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Blicke niemals in die Sonne. Der Glanz ist eine geheimnisvolle Kraft, die bis heute in den Familien der Quindici vererbt wird. Die Träger dieser Macht sind unsterblich, denn sie folgen der Bestimmung der Sonne. Auch die 18-jährige Jonna möchte dieses Erbe unbedingt antreten, muss dafür aber zuerst die Hüterin des Glanzes überzeugen: ihre eigene Großmutter. Doch diese lehnt ihre Bitte nicht nur kategorisch ab, sondern verweigert ihr auch jegliche Begründung dafür. Als plötzlich ihr ungeliebter Cousin diese Gabe erhalten soll, hat Jonna endgültig die Nase voll. Kurzerhand bricht sie bei ihrer Oma ein und stiehlt den Glanz – und macht so ihrem ungeliebten Spitznamen »Chaos-Jojo« alle Ehre, denn sie sorgt mal wieder für ein gigantisches Durcheinander. Allerdings bringt sie damit diesmal nicht nur sich selbst, sondern die ganze Menschheit in Gefahr ... Fesselnde Urban Fantasy über Freundschaft, Selbstfindung und den Mut, sein wahres Ich zu leben.
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Seitenzahl: 412
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Inhaltsverzeichnis
Impressum
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Danksagung
Über den Autor
GedankenReich Verlag
N. Reichow
Neumarkstraße 31
44359 Dortmund
www.gedankenreich-verlag.de
SONNENERBEN
Text © Ria Winter, 2024
Cover & Umschlaggestaltung: Phantasmal Image
Lektorat/Korrektorat: Tja Ciolczyk
Satz & Layout: Phantasmal Image
Innengrafiken © shutterstock
E-Book: Grit Bomhauer
ISBN 978-3-98792-104-9
© GedankenReich Verlag, 2024
Alle Rechte vorbehalten.
Dies ist eine fiktive Geschichte.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.
Für alle,
die mit ihren
besten Freund*innen
alt werden wollen.
Jonna fand ihre Idee genial, aber damit stand sie wie üblich allein da.
»Jojo, ehrlich, du und deine Schnapsideen.« Karo seufzte. »Bist du dir sicher, dass das gut geht?«
»Ich bin mir sicher«, erwiderte Jonna, ohne zu zögern. »Extrem sicher.«
Vom Rücksitz erklangen ein würgendes Geräusch und dann ein bemitleidenswertes Winseln.
»Ziemlich sicher«, korrigierte Jonna rasch, während ihr ein saurer Geruch in die Nase stieg. Sie war froh, dass sie vorn auf Karos Schoß saß.
»Du machst nachher die Kotze weg«, sagte Benni trocken. Er beschleunigte so langsam, als würde er das Auto anschieben. Die Hunde jaulten trotzdem auf.
Karo presste das Gesicht gegen Jonnas Schulter. »Bitte sag, dass wir bald da sind.«
Während sich im Wagen eine düstere Stimmung zusammenbraute, herrschte außerhalb der Fenster ein strahlender Junitag. Der Hamburger Stadtteil, in dem Jonnas Oma wohnte, war so grün, wie es nur südlich der Elbe ging, und bot eine fast schon dörfliche Idylle. Eben waren sie an einer Reihe von Häusern mit Reetdach vorbeigefahren. Benni navigierte seinen großen Opel vorsichtig durch die enger werdenden Straßen.
»Mag deine Oma überhaupt Hunde?«, fragte Karo dumpf.
»Klar!«
In Wahrheit hatte Jonna keine Ahnung. Als ihr die Idee gekommen war, ihrer Oma zum Geburtstag ein Haustier zu schenken, hatte sie das große Haus vor Augen gehabt, in dem diese ganz allein lebte. Femke Taler war nicht gut mit Menschen und hatte keine Freunde – nur die anderen Quindici, die überall auf der Welt verstreut waren und höchstens alle paar Jahre mal anriefen. Aber sie schaute gern Tierdokus und hatte Jonna einmal von einem Bekannten erzählt, der einen verwaisten Elch aufzog. Da war mehr Gefühl in ihrem Gesicht gewesen als bei jeder Familienfeier. Und genau auf dieses Gefühl setzte Jonna. Wenn sie ihre Oma dazu bekommen wollte, endlich ihre Geheimnisse mit ihr zu teilen, musste sie irgendwie das Herz hinter der spröden Fassade erreichen. Also: Haustiere.
Dass es zwei übergewichtige, zottelige Shetland Sheepdogs mit empfindlichen Mägen geworden waren, lag an den süßen Fotos in der Internetanzeige. Kleine, flauschige Hunde mit braunrotem Fell, beeindruckender Halskrause und langen Nasen. Außerdem wohnte der Anbieter in der Nähe von Karo und Benni. Karo hatte zu Recht darauf hingewiesen, dass verschenkte Haustiere meist im Tierheim landeten, aber Jonna war sich sicher, dass ihre Oma so etwas nicht machen würde. Na ja, ziemlich sicher.
»Festhalten!«, warnte Benni.
Der Opel senkte sich, als die Straße recht steil nach unten ging. Jonna schlang reflexhaft einen Arm um die Kopfstütze von Karos Sitz, um nicht vom Schoß ihrer Freundin zu rutschen und auf dem Armaturenbrett zu landen.
»Wenn wir wegen dieser Nummer einen Unfall bauen, kriegst du die Rechnung von der Autowerkstatt«, drohte Karo. Aber ihr Griff um Jonnas Taille wurde vorsorglich fester.
»Ich hab dich auch lieb«, erwiderte Jonna grinsend.
Ihre Oma besaß ein großes Grundstück an einem Hang direkt am Waldrand, das von ihrem zweistöckigen Haus und einem gepflegten Garten eingenommen wurde. Eine hohe Hecke schirmte den Garten von der Straße ab, sodass man sich darin vorkam wie in einer völlig eigenen Welt. Nach hinten raus trennte nur ein halbhoher Zaun das Grundstück vom Wald. Manchmal rissen Wildschweine oder Rehe die Pforte nieder, um Schneisen der Verwüstung durch die Beete zu ziehen. Aber das störte Jonnas Oma nicht. Sie sagte immer, dass sie sich freute, etwas zu tun zu haben. Langeweile hatte in ihrer Welt nichts zu suchen.
Sicherheitshalber wählte Jonna ihre Festnetznummer und ließ es klingeln. Niemand hob ab. Mit einem zufriedenen Lächeln öffnete sie die Autotür und rutschte von Karos Schoß.
Obwohl ihre beste Freundin das Ganze für eine ihrer üblichen Schnapsideen hielt, hatte Jonna diesmal alles genau durchdacht. Pünktlich um zehn Uhr morgens ging ihre Oma spazieren und kam nicht unter einer Stunde zurück. Das perfekte Zeitfenster, um die Shelties ins Haus zu schmuggeln und sie bei ihrer Rückkehr mit ihnen zu überraschen. Ihre Oma hasste es, wenn irgendjemand unangekündigt bei ihr auftauchte, aber Jonna hoffte, dass sie sich zu sehr über dieses Geschenk freuen würde, um wütend zu werden.
Es lief so lange perfekt, bis Jonna die Gartenpforte aufmachte, zur vergitterten Tür im Erdgeschoss ging und feststellte, dass sie den falschen Schlüsselbund eingesteckt hatte. An diesem hing ein herzförmiger Schlüsselanhänger mit Streifen in Orange, Gelb, Weiß, Hell- und Dunkelblau, der Jonna sofort ein warmes Gefühl gab. Die Ersatzschlüssel für das Haus ihrer Oma hingen allerdings am Schlüsselbund von Jonnas Mutter – und die konnte mit der Aro-Ace-Flagge herzlich wenig anfangen.
»Was ist denn jetzt?«, rief Karo vom Auto herüber. »Können wir die Stinker rauslassen?«
Benni war ausgestiegen und schaute sich um. Die Hunde jaulten und kratzten von innen an der Autotür.
