Darstellungen von Rusalkas, den Wassergeistern, die die Fürsten von Istradar bei der Gründung der Stadt aus dem Fluss vertrieben hatten. In der Sicherheit ihrer eigenen vier Wände behaupteten manche, dass Oksana halb Rusalka sei, mit ihrem roten Haar und dem weißen Gesicht.

Die Tür am Ende des Korridors war größer und massiver als die anderen. Unter dem Hecht-und-Sperber-Wappen war ein Anker ins Holz graviert. Firaya griff in den Ausschnitt ihrer Tunika und ertastete einen ihrer Dietriche.

„Was tust du hier?“

Unauffällig zog Firaya die Hand wieder zurück. Ihr Herz schlug schneller. Die Gardistin. Offenbar hatte Firaya ihr Misstrauen doch nicht besänftigen können.

„Putzen?“ Sie drehte sich langsam um und hielt den Besen in die Höhe. „Ich putzen hier?“

Die Gardistin musterte sie stirnrunzelnd. Wie alle Sperber trug sie ihre weizenblonden Haare in einem Kranz um den Kopf geflochten, doch die Bänder, die sie hindurchgezogen hatte, waren grün und braun – die Farbe ihrer Augen –, nicht das Istra-Blau, das die anderen Gardistinnen bevorzugten. Ihre Kettenrüstung rasselte leise, als sie auf Firaya zukam. Eine Schärpe mit dem Hecht-und-Sperber lag quer über ihrer Brust.

„Eben noch hast du auf dem Empfang bedient. Küchenfrauen haben hier nichts zu suchen.“ Sie hatte eine tiefe Stimme für eine Zhan, leicht rau und befehlsgewohnt. „Wie ist dein Name?“

„Zaya, Herrin.“ Firaya bezweifelte, dass die Gardistin jede einzelne Dienerin im Kreml kannte. Noch hoffte Firaya, dass sie sie mit ein paar Worten ablenken konnte.

Die Augen der Gardistin verengten sich und machten diese Hoffnung zunichte. Verspätet erinnerte Firaya sich daran, den Kopf zu senken.

„Du hast dich nicht vor dem Feuervogel verneigt“, sagte die Gardistin scharf. „Und du hast die Großfürstin angestarrt. Wieso?“

Die Frau stand jetzt direkt vor ihr. Sie war vielleicht zehn Jahre jünger als Firaya, einen halben Kopf größer und kräftiger gebaut. An ihrer Hüfte trug sie ein Schwert. Firaya umklammerte den Besen fester, als könnte sie damit im Notfall tatsächlich eine Klinge abwehren.

„Ich putzen hier?“, wiederholte sie in einem unsicheren Tonfall und übertrieb ihren Akzent fast bis zur Lächerlichkeit. Sie war unwichtig. Ungefährlich. Unsichtbar …

Die Hand der Gardistin schloss sich fest um ihren Arm.

„Komm mit.“

Firaya stieß mit dem Besenstiel nach den Beinen der Gardistin, sodass diese überrascht aufächzte und sie losließ. Im selben Atemzug stemmte Firaya sich nach vorne und drückte sie mit dem Reisigende des Besens gegen die Wand. Unfähig, ihr Schwert zu ziehen, konnte die Frau nur wütend zischen. Als Firaya von ihr abließ und losrannte, griff der Sperber nach dem langen Zopf, der über Firayas Rücken hing.

„Bleib stehen!“

Ein Ruck und schon hatte die Gardistin die braune Perücke in der Hand, die Firaya über ihr kurzgeschorenes Haar gestülpt hatte. Sie nutzte die Verblüffung ihres Gegenübers aus, um den Korridor hinunterzusprinten.

In der Halle fiel ihr Blick wieder auf die großen Hechtköpfe an der Wand. Sie holte mit dem Besen aus und stieß einen von ihnen herunter, sodass er der Gardistin vor die Füße fiel, als sie aus dem Korridor stürmte. Die Frau stolperte und stürzte fast. Firaya schlug ihr den Besenstiel gegen den Kopf. Mit einem dumpfen Ächzen brach die Gardistin zusammen.

