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Im tiefsten Winter entbrennt der Feuervogel zum letzten Mal… Der Tag der Wintersonnenwende steht bevor und mit ihm die Entscheidung über die Zukunft des Zhan-Reichs. Ein Blutopfer soll Koscheis Kräfte wiederherstellen, damit er das Land auf ewig mit Eis und Schnee überziehen kann. Der Feuervogel und seine Verbündeten planen einen letzten verzweifelten Angriff – doch nichts ist so, wie es scheint. Ein Bündnis, das auf Lügen basiert. Eine Liebe, die von Dunkelheit verschlungen wird. Und ein Verrat, der alle Pläne zu zerstören droht. Kann ein letztes Wunder alle retten?
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Veröffentlichungsjahr: 2022
Ria Winter
Feuervogel-Chronik 4
Inhaltswarnungen:
Gewalt, Ersticken, Beschreibung von Leichen
Impressum:
Der Fürst von Frost und Gebein
© 2022 Ria Winter
www.riawinter.de
Martha Wilhelm
Am Diggen 38b
21077 Hamburg
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung der Autorin wiedergegeben werden.
Umschlaggestaltung: Christin Giessel, www.giessel-design.de
Lektorat: Rabea Güttler
Satz: saje design, www.saje-design.de
Karte: Amalia Zeichnerin
ISBN: 9783754692417
Für alle, die immer an mich geglaubt haben.
Um den Grabstein aus gelbem Marmor hatten sich einst Rosen gerankt. Nun lag Schnee darauf und bedeckte die Inschrift unter dem Hecht-und-Sperber-Wappen von Istradar. Der Mann ging in die Hocke und wischte die festgefrorene Schicht über den Buchstaben weg.
„Oleg der Große“, las er vor, „Gründer des Großfürstentums Istradar, Bezwinger des Feuervogels, Beschützer der Menschen.“ Er lachte auf. „Oh, wie schmeichelhaft. Ich sollte das vielleicht den neuen Umständen anpassen, meinst du nicht?“
Der weiße Kater saß auf dem Rand eines gemauerten Wasserspiels inmitten des Rosengartens und putzte sich. „Wieso?“, fragte er, ohne von seiner Pfote hochzusehen. „Der Fürst, für den dieser Grabstein errichtet worden ist, hat Wunderwesen getötet und ihre Reiche unter den Menschen aufgeteilt. Ihm werden diese Worte gerecht.“
„Aber nicht mir.“ Der Mann, der vor zweihundert Jahren als Oleg der Große bekannt gewesen war, betrachtete die Inschrift mit schief gelegtem Kopf. Eiskristalle glänzten in seinem Bart und seinen Augenbrauen.
„Den Feuervogel willst du immer noch bezwingen“, erinnerte der Kater ihn.
Der Mann winkte ab. „Nur um sie zu befreien. Ich werde das Land den Wunderwesen zurückgeben und die Menschen wieder in ihre Schranken weisen. Es wird so sein wie früher. Der Feuervogel ist ein Teil davon. Aber dafür muss sie erst diese menschliche Gestalt ablegen.“
Der Kater ließ endlich die Pfote sinken, auf der er hingebungsvoll herumgebissen hatte, und maß sein Gegenüber mit einem unbeeindruckten Blick aus gelben Augen. „Dafür, dass du so über ihre Gestalt klagst, sieht deine eigene ihrer recht ähnlich.“
Der Fürst lachte wieder, doch diesmal verwandelte sich der Laut in ein schmerzhaft klingendes Husten. Er beugte sich vor und musste sich am Grabstein abstützen, während sein ganzer Körper erbebte. Eisblumen krochen unter seinen Fingern über den Marmor.
Als er sich wieder aufrichtete, bedeckte Raureif seine gräuliche Haut. „Nicht mehr lange. Du siehst ja, wie viel mir der Rest meiner Menschlichkeit nützt“, sagte er heiser und wischte sich über den Mund. „Ich werde froh sein, sie zur Wintersonnenwende endlich abzustreifen.“
„Wirst du froh sein oder deine Mutter?“, fragte der Kater geradeheraus.
