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Sie sind frei und sie sinnen auf Rache … Die Wunderwesen erobern das Zhan-Reich zurück, allen voran der unsterbliche Koschei. Er will das Land in einen ewigen Winter hüllen, um die Menschen wie einst zu Untertanen der Wunderwesen zu machen. Die von Schuldgefühlen geplagte Janka findet sich zwischen den Fronten wieder. Zusammen mit Firaya und Alina sucht sie verzweifelt nach einem Weg, den Hexenmeister aufzuhalten. Aber wie soll man einen Mann bekämpfen, der nicht sterben kann? Eine letzte Hoffnung führt sie in die Tiefen des Meeres. In seinem Unterwasserpalast hütet der mächtige Zar der Gezeiten den Schlüssel zum Sieg über Koschei – doch welchen Preis ist der Feuervogel bereit, dafür zu zahlen?
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Veröffentlichungsjahr: 2022
Ria Winter
Der Zar der Gezeiten
Feuervogel-Chronik 3
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Inhaltswarnungen:
Gewalt, Tiertod, Ertrinken, Verbrennen, Beschreibung von Leichen, einige Fälle von Misgendering (generell Reflexion von Genderidentität und -präsentation)
Impressum:
© 2022 Ria Winter
Martha Wilhelm
Am Diggen 38b
21077 Hamburg
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung der Autorin wiedergegeben werden.
Umschlaggestaltung: Christin Giessel
Lektorat: Rabea Güttler
Buchsatz: saje design, Bonn
Karte: Amalia Zeichnerin
Dieses Buch wurde im Rahmen des Bundesprogramms NEUSTART KULTUR 2021 mit einem Stipendium der VG WORT gefördert.
Für alle, die in keine Schublade passen.
Die Wundersammlung des Zaren stürzte ein. Während der Zmey zwischen den Steinwänden tobte, griffen die Erschütterungen auf ganz Radagrad über. Tief unter der Erde erschauderte das Unterwasserlabyrinth. Statuen bröckelten, Torbögen fielen in sich zusammen, die glühenden Lichter erloschen. Unruhe wogte durch die sonst so stillen Gänge.
Im Herzen des Labyrinths, in einem großen Saal mit Meeresrelief, erbebten die eleganten Säulen. An der Decke zwischen ihnen lauerte eine dunkle vielarmige Gestalt.
Geräusche und Stimmen verbreiteten sich unter Wasser nicht so wie an der Luft, doch die vielfältigen Strömungen trugen ihre eigenen Schwingungen mit sich. Jede Bewegung pflanzte sich fort. So auch die der Rusalkas, die auf der Flucht aus dem einstürzenden Labyrinth einen Weg nach draußen suchten. Der lauernde Schatten schmeckte ihre Angst.
Ahnungslos schwammen sie ihm entgegen.
Es waren vier, und sie trugen zwei weitere mit sich: eine schwer verletzt in einem Kokon aus Haarsträhnen, eine tot, fast entzweigebissen. Die Rusalka, die den Abschluss bildete, hielt einen blutbefleckten Stofffetzen in die Strömung. Dabei drehte sie sich immer wieder ängstlich um, dorthin, wo ein riesiger Hecht ihnen hartnäckig folgte, wenn auch auf Abstand. Das ferne Brüllen, das von oben hallte, beeindruckte ihn nicht, ebenso wenig wie die Steinbrocken, die aus der Decke herausbrachen.
Als die Rusalkas den großen Saal erreichten, hielten sie erstaunt inne. Ihre Blicke wanderten über die detailreiche Meereslandschaft, die die Wände bedeckte. Silbern geschuppte Fische versteckten sich in Seegras, das so echt aussah, als würde es in der unterirdischen Strömung tanzen. Der Boden war mit einem dunkelblauen Mosaik ausgelegt. Perlen bildeten verschlungene Muster darauf und lenkten den Blick zum Thron in der Mitte des Raums. Er bestand aus poliertem Knochen und über die hohe Rückenlehne hinweg glotzten skelettierte Fischköpfe in den Saal.
Der Thron war leer.
„Oh nein“, entfuhr es einer von ihnen.
„Was ist das hier?“, fragte eine andere. Sie war jung – nicht in ihrem Antlitz, das glatt und alterslos wie das aller Rusalkas war, sondern in diesem Leben. Vor nicht allzu langer Zeit hatte sie als Mensch in Istradar gelebt.
„Der Thronsaal! Wir müssen zurück …“
Doch hinter ihnen glitt der Hecht näher, darauf erpicht, erneut ihr Blut zu kosten. Die Rusalkas verharrten unschlüssig zwischen den Säulen. Ihr Haar wogte um sie herum.
„Thronsaal?“, wiederholte die jüngste Rusalka verwirrt. „Aber wieso hat der Zar einen Thron unter Wasser?“
Eine der anderen fletschte grimmig die Zähne. „Weißt du denn nicht, dass Radagrad das Zuhause zweier Zaren ist?“
Eine donnernde Stimme übertönte alles Weitere, was sie sagen wollte. „Dieses Steinloch ist kein Zuhause!“
Der Ausruf überrollte die Rusalkas mit der Wucht einer Flutwelle und fegte sie auseinander. Der Hecht, der ihnen gerade folgen wollte, zog sich erschrocken tiefer in den Gang zurück. Betäubt trieben die Rusalkas im Wasser.
Die große Gestalt löste sich von der Decke. Der Oberkörper sah menschlich aus, ging jedoch an den Hüften in acht schwarze Tentakel über, die sich um die Säulen schlangen. Schaum rauschte als Bart über die breite Brust. Ein Grinsen entblößte moosgrüne Zähne.
„Da dachte ich, der alte Wassillij kommt persönlich nach dem Meereszaren schauen, und wollte ihn angemessen begrüßen! Aber das sind ja nur ein paar Makrelen.“
Gemächlich griff er nach einer der Rusalkas und hob sie dicht an sein grauhäutiges Gesicht. Sie zappelte schwach.
„Weiß die Makrele, wie es dazu gekommen ist, dass der Zauberbann fiel?“, erkundigte er sich.
„Ich weiß nicht … Wir sind auf der Flucht, wir waren nicht …“
Mit einer Hand hielt er weiterhin die stotternde Rusalka fest, mit der anderen schälte er den Kokon in ihrem Haar auf, bis die verwundete Gestalt darin zum Vorschein kam. Interessiert sah er zu, wie sie zuckte. Dann hob er seine groben Finger und zerquetschte ihren Kopf.
Die Rusalkas schrien auf, eine einstimmige Kaskade des Entsetzens und der Qual. Sie ließ den Meereszaren völlig ungerührt. Er öffnete den Mund und sog das Blut ein, das sich wolkenartig im Wasser ausbreitete.