Firaya wartete nicht darauf, dass sie das Bewusstsein wiedererlangte. Sie ließ den Besen fallen und floh nach draußen. Hastig zog sie ein schlichtes Tuch aus ihrer Rocktasche und band es sich um ihren Kopf, um die kurzgeschorenen Haare zu verbergen, die keine anständige Frau so trug. Ihr Herz raste wie das eines gehetzten Tiers.

Sie holte tief Luft. Sie brauchte wieder die Ruhe des Flusses. Er würde sie sicher aus dem Kreml hinaustragen. Die Erinnerung an das Rauschen der Istra umschloss sie wie eine tröstende Umarmung. Entschieden schob Firaya den Ärmel ihres Hemdes wieder über ihr Handgelenk, wo der Griff der Gardistin noch auf ihrer Haut zu brennen schien.

Nachdem sich ihr Herz beruhigt hatte und ihr Gesicht nichts mehr verriet, mischte sie sich wieder unter die Menschen. Ihr Auftrag war ruiniert, aber sie versuchte nicht, weitere Informationen zu sammeln. Das Wichtigste war es jetzt, die Mauern des Kreml zu verlassen, bevor die Sperber sich auf sie stürzten.

Als sie sich Richtung Rusalka-Tor davonmachte, verdrängte sie den Gedanken an grüne und braune Haarbänder und daran, dass sie ein Niemand hätte sein sollen. Ein Schatten. Ein Teil des Hintergrunds. Eine Fremdländerin unter vielen. Und doch …

Und doch hatte die Gardistin sie bemerkt.

Unruhige Wogen

 

Den nächsten Tag verbrachte Firaya auf dem Fluss. Der Empfang im Kreml hatte sie mehr aufgewühlt, als sie erwartet hatte. Es war eine Sache, ihre Identität für einen Abend abzulegen, um als Nachtigall Einbrüche zu begehen, aber eine völlig andere, sich willentlich auf das zu reduzieren, was die meisten Zhanka sowieso in ihr sahen: eine namenlose Fremdländerin, eine dreckige Pferdefresserin, kaum besser als Lastvieh. Wie sie die Augen demütig gesenkt gehalten hatte, wie die Sperber über sie hinweggesehen hatten, wie sie ihren Akzent dick und schwerfällig auf ihre Zunge geträufelt hatte – all das kratzte mehr als die Perücke, die sie der Gardistin als Pfand zurückgelassen hatte.

Während ihre Gedanken rastlos schäumten, blieb die Istra um sie herum ruhig und ungerührt. Der Fluss strömte durch Istradar, ohne sich um politische Intrigen und persönliche Konflikte zu kümmern. Am liebsten wäre Firaya allein in ihrem Einbaum über das dunkle Wasser geglitten, aber wenn sie gerade nicht als Nachtigall unterwegs war, verdiente sie sich ihr Geld als Fährfrau. Im Sommer drängten sich die Schiffe im Hafen und die Menschen, die sich den Weg über die einzige Brücke nicht leisten konnten, standen Schlange, um mit den Fähren zwischen der Stadt und dem Kreml überzusetzen. So verbrachte Firaya den Tag damit, Händler und Besucher in ihrem breiten Floß über den Fluss zu bringen. Zumindest musste sie dabei nicht viel reden. Das vertraute Rauschen des Flusses glättete die Wogen in ihrer Brust.

Abends nahm sie auf dem Weg zur Tarak-Hütte einen Umweg über den Markt und kaufte eine frisch gebackene Honigschnecke. Sie atmete den süßen Duft ein, der sich bis in ihre Zehen zu ziehen schien, und wickelte das Gebäck dann sorgfältig in ein sauberes Tuch, damit der Honig nicht an ihren Fingern kleben blieb.

Um sie herum nahm die Strömung des Stadtlebens langsam ab. Die Straßen leerten sich, als die Bauern mit ihren Karren wieder auf ihre Höfe außerhalb der Stadt zurückfuhren und die Handwerker und Kaufleute zu ihren Familien heimkehrten. Die Abenddämmerung war Firayas liebste Tageszeit – in den blauen Stunden vor Anbruch der Nacht schien alles möglich.