„Du kennst doch Mamuschka. Sie sieht mehr als wir alle. Wenn sie sagt, dass es nötig ist, dann ist es das auch.“
Der Kater gab ein „Hmpf“ von sich. Blinzelnd schaute er sich im Garten um, der die früheren Gemächer der Großfürstin von Istradar umgab. Vom blühenden Leben, das hier sorgsam kultiviert worden war, hatte nicht viel überdauert. Der gelbe Marmor des Grabsteins bildete den einzigen Farbfleck inmitten einer Landschaft aus Weiß- und Grautönen. Die dürre Gestalt des Fürsten hob sich kaum davon ab.
„Gerade denen, die viel sehen, entgeht oft das, was direkt vor ihrer Nase geschieht“, kommentierte der Kater.
„Das kannst du gern mit ihr diskutieren, wenn du sie das nächste Mal besuchst.“ Seufzend erhob der Fürst sich wieder. „Ich habe so viel zu tun. Bis zur Hochzeit soll der Kreml in voller Pracht erstrahlen.“ Auch er ließ seinen Blick durch den Garten schweifen, ihm entlockte das Bild jedoch ein Lächeln. „So wird es bald im ganzen Land aussehen. Schön und friedlich.“ Er rieb sich über die Brust. „Vielleicht finde dann auch ich endlich Frieden.“
Mit einem weiteren „Hmpf“ sprang der Kater auf den verschneiten Kiesweg hinunter. „Viel Vergnügen beim Dekorieren.“
Nur sein Schwanzzucken verriet, dass der gleichgültige Tonfall etwas anderes verbergen mochte.
Der Fürst rief ihn noch mal zurück. „Wasja!“ Er zögerte, als der Kater über die Schulter zu ihm zurückblickte. „Wie lange hat es gedauert, bis du dich nicht mehr wie ein Gefangener gefühlt hast?“
Wasja betrachtete ihn einen Moment lang. „Du wirst die Fesseln immer spüren, solange du die Angst davor nicht ablegst“, meinte er dann und setzte seinen Weg fort.
Der Fürst schaute auf die dunklen Abdrücke hinab, die seine Handgelenke umschlossen. Obwohl er diese Ketten längst gesprengt hatte, ließ sich ihr Schatten nicht abschütteln.
„Bald“, murmelte er. Doch der Kater war nicht mehr da, um Antwort zu geben. Ohne ihn wirkte der Garten umso leerer und stiller. Einzig der Wind pfiff durch die kahlen Rosenstöcke.
Der Fürst musterte noch einmal den Grabstein. „Beschützer der Menschen. Wie lange das nun her ist.“
Er legte seine Hand auf den Marmor und Eis strömte darunter hervor. Innerhalb weniger Augenblicke bedeckte es den Stein mit einem weißen Panzer. Der Fürst seufzte und schloss seine Finger zur Faust. Es krachte. Der Grabstein fiel in sich zusammen, nichts weiter als ein Haufen Trümmer. Die Inschrift war nicht mehr zu lesen.
Der Fürst hustete wieder. „Noch so viel zu tun.“
Er wandte sich ab und machte sich ans Werk.
Der Schnee knirschte bei jedem von Samars Schritten. Im Licht der Morgensonne glitzerte er, als wären Juwelen über die Straße gestreut worden. Außer Samar gab es niemanden, der den Anblick schätzen konnte. In den Häusern und Höfen regte sich nichts, die dicke Schneeschicht trug keine Spur von Füßen, Hufen oder Wagenrädern. Alle, die früher am Stadtrand gewohnt hatten, waren ins Innere geflohen. Falls sie die vergangenen Wochen überlebt hatten.
Samar kam sich vor wie der letzte Mensch in Istradar.