»Alles okay!«, rief Jonna zurück und wippte auf ihren bemalten Vans auf und ab. Das hier war noch kein Desaster. Sie würden es schon wuppen, wie ihr Vater immer sagte.
»Wir müssen über die Terrassentür rein!«, verkündete sie ihren Freunden. Ihre Oma schloss die Terrassentür zum Glück nie ab.
Sie joggte zum Auto zurück und schaffte es zusammen mit Benni, die Hunde an ihren Leinen zu erwischen, bevor sie nach draußen entkamen. Die Shelties beschnupperten neugierig die Büsche vor der Gartentür und warfen Jonna und ihren Freunden vorsichtige Blicke zu.
Benni verzog das Gesicht bei dem säuerlichen Geruch von der Rückbank. »Gut, dass uns der Typ eine Decke gegeben hat.«
»Na, wer ist eine dicke Kotzwurst?« Karo kraulte dem etwas runderen, rötlichen Hund das Ohr. Seine anfängliche Zurückhaltung schien unter ihren Streicheleinheiten schnell dahinzuschmelzen und er hechelte sie freundlich an. Sein Bruder traute sich noch nicht, lief aber aufgeregt um Karo herum und wickelte die Leine um ihre Beine. Jonnas Befehle ignorierte er gekonnt.
»Süß sind sie ja, aber nicht gut erzogen«, war Karos Fazit.
»Wir lassen sie im Garten von der Leine«, entschied Jonna. »Sie können sich schon mal an ihr neues Zuhause gewöhnen.«
Dass dies keine gute Idee war, erkannte sie, sobald die Leinen gelöst waren. Die Hunde flitzten durch den Garten davon wie zwei braunrote Blitze und bellten dabei so laut, dass man sie wohl noch drei Straßen weiter hörte.
»O shit, wie hoch können die springen?«, fragte Jonna alarmiert. »Der Zaun zum Wald ist ziemlich niedrig!«
»Das finden wir gleich raus«, gab Karo trocken zurück.
Benni sagte nichts, rüttelte aber pragmatisch an der Gartenpforte, um sicherzugehen, dass sie hinter ihnen eingerastet war.
Fluchend jagte Jonna den Hunden hinterher. Die Sonne brannte unbarmherzig auf sie herunter und der Schweiß prickelte unter dem Pferdeschwanz auf ihrem Nacken. Die Shelties schienen viel Spaß daran zu haben, vor ihr wegzulaufen und durch sorgsam gepflegte Blumenbeete zu trampeln. Ihre Oma würde definitiv genug zu tun haben.
»Das wirkt irgendwie steiler als von der Straße aus«, sagte Karo ohne große Begeisterung, nachdem sie Jonna gefolgt war und das Haus umrundet hatte. Von dieser Seite aus war nicht zu übersehen, dass das Grundstück zum Wald hin anstieg. Das Gras war noch nass vom Regen der letzten Nacht. Jonna hatte keine große Lust darauf, da hochzulaufen, aber das alles war immerhin ihre Idee gewesen.
»Du kannst hier warten und mich anfeuern«, erlaubte sie großmütig.
»Uns anfeuern«, korrigierte Benni, der zu ihnen aufgeschlossen hatte.
»Ich verspreche, kein Video davon zu machen, wie ihr hinknallt und wieder runterrutscht«, sagte Karo. »Oder es zumindest nicht ins Internet zu stellen.«
»Du bist ein wahrer Engel.« Benni gab ihr einen Kuss und folgte Jonna nach oben.
Jonnas Schuhe rutschten über das Gras und irgendwelche verfluchten Pollen juckten in ihrer Nase. Sie spürte förmlich, wie ihr die Atemwege zuschwollen. Natürlich hatte sie nicht daran gedacht, ihr Heuschnupfen-Mittel mitzunehmen. Wenn sie zusammenbrach, würde sie zumindest ganz von allein den Hang runterrollen. Die Hunde waren schon oben und erkundeten die Terrasse. Ihre wedelnden Schwänze winkten wie Fellfahnen am Ende eines Marathons.
»Gleich haben wir sie.« Jonnas Atem rasselte.
Benni warf ihr einen besorgten Blick zu. »Du solltest lieber reingehen. Deine Augen sind echt rot …«
»Geht schon«, krächzte Jonna.
Sie nieste.
Es war kein süßes Kleines-Mäuschen-Niesen wie bei Karo, sondern ein lauter Schnauber, dem gleich ein weiterer und dann noch einer folgten. Eine ganze Ameisenkolonne schien durch ihre Nasennebenhöhlen zu laufen. Ihre Ohren klingelten. Dann erkannte sie, dass diesmal nicht die Pollen das Problem waren – das Quietschen kam von der Gartenpforte zum Wald.
»O shit, das ist sie!«
Jonna setzte zum Endspurt an. Ihre Augen tränten und alles um sie herum verschwamm, ihre Nase lief und der nächste Niesanfall kratzte in ihrer Kehle, aber sie würde es schaffen! Sie würde diese verdammten Hunde einfangen und stolz ihrer Oma präsentieren. Die wäre gerührt und dankbar und würde endlich begreifen, dass Jonna sie als Einzige in der Familie wirklich verstand und bereit war, das Erbe der Quindici anzutreten …
Jonna rutschte aus und verlor das Gleichgewicht. Ihr Kopf schlug schmerzhaft auf dem Boden auf.
»Jojo!«
Erschrockene Stimmen. Durch den Tränenschleier hindurch sah Jonna Bennis besorgtes Gesicht vor dem blauen Himmel. Dann waren plötzlich überall feuchte Hundenasen und warmer Atem.
»Hi, Jungs«, sagte Jonna, noch etwas benommen, und versenkte ihre Hände in dichtem Fell. »Hab ich euch.«
Im nächsten Moment waren die Hundenasen weg und ein strenges, dünnes Gesicht schaute auf sie herunter.
»Hi, Oma«, sagte Jonna und lächelte vage. »Überraschung.«
Das war ein echtes Jojo-Ding«, sagte Karo und ließ sich neben Jonna auf die schwarze Couch fallen.
Das Wohnzimmer ihrer Oma war riesig, aber größtenteils frei von Möbeln. Nur die Sitzgruppe vor der Fensterfront zur Terrasse und ein langer hölzerner Esstisch an der anderen Seite verhinderten, dass der Raum wie ein Tanzstudio wirkte. Chaotisch übereinander geworfene Teppiche in Rot- und Brauntönen bedeckten den Holzboden und sorgten dafür, dass es im Haus etwas muffig roch. Die Wände waren voller Fotos in goldenen Rahmen, überwiegend Landschaftsaufnahmen von Orten, an die ihre Oma gereist war. Jonna hatte immer das Gefühl, dass die ganze Welt hier zu Hause war.
»Ich weiß gar nicht, was du hast. Hat doch alles geklappt.« Jonna versuchte enthusiastischer zu klingen, als sie sich fühlte.
Langsam konnte sie wieder freier atmen, auch wenn ihr Kopf noch vom Sturz pochte. Ihre Oma hatte zum Glück immer etwas gegen Heuschnupfen da. Nur fiel es ihr gerade schwer, sich darüber zu freuen.
»Du hättest vorher anrufen sollen«, sagte Aljoscha missbilligend. »Du kannst doch nicht einfach unangemeldet bei jemandem auftauchen.«
Natürlich war er ausgerechnet jetzt aus Russland zurück und hier zu Besuch, da Jonna vorbeikam. Sie maß ihren Großcousin mit einem genauso finsteren Blick wie er sie. Er stand in der Küchentür wie ein Laternenpfahl – groß, dünn, selbst im Sommer ganz in Schwarz gekleidet, immer mit seinen Lederbändern um die Handgelenke. Er hielt sich ja für so cool. Jonna wollte jedes Mal die Augen verdrehen, wenn sie ihn sah.