In der Tarak-Hütte fing das Leben gerade erst an. Die ersten Gäste saßen bereits im Schankraum und löffelten ihren Lammeintopf oder tranken Bier. Durch die Tür zur Küche sah Firaya Timurs breite Schultern, der gerade in einem großen Kessel rührte und ihr bloß kurz zunickte. Janka stand am Ausschank, nicht zu übersehen mit ihrer hellen Zhan-Haut. Obwohl das Mädchen erst seit zwei Monaten für Timur arbeitete, zapfte sie mit einer solchen Selbstverständlichkeit Bier, als hätte sie noch nie etwas anderes gemacht. Als sie Firaya sah, winkte sie ihr hektisch zu.

„Oh, da bist du ja!“ Einzelne braune Locken lugten unter Jankas Kopftuch hervor und ließen ihr kantiges Gesicht weicher erscheinen. Sorge schimmerte in ihren großen grünen Augen, als sie sich über den Tresen beugte. „Ein Sperber sucht dich“, flüsterte sie. „Sie hat nach dir gefragt und ich hab gesagt, ich kenne dich nicht, aber sie hat mit den Fährleuten gesprochen und die haben ihr Timurs Namen genannt und er musste sie reinlassen –“

Firaya hatte Jankas Redeschwall geduldig abgewartet, während sich in ihrem Magen ein Knoten immer fester zuzuziehen schien, aber nun unterbrach sie das Mädchen.

„Reinlassen? Sie ist hier?“

„Ja, oben, in deinem Zimmer.“ Janka biss sich auf die Unterlippe und sah zu Boden. „Es tut mir leid. Ich wollte sie da nicht allein lassen, aber sie hat mich rausgeworfen …“

Firaya legte eine Hand auf Jankas Schulter und das Mädchen verstummte.

„Du musst dich nicht entschuldigen. Danke für die Warnung.“ Sie reichte Janka die Honigschnecke. „Iss sie, solange sie noch warm ist.“

Jankas dankbares Lächeln begleitete sie auf dem Weg durch den Schankraum zur Wendeltreppe auf der anderen Seite. Die Ruhe, die der Tag auf dem Fluss und das vertraute Gewicht des Abends in ihr hinterlassen hatten, war wie weggespült. Vielleicht waren ihr die Sperber gestern doch unbemerkt gefolgt, vielleicht hatten sie von Firayas Plänen erfahren – oder aber sie waren hinter den Nachtigallen her. Keine dieser Möglichkeiten ließ ihre Zukunft rosig erscheinen.

An der Treppe zögerte sie. Noch konnte sie umdrehen und weglaufen, untertauchen, die Stadt verlassen. Aber nach all den Jahren, die sie in Istradar ums Überleben gekämpft hatte, konnte sie sich nicht vorstellen, ihr Leben hier einfach so aufzugeben. Und wer würde ihren Auftrag zu Ende bringen, wenn sie die Flucht ergriff?

Die Tür zu ihrer Kammer unter dem Dach stand einen Spaltbreit offen. Als Firaya eintrat, fiel ihr Blick als Erstes auf die alte Truhe, in der sie ihre Habseligkeiten aufbewahrte und die nun sperrangelweit offen stand. Ihre Hemden und das rote Kleid, das sie seit Jahren nicht mehr getragen hatte, lagen achtlos auf dem Boden. Die bunten Kissen, auf denen sie schlief, waren überall im Zimmer verstreut. Auf einem davon lag demonstrativ die braunhaarige Perücke.

„Die Nachtigall kehrt in ihr Nest zurück.“ Die Gardistin löste sich von dem Fenster, das die Straße vor der Tarak-Hütte überblickte. Statt des blauen Festumhangs trug sie nun einen schlichten braunen Kaftan über ihrer Rüstung, aber mit dem Schwert an ihrer Seite und ihrem durchdringenden Blick wirkte sie nicht weniger bedrohlich als im Kreml. „Firaya.“ Sie sprach den Namen langsam aus, Silbe für Silbe. Verächtlich. „Eine Dienerin, eine Fährfrau, eine Diebin – du hast viele Gesichter. Welches ist dein wahres?“

Firaya blieb an der Tür stehen und wartete ab. Sie hatte nicht vor, sich einschüchtern zu lassen, schon gar nicht in ihrem eigenen Zuhause.