Der Wind zerrte an der pelzgefütterten Kapuze, die Samar sich über den Kopf gezogen hatte. Jeden Morgen kostete es große Überwindung, das Haus zu verlassen, das Anastasias Domowoi immer schön warm hielt, obwohl das Holz knapp geworden war. Aber Samar tat es trotzdem. Vier Wochen waren lang genug, um Gewohnheiten zu entwickeln, die inmitten all der Unsicherheit eine willkommene Stütze darstellten.
Gewohnheiten wie diese hier. Samar kämpfte sich durch den Schnee, bis die Höfe zurücktraten und Feldern Platz machten. An der unsichtbaren Grenze zwischen Stadt und Umland blieb Samar stehen. In jedem anderen Jahr wären hier Menschen bis spät in die Nacht damit beschäftigt gewesen, die Ernte einzuholen. Doch Koscheis Winter hatte alles getötet, was in dieser Erde wachsen sollte. Vor Samar erstreckte sich eine weiße Einöde, nur hier und da unterbrochen von kahlen Linden und Birken, die in den blauen Himmel aufragten.
Die Landschaft wirkte nicht gerade herzlich. Aber Samar hätte alles dafür gegeben, sie betreten zu können.
Mühsam zerrte Samar sich den Handschuh von der rechten Hand. Die Finger krümmten sich unwillkürlich und suchten den flüchtigen Rest Wärme festzuhalten. Samar hob die Hand, um im Sonnenschein die Muster auf der braunen Haut zu studieren.
Die Eisblumen umfassten Samars Zeigefinger in einem zarten Band, das im richtigen Winkel bläulich schimmerte. Sie fühlten sich kühl an, wenn Samar darüberstrich, schmerzten aber nicht.
Noch nicht.
Samar holte tief Luft und trat über die Stadtgrenze hinweg.
Es begann als Kribbeln auf der Haut und steigerte sich schnell zu einem unangenehmen Prickeln und Stechen, das den ganzen Körper ergriff. Mit zusammengebissenen Zähnen machte Samar noch einen Schritt. Kälte schoss deren Arm hoch, so intensiv, als wäre er in Eiswasser getaucht worden. Die Muster um Samars Zeigefinger verdichteten sich und liefen über deren Hand. Das Blut schien Samar in den Adern zu gefrieren.
Als der Schmerz zu stark wurde, stolperte Samar mit einem erstickten Schrei zurück. Wie jeden Morgen.
Und wie jeden Morgen kehrte das Gefühl brennend in die Hand zurück. Die Eisblumen schrumpften, bis sie wieder ein zartes Muster um Samars Zeigefinger bildeten. Ein eleganter Schmuck, geradezu unscheinbar. Die schönste Fessel der Welt.
Schwer atmend wartete Samar ab, bis die Starre aus deren Gliedern gewichen war. Bei den ersten Versuchen dieser Art hatte Samar befürchtet, dass Koschei es spüren würde, wenn seine Magie sich regte. Aber er war nie erschienen, um nach dem Rechten zu sehen. Falls er mitbekam, dass Samar die Wirkungsweise seines Zaubers testete, schien es ihn nicht zu bekümmern.
Und warum sollte es auch? Der Zauber schwand nicht und ließ sich nicht in die Irre führen, ganz gleich was Samar ausprobierte. Sobald Samar die Stadt verließ, erwachte das Eis zum Leben und begann sich auszubreiten. Da Koschei Samar für die Hochzeit und das Blutopfer brauchte, das seine Kräfte wiederherstellen sollte, würde der Zauber Samar wohl nicht töten. Aber als Eisstatue könnte Samar nichts mehr unternehmen und das bedeutete genauso sicher den Tod.
Drei Wochen noch. Drei Wochen, in denen Samar irgendwie einen Weg finden musste, am Leben zu bleiben.
Angespannt stapfte Samar durch den Schnee zurück. Das Gewicht auf deren Brust wurde mit jedem Tag schwerer, an dem keine Nachricht kam. Nicht von Edik und Janka. Nicht vom Zaren. Alle schienen Istradar vergessen zu haben. Nur die Sonne strahlte über der Stadt, ein trügerisch frohes Antlitz, dafür, dass ihr Licht zunehmend an Kraft verlor.