»Ich kann meine Oma besuchen, wann immer ich will«, erwiderte sie. »Was machst du überhaupt hier?«
Karo stieß ihr einen Ellbogen in die Seite, aber Jonna fand die Frage berechtigt. Er war letzte Woche ohne jede Erklärung zurück zu seinen Eltern geflogen und hatte ein Familienessen bei den Talers verpasst – und er wusste, wie sehr Jonnas Mutter Unzuverlässigkeit hasste. Außerdem wohnte er in einem Studentenwohnheim in der Innenstadt, da brauchte er mit Bus und Bahn über eine Stunde hierher. Und dann ging er auch noch mit ihrer Oma im Wald spazieren, obwohl er es hasste, seine Stiefel dreckig zu machen?
»Femke ist auch meine Großmutter«, sagte Aljoscha. Er klang gleichgültig wie immer, zupfte aber unruhig an seinen Armbändern und sprach mit stärkerem Akzent als sonst. Jonnas Misstrauen wuchs. Etwas stimmte nicht. Er verheimlichte etwas.
»Ist sie nicht«, sagte sie. »Sie war die Ehefrau deines Großonkels, du bist bloß ihr Großneffe.«
»O mein Gott, Jojo, halt doch die Klappe!«, zischte Karo. Sie konnte nicht wissen, wie wichtig genaue Verwandtschaftsverhältnisse in dieser Familie waren.
Aljoscha verschwand wortlos in der Küche, aus der kurz darauf das Blubbern des Wasserkochers ertönte. Egal wo er war und wie viel Grad sie hatten, er musste immer Tee machen. Jonna sah ihm misstrauisch hinterher.
»Du bist unmöglich!« Karo sprach immer noch leise, aber ihre schwarz geschminkten Augen hinter den Brillengläsern sprühten vor Ärger. »Wieso musst du ihn eigentlich immer mobben?«
»Ich mobbe ihn gar nicht!«, protestierte Jonna. »Ich will nur wissen, warum er sich so an meine Oma anzeckt!«
»O mein Gott«, wiederholte Karo. Sie warf einen hastigen Blick in Richtung Küche und senkte die Stimme noch weiter. »Meinst du nicht, er vermisst seine Eltern? Ihr seid die einzige Familie, die er in Deutschland hat! Willst du wirklich das Arschloch sein, das den einsamen schwulen Jungen aus Russland mobbt?«
Jonnas Mitgefühl hielt sich in Grenzen. Aljoscha war alles andere als einsam oder traurig. Sprachprobleme hatte er dank seines inzwischen verstorbenen Großonkels, Jonnas Opa, schon mal keine. Und nach nicht mal einem Jahr in Deutschland konnte er sich vor Freunden kaum retten – alles diese eingebildeten Künstlertypen, die mit ihm Mode und Design studierten. Einen von ihnen datete er sogar schon. Mindestens einmal pro Woche luden Jonnas Eltern ihn zum Essen ein und überschlugen sich förmlich mit Komplimenten zu seinem künstlerischen Talent. Alle schienen ihm den roten Teppich auszurollen, seit er aus dem Flugzeug gestiegen war.
Zugegeben, vielleicht war Jonna ein bisschen neidisch. Aber sie hatte auch einen guten Grund, ihren Cousin nicht zu mögen. Er war das erste Mitglied einer anderen Quindici-Familie, das sie je getroffen hatte. Sie hatte sich Antworten von ihm erhofft, einen Einblick in diese Welt der Geheimnisse und des Übernatürlichen. Sie hätte jemanden gebrauchen können, der ihre Sehnsucht, dazuzugehören, verstand.
Aber als sie ihn nach seiner Ankunft aufgeregt gefragt hatte, ob er den Glanz besaß, hatte er sie gemustert wie eine Kakerlake und erwidert: »Was geht dich das an?«
Seitdem waren die Grenzen klar gezogen.
Aber das konnte sie Karo nicht erklären. Geheimhaltung war die eine Quindici-Regel, die selbst Jonna kannte. Also seufzte sie bloß und ließ sich ein Stück das Sofa hinunterrutschen. »Ich bin ja schon lieb.«
In diesem Moment ging die Terrassentür auf und die Hunde liefen herein, gefolgt von Jonnas Oma und Benni, die ihnen die Pfoten von Gartenerde befreit hatten. Der dickere Sheltie kam sofort zum Sofa herüber und drängte sich an Karo, die er offenbar ins Herz geschlossen hatte. Karos Gesicht leuchtete auf.
Während sie den Hund durchflauschte und den anderen ebenfalls zu sich zu locken versuchte, beobachtete Jonna ihre Oma. Deren Gesichtsausdruck ließ sich wie immer schwer deuten. Femke Taler war eine kleine, aber kräftige Frau mit einem blonden Haarknoten, die meist viel zu große Pullover, Jeans und Gummistiefel trug. Die Art, wie sie auftrat und sich hielt, verriet eine No-Nonsense-Einstellung. Benni wirkte entsprechend eingeschüchtert. Selbst Jonna, die mit dieser Frau aufgewachsen war, fiel es schwer, sie von Angesicht zu Angesicht Oma zu nennen. Aber das befeuerte nur ihre Entschlossenheit, sich ihr zu beweisen.
»Die Überraschung ist euch jedenfalls gelungen«, sagte Femke und schloss die Terrassentür mit einer entschiedenen Bewegung hinter sich. Ihr Blick ruhte auf den Hunden. »Wo habt ihr die zwei überhaupt her?«
Benni und Karo wechselten einen bedeutungsvollen Blick und beschlossen offenbar per Pärchen-Telepathie, dieses Gespräch Jonna zu überlassen. Die setzte sich unwillkürlich gerader auf.
»Aus dem Tierheim«, log sie. Das klang besser als Kleinanzeigen im Internet.
Jetzt, da Jonna ihrer Oma Rede und Antwort stehen musste, kam ihr diese Idee plötzlich sehr albern vor. Wie hatte sie sich das vorgestellt? Sie wusste nicht einmal, wie sie ihren Gedankengang erklären sollte. Du hast einsam gewirkt und ich wollte dir zeigen, dass ich dich besser verstehe als alle anderen?Femke Taler war keine Frau, mit der man über Gefühle sprach.
»Ich dachte …« Jonna biss sich auf die Unterlippe. Karos Worte zogen Kreise in ihrem Kopf: ein echtes Jojo-Ding. Das war in ihrem Freundeskreis schon ein fester Begriff für Aktionen wie diese hier. Spontan, unüberlegt, mit potenziell katastrophalen Auswirkungen. »Du hast so viel Platz im Haus«, versuchte sie es zögernd. »Hier können sie sich bestimmt austoben. Und du magst doch Tiere …?« Es wurde ein Satz mit einem Fragezeichen.
Mit Femkes prüfendem Blick konfrontiert, war es schwer, sich vorzustellen, dass sie überhaupt etwas mochte. Jonna erwartete halbwegs, auf der Stelle rausgeworfen zu werden.
»Sie müssen auf jeden Fall erzogen werden«, sagte ihre Oma nach einer gefühlten Ewigkeit. »Haben sie euch im Tierheim Futter mitgegeben?«
»Wir haben was gekauft!« Jonna sprang auf, froh, etwas tun zu können. »Ich hole es aus dem Auto.«
Benni wollte helfen, aber Jonna winkte ab. Ihre Freunde hatten für heute genug mitgemacht. Sollten sie mal in Ruhe Tee trinken. Jonna brauchte ohnehin einen Moment, um ihre Enttäuschung in den Griff zu kriegen. Sie schnappte sich Bennis Autoschlüssel und etwas Putzzeug aus der Abstellkammer, damit sie gleich auch wie versprochen die Rückbank des Opels sauber machen konnte.
Die Sonne knallte immer noch vom Himmel herab. Jonna war kein Sommertyp und zog Temperaturen zwischen fünfzehn und zwanzig Grad vor, bei denen sie ihre geliebten langärmligen Hoodies tragen konnte. Aber dieser Juni kannte keine Gnade. Ihre Arme und Beine waren schon braun und mit diesen feinen Sommersprossen übersät, die sie hasste. Die drückende Luft passte zu ihrer Stimmung. Vor einer Stunde war sie noch voller Hoffnung gewesen, dass sich heute alles verändern würde. Aber nun brodelte in ihr nur die vertraute rastlose Frustration. Seufzend band sie ihren Pferdeschwanz neu und ging ans Werk.