Die Gardistin runzelte die Stirn, als ihr klar wurde, dass Firaya nicht antworten würde.

„Stellst du dich jetzt stumm? Oder tust du wieder so, als könntest du mich nicht verstehen?“ Sie ging noch einen Schritt auf Firaya zu und sah auf sie herunter. „Erwartest du tatsächlich, dass ich diesmal auf deine Lügen hereinfalle, wenn es dir schon gestern nicht gelungen ist, mich zu täuschen?“

„Ich erwarte, dass Ihr mir erklärt, wer Ihr seid und warum Ihr in mein Zimmer eingebrochen seid“, sagte Firaya kühl. „Und dass Ihr, wenn Ihr schon hier seid, Eure Schuhe auszieht.“

Ihre Direktheit traf die Gardistin sichtbar unvorbereitet. Ihre Augen verengten sich und sie verschränkte die Arme.

„Ich bin Alina von den Sperbern“, sagte sie scharf. „Und ich habe jedes Recht, hier zu sein: Du bist eine Nachtigall!“

„Bin ich das?“

„Halt mich nicht zum Narren!“ Sie hielt Firaya eine filigrane Kette entgegen, an der mehrere flache Goldscheiben hingen. „Ich habe dein Versteck gefunden! Wenn die Fährleute auf der Istra so gut bezahlt werden, sollte ich vielleicht den Beruf wechseln!“

„Das solltet Ihr vielleicht.“ Firayas Stimme war weiterhin ruhig und gefasst, obwohl sich ihr Herz beim Anblick der Kette schmerzhaft zusammenzog. „Das ist mein Hochzeitsschmuck. Meine Familie hatte seit meiner Geburt Geld beiseitegelegt und ihn für meine Hochzeit anfertigen lassen.“ Sie streckte fordernd die Hand aus. „Ich will ihn wiederhaben.“

Ehe Firaya reagieren konnte, hatte Alina nach ihrem Arm gegriffen und den Ärmel ihres Hemdes hochgeschoben.

„Wusste ich doch, dass ich es gestern richtig gesehen habe – du trägst ihr Zeichen auf der Haut!“ Die tätowierten Federn auf der dunklen Haut ihres Handgelenks waren von vielen Tagen in der Sonne verblasst, aber dennoch gut zu erkennen. „Sind das etwa nicht die Federn einer Nachtigall?“

Firaya schnaubte.

„Vom Mitglied einer Garde, die sich die Sperber nennt, hätte ich bessere Vogelkenntnisse erwartet“, sagte sie trocken. „Habt Ihr schon mal eine Nachtigall gesehen?“

Alina presste die Lippen zusammen und ließ Firayas Arm los. Die Kette klimperte leise in ihren Fingern.

„Oh, und ob ich schon mal eine Nachtigall gesehen habe“, sagte sie frostig. „Aziza ist ihr Name, richtig? Das kleine Küchenmädchen?“

Ein eiskalter Schauder lief Firayas Rücken herunter. Sie schlüpfte aus ihren Schuhen, schob sich an Alina vorbei ins Zimmer und zog die Tür hinter sich ins Schloss. Der vertraute Lärm aus der Tarak-Hütte ebbte ab.

„Aziza ist ein halbes Kind“, sagte sie gepresst. „Lasst sie da raus.“

„Sie hat wissentlich eine Verbrecherin in den Kreml geschmuggelt“, gab Alina zurück. „Sie ist alt genug, um Verantwortung für ihre Taten zu übernehmen.“

Firaya sah Azizas nervöses Gesicht vor ihrem inneren Auge. Das Mädchen war so aufgeregt gewesen, einer anderen Nachtigall helfen zu können.

„Ist sie noch am Leben?“, fragte sie rau.