„Mhm“, gab er zufrieden von sich. „Dieses Blut schmeckt fast so süß wie das der Menschen.“
Die Rusalka in seiner Hand schlug panisch um sich, aber er hielt sie fest umklammert. Ehe er auch sie zerdrücken konnte wie eine Traube, schrie die Jüngste von ihnen: „Der Feuervogel! Es muss der Feuervogel gewesen sein, der den Zauberbann aufgehoben hat!“
Der Meereszar blickte erstaunt zu ihr hinüber. Seine Augen waren flach wie Steine. „Der Feuervogel, ist das so? Kurios. Ich dachte, er wäre tot.“
„Er lebt! Er lebt und ist der Gefangenschaft des Zaren entkommen!“
„Ah, gut für das Federtier. Hat es denn auch den Welpen befreit?“
Die Rusalka zögerte. „Welchen Welpen?“
Der Meereszar schüttelte beiläufig seine große Faust, sodass mehr Blut aufwirbelte, das er wieder genüsslich einsog. „Der Sohn der Knochenhexe. Wenn der Feuervogel den Bann aufgehoben hat, muss er die Ketten gebrochen haben, die ich einst schmiedete. Ich frage mich, ob der Welpe sich wohl dafür an mir rächen will.“ Er grinste wieder. „Vielleicht schmiede ich neue Fesseln und kette ihn an meinen Thron. Für alle Ewigkeit. Wie sehr wird ihn seine Unsterblichkeit dann noch erfreuen? Was sagen die Makrelen, finden sie das nicht amüsant?“
Doch ehe die Rusalkas etwas erwidern konnten, dröhnte es in der Ferne. Der Meereszar neigte den Kopf und lauschte.
„Welch ein Fest der Feuervogel da veranstaltet!“ Er schaute an seinem nackten Oberkörper herunter und verzog finster das Gesicht. „Aber ich trage nicht das passende Festtagsgewand. So sollte niemand den Meereszaren sehen.“
Beiläufig warf er die gefangene Rusalka von sich. Eine ihrer Schwestern fing sie auf, bevor sie gegen die Steinwand prallte.
„Oh, ich brauche meine Juwelen und meine Krone“, grollte er, den kopflosen Körper der anderen Rusalka in der Faust schwenkend. „Mein Salz und meine Kühe. Zu lange war ich an diesem öden Ort gefangen. Einen Thronsaal nennen sie das? Dass ich nicht lache! Wie schön wird es doch sein, wieder in mein Reich zurückzukehren. Steht Bagatyrsk noch?“
„Die … die Menschenstadt am Meer?“, fragte eine der Rusalkas zaghaft. „Ja, sie steht noch.“
„Gut. Sie schulden mir viel, diese Menschen. Es wird Zeit, sie daran zu erinnern. Mein Palast wartet. Und meine Schmiede, ha! Soll er doch kommen, der Welpe, soll er doch kommen …“
Mit einem kraftvollen Ballen seiner Tentakel schoss er aus dem Saal hinaus. Die Rusalkas umarmten einander erleichtert. Das Wasser sprach zu ihnen und so streckten sie gemeinsam ihre Sinne aus, um die Bewegungen des Meereszaren zu verfolgen. Er entfernte sich schnell, begleitet vom bitteren Blutgeschmack, der den kopflosen Körper ihrer gefallenen Schwester umgab. Und da war auch schon das kalte Raunen der Istra. Sie versprach Freiheit und Sicherheit. Der Meereszar tauchte darin ein und verschwand aus ihrer Wahrnehmung.
Das Grauen, das er hinterlassen hatte, blieb. Nur langsam wagten es die Rusalkas, es ihm gleichzutun und das einstürzende Grab der Wundersammlung endgültig zu verlassen. Im Fluss schafften sie es auch endlich, den Hecht abzuhängen, der sich verwirrt von der neuen Freiheit in den schlammigen Boden grub.
Es sollten noch Stunden vergehen, bis sie den Leichnam ihrer Schwester fanden, dort, wo sich ein weiterer Fluss von der Istra abspaltete und Richtung Norden führte, nach Bagatyrsk. Ihr Körper war grotesk zusammengepresst und beiseitegeworfen worden wie Abfall. Salzkristalle bedeckten ihre Haut.
Firaya beobachtete, wie das Stückchen Blau, das durch den Rauchabzug sichtbar war, langsam heller wurde. Nachts war das Tischtuch des Himmels so von Sternen übersät, dass kein Feuer nötig war, um über die Steppe zu blicken. Nun verblassten sie und nahmen die besonnene Ruhe der Nacht mit sich. Eine Ruhe, so ahnte Firaya, wie sie ihnen in nächster Zeit nicht mehr häufig gegönnt sein würde.
Janka regte sich. Firaya schaute auf sie herunter, doch das Mädchen atmete nur einmal schwer aus und tauchte dann wieder in ihre Träume ein. Ihr Kopf ruhte auf Firayas Brust, in der Hand hielt sie ein Stück von ihrer Tunika umklammert. Als hätte sie selbst im Schlaf Angst, dass Firaya ihr entgleiten könnte.
Firaya hatte in dieser Nacht nicht geschlafen. Es hatte lange gedauert, aus Janka all das herauszulocken, was im letzten Jahr geschehen war. In Alinas Gegenwart war nur ein Bruchteil der Geschichte ans Licht gekommen, doch nachdem Firaya sich mit dem Mädchen ins Zelt zurückgezogen hatte, hatte Janka nach und nach auch den Rest in die Wärme zwischen ihren Körpern gewispert. Mit zitternder Stimme und ohne Firaya in die Augen zu sehen, hatte sie von Radagrad erzählt, von der Sammlung des Zaren, den Wunderwesen, die sie befreit, und den Freunden, die sie zurückgelassen hatte. Und auch nachdem sie schließlich weggedämmert war, hingen die Bilder, die ihre Worte gezeichnet hatten, in der stillen Luft des Zeltes und setzten sich wie Staub auf Firaya ab.
Krieg. Das war das Muster, zu dem sich Jankas Erzählung in Firayas Kopf verflocht. Ein Krieg, der über den hinausging, den der Zar um Istradar geführt hatte. Ein Krieg zwischen Menschen und jenen Wesen, die sie in die Gefilde der Märchen und Schauergeschichten verdrängt hatten. Ein Krieg, der nicht nur das Zhan-Reich, sondern die ganze Welt umfassen würde.
Und das Mädchen, das sich an Firayas Seite schmiegte, befand sich mittendrin.
Firaya zog Janka unwillkürlich enger an sich, als könnten ihre Arme ihr Schutz vor dem Sturm bieten, der sich dort draußen zusammenbraute. Dabei war ihr deutlich bewusst, wie machtlos sie war. Eine einfache Frau ohne Wunderkräfte, ohne Zauberwissen. Selbst Alinas Schwert würde kaum gegen einen Zmey bestehen. Sie waren aus Istradar geflohen, weil sie beide gewusst hatten, dass sie sonst in den Machtkämpfen der Herrschenden zerrieben worden wären. Nun waren die Kämpfe zu ihnen gekommen.
Firayas Herz war schwer, doch ihr Atem ging ruhig. Sie kannte die kleine Welt um sich herum: das Gerüst aus Birkenästen, über das Filzwände gespannt waren, die bunten Teppiche auf dem Erdboden, Mahijas Sattel und das Zaumzeug, das leicht im Luftzug schwang, das Schafsfell für kalte Nächte. Der Platz, an dem sonst der Bogen lehnte, war leer – Alina hatte ihn auf ihre Nachtwache mitgenommen, ebenso wie die Pferdedecke.
Es war eine schlichte Welt, kein Vergleich zu Istradar, doch Firaya liebte jeden Flecken davon. Hier fühlte sie sich sicher, hier konnte sie sie selbst sein, ohne sich bei jedem Atemzug zu fragen, wer diese Person war. Hier war alles ausgewogen, auch zwischen Alina und ihr. Ein Balanceakt, der sie beide einiges an Geduld, Beharrlichkeit und Kraft gekostet hatte.