Die Arme mit Hundefutter, Spielzeug und Näpfen beladen, floh sie endlich wieder in die Kühle des Hauses. Diesmal kam sie nicht über die Terrasse, sondern über die Tür auf der anderen Seite, sodass sie im Flur landete. Hier führten Treppenstufen nach unten in die separate Wohnung, in der früher ihr Vater gewohnt hatte, und nach oben in Femkes Schlafzimmer. Hinter einer Tür ging es zur Küche und dann weiter ins Wohnzimmer. Gedämpfte Stimmen erklangen aus dieser Richtung – offenbar lief die spontane Teegesellschaft gut. Ein Stich Eifersucht durchfuhr Jonna. Karo schloss bestimmt gerade Freundschaft mit Aljoscha. Der arme Typ, er war ja so einsam.
Wie als Antwort auf ihre finsteren Gedanken wurde die Küchentür geöffnet und Femke trat hindurch, gefolgt von den Hunden. Dafür, dass die Shelties vorhin so ungehorsam gewesen waren, hingen ihre Blicke nun aufmerksam an Jonnas Oma und sie setzten sich sogar auf ihr Kommando.
»Du hast sie schon gut im Griff«, kommentierte Jonna aus der Vorratskammer.
»Hunde brauchen eine klare Führung«, sagte Femke und stellte ihnen Schüsseln mit Wasser hin. »Nicht anders als Menschen.«
Ihre Stimme klang sachlich und ungerührt wie immer, aber als Jonna sich wieder zu ihr umdrehte, beobachtete Femke die trinkenden Hunde mit dem Anflug eines Lächelns. Es verwandelte ihr strenges Gesicht und verlieh ihren Augen eine seltene Wärme. Jonnas Herz schlug höher.
»Du wirst sie behalten?«, fragte sie.
»Natürlich.« Femke sah auf und begegnete Jonnas erwartungsvollem Blick. »Tiere sind kein angemessenes Geschenk und ich hoffe, du machst so etwas in Zukunft nicht noch mal. Aber es ist eine schöne Überraschung. Danke.«
Jonna konnte nicht anders, als sie breit anzulächeln. Ihr Groll löste sich auf, wie Tau in der Mittagshitze verdunstete. Hoffnung nahm seinen Platz ein.
»Ich hab mich dran erinnert, wie du von diesem Freund in Finnland mit seinem Elch erzählt hast«, sagte sie. »Ich will nicht, dass du dich einsam fühlst, so ganz allein in dem großen Haus.«
»Es ist lieb von dir, an mich zu denken. Aber Einsamkeit macht mir nichts aus.«
»Ich weiß, du kommst gut allein zurecht.« Jonna gab nicht auf. »Aber du kannst ruhig sagen, wenn du etwas brauchst oder wenn ich etwas für dich tun kann. Ich bin kein Kind mehr. Ich würde dir gern helfen.«
Jetzt schien ihre Oma Lunte zu riechen. Die Wärme verschwand aus ihren Augen und sie musterte Jonna wie einen Unterschriftensammler in der Einkaufsmeile.
»Wobei willst du mir helfen?«, fragte sie.
Jonna warf einen Blick zur angelehnten Küchentür, aber die Stimmen aus dem Wohnzimmer klangen so beschäftigt wie zuvor. Karo und Benni würden sowieso nicht an der Tür lauschen und Aljoscha war abgelenkt. Jetzt oder nie.
»Bei deinen Quindici-Aufgaben«, sagte sie.
Allein schon das Wort auszusprechen erfüllte Jonna mit flatternder Vorfreude. Ihr Vater nahm es so gut wie nie in den Mund – immer hieß es nur, Femke würde sich um Familienangelegenheiten kümmern. Es klang, als wäre sie in der Mafia. Jonnas Mutter war der Meinung, es wäre eine Sekte. Aber Jonna wusste es besser.
»Was weißt du von meinen Quindici-Aufgaben?«, fragte Femke. Ihr Tonfall war neutral wie immer, weder abschätzig noch wütend. Jonna fühlte sich trotzdem wie bei einer mündlichen Prüfung, von der ihre Zukunft abhing.
»Ich weiß, dass du für die anderen verantwortlich bist«, sagte sie. »Deswegen reist du auch so viel rum, du schaust bei den anderen Familien nach dem Rechten. Aber das muss doch anstrengend sein für eine Person. Ich könnte dich dabei unterstützen. Deine Assistentin sein.« Jonna gab sich große Mühe, ihre Stimme so zu modulieren wie Femke, cool und selbstsicher zu klingen statt übereifrig und flehend. »Wir sind immerhin eine Familie. Du kannst mir vertrauen.«
Etwas in Femkes Gesicht flackerte, zu schnell, um daraus schlau zu werden. Sie sah weg und beobachtete die Hunde, die den Flur erkundeten und ihre Hausschuhe beschnüffelten.
»Es geht nicht um Vertrauen, Jonna«, sagte sie. »Es ist besser, wenn du nichts mit den Quindici zu tun hast.«
»Aber ich bin doch selbst eine! Ich bin deine Enkelin, es liegt in meinem Blut!«
Femke schüttelte resolut den Kopf. »Komm mir nicht mit Blut. Du bist eine Taler, ja, aber du musst dieses Erbe nicht antreten. Konzentrier dich lieber auf dein Studium.«
»Aber ich will es antreten!«, beharrte Jonna und ignorierte wohlweislich die Bemerkung mit dem Studium. »Ich will eine richtige Quindici sein, mit dem Glanz und allem!«
Es durchfuhr sie wohlig, das Wort überhaupt auszusprechen. Der Glanz. Das große Geheimnis.
»Du weißt nicht mal, was das bedeutet.« Da war er wieder, dieser Abstand zwischen ihnen. Mit jedem Wort schien sich Femke weiter von Jonna zu entfernen. »Du denkst, dass dich der Glanz von deinen Allergien befreit und dich ewig jung sein lässt. Aber er verändert dich dauerhaft. Er macht dich zu einer anderen Person.«
»Gut! Ich will mich verändern!«, entfuhr es Jonna, bevor sie sich beherrschen konnte. Sie ballte die Hände zu Fäusten. Wie konnte sie ihrer Oma nur begreiflich machen, dass sie alles tun würde, um eine andere Person zu werden? Nicht mehr Chaos-Jojo zu sein. Zu etwas Größerem dazuzugehören. »Ich bin bereit dafür!«
»Nein!«, sagte Femke scharf. Die Shelties schreckten zusammen und schauten verunsichert zu ihr auf. Doch sie starrte nur Jonna an, kalt und unnahbar. »Es ist meine Entscheidung, Jonna, und sie steht fest. Du wirst den Glanz nicht erhalten.«
Ein Stich durchfuhr Jonna und sie musste langsam ein- und ausatmen, um den Schmerz in den Griff zu bekommen. Femke sprach es zwar nicht aus, aber es klang deutlich aus ihren Worten heraus: Jonna war des Glanzes nicht würdig. Ihre Oma hielt sie für genauso unfähig wie alle anderen auch.
»Was kann ich tun?«, fragte sie rau. »Ich tue alles, um dir zu beweisen, dass ich gut genug für die Quindici bin!«
»Jonna, nein.« Femke streckte die Hand nach Jonna aus, aber die zuckte zurück. Ihre Oma seufzte, etwas Gequältes huschte durch ihre Augen. »Du musst mir nichts beweisen. Es gibt nichts, was du an dir verändern müsstest. Du brauchst den Glanz nicht.«
»D-doch.« Der Atem stockte in ihrer Kehle und Jonna schluckte schwer. All die Sorgen und Ängste, die sich in ihrer Brust aufgestaut hatten, drückten ihr die Worte ab. Aber sie musste etwas sagen. Sie musste Femke klarmachen, dass sie Jonnas einzige Hoffnung war, etwas aus sich zu machen.
Gerade öffnete Jonna den Mund, um sich an einer Erklärung zu versuchen, da ging die Küchentür auf.