„Ja, aber das hat sie nicht dir zu verdanken!“ Alina musterte Firaya geringschätzig. „Dachtest du, ich hätte sie beim Empfang nicht an deiner Seite gesehen? Oder ist sie dir so egal? Sehr loyal scheint sie nicht zu sein. Sie hatte so große Angst, dass sie deinen Namen verraten hat, noch bevor ich sie richtig verhören musste.“

Wenn Latifa an Firayas Stelle gewesen wäre, hätte sie Aziza für ihren Verrat verflucht. Nachtigallen hielten zusammen. Aber Firaya konnte nicht wütend auf das Mädchen sein. Dafür waren ihre Schuldgefühle zu groß.

Alina beobachtete Firayas Reaktion und hob ihre geschwungenen Augenbrauen. „Aber wenn du jetzt sagst, dass du doch keine Nachtigall bist, hat sie mich offenbar angelogen. Dann muss ich sie mir wohl doch noch mal vornehmen …“

„Was willst du von mir?“ Firaya ließ die höfliche Anrede fallen; eine Frau, die einem Kind mit Folter drohte, verdiente keinen Respekt. Alina zuckte mit keiner Wimper.

„Ich will wissen, warum du im Kreml warst. Was hattest du im Verwaltungsgebäude zu suchen? Wolltest du in die Schreibstube des Hafenmeisters einbrechen?“

„Was wollen Diebe denn üblicherweise?“, gab Firaya zurück. „Ich habe den Hafenmeister auf dem Empfang bemerkt und eine Chance gesehen.“

„Eine Chance, ihn zu bestehlen?“

„So gut werden Fährdienste nun mal nicht bezahlt.“ Firaya ließ sich von Alinas scharfem Tonfall nicht beeindrucken. „Ist das alles?“

„Nein. Was weißt du über den Feuervogel?“

Alinas bohrendem Blick schien keine ihrer Reaktionen, kein Muskelzucken zu entgehen. Firaya versuchte, nach außen hin ruhig zu bleiben, während sie sich innerlich anspannte wie ein Jagdhund, der die Witterung seiner Beute aufgenommen hatte. Also doch Diebstahl. Sonst gäbe es keinen Grund, danach zu fragen. Was bedeutete das für das Bündnis zwischen Oksana und dem Zaren?

„Die Nachtigallen haben ihn nicht gestohlen“, sagte sie wahrheitsgemäß.

„Woher weißt du dann, dass er überhaupt fort ist?“, fragte Alina scharf.

„Das erzählt man sich auf der Straße seit Wochen“, gab Firaya zurück. Ihre Gedanken rasten. „Ist das nicht der Grund, warum die Großfürstin jetzt der Öffentlichkeit diesen falschen Rubin präsentiert hat? Um die Gerüchte Lügen zu strafen?“

Triumph blitzte in Alinas Augen auf.

„Woher weißt du, dass der Rubin falsch ist, wenn die Nachtigallen den echten nicht gestohlen haben?“

Wenn die Sperber noch die Nachtigallen im Verdacht hatten, war die Spur des wahren Diebes längst erkaltet. Vermutlich hatte er die Stadt schon verlassen. Aber wer außer den Nachtigallen verfügte über die nötigen Fähigkeiten und Ressourcen, um die Schatzkammer des Reiches zu plündern?

Firaya wandte sich ab, damit Alina ihr ihre Gedanken nicht ansah. Sie machte sich daran, die verstreute Kleidung auf dem Boden wieder einzusammeln.

„Es hat gereicht, ihn mir anzusehen“, antwortete sie, ohne Alina anzuschauen. „Der Feuervogel soll sich seit zwei Jahrhunderten im Besitz der Großfürstenfamilie von Istradar befinden, aber der Rubin in dieser Sperberfigur ist auf eine Art geschliffen, die erst seit ein paar Jahrzehnten angewandt wird. Über diese Technik verfügten sie damals noch nicht. Er ist wertvoll, ja, aber nicht das, wofür er ausgegeben wird.“

Firaya erwartete lautstarken Protest, aber als sie sich wieder umdrehte, musterte Alina sie mit einem nachdenklichen Gesichtsausdruck.