Das war etwas, das weder Wunderwesen noch machthungrige Menschen ihnen nehmen konnten: die Entschlossenheit, sich nicht den Umständen zu ergeben. Mit derselben Gewissheit, mit der Firaya wusste, wo Norden war oder wo die Kraniche überwinterten, wusste sie, dass der Sturm diese Entschlossenheit nicht auslöschen würde. Nicht bei ihr, nicht bei Alina und auch nicht bei Janka.
Vorsichtig löste sie sich aus Jankas Umarmung und legte das Mädchen auf der Schlafmatte ab, die sie üblicherweise mit Alina teilte. Janka wachte nicht auf, rollte sich nur zusammen, als müsste sie sich klein machen, um weniger Angriffsfläche zu bieten. Firaya betrachtete sie einen Moment lang und ließ das betäubende Gefühl über sich hinwegspülen, das die Feuervogel-Male auslösten. In der Nacht hatte Firaya die wogenden Muster auf Jankas Haut eingehend studiert, um sich an den Anblick zu gewöhnen. Es schien zu helfen – sie konnte sich schon nach kurzer Zeit davon losreißen, Janka zudecken und lautlos aus dem Zelt schlüpfen.
Draußen war die Luft kühl und klar. Firaya sog sie tief in ihre Lungen. Der zarte Duft der Sterngräser stieg ihr entgegen. Die kleinen lilafarbenen Blüten durchbrachen als auffällige Farbtupfer den See aus grünem und gelbem Gras, der sich um das Zelt erstreckte, so weit das Auge reichte. Wolkenschatten strichen über das sanft ansteigende Land. In einiger Entfernung grasten Mahija und Zabira ruhig vor sich hin.
Alina saß auf einer Anhöhe, von wo aus sie einen guten Blick auf die Umgebung hatte. Die Pferdedecke hatte sie locker um ihre Schultern geschlungen, den Kopf auf einem angezogenen Knie abgestützt. Der Bogen verschwand fast im hohen Gras. Das Licht des jungen Tages schimmerte in ihrem geflochtenen Haar.
Jemand, der sie nicht kannte, hätte denken können, dass sie schlief. Doch Firaya erkannte die Anspannung in ihren Schultern, den Fokus, den ihr leicht abgewandter Kopf verriet. Sie schaute nicht auf, als Firaya sich ihr näherte.
„Wie war die Nacht?“, fragte Firaya.
„Ruhig. Sie hat sich kaum geregt.“
Firaya hatte bei ihrer Frage nächtliche Störenfriede im Sinn gehabt, vor allem den Zmey, vor dem Janka sich so fürchtete. Aber in Alinas Gedanken lauerte offenbar jemand anderes. Ihr Blick ruhte auf der Gestalt, die vor dem Zelt im Gras lag.
„Komm, hoch mit dir.“ Firaya blieb so vor Alina stehen, dass sie ihr die Sicht verstellte. „Du siehst aus, als bräuchtest du etwas Bewegung und ein warmes Frühstück.“
Zwischen Alinas hellen Augenbrauen zeichnete sich eine Falte ab. Widerwillig sah sie zu Firaya hoch. Obwohl ihr Gesicht die schlaflose Nacht verriet, leuchteten ihre Augen klar und wachsam. Grün wie das Steppengras um sie herum.
„Ich traue ihr nicht“, sagte sie.
„Ich auch nicht. Aber sie hat hier keine Macht über dich – auch nicht die, dich auf deinem Wachposten festzusetzen. Komm, mein Stern.“
Firaya streckte eine Hand aus und Alina ergriff sie mit einem Seufzen, um sich aufhelfen zu lassen. Die Pferdedecke rutschte von ihren Schultern. Statt der Farben Istradars, Blau und Silber, trug Alina eine schlichte grüne Tunika. Ohne Alinas Hand loszulassen, steckte Firaya ihr eine Sternblüte ins Haar, die sie auf dem Weg vom Zelt gepflückt hatte. Alina lächelte und drückte ihr einen Kuss auf die Finger.
„Janka schläft noch?“
Firaya nickte. „Sie soll so viel Schlaf bekommen, wie sie kann.“
Alina lachte freudlos auf. „Ich glaube nicht, dass irgendeine von uns in nächster Zeit genügend Schlaf bekommen wird.“
Sie küsste Firaya noch einmal, diesmal auf die Schläfe, und machte sich dann auf den Weg zum Zelt. Firayas Blick folgte ihr für einen Moment, ehe er sich auf ihren ungebetenen Gast richtete.
Die Großfürstin von Istradar lag im Windschatten des Zeltes, in der Nähe der niedergebrannten Feuerstelle. Sie hatten ihr die Arme und Beine zusammengebunden, aber es schien, als wären ihre Vorsichtsmaßnahmen übertrieben gewesen. Oksana hatte sich die ganze Nacht nicht vom Fleck gerührt. Wie eine Lumpenpuppe war sie im Gras zusammengesunken und eingeschlafen, das Gesicht in ihrem Arm vergraben. Firaya hatte ihr einen Umhang als Decke überlassen, in der Erwartung, als Dank eine Beleidigung über stinkende Barbaren zu bekommen. Doch Oksana schien ihre Worte zusammen mit ihrer Macht und ihrem langen Haar verloren zu haben. Nach alldem, was Janka erzählt hatte, fühlte sich die Großfürstin womöglich hier, mitten in der Steppe und umgeben von Menschen, die sie hassten, sicherer als in den Wochen zuvor.
Firaya verspürte kein Mitleid. Während sie nach den Pferden sah, suchte sie ihr Inneres nach Wut oder Rachedurst ab und fand auch davon keine Spur. Oksana war ein Problem und eine Ungewissheit, vielleicht eine Gefahr. Firaya empfand ihre bloße Anwesenheit jedoch nicht als Provokation.
Dass Alina das anders sah, war nicht zu verkennen. Nachdem sie sich erfrischt hatte, schürte sie das Feuer so heftig, dass Funken und Asche in Oksanas Richtung stoben. Die Großfürstin gab einen protestierenden Laut von sich und drehte sich weg. Alina warf krachend einen ihrer wenigen Holzscheite ins Feuer.
„Oh nein, habe ich Euch etwa geweckt?“, spottete sie. „Soll ich Euch schlafen lassen, bis die Dienerinnen Tee und Pluschki gebracht haben?“
„Mit Marmelade …“, murmelte Oksana, ohne sich zu ihr umzuwenden.
„Ha, Ihr könnt froh sein, wenn Ihr etwas Kascha bekommt!“
Firaya konnte ihre Feindseligkeit gut nachvollziehen. Dennoch sträubte sich bei Alinas Tonfall alles in ihr. Es war eine Sache, die Großfürstin für die Nacht zu fesseln, damit sie niemanden angriff oder bestahl, aber eine andere, ihr Gastfreundschaft vorzuenthalten. Für Firaya stand außer Frage, dass Oksana etwas zu essen und zu trinken bekommen würde. Doch wenn sie danach beschlossen, sie in der Steppe auszusetzen, würde Firaya keinen weiteren Gedanken an sie verschwenden.