»Alles in Ordnung?«
Jonna hatte Aljoschas Schritte nicht gehört, aber ihre aufgebrachte Stimme musste bis ins Wohnzimmer gedrungen sein. Aljoscha sah stirnrunzelnd von ihr zu Femke. Die zog sich wieder ganz in sich zurück und drückte ihren Rücken durch.
»Kein Grund zur Sorge, nur ein Missverständnis«, sagte sie, als wäre damit alles erledigt.
Abrupt schlug Jonnas Hilflosigkeit in Wut um.
»Es ist kein Missverständnis!«, sagte sie scharf. »Ich habe ein Anrecht auf den Glanz!«
Aljoschas Augen verdunkelten sich. »Ach, und ich nicht?«, schnappte er.
Jonna fuhr zu ihm herum. »Dein Anrecht ist mir egal, es geht hier ausnahmsweise nicht um dich!«
»Deswegen schreist du hier rum, weil es dir so egal ist?« Er schloss die Küchentür hinter sich und baute sich mit seiner ganzen Größe vor Jonna auf. »Denkst du, du kannst sie überzeugen, mir den Glanz doch nicht zu geben? Du bist es, die das alles nichts angeht!«
Sie starrte ihn an. Seine Worte wirbelten durch ihren Kopf wie ein Hurrikan. »Du … du sollst den Glanz bekommen?« Ungläubig sah sie zu Femke. »Ist das wahr?«
Ihre Oma seufzte. »Jonna, das ist etwas völlig anderes …«
»Wieso? Du kennst ihn kaum, aber du vertraust ihm genug, um ihm mein Erbe zu geben?«
»Es ist meine Entscheidung«, wiederholte Femke bloß.
Jonna starrte sie an, ihr erbarmungsloses Gesicht, das wie eine Maske wirkte. Und dann Aljoscha, der sie aus zusammengekniffenen Augen musterte. Offensichtlich war er würdig, den Glanz zu erhalten, diese übernatürliche Kraft der Sonne, und ein vollwertiger Quindici zu werden. Egal, was Jonna tat, sie war nie gut genug.
Wütende Tränen prickelten in ihren Augen. Aber sie wollte nicht, dass Femke und Aljoscha sie für ein tobendes Kind hielten. Jonna stieß die Zähne zusammen und schluckte den Kloß in ihrem Hals herunter.
»Dann gehe ich wohl besser«, sagte sie gepresst.
Ohne auf den Ruf ihrer Oma zu reagieren, marschierte sie ins Wohnzimmer, wo sich Karo und Benni größte Mühe gaben, so zu tun, als würden sie nicht lauschen. Als sie Jonnas angespanntes Gesicht sahen, entschieden sie offenbar schnell, keine Fragen zu stellen.
Draußen strahlte die Sonne noch immer, wie um Jonna daran zu erinnern, dass sie ihren Segen nie erhalten würde.
Bin wieder da!«, rief Jonna und warf ihren Rucksack auf den Boden, bevor sie ihre Schuhe auszog.
Keine Antwort. Aus dem Wohnzimmer kamen Stimmen.
Ein Blick auf die Uhr im Flur verriet ihr alles, was sie wissen musste: Sonntag, halb neun. Ihre Mutter hatte den Fernseher aufgedreht, ihre beste Freundin angerufen und guckte mit ihr zusammen den neuen Tatort. Alles andere hörte in dieser Zeit auf zu existieren. Aber das war Jonna gerade ganz recht so, sie wollte keine Fragen über ihren Tag beantworten.
Zu ihrer Überraschung saß ihr Vater in der Küche und blätterte in seiner Autozeitschrift. Das Licht der Deckenlampe glänzte auf seiner Halbglatze.
»Moin, Papa.« Sie drückte ihm einen Kuss auf die Wange. »Ich dachte, du kommst erst morgen von deiner Dienstreise zurück?«
»Moin, Schatz. Mein Kundentermin wurde abgesagt und ich hatte keine Lust auf eine weitere Nacht im Hotel. Hast du Hunger?«
»Nee, hab bei Karo und Benni gegessen.«
Sie nahm sich eine Flasche Apfelschorle aus dem Kühlschrank und wollte auf ihr Zimmer verschwinden, aber ihr Vater hielt sie zurück. Vorsichtig zupfte er ihr ein paar dunkle Haare von der Schulter.
»Haben sich die zwei ein Haustier angeschafft?«
Jonna seufzte. Zumindest kamen ihr nicht wieder die Tränen. Nach stundenlangem Seriengucken mit Karo fühlte sie sich hauptsächlich müde und matschig im Kopf.
»Nein … Ich hab Oma zwei Shelties geschenkt. Du weißt schon, Shetland Sheepdogs, Lassie mit kurzen Beinen.«
Ihr Vater legte sein Magazin beiseite und klopfte auf den Stuhl neben sich. »Meine Mutter und Hunde? Das musst du mir jetzt mal genauer erzählen.«
Und das tat sie, zuerst widerwillig, dann aber immer ausführlicher. Tjark Taler war ein guter Zuhörer. Im Gegensatz zu seiner Ehefrau unterbrach er nicht dauernd mit besserwisserischen Kommentaren, sondern ließ Jonna ausreden und gab nur manchmal ein »Mhm« von sich. Als sie die Quindici und den Glanz erwähnte, grub sich eine Falte zwischen seine Augenbrauen, aber er sagte noch immer nichts.
Erst nachdem Jonna geendet hatte, seufzte er. »Das klingt nach Femke. Du darfst es ihr nicht übelnehmen, sie –«
»Liebt mich, auf ihre Art, ich weiß schon.« Jonna drehte die Flasche Apfelschorle zwischen ihren Handflächen. »Aber Aljoscha liebt sie offenbar mehr. Dabei kennt sie ihn überhaupt nicht! Sie denkt doch nur, dass er perfekt ist, weil er ihr was vorspielt!«
»Also erst mal solltest du nicht so herablassend über Aljoscha reden. Wir kennen ihn zwar alle noch nicht so lange, aber er ist trotzdem ein Teil unserer Familie. Femke war sehr froh, als er sich bei ihr gemeldet hat, nachdem er zum Studieren nach Deutschland gekommen ist. Du weißt doch, dass unsere Familien seit ihrer Scheidung von Opa Peter nicht so gut miteinander auskommen. Deswegen ist es umso wichtiger, dass wir uns jetzt etwas um ihn kümmern. Das gilt auch für dich, okay?«
Jonna schnaubte, murmelte aber ein Okay.
Tjark musterte sie prüfend. Alle sagten immer, dass Jonna seine braunen Augen geerbt hatte, aber ihre waren nicht halb so gut darin, andere Leute zu durchschauen.
»Ich verstehe, dass du frustriert bist, aber er nimmt dir nichts weg«, sagte ihr Vater. »Er hat Anspruch auf den Glanz, weil er der Sokolov-Familie angehört, dein Anspruch stammt aus der Taler-Familie. Deine Oma entscheidet zwar über die Erbfolge beider Familien, aber die eine hängt nicht von der anderen ab. Dass Aljoscha jetzt den Glanz bekommt, bedeutet nur, dass etwas an seinen Umständen für die Quindici von Bedeutung ist.«
»Was denn für Umstände?«, brauste Jonna auf. »Was wollen die Quindici mit ihm? Brauchen sie neue Klamotten?«
»Jetzt wirst du gehässig«, sagte Tjark mit sanftem Vorwurf in der Stimme.
Jonna stöhnte und legte ihren Kopf auf den Armen ab. Ja, sie war gehässig und neidisch. Sie hatte sich selbst satt.