„Hast du dich deswegen nicht davor verbeugt?“

„Ich hätte mich auch nicht davor verbeugt, wenn er echt gewesen wäre. Sie nennen diesen Schatz zwar den Feuervogel, aber er ist bloß ein blutbeflecktes Andenken an eine Schandtat. Die Großfürsten von Istradar haben das letzte Wundertier getötet, das dieses Land noch hatte. Mördern zolle ich keinen Respekt.“

„Als ob ihr Nachtigallen nicht genauso morden wie rauben würdet!“

Firaya leugnete es nicht. Sie nahm nicht gern Leben, zögerte aber nicht, falls es nötig wurde.

„Wir foltern keine Kinder“, gab sie zurück. „Etwas, das die Sperber offenbar nicht von sich behaupten können.“

Alina schien nicht zu wissen, was sie darauf erwidern sollte. Firaya nutzte den Moment, um ihrerseits die Gardistin genauer zu mustern. Etwas an diesem Gespräch hatte sie die ganze Zeit gestört und jetzt erst kam sie darauf, was es war.

„Wieso bist du allein hergekommen?“, fragte sie übergangslos. „Wenn du dir so sicher bist, dass die Nachtigallen hinter dem Diebstahl stecken, wieso bist du nicht mit der ganzen Garde angerückt, um mich zu verhaften?“

Das entzündete Alinas Temperament aufs Neue.

„Ich brauche nicht die ganze Garde, um eine einzige Diebin zu verhaften!“

„Aber du verhaftest mich nicht“, stellte Firaya fest. „Du bist eigens hier hochgekommen, um unbeobachtet mit mir zu reden. Warum?“

Alina presste die Lippen zusammen. Ihre Hand streifte den Schwertknauf, aber die Bewegung wirkte nicht drohend, eher geistesabwesend, als würde die Frau das Gefühl der Sicherheit suchen, das ihr die Klinge gab.

„Du redest hier“, sagte sie schließlich, ohne auf Firayas Frage einzugehen. „Und zwar viel. Kannst du mir auch nur einen Beweis dafür liefern, dass du den Feuervogel nicht gestohlen hast?“

Firaya hätte gern gewusst, ob Alina jeden Einwohner in der Stadt befragen wollte oder nur Batyr, die ihr zufällig ins Kreuzfeuer geraten waren. Aber sie sah die wachsende Rastlosigkeit der anderen Frau und beschloss, fürs Erste mitzuspielen. Irgendetwas hielt den Sperber davon ab, Firaya auf der Stelle zu verhaften, aber sie durfte diesen Vorteil nicht ausreizen, wenn sie nicht wollte, dass ihr die Fragen stattdessen im Kerker gestellt wurden.

Und Alina bedrohte immer noch Aziza. Die Vorstellung, dass das Mädchen ihretwegen leiden musste, saß wie ein giftiger Pfeil in Firayas Brust.

„Wann wurde der Feuervogel gestohlen?“, fragte sie.

Alina trommelte mit den Fingern gegen den Fenstersims und schien abzuwägen, wie viel sie Firaya verraten konnte.

„Vor zwei Monaten“, sagte sie schließlich. „Am Shom-Tag.“

Firaya erinnerte sich. Lebhaft.

Sie ging zu den Sitzkissen hinüber und hob die Perücke auf, die Alina dort achtlos hingeworfen hatte. Mit vorsichtigen Fingern strich sie durch das braune Haar; es war echt und die Perücke entsprechend wertvoll. Die Einbruchswerkzeuge, die Firaya darin versteckt hatte, hatte die Gardistin offenbar gefunden und entfernt.

„Hat es dir wieder die Sprache verschlagen?“, fragte Alina ungeduldig.

„Ich habe den Feuervogel nicht gestohlen“, sagte Firaya. „Frag Warwara, die Heilerin. An dem Abend habe ich ein verletztes Mädchen zu ihr gebracht. Ich bin die ganze Nacht bei ihr geblieben.“

Alinas Stimme blieb skeptisch.

„Eine Zeugin? Das kommt dir ja äußerst gelegen.“

Firaya drehte sich abrupt um.

„Du wolltest einen Beweis für meine Unschuld – da hast du ihn. Wenn du mich nicht verhaftest, dann kannst du jetzt gehen.

---ENDE DER LESEPROBE---