Nachdem Firaya die beiden Stuten versorgt hatte, gesellte sie sich mit Decke und Bogen zu Alina, die schon damit beschäftigt war, den Gerstenbrei zu kochen. Oksana hatte sich aufgesetzt und beobachtete ihre ehemalige Leibwächterin.
„Hierhin bist du also geflohen? Wie … genügsam.“ Obwohl sie blutig, gefesselt und zerzaust war, schaffte es Oksana dennoch, hoheitsvoll zu wirken. Offenbar hatte ihr eine Nacht genügt, um sich von den vergangenen Schrecken zu erholen. „Und ich dachte die ganze Zeit, du hast für eine höhere Bestimmung gekämpft, nicht, um ein Leben unter stinkenden Pferdedecken zu führen.“
Alina wirbelte zu ihr herum. „Ein Leben ohne Fesseln“, korrigierte sie scharf. „Was mehr ist, als Ihr in diesem Augenblick von Euch behaupten könnt, Großfürstin.“
Der hämische Tonfall, mit dem sie den Titel aussprach, schien Oksana nicht zu bekümmern. Sie lächelte. „Oh, aber du magst doch Fesseln, Alja.“
Alina versteifte sich. Firaya trat neben sie und legte ihr beruhigend eine Hand auf die Schulter. Doch Alina zuckte so stark zusammen, als hätte sie ihre Gegenwart völlig vergessen. Die Sternblüte fiel aus ihrem Haar, ohne dass Alina es bemerkte. Hastig duckte sie den Kopf, um im Topf mit der Kascha zu rühren.
Firaya sah von ihr zu Oksana, die ihren Blick herausfordernd erwiderte.
„Firaya, nicht wahr? Vielen Dank für den freundlichen Empfang.“ Demonstrativ hob Oksana ihre gefesselten Arme. „Wie hast du dir das vorgestellt? Erleichtert man sich bei deinem Volk direkt an der Feuerstelle? Oder darf Alina mir behilflich sein?“
Firaya ging vor der Großfürstin in die Hocke. Aus der Nähe verströmte die Frau einen seltsamen Frosthauch, obwohl sie die ganze Nacht am Feuer verbracht hatte.
„Das wird nicht nötig sein.“ Firaya versuchte, die Seile an Oksanas Armen und Beinen zu lösen, aber Alina hatte die Knoten so fest gebunden, dass sie nicht nachgaben. Schließlich nahm Firaya ihr Messer und schnitt die Fesseln durch. Die Großfürstin rührte sich nicht, auch als die Klinge sie beinahe berührte.
„Was habt ihr mit mir vor?“, fragte sie.
„Das hängt von Janka ab. Sie war es immerhin, die dein Leben gerettet hat.“
Zum ersten Mal brach die hoheitsvolle Maske auf. Oksana wandte den Kopf ab und rieb sich die aufgeschürften Handgelenke.
„Ich weiß nicht, warum sie das getan hat“, gab sie zu.
„Ich schon.“ Firaya stand auf. „Ich erkläre es dir – euch beiden“, fügte sie in Alinas Richtung hinzu, „damit Janka ihre Geschichte nicht wiederholen muss. Aber ich will keine Streitigkeiten am Feuer.“
Alina nickte widerstrebend. Oksana lachte auf, als sie es sah.
„An deinem Gehorsam hat sich offenbar nichts geändert!“ Ehe Alina wieder auffahren konnte, kam die Großfürstin schwankend auf die Beine. „Ich kann es kaum erwarten, alles darüber zu hören, wie das Zhan-Reich dem Untergang geweiht ist. Aber zuerst entschuldigt mich.“
Sie entfernte sich zur anderen Seite des Zeltes hin. Alina beobachtete sie angespannt.
„Ich traue ihr nicht“, knurrte sie wieder.
Diesmal sagte Firaya nichts dazu. Offenbar hatte sie sich getäuscht – Großfürstin oder nicht, Oksana besaß sehr wohl noch Macht über Alina. Und sie würde mit Sicherheit nicht zögern, diesen Umstand auszunutzen.
Auch als Janka die Stimmen von draußen hörte, stand sie nicht auf. Sie blieb zusammengerollt auf der Schlafmatte liegen, die noch schwach nach Firaya roch, und beobachtete, wie das Licht ihrer Feuervogel-Male über die Zeltwand spielte.
Fast schien das rote Glimmen Muster zu malen, Gestalten, die sich bewegten. Drei schlangenähnliche Köpfe. Eine zupackende Hand. Langes, sich kräuselndes Haar.
Janka kniff die Augen zusammen. Sie juckten vom vielen Weinen und ihr Gesicht fühlte sich heiß und geschwollen an. Doch immer wieder durchfuhr sie ein eisiger Schauder, als würde Koschei ihr ins Ohr flüstern.
„Ich werde dich finden und dir die Freiheit schenken, die du mir gewährt hast.“
Sie zog sich die Decke über den Kopf, so als könnte sie sich darunter verstecken. Vor Koschei. Vor ihren Erinnerungen. Vor der schweren Last ihrer Schuld. Sie wollte nie wieder aufstehen.
Irgendwann raschelte es und dann erklang Firayas vertraute Stimme neben ihr: „Spatz, komm essen. Ich weiß, dass du wach bist.“
Firayas Stimme musste nicht bedeuten, dass es wirklich Firaya war.
Janka schüttelte den Kopf, ohne unter der Decke aufzutauchen. Sie hatte keinen Hunger.
Firaya schwieg für einen Moment. „Lass mich zumindest dein Haar kämmen“, bat sie dann.
Wieder lief ein Zittern durch Jankas Körper, aber diesmal fühlte es sich nicht nach Koscheis Kälte an. Früher, in Istradar, hatte Firaya manchmal ihr Haar gekämmt, bis es glänzte, und sie hatten all die Arten besprochen, wie Janka es flechten könnte, wenn es erst lang genug wäre. Die Erinnerung überrollte sie mit solcher Stärke, dass sie für einen Augenblick nicht atmen konnte. Was würde sie nicht geben, um wieder in diese unbeschwerte Zeit zurückzukehren!
Langsam streifte sie die Decke ab und setzte sich auf, ohne Firaya anzusehen. Sie hatte Angst davor, in ihr Gesicht zu schauen und das silberne Funkeln des Zmey in ihren Augen zu entdecken.
Wortlos drehte sie Firaya den Rücken zu und ebenso wortlos machte Firaya sich daran, mit einem Holzkamm durch ihre verfilzten Locken zu fahren. Sie war dabei so vorsichtig, dass es nicht einmal wehtat.
Janka musste Tränen wegblinzeln. Es sollte wehtun. Welche Qualen hatten Samar und Edik ausstehen müssen, unter all dem Stein begraben …
„Sie sind wirklich lang geworden“, sagte Firaya wie beiläufig. „Du könntest Alina bitten, dir zu zeigen, wie du sie zu einem Kranz flechten kannst. Ich habe ein rotes Band, das ich dir dafür geben könnte.“
Janka wischte sich über die feuchten Wangen und schüttelte sacht den Kopf. In Trauer trug man die Haare offen.