Ihr Vater legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Jojo, ich weiß, dass die Quindici mysteriös und interessant klingen. Aber es sind auch nur Menschen. Sie sind weder unfehlbar noch unsterblich.«
Jonna hob den Kopf wieder. »Sie sind nicht unsterblich? Ganz sicher? Wenn sich Oma verletzt, heilt es doch sofort.«
»Hast du das Foto in ihrem Haus gesehen?«, fragte ihr Vater, statt direkt zu antworten. »Das Gruppenfoto?«
Jonna wusste genau, welches er meinte. In Femkes Wohnzimmer, zwischen all den Aufnahmen von Küsten, Wäldern und Bergen, hing ein eingerahmtes Foto von 1958. Darauf waren fünfzehn Jugendliche zu sehen, alle etwa in Jonnas Alter, die vor einer Waldhütte in Finnland in die Kamera grinsten. Es war ein bunt zusammengewürfelter Haufen aus verschiedenen Nationen, die einen mit üppigen Frisuren und in eng anliegenden Hosen, die anderen in Lederjacken oder mit Baskenmützen. Mit ihren großen Sonnenbrillen und Zigaretten im Mundwinkel sahen sie aus wie eine Abschlussklasse auf Abifahrt – nicht so, als hätten sie gerade ein Erlebnis hinter sich, das sie alle zu übernatürlichen Wesen gemacht hatte.
Femke hatte ihr einmal ihre eigene Mutter auf dem Bild gezeigt: Gerit Taler, sehr blond, sehr groß und so etwas wie der Guru der Gruppe. Sie hatte die mit ihrem Leben unzufriedenen Jugendlichen zu einem spirituellen Erweckungstrip durch halb Europa um sich versammelt. Sie war es auch gewesen, die als Erste den Blick zur Sonne gerichtet und nicht weggesehen hatte. Das Licht hatte sie nicht geblendet, sondern ihr den Glanz verliehen. Die anderen Gruppenmitglieder waren ihrem Beispiel gefolgt. So hatten diese Fünfzehn, die Quindici, die Gabe der Sonne erhalten. Und unter den Nachfahren dieser Jugendlichen wurde sie heute noch vererbt.
»Fast alle auf diesem Foto sind tot«, sagte Jonnas Vater. »Sie starben nicht an Krankheit oder Altersschwäche, aber gegen einen Autounfall oder ein Skiunglück waren auch sie machtlos. Es gibt keinen Grund, sie zu beneiden.«
Und ob es den gab. Aber Jonna erwartete nicht, dass ihr Vater das verstand. Er war wie Karo – er hatte von klein auf gewusst, wer er war und was er wollte. Sein Leben folgte einem klaren Kurs. Dagegen fühlte sich Jonna die meiste Zeit wie ein antriebsloses Schiff auf hoher See, weit und breit waren weder Ufer noch Sterne zu sehen. Nur der ferne Glanz der Sonne schien ihr eine Richtung zu versprechen. Aber auch er verspottete sie nur.
»Versuch dich mit Aljoscha zu vertragen, okay?« Tjark drückte ihren Arm. »Ich glaube, ihr könntet wirklich gute Freunde werden, wenn ihr euch erst mal besser kennenlernt. Hast du ihm mal deine Comics gezeigt?«
Jonna musste sich sehr beherrschen, nicht die Augen zu verdrehen. Den Teufel würde sie tun und Aljoscha ihre albernen kleinen Comics zeigen, damit er an der ganzen Uni herumerzählte, dass sie lieber in Fantasywelten lebte als in der Realität.
»Du musst keine Spieltreffen für mich ausmachen, Papa, ich komm schon klar. Gute Nacht.« Sie küsste ihn noch mal auf die Wange und wandte sich ab.
Da rief ihr Vater sie noch mal zurück. »Ah, hast du gesehen, dass ein Brief von der Uni für dich gekommen ist?«
Jonna erstarrte. »Nein, wo denn?«
»Im Flur, deine Mutter hat ihn auf die Kommode gelegt.«
Bei der Antwort durchzuckte sie Panik. »Hat sie –«
»Sie hat ihn nicht geöffnet.« Tjark seufzte. »Das war nur das eine Mal, Jojo. Du kümmerst dich allein um deine Unisachen, das respektieren wir. Unser großes Mädchen.« Er zwinkerte ihr zu.
Jonna schaffte es, ihm ein halbherziges Lächeln zuzuwerfen, bevor sie den Brief von der Kommode fischte und in ihr Zimmer floh.
Nachdem sie die Tür hinter sich abgesperrt hatte, riss sie den Umschlag auf. Ein Feedbackbogen, den sie ausfüllen sollte, um der Uni bei einer internen Auswertung zum Thema Studienabbruch zu helfen. Mit einem abschätzigen Schnauben knüllte Jonna das Papier zusammen und wollte es in ihren überquellenden Mülleimer stopfen. Dann holte die Paranoia sie jedoch ein und sie zerriss das verräterische Schreiben zuerst in winzige Stückchen. Sie erwartete nicht wirklich, dass ihre Mutter ihren Müll durchwühlte, aber für den Fall der Fälle …
»Jetzt drehst du endgültig durch«, murmelte sie.
Nach einem letzten Blick auf das Papierkonfetti im Mülleimer ließ sie sich auf das Sofa fallen. Nach der kleinen, aber gemütlichen Wohnung von Karo und Benni kam Jonna ihr eigenes Zimmer nun umso unaufgeräumter und kindischer vor. Letztes Jahr, als sie gerade ihr Studium begonnen hatte und voller Hoffnung auf einen Neustart gewesen war, hatte sie spontan beschlossen, es neu einzurichten, aber das Projekt war wie üblich irgendwo in der Mitte stecken geblieben. Das neue Sofabett in leuchtendem Orange stand schon unter einem der beiden Fenster, zur Hälfte von kleinen Kissen verdeckt. Daneben lehnten flache Pakete an der Wand, aus denen irgendwann Bücherregale schlüpfen sollten. Ihr Schreibtisch war ein gewaltiges Monstrum, auf dem sich Zeichenblöcke, Mangas, Kerzen, T-Shirts und schmutziges Geschirr ansammelten. An der Wand hingen Poster von verschiedenen Serien und Games. Es sah aus wie das Zimmer eines launischen Teenagers. Jonna hätte am liebsten alles aus dem Fenster geworfen und nur weiße Wände zurückgelassen.
Nein, am liebsten wäre sie von zu Hause ausgezogen wie ihre Freunde. Ein wirklicher Neustart, unter einem Dach, das nicht Zeuge all ihrer Fehltritte, Zweifel und Verirrungen gewesen war. Aber jedes Mal, wenn sie ernsthaft ans Ausziehen dachte, passierte wieder irgendetwas, das bewies, wie wenig überlebensfähig sie war.
Ihre Mutter scherzte immer, dass Jonna es nicht mal schaffte, Nudeln zu kochen oder ihre Wäsche zu sortieren. Ganz so schlimm war es vielleicht nicht, aber Chaos-Jojo schlug auch im Haushalt oft genug zu. Etwa wenn sie den Müll nicht richtig trennte und sich die Stadtreinigung weigerte, ihn abzuholen. Oder wenn sie trotz aller Bitten ihres Vaters vergaß, den Strom abzulesen, und sie ein Jahr lang zu viel zahlen mussten. Oder wenn sie es versäumte, trotz mehrerer Mahnungen, rechtzeitig den Semesterbeitrag fürs zweite Semester zu überweisen, und von der Uni flog. Typisch Jojo.
Mechanisch zog sie ihr Smartphone aus der Hoodie-Tasche und warf einen Blick auf das Datum. Noch knapp vier Wochen bis zu der öffentlichen Werkspräsentation des Design-Departments. Ihre Eltern hatten den Termin gut sichtbar im Küchenkalender eingetragen. Spätestens wenn sie da auftauchten und vergeblich nach Jonnas Werken suchten, würden ihre ganzen Lügen auffliegen. Bis dahin musste Jonna etwas haben, das sie statt des verpatzten Studiums vorweisen konnte. Etwas, um sagen zu können: Hier, seht ihr, Scheiß auf die Uni, das hier ist meine Lebensaufgabe, das kann nur ich machen! Sonst wäre es vorbei mit dem bisschen Freiraum, den sie sich mit Studienbeginn erkämpft hatte. Vorbei mit dem Vertrauen ihrer Eltern. Vorbei mit der Freundschaft mit Karo – die ihr nie verzeihen würde, dass Jonna auch sie angelogen hatte.