„Warum … warum hast du mir nie geschrieben?“, fragte sie rau. Sie starrte auf ihre Hände, auf die tanzenden Male. „Du hättest Alina eine Nachricht diktieren können, aber Timur und ich haben nie etwas von euch bekommen.“
Der Kamm hielt inne, nur für einen Wimpernschlag. Janka wünschte sich auf der Stelle, nicht gefragt zu haben. Doch sie nahm die Worte nicht zurück.
„Es tut mir leid“, sagte Firaya leise. „Ich habe … Es gab keine gute Gelegenheit.“
Hinter all der Trauer und Angst schoss unerwartet eine Flammenzunge Wut hervor. „Jeder Tag wäre eine gute Gelegenheit gewesen! Ein ganzes Jahr voller Gelegenheiten! Wir haben uns Sorgen gemacht!“
Diesmal hielt Firaya nicht inne. „Es tut mir leid.“
Janka rückte von ihr ab und der Kamm glitt aus ihren Haaren. Als sie Firayas Blick suchte, war der Ausdruck darin bekümmert. Nicht silbern, nicht spöttisch. Aber wie immer voller Gedanken und Gefühle, die Janka verschlossen blieben.
„Ich gehe jetzt doch etwas essen“, sagte sie steif und verließ das Zelt.
Draußen verlor sich das Glimmen ihrer Male im Sonnenschein. Alina und Oksana saßen auf gegenüberliegenden Seiten eines Feuers, das im Wind flackerte. Alinas Kopf fuhr hoch, als sie Schritte hörte.
„Erklär es mir“, verlangte sie auf der Stelle von Janka. „Erklär mir, wie du Edik da drin zurücklassen konntest, während du die hier mitgenommen hast!“
Ihr anklagender Zeigefinger in Oksanas Richtung war der ehemaligen Großfürstin kaum einen Blick wert. Sie konzentrierte sich ganz darauf, den Saum ihres Kleides zu flicken.
Ehe Janka eine Antwort durch ihre eng gewordene Kehle pressen konnte, trat Firaya neben sie. „Das habe ich doch bereits erklärt“, sagte sie. „Janka musste ihr Wort gegenüber Nadja halten. Sie hatte nicht genug Kraft, um alle zu retten. Es hilft Edik nicht, ihr deswegen ein schlechtes Gewissen zu machen.“
Mit einem Knurren erhob Alina sich und stapfte einige Schritte durchs Gras. Das hellbraune Pferd, das in der Nähe weidete, schaute beunruhigt auf und zuckte mit einem Ohr. Alina wirbelte wieder herum.
„Dann erklär mir, was du noch hier tust!“, fuhr sie Janka an. „Du hast doch jetzt geschlafen und dich erholt – spring nach Radagrad und hol ihn da raus! Er hat vielleicht überlebt!“
Firaya schob sich vor Janka. „Hör auf“, sagte sie scharf. „Sie hat noch nicht einmal etwas gegessen.“
Jankas Magen schien mit Steinen gefüllt. Dennoch ließ sie sich von Firaya zu einem Platz am Feuer manövrieren und sich eine Schale in die Hände drücken. Wie benommen starrte sie auf die dampfende Kascha. Hinter sich hörte sie Firaya leise auf Alina einreden.
„Hier.“ Für einen Augenblick verschwand die Schale aus Jankas Händen. Als sie sie zurückbekam, thronte ein Klecks Honig auf der Gerste. Verwirrt schaute Janka auf, aber Oksana wandte sich bereits wieder ihrem Kleid zu. „Iss. Du brauchst deine Kräfte.“
Janka versenkte ihren Löffel in der Kascha und führte ihn dann zum Mund. Der Honig schmeckte kräftiger, als sie erwartet hatte. Wie von selbst machte sich ihre Hand daran, den Brei zu löffeln, obwohl sie sich gleichzeitig dafür hasste.
Firaya und Alina gesellten sich schließlich wieder zu ihnen. Alinas Augen waren gerötet, ihre Lippen störrisch aufeinandergepresst. Firaya goss ihr Tee ein, ein vertrautes Morgenritual, das Janka schmerzhaft an Timur erinnerte.
„Nach dem Frühstück brechen wir auf“, sagte Firaya in das angespannte Schweigen hinein. „Die Pferde können nicht für längere Zeit zwei Personen tragen. Du reitest auf Mahija, Spatz. Wir anderen wechseln uns auf Zabira ab. In etwa vier Tagen sollten wir beim Lager meiner Familie ankommen. Dann sehen wir weiter.“
„Was soll das heißen – dann sehen wir weiter?“, fragte Oksana ungläubig. „Koschei könnte jeden Moment angreifen! Wir haben keine Zeit, durch die Steppe zu spazieren!“
„Wenn Ihr keine Pferde herbeizaubern könnt, ist das alles, was uns zu tun bleibt“, gab Alina scharf zurück.
Oksanas Blick zuckte in Jankas Richtung, nur kurz, aber so vielsagend, dass Janka ihren Löffel sinken ließ.
„Ich weiß nicht, wann ich es wieder schaffen werde, von einem Ort zum anderen zu springen“, gab sie schweren Herzens zu. „Aber fliegen kann ich noch, wenn das hilft.“
„Du kannst nicht fliegen und uns alle tragen. Ganz zu schweigen von den Pferden.“ Firaya war wie immer pragmatisch. „Und am Himmel wärst du schon von Weitem zu sehen. Wir müssen es diesem Mann nicht noch leichter machen, dich zu finden.“
Oksana verzog den Mund. „Er ist kein Mann, er ist ein Ungeheuer.“
„Er darf Janka nicht in die Hände bekommen“, sprach Firaya weiter, als hätte sie nichts gehört. „Bei meinem Clan haben wir mehr Pferde und Vorräte zur Verfügung. Von dort aus stehen uns alle Wege offen.“
„Können wir Timur suchen?“, fragte Janka hoffnungsvoll. „Er war hierher unterwegs, vielleicht ist er ganz in der Nähe.“
„Ich werde Irke fragen, ob wir den anderen Clans eine Nachricht zukommen lassen können.“ Firaya klang nicht sehr zuversichtlich. Jankas Herz sank. „Er würde wollen, dass du in Sicherheit bist, Spatz“, fügte Firaya weich hinzu.
„Du verstehst es nicht“, mischte sich Oksana ein. „Ihr wart nicht dort, ihr habt seine Macht nicht gesehen. Es gibt keine Sicherheit, keinen Fluchtweg. Wenn er Janka finden will, wird er sie finden. Er wird uns alle finden.“ Sie erschauderte, blass geworden.
Janka spürte, wie auch aus ihrem Gesicht jede Farbe wich. Oksana hatte recht. Koschei hatte versprochen, sie zu töten – sie zu befreien, wie er es ausdrückte. Janka wusste mittlerweile gut genug, dass Wesen wie er und sie an ihr Wort gebunden waren.
„Dann greifen wir ihn zuerst an“, sagte Alina entschlossen. „Wenn er in Istradar ist, wird er ja nicht schwer zu finden sein.“
„Und was willst du tun, wenn du ihn gefunden hast?“, fragte Oksana. „Ich habe ihm einen Dolch in den Hals gestoßen und er hat nicht einmal geblutet! Er kann nicht sterben!“
Alina beugte sich vor, ein hartes Funkeln in ihren Augen. „Aber man kann ihn offenbar gefangen nehmen. Wir überraschen ihn und dann werfen wir ihn zurück in sein magisches Gefängnis …“
„Das zerstört wurde“, unterbrach Oksana sie.
„Dann bauen wir ein neues!“, rief Alina. „Es ist schon einmal gelungen, wieso nicht ein weiteres Mal? Dieses Ungeheuer wird dafür büßen, meinen Freund getötet zu haben!“
Firayas Arm legte sich um Jankas Schulter. Janka hatte gar nicht gemerkt, dass sie wieder zu weinen begonnen hatte. Edik war vermutlich tot. Ebenso wie Samar. Von Timur fehlte jede Spur. Janka fühlte sich so entsetzlich klein und hilflos, dass sie um jeden Atemzug kämpfen musste.
„Noch können wir nichts bauen und niemanden gefangen nehmen“, sagte Firaya knapp. „Wir brechen nach dem Frühstück auf, also trinkt euren Tee aus.“
Sie klang ruhig und besonnen wie immer. Janka schloss die Augen und lehnte sich dankbar gegen sie. Firaya wusste, was zu tun war. Janka musste nichts mehr entscheiden, nichts durchdenken.
Sie konnte nichts für Samar und Edik tun. Nur überleben.
Alina war nicht überrascht, dass sie länger als vier Tage brauchten, um das Batyr-Lager zu erreichen. Obwohl Janka sich tapfer hielt, war nicht zu verkennen, dass sie keinerlei Reiterfahrung besaß. Oksana hingegen war keine Fußmärsche gewohnt. Dementsprechend mussten sie öfter Pausen einlegen, als Alina lieb war, vor allem ohne jeden Schutz und ohne Rückzugsmöglichkeit.
Firaya bestand darauf, dass Janka und Oksana nachts im Zelt schliefen – ein Auswuchs ihrer Gastfreundschaft, der Alina viel zu weit ging. Sie sah nicht ein, warum Oksana nach allem, was sie getan hatte, nun auch noch auf einer weichen Matte schlafen durfte, geschützt vor dem beißenden Wind.
„Wir könnten sie einfach an einen Pflock anbinden und mitten in der Steppe zurücklassen“, murmelte Alina an einem Abend, während sie zu zweit unter dem dunkelblauen Himmel lagen und zusahen, wie immer mehr Sterne daran erschienen. Firaya gab nur ein „Hmm“ von sich.
Alina blieb hartnäckig. „Oder ihre Dienste in der nächsten Siedlung verkaufen. Sie kann ihre Muskeln mal für andere Menschen einsetzen, nicht umgekehrt.“
„Hmm.“
„Sie könnte die Schafe scheren.“
Firaya seufzte. „Das ist keine Arbeit für Fremde.“ Endlich sah sie Alina an, mit diesen warmen dunklen Augen, denen nichts entging. „Sie steckt wie ein Splitter in deinem Kopf. Meinst du nicht, es ist an der Zeit, sie daraus zu entfernen?“
Empört stemmte Alina sich auf den Ellbogen hoch. „Ich habe sie entfernt – aus meinem Leben und meinem Kopf!“, zischte sie, darauf bedacht, die Stimme nicht zu erheben, obwohl es sie sehr danach verlangte. „Ich habe sie ein Jahr lang nicht gesehen!“
„Du hast dich entfernt, aus ihrer Nähe“, korrigierte Firaya. „Indem du mit mir fortgegangen bist. Aber sie beherrscht immer noch deine Gedanken.“
„Sie beherrscht gar nichts mehr“, sagte Alina mit großer Genugtuung. „Nicht Istradar, nicht ihr eigenes Schicksal – nichts! Und wenn es mich freut, sie so machtlos zu sehen, ist das doch nicht verwunderlich, nach all dem, was sie getan hat. Solltest du dich nicht mit mir freuen?“
Firaya drehte sich wieder weg. „Es ist mir gleichgültig, was mit ihr passiert. Sie ist keine Bedrohung mehr für uns.“
Und das Frustrierendste daran war, dass Alina wusste, dass Firaya es genau so meinte. Sie hatte keine Liebe für die Großfürstin übrig, aber sie verschwendete auch keine Energie darauf, wütend auf sie zu sein oder sie zu hassen. All diese Gefühle, die Alina so oft zu zerreißen drohten, zogen durch Firaya wie der Wind durchs Steppengras, ohne Spuren zu hinterlassen.
Manchmal waren sie einander fremder als bei ihrer allerersten Begegnung.
Mit all der Anspannung, die Alina nicht abschütteln konnte, war sie froh, als sie endlich ihr Ziel erreichten. Noch bevor die Jurten in Sicht kamen, stieß Mahija ein freudiges Wiehern aus, das Janka erschrocken zusammenzucken ließ. Die Begrüßung wurde aus vielen Pferdekehlen erwidert und kurz darauf trafen sie auf die Herde.
Firayas Clan hielt etwa hundert Pferde und noch einmal so viele Schafe. Alinas Atem stockte jedes Mal, wenn sie all diese Tiere sah, jung und alt, wie sie friedlich grasend über das Grün wanderten oder einander im Spiel jagten. Die Pferde waren alle grau und dunkelbraun wie Mahija und Zabira, klein, zäh und in der Steppe zu Hause. Alina fand sie nicht sonderlich schön, kannte und bewunderte inzwischen aber ihre Ausdauer und Kraft. Der wahre Reichtum der Batyr.
Malik entdeckte die Neuankömmlinge und winkte ihnen vom Pferd aus zu. Dann stieß er einen durchdringenden Pfiff aus, um die anderen Reiter auf sie aufmerksam zu machen. Noch ehe die Gruppe die Herde passiert hatte, wussten alle, dass Firaya zurückgekehrt war.
Alina hatte im letzten Jahr genug Zeit mit Firayas Familie verbracht, um sich an die Lebensweise der Batyr zu gewöhnen. Aber Janka und Oksana schauten sich befremdet in der kleinen Zeltsiedlung um, die sich vor ihnen erstreckte. Runde Jurten drängten sich um einen zentralen Feuerplatz, mit Filzteppichen und Fellen bedeckt. Sie waren viel größer als das Zelt, das Alina und Firaya mit sich führten, doch die meiste Zeit hielten sich die Batyr unter freiem Himmel auf.
Auch an diesem Tag saß eine Gruppe von ihnen am Feuerplatz zusammen. Sie nähten warme Decken für den Winter, während andere am Rande des Lagers Gras aufschichteten, damit es in der Sonne trocknen und später an die Tiere verfüttert werden konnte. Die Neuigkeit von Firayas Rückkehr verbreitete sich wie ein Lauffeuer unter ihnen. Firaya ließ Mahija anhalten, als sie zwischen den Jurten von neugierigen Menschen umringt wurden.
Während Alina Janka vom Pferd half, wurde Firaya von ihren Schwestern Irke und Karima mit Fragen bestürmt. Alina beherrschte die Sprache der Batyr inzwischen einigermaßen, aber wenn sie so schnell miteinander redeten, rauschten die Worte einfach an ihr vorbei. Sie konnte sich allerdings denken, dass es um die beiden unbekannten Zhanka ging, die Firaya mitgebracht hatte.
„Mögen sie keine Zhanka?“, fragte Janka leise, nachdem sie wieder auf eigenen Beinen stand.
Alina winkte einigen Kindern zu, die neugierig an den Erwachsenen vorbeispähten.