Hallo, Einsamkeit, mein alter Freund.
Hastig machte Jonna irgendeine Serie auf ihrem Laptop an. Hoffentlich laut und actionreich genug, um sie aus dem dunklen Gedankenstrudel zu reißen. Aber sie konnte sich auf nichts konzentrieren. Das Gespräch mit ihrer Oma ging ihr nicht aus dem Kopf. Wenn Aljoscha nicht dazwischengekommen wäre, hätte Jonna sich wirklich durchringen können, Femke die Wahrheit zu sagen? Hätte das etwas geändert? Sie konnte es sich beim besten Willen nicht vorstellen. Femke würde sie dann erst recht für eine Versagerin halten, die den Glanz nicht verdiente. Quindici bauten nicht solchen Mist.
Aber sie waren auch nur Menschen. Die Worte ihres Vaters kamen Jonna wieder in den Sinn. Sie wusste eigentlich kaum etwas über diese Auserwählten der Sonne. Dankbar für die Ablenkung rief sie die Suchmaschine auf ihrem Handy auf. Sie hatte bereits früher im Internet nach den Quindici gesucht – ohne Erfolg. Fünfzehn Teenager aus den 1950ern hinterließen keine Spuren im World Wide Web, auch wenn sie von der Sonne seltsame Kräfte bekommen hatten.
Aber als Jonna Gerit Taler eingab und die Suche auf ihre Stadt eingrenzte, bekam sie einige relevante Treffer. Ihre Urgroßmutter hatte sich für die Umwelt und den Tierschutz engagiert und war auch mal in der Regionalpolitik tätig gewesen. Auf den wenigen Fotos, die von der Suchmaschine ausgespuckt wurden, war die Ähnlichkeit mit Femke nicht zu verkennen: beide blond und dünn, mit einer beeindruckenden Präsenz.
Der blonde Engel von Finkenwerder, titelte eine Regionalzeitung bei einem Bericht über einen groß angelegten Protest gegen die Elbverschmutzung, den Gerit ins Leben gerufen hatte. Jonna musterte das Foto dazu. Wie irgendjemand ihre Urgroßmutter als Engel bezeichnen konnte, war ihr ein Rätsel. Gerit sah aus, als hätte sie niemals gelächelt. Aber vielleicht hatte sie einfach nur die Nase voll gehabt von den Menschen, die ihren Planeten zugrunde richteten.
Anscheinend hatte sie nie geheiratet, zumindest tauchten bei ihrer Todesanzeige im Jahr 1989 als liebende Angehörige nur Femke Taler und deren Sohn Tjark auf. Jonnas Vater war da gerade mal neun gewesen. Er hatte seine Großmutter nie erwähnt, aber er musste sich eigentlich an sie erinnern. Oder hatte Femke einfach nicht viel mit ihrer Mutter zu tun gehabt? Vielleicht hatte sie Gerit genauso auf Abstand gehalten wie Jonna.
Die Todesanzeige schwieg sich darüber aus, woran Gerit gestorben war. Jonna lehnte sich gegen ihre Kissen zurück und biss nachdenklich auf ihrer Unterlippe herum. Was ihr Vater erzählt hatte, war schon seltsam. Wie konnten alle ursprünglichen Quindici schon tot sein? Was hatten sie angestellt? Das mussten ziemlich schlimme Unfälle gewesen sein, wenn sie Menschen getötet hatten, deren Verletzungen fast sofort verheilten. Oder funktionierte der Glanz nicht immer? Jonna hatte keine Ahnung, was es da für Regeln und Beschränkungen gab.
Mit einem frustrierten Stöhnen presste sie ihr Gesicht in die Kissen. Scheiß auf die Regeln. Sie musste nicht unsterblich sein. Sie wollte einfach nur in das Geheimnis eingeweiht werden, Teil dieser Gemeinschaft sein, eine Aufgabe haben. Bestimmt hatte niemand Gerit gedrängt, ein Studium oder eine Ausbildung durchzuziehen. Der Glanz war wichtiger. Wenn Jonna ihn hätte, könnte sie Chaos-Jojo endlich abstreifen wie eine alte Haut.
Die Zeit lief ihr davon. Noch vier Wochen, um ihre Oma zu überzeugen. Wie hatte Aljoscha es bloß geschafft?
Der Gedanke an ihn machte sie wieder wütend. Wenn sie bloß jemandem erzählen könnte, was für ein Arschloch er war. Aber ihre eigenen Lügen sorgten dafür, dass sie den Mund halten musste. Natürlich war Aljoscha nicht entgangen, dass sie nicht mehr zu den Kursen kam, die sie gemeinsam belegt hatten. Ihr stand immer noch sein kalter Gesichtsausdruck vor Augen, als sie ihn gebeten hatte, es für sich zu behalten.
»Ich sage es niemandem«, hatte er versprochen, »aber dafür schreibst du diese Hausarbeit für mich. Du hast ja jetzt genug Zeit.«
Ihr Blut kochte, wenn sie nur daran dachte. Wie dreist konnte ein Mensch sein? Aber sie hatte keine andere Wahl gehabt und seine verdammte Hausarbeit geschrieben. Jetzt stand wieder die Prüfungszeit vor der Tür und wer wusste schon, was sie dann für den feinen Herrn Sokolov würde tun müssen? Was für ein perfekter Enkel, dem Femke da den Glanz anvertrauen wollte!
Der Gedanke zündete in ihr und Jonna setzte sich auf. Wenn Aljoscha sie erpresste, wieso dann nicht auch ihre Oma? Ihr Vater hatte von besonderen Umständen gesprochen, die für die Quindici etwas bedeuteten – war Aljoscha deshalb spontan zurück nach Russland gereist? Hatte er etwas mitgebracht, das Femke unter Druck setzte?
Jonna starrte auf den Laptopbildschirm, aber statt der Serie spielte sich vor ihrem inneren Auge noch mal der Streit mit ihrer Oma ab. Femke hatte gestresst gewirkt, geradezu gequält. Hinter ihrer Entscheidung musste mehr stecken, als sie zugab. Vielleicht brauchte sie Hilfe und niemand außer Jonna sah es.
Es war etwas weit hergeholt, das sah sie selbst ein, aber die Vorstellung half ihr, ihre brodelnde Frustration in den Griff zu bekommen. Der Druck der dunklen Gedanken hob sich von Jonnas Brust und machte Entschlossenheit Platz.
Sie würde sich ihre Uroma zum Vorbild nehmen. Gerit hätte sich bestimmt von nichts und niemandem davon abhalten lassen, ihre Ziele zu erreichen. Sie hatte den Glanz auf die Erde geholt und ihrer Familie eine Bestimmung vererbt.
Nun war es an Jonna, ihren Kampfgeist zu beweisen.
Um ihre Lügen ausschmücken zu können, hatte Jonna ganz genau studiert, wann die Kurse stattfanden, die sie besuchen sollte. Normalerweise plante sie für diese Zeiten ihre Schichten im Burgerladen ein oder stahl sich zum Zeichnen in die Zentralbibliothek. Aber in dieser Woche trieb sie sich an der Uni herum und versuchte Aljoscha nachzuspionieren. Im ersten Semester waren sie sich ständig über den Weg gelaufen, spätestens beim Zeichenkurs, der für Designstudenten aus Textil und Mode ein Muss war. Doch ausgerechnet so kurz vor der Werkspräsentation glänzte er durch Abwesenheit. Auch Nikolai, Aljoschas furchtbar eingebildeter On-off-Boyfriend, wusste nicht, wo er steckte – oder er verriet es Jonna nicht.
So fand sie sich schließlich vor Aljoschas Studentenwohnheim wieder. Sie hatte ihn noch nie hier besucht, aber seine Beschwerden über die Hygienebedingungen und den Lärmpegel bei ihren Familienessen so oft gehört, dass sie das Schlimmste erwartete. Doch zumindest an diesem Mittwochnachmittag lag der hässliche Betonklotz ruhig und unscheinbar da.