„Sie kennen kaum welche. Aber sie lernen schnell – also passt auf, was Ihr hier auf Zhan sagt.“
Die letzten Worte richtete sie an Oksana, die bei ihnen stehen geblieben war. Die hochgezogenen Schultern und die Falte auf der Stirn verrieten ihre Anspannung. Vermutlich war es das erste Mal, dass sie sich so von Fremdländern umzingelt sah. Wie gern hätte Alina sie für ihr Unbehagen verspottet, wäre es ihr bei ihren ersten Besuchen bei Firayas Familie nicht ebenso ergangen.
„Hat diese Person bei ihnen das Sagen?“, fragte Oksana.
Alina folgte ihrem Blick. Irke war eine beeindruckende Frau mit großer Leibesfülle, in einem dunkelblauen Kaftan und blumenbestickten Kopftuch. Alle hörten respektvoll zu, wenn sie das Wort ergriff. Während sie mit lauter Stimme und ausgreifenden Handbewegungen sprach, stand Firaya nur geduldig vor ihr und wartete ab. Ihrer älteren Schwester gegenüber verhielt sie sich immer wie ein gehorsames Kind.
„Das ist Firayas Schwester Irke“, antwortete Alina. „Sie führt den Clan des Kranichs an.“
Oksana sah aus, als hätte sie unzählige Fragen, doch Alina ließ ihr keine Gelegenheit, sie zu stellen. Stattdessen drückte sie ihr Zabiras Zügel in die Hand und gesellte sich zu den Schwestern.
„Den Atem des Himmels für dich, Irke“, grüßte sie. Die früher so fremdartigen Batyr-Silben fühlten sich in ihrem Mund inzwischen glatt und rund wie Flusskiesel an.
„Und für dich, Alina.“ Irke führte ihre Handfläche zur Stirn, um die traditionelle Begrüßung zu erwidern. Dann wechselte sie in ein etwas holpriges, aber gut verständliches Zhan. „Es ist schön, dass ihr schon zurück seid. Das Gras wird dünn, wir werden bald ins Winterlager aufbrechen. Zwei weitere Paar Hände können wir bei den Vorbereitungen gut gebrauchen. Ihr wärt auch früher willkommen gewesen.“
Alina ignorierte den mitschwingenden Vorwurf und neigte den Kopf. „Hab Dank. Es ist gut, wieder hier zu sein.“
Sie ließ ihre Schulter Firayas streifen, eine unauffällige Geste, die all das vermitteln sollte, was Alina ihr vor ihrer Familie nicht zu sagen wagte. Firaya reagierte nicht. Obwohl der ganze Clan wusste, dass sie sich Zelt und Bett teilten, sprachen sie nicht darüber und Firaya vermied es, sie darauf zu stoßen.
„Eure Freundinnen sind natürlich auch willkommen“, sagte Irke mit Blick zu Janka und Oksana. Obwohl Janka Firayas Umhang trug, der ihre Arme und Schultern verbarg, ließen sich die leuchtenden Male auf ihrem Gesicht und ihren Händen nicht verstecken. Die Batyr konnten nicht lange hinsehen, wirkten aber eher fasziniert als furchtsam. Karima sah aus, als würde sie gleich vor Neugierde platzen, doch sie fiel ihrer Schwester nicht ins Wort. Irke hatte offenbar beschlossen, dass ein anständiges Willkommen Vorrang vor weiteren Fragen hatte. „Kommt, ihr könnt euer Zelt neben unserem aufbauen“, sagte sie.
Firaya entspannte sich unmerklich und nickte. Nachdem Irke sich abgewandt hatte, wurde Alina von den kleinen Kindern bestürmt, die respektvoll das Ende des Gesprächs abgewartet hatten.
„Hoch! Hoch!“, verlangten sie auf Zhan.
Alina lachte auf. „Nicht alle auf einmal!“
Sie ging in die Hocke und streckte die Arme aus. Nach einem kurzen Gerangel klammerten sich Julaj und ein weiterer Junge an sie. Mit einem gespielten Ächzen richtete Alina sich wieder auf und hob die Arme mit den Kindern daran, die vergnügt quietschten. Vorsichtig drehte sie sich und tat so, als wollte sie mit den Kleinen davonlaufen. Lachend warfen sich ihr die anderen in den Weg.
Sie alberten herum, bis jemand eines der Kinder rief, und dann stoben alle auseinander, auf einmal scheu geworden. Alina sah ihnen lächelnd hinterher, während sie zu Atem kam. Kinder waren überall gleich, ob Zhanka, Gennka oder Batyr. Wenn die Erwachsenen bloß ebenso leicht zu beeindrucken wären.
Sie schloss zu den anderen auf, die schon dabei waren, das Zelt aufzubauen. Nach den letzten Tagen waren Oksana und Janka geübt darin, Firaya zu helfen, und brauchten keine Anleitung mehr. Trotzdem begutachtete Firaya kritisch jeden Schritt und überprüfte die Knoten, wenn die beiden gerade nicht hinsahen.
Alina trat zu ihr und schlang ihr von hinten die Arme um die Taille.
„Du bist eine gute Lehrerin.“
„Und du ein gutes Kindermädchen“, gab Firaya zurück. Sie zögerte, lehnte sich dann jedoch gegen Alina. Die große Jurte von Irke und ihrer Familie schirmte sie vor forschenden Blicken ab, während Janka und Oksana zu beschäftigt waren, um sie zu beobachten. Vor anderen gab sich Firaya selten zärtlichen Berührungen hin.
Alina nutzte die Gelegenheit, um das Gesicht in ihrer Halsbeuge zu vergraben. „Was hat Irke gesagt?“, murmelte sie.
„Das Übliche. Sie versteht nicht, warum wir so oft das Lager verlassen.“ Firayas Brustkorb hob sich mit einem Seufzer. „Jetzt, wo ich zwei weitere Zhanka mitgebracht habe, denkt sie, dass ich wieder fortgehen will.“
„Zurück nach Istradar?“
Firaya machte eine vage Geste. „Weg. Irgendwohin, wo der Kranich nicht fliegt.“
Alina hätte einiges dazu zu sagen gehabt, doch sie schluckte es herunter. Selbst nach einem Jahr verstand sie Firayas seltsamen Tanz mit ihrer Familie nicht – sie ging auf Abstand, suchte dann ihre Nähe, nur um wieder auf Abstand zu gehen, ein ewiges Kreisen, ohne je anzukommen. Dafür, dass Firaya sich in Istradar so nach ihrer Heimat gesehnt hatte, schien es ihr schwerzufallen, sich tatsächlich hier niederzulassen. Aber jedes Mal, wenn Alina sie darauf ansprach, wich sie dem Thema aus.
Nun veränderte Jankas Ankunft alles. Alina konnte nicht leugnen, dass ihr Herz schneller schlug bei der Vorstellung, wieder aufzubrechen und mehr von der Welt zu sehen, als zwischen ein paar Zeltwände passte.
„Solange du mich mitnimmst, gehe ich überallhin“, murmelte sie gegen Firayas warme Haut.
„Könntet ihr die Finger lange genug voneinander lassen, um auch mal mitzuhelfen?“, rief Janka ihnen zu und der intime Augenblick zerbrach. Firaya löste sich aus Alinas Armen. Alina rieb sich über die Brust, als wäre dort ein Schatten zurückgeblieben, etwas Unausgesprochenes.
Als sie aufsah, traf sie Oksanas Blick – wissend, amüsiert. Alina wandte sich ruckartig ab.
Bis sie alles aufgebaut und ihre Habseligkeiten verstaut hatten, war von Süden her eine dunkle Wolkenfront aufgezogen. Die Batyr breiteten regenfestes Tuch über das zum Trocknen aufgehäufte Gras, versammelten sich dann aber trotzdem in der Mitte des Lagers um die große Feuerstelle. Firaya durfte neben Irke und Karima sitzen, die Kranich-Schwestern vereint, während sich Alina mit Janka und Oksana auf der anderen Seite des Feuers wiederfand. An diesem Abend war es Alina ganz recht. So konnte sie Oksana besser im Auge behalten.
Es wurden Schalen mit Eintopf und Lederbeutel voller Kumys herumgereicht. Alina nahm einen großen Schluck. Firaya hatte lange gebraucht, um sie für die vergorene Stutenmilch zu gewinnen, aber inzwischen wusste Alina den säuerlichen Alkohol zu schätzen.
„Ich bleibe lieber bei Wasser“, sagte Janka und musterte den Lederbeutel zweifelnd. Im Schein des Feuers schimmerten die Muster auf ihren Wangen wie geschmolzenes Gold. Die Batyr neben ihr starrten und tuschelten, aber niemand sprach sie darauf an.
Oksana versuchte nicht einmal, ihren Ekel beim Anblick des Eintopfs zu verbergen. „Ich esse mit Sicherheit kein Pferdefleisch!“
„Dann werdet Ihr wohl hungern“, gab Alina ungerührt zurück.
Die Großfürstin beobachtete angewidert, wie sie die fettigen Fleischstücke zum Mund führte. „Macht es dir Spaß, wie eine Barbarin zu leben?“, spie sie.
Wut schoss in Alina hoch und sie zeigte Oksana in einem breiten Grinsen die Zähne. „Oh ja. Als Nächstes schlachten wir vielleicht Euch, passt lieber auf.“
„Wie recht ich doch darin getan habe, dich zu verstoßen“, stieß Oksana aus und erhob sich, um von der Feuerstelle davonzustapfen.
Kaum einer beachtete sie. Iskander hatte eine Kurai hervorgezogen und spielte eine wehmütige Melodie, der alle hingerissen lauschten. Janka seufzte und rückte näher an Alina heran.
„Es tut mir leid“, sagte sie leise, ohne von der Schale in ihren Händen aufzusehen. „Glaub mir, ich hätte viel lieber Edik und Samar gerettet als diese giftige Schlange.“
Alina wollte eigentlich Oksana folgen, um sicherzustellen, dass sie nichts im Schilde führte, doch als sie hörte, wie belegt Jankas Stimme klang, blieb sie sitzen.
„Ich weiß. Ich verstehe zwar diese ganzen Zauberdinge nicht, aber dich kenne ich gut genug.“ Sie musste schwer schlucken. „Edik würde nicht wollen, dass wir seinetwegen streiten.“
„Nein, würde er nicht“, hauchte Janka. Sie lehnte sich gegen Alina und schloss die Augen. „Ich habe Timur schon so oft Kurai spielen hören, aber das hier klingt anders.“
Alina legte ihr einen Arm um die Schultern. „Es ist das gleiche Instrument, aber die Batyr und die Tarak haben andere Lieder.“
Iskander war zu einer fröhlicheren Melodie übergegangen und einige fingen an, den Takt mitzuklatschen. Firaya war darunter. Alinas Blick kehrte immer wieder zu ihr zurück, wie sie da inmitten ihrer Familie saß, mit einem Lächeln im Mundwinkel.
Sie sah ihren Schwestern sehr ähnlich – das gleiche breite Gesicht und die flache Nase, die gleiche hellbraune Haut. Doch Firayas Haar unter dem Kopftuch war kurz und sie trug weite Hosen statt der mehrlagigen Röcke der anderen Frauen. Sie war immer noch die Fährfrau aus Istradar, die Nachtigall, die Alinas Leben auf den Kopf gestellt hatte. Nur dass sie hier glücklich aussah. Zumindest für den Augenblick.
Dieser Augenblick hielt jedoch nicht lange an. Die dunklen Wolken waren fast heran und ein unerwarteter Ton sprengte Iskanders Lied – ein Schrei.
Janka erstarrte, während Alina neben ihr sofort auf die Beine kam. Zunächst verstand Janka nicht, woher der Schrei überhaupt gekommen war. Dann begann der Boden zu beben und sie drehte sich um.
Oksana rannte zwischen den Zelten auf die Feuerstelle zu, als müsste sie den Wind überholen.
„Die Tiere!“, schrie sie.
Niemand musste Zhan verstehen, um ihre Warnung zu begreifen. Hinter ihr strömte die gesamte Herde ins Lager. Wild wiehernd donnerten die Pferde über alles hinweg, was ihnen im Weg stand. Die Schafe versuchten mit ihnen mitzuhalten, wurden dabei aber erbarmungslos weggestoßen oder zertrampelt. Die Tiere wirkten wie besessen. Und sie rasten auf die versammelten Menschen zu.
Die Batyr verloren keine Zeit, sondern stoben auseinander. Alina warf sich kurzerhand zwei Kinder über die Schulter und verschwand zwischen den Jurten. Oksana änderte abrupt den Kurs und folgte ihr.
Auch Janka wollte fliehen, entdeckte dann jedoch aus den Augenwinkeln eine Gestalt am Feuer, die den Pferden reglos entgegenblickte.
„Firaya!“, rief Janka ihr zu. „Komm weg da!“
Aber Firaya stand da wie angewurzelt. Dachte sie, dass sie die Pferde wieder beruhigen konnte? Janka verstand nicht viel von diesen Tieren, doch auf sie wirkten sie unaufhaltsam wie eine Flutwelle. Ohne auf die Menschen zu achten, rissen sie Jurten ein und trampelten über jedes Hindernis hinweg. Sie hielten direkt auf Firaya zu.
Nein, auf die lodernde Feuerstelle.
„Firaya!“ Janka sprang in die Luft und wollte hinfliegen, um sie aus der Gefahr zu ziehen. Doch da war Alina schon heran und zerrte Firaya mit sich fort. Wie aus einem Bann gerissen, rief Firaya etwas, aber falls die Tiere es hörten, reagierten sie nicht darauf.
Das vorderste Pferd erreichte die Feuerstelle, umgekippter Eintopf spritzte unter seinen Hufen auf. Ohne zu zögern, ohne einen Laut von sich zu geben, sprang es mitten in die Flammen hinein.
Nun war es Janka, die aufschrie. Glut stieb auf, es regnete Funken. Dort, wo sie hinfielen, entbrannte das Gras. Eines nach dem anderen stürzten sich die Pferde ins Feuer und wälzten sich darin. So begierig waren sie darauf, von den Flammen erfasst zu werden, dass sie übereinander hinwegstiegen, fielen und sich wanden, während ihre Mähnen Feuer fingen. Sie schienen keinen Schmerz zu empfinden.
Janka wurde übel, doch sie zwang sich, den grauenhaften Anblick auszublenden.