Jonna klingelte am Eingang so lange die Namensschilder ab, bis ihr irgendjemand öffnete. Im engen Treppenhaus hallten ferne Stimmen wider und Jonna musste sich an vollgehängten Wäscheständern vorbeischieben. Alte Poster und Comicstrips dekorierten die Wände.
Mit jedem Schritt wurde Karos Stimme in Jonnas Hinterkopf lauter: Stalkst du ihn jetzt auch noch?!
Wäre sie gleich am Montag hergekommen, hätte sie es sich wohl schon im ersten Stockwerk anders überlegt und wäre umgekehrt, aber jetzt war Jonna zu allem entschlossen. Aljoscha ging ihr offenbar aus dem Weg, also musste es dafür einen Grund geben. Und es war besser, irgendetwas zu unternehmen, als frustriert ins Kissen zu schreien.
Im vierten Stockwerk hielt Jonna inne. Hier irgendwo musste sein Zimmer sein, aber an den Türen standen nur Ziffern. Sie musste sich durchklopfen, aber würde Aljoscha ihr überhaupt aufmachen?
Noch während sie ihre Vorgehensweise überdachte, schnappte sie den Klang seiner Stimme auf. Sie drang nicht hinter einer der Türen hervor, sondern kam vom anderen Ende des Flurs. Jonna ließ sich von ihren Ohren leiten.
Am Ende des muffigen Flurs führte eine Tür auf einen kleinen Balkon hinaus. Aljoscha stand gegen das Geländer gelehnt da und telefonierte. Jonnas Russischkenntnisse beschränkten sich auf Kak dela? und ein paar Schimpfwörter, aber sie musste seine Worte nicht verstehen, um zu hören, dass er seltsam klang. Wütend, aber auch irgendwie flach. Müde.
Jonna zögerte.
Vielleicht stritt Aljoscha gerade mit seinen Eltern, da wollte sie wirklich nicht reinplatzen. Aber bevor sie sich zurückziehen konnte, drehte er sich um und entdeckte sie.
Aljoscha brach ab und starrte sie durch die offene Tür an, als müsste er sich erst daran erinnern, wer sie war. Dann kniff er die Augen zusammen, zischte irgendwas in sein Smartphone und beendete das Gespräch.
»Was machst du hier?«, fragte er scharf.
Jonna straffte die Schultern und trat auf den Balkon hinaus. »Ich such dich schon seit Tagen. Gehst du mir aus dem Weg?«
Er starrte sie noch einen Moment lang an und schnaubte dann verächtlich. »Muss schön sein, in einer Welt zu leben, in der sich alles nur um dich dreht, Jojo.«
Er wusste ganz genau, wie sehr sie diesen Spitznamen hasste. Jonna stapfte auf ihn zu, was auf dem kleinen Balkon keine drei Schritte brauchte.
»Was ist los mit dir?«, wollte sie wissen. »Wieso gehst du nicht zur Uni? Krank bist du ja offenbar nicht!«
So richtig gesund sah er aber auch nicht aus. Sein Gesicht war noch blasser als sonst, seine Augen von roten Äderchen durchzogen. Selbst seine schwarzen Haare hingen kraftlos herunter und waren nicht so sorgfältig gestylt wie sonst. Hatte er zu viel Party gemacht? Dafür war er eigentlich nicht der Typ. Obwohl Jonna ihn nicht leiden konnte, verspürte sie einen Anflug von Sorge.
»Ausgerechnet du machst mir Vorwürfe, dass ich nicht zur Uni gehe?« Aljoscha schüttelte den Kopf. »Das geht dich nichts an.«
Der abschätzige Tonfall half Jonna, sich wieder auf ihr Vorhaben zu konzentrieren. Er versuchte sich an ihr vorbeizuschieben, aber sie ließ ihn nicht. Was er ihr an Größe voraushatte, machte sie mit Entschlossenheit wett.
»Nicht so schnell! Ich muss mit dir reden.«
Jetzt starrte er sie wieder an. Wenn Jonna nicht gewusst hätte, wie gut sein Deutsch war, hätte sie gedacht, dass er jedes ihrer Worte einzeln übersetzen musste.
»Was willst du denn?«, fragte er schließlich.
»Die Wahrheit«, gab Jonna zurück. »Warum hat Oma auf einmal zugestimmt, dir den Glanz zu geben?«
Er murmelte etwas, was ziemlich sicher ein Schimpfwort war. »Ich hab keine Zeit, mit dir zu streiten. Geh nach Hause, Jojo. Hast du kein Rollenspiel oder so was?«
»Unsere Runde trifft sich erst heute Abend. Und lenk nicht ab!« Er schaffte es doch noch an ihr vorbei, aber Jonna folgte ihm einfach. »Wieso hast du keine Zeit? Was hast du denn so Wichtiges vor?«, bohrte sie nach. Er stieg wortlos die Treppe hinunter. »Bitte sag nicht, dass du ein Date mit Nikolai hast. Wann schickst du diesen Typen endlich in die Wüste?«
Aljoscha schnaubte. »Was weißt du schon über Dates. Sag Bescheid, wenn du nicht mehr deinen Vater heiraten willst.«
Die Hitze explodierte in Jonnas Gesicht. Wieso musste ihre Mutter beim Essen immer Anekdoten aus ihrer Kindheit erzählen? »Da war ich fünf, du Arschloch!«
»Du bist im Kopf immer noch fünf.«
Jonna überholte ihn auf dem Treppenabsatz, damit er ihren erhobenen Mittelfinger sah.
Draußen fiel ihnen leichter Sommerregen entgegen. Nach der muffigen Luft im Wohnheim atmete Jonna dankbar die Mischung aus nassem Asphalt und Lindenblüten ein, auch wenn es gleich wieder in ihrer Nase kitzelte. Wie sie den Sommer hasste.
»Nein, im Ernst jetzt«, startete sie einen neuen Anlauf. »Wie hast du Oma rumgekriegt?«
»Im Ernst jetzt«, äffte er sie nach, »es geht dich nichts an.«
Zumindest wirkte er inzwischen wacher und wieder mehr wie er selbst. Jonna hatte vor, ihn so lange zu nerven, bis er endlich mit Antworten herausrückte, doch da blieb jemand vor ihnen stehen und versperrte ihnen den Weg.
Auf den ersten Blick wirkte er unscheinbar – südländischer Typ, vielleicht Anfang vierzig, fast so groß wie Aljoscha, aber breiter gebaut, mit längeren, zu einem Zopf gebundenen schwarzen Haaren und einem gepflegten Bart, der ein höfliches Lächeln umrahmte. Jonna war sich sicher, dass sie ihn noch nie zuvor getroffen hatte, aber irgendwie kam er ihr trotzdem vage bekannt vor.
Er nahm seine Sonnenbrille ab und enthüllte aufmerksame, dunkle Augen. »Alexej, richtig?«
Aljoscha stand auf einmal sehr gerade. »Ja. Sie sind Herr Santoro?«
»Nenn mich ruhig Luca.« Er lächelte Jonna an. »Und du musst Tjarks Tochter sein. Du hast seine Augen.«
Auf einmal wusste Jonna, wieso er ihr so bekannt vorkam. Sie hatte ihn schon einmal gesehen – auf dem Quindici-Gruppenbild im Haus ihrer Oma.
Jonnas Herz tat einen aufgeregten Satz. »Ich heiße Jonna. Sie sind einer der ersten Quindici, oder?«
»Das bin ich.«
Er streckte ihr seine Hand entgegen und sie griff automatisch danach. Trockene Finger, sehr warm, aber nicht verschwitzt. Wie bei ihrer Oma meinte Jonna auch bei ihm den Glanz zu spüren, ein Glühen tief unter seiner Haut. Aber sein Blick war nicht so stechend wie Femkes.
»Jonna, wie schön. Ich habe nur Fotos von dir als Kind gesehen und jetzt bist du schon so erwachsen.« Er ließ ihre Hand los, musterte sie aber weiterhin, vielleicht eine Spur nostalgisch. »Wie die Zeit vergeht.«