Als das Haus in Sicht kam, in dem Samar früher mit deren Mutter gelebt hatte, erkannte Samar, dass offenbar doch nicht alle Istradar vergessen hatten. Samars Schritte wurden langsamer. Drei dick eingepackte Fremde mit Pferden standen vor dem Tor. Ihre abgetragene Kleidung verriet, dass sie eine lange Reise hinter sich hatten. Sie sahen sich suchend um.
„He!“, rief eine der Personen, als Samar näher kam. „Weißt du, wessen Haus das ist?“ Das Nicken galt dem Gebäude hinter dem Holzzaun. Dank Rozhoks Einfluss wirkte es genauso still und leblos wie die übrigen Häuser, obwohl es alles andere als verlassen war.
„Wer fragt danach?“, gab Samar zurück.
„Ich bin Nikolai, ich stehe als Bote im Dienste des Zarenpalastes von Radagrad“, stellte er sich vor. Die beiden anderen musterten Samar misstrauisch. „Ich habe eine dringende Nachricht für jemanden namens Samar. Ist das hier die richtige Unterkunft?“
Samars Herz tat einen Satz. Eine Nachricht vom Zaren. Endlich.
Unwillkürlich fuhr Samars Blick zu dem Fenster, hinter dem die Teestube lag. Anastasia verbrachte die meiste Zeit dort. Stand der Fensterladen leicht offen? Das blinde Mädchen würde die Fremden nicht mit Samar reden sehen, aber der Wind könnte die Stimmen zu ihr wehen. Das Letzte, was Samar brauchte, waren neugierige Fragen zu diesem Besuch.
„Folgt mir“, sagte Samar knapp und wandte sich ab. Nikolai sprach kurz mit den anderen, dann verriet leises Schneeknirschen, dass er Samar allein hinterherkam.
Erst eine Straße weiter, dort, wo niemand mehr wohnte, drehte Samar sich wieder zu ihm um.
„Ich bin Samar. Wie lautet die Botschaft?“
„Nichts für ungut, aber das kann jeder behaupten. Die Straßen sind voller Banditen.“ Nikolai lächelte entschuldigend. „Samar soll ein Schwert tragen, das mir beschrieben wurde. Kannst du es mir zeigen?“
Ungeduldig schlug Samar den Umhang zurück und band die Schnüre los, an denen der Säbel vom Gürtel hing. Die silbernen Verzierungen auf der blauen Scheide fingen das Sonnenlicht ein.
„Hier, zufrieden?“ Samar hielt den Säbel so, dass Nikolai ihn sehen konnte.
Der Bote trat näher heran, um die Muster zu studieren. Er war ein großer Mann, stämmig wie ein Bär, mit dem langen Schnurrbart, wie sie in Radagrad beliebt waren. Mit einer Hand tippte er den Säbel an und Samar hob ihm mit einem ungeduldigen Seufzen das Heft zum Begutachten entgegen.
Nikolai riss die Klinge aus der Scheide, so schnell, dass Samar kaum Zeit für einen erschrockenen Atemzug blieb. Im nächsten Augenblick drückte er den Säbel gegen Samars Hals.
„Ja, ich bin zufrieden“, erwiderte er leichthin. „Jetzt gib mir den goldenen Apfel und ich lasse dich am Leben.“
Samar verfluchte sich für die Unachtsamkeit. Deswegen hatte Latifa immer Samars Ungeduld gerügt – sie führte dazu, dass man Dinge übersah. Dinge, die über Leben und Tod entscheiden konnten.
„Du wagst es nicht, mich zu töten“, stieß Samar hervor. „Damit würdest du die Abmachung zwischen dem Zaren und Koschei verletzen.“
Er zuckte mit einer Schulter. „Ich weiß nichts von irgendwelchen Abmachungen.“ Ohne zu zögern, hob er die Klinge, sodass sie gegen Samars Wange ruhte, direkt unter dem rechten Auge. „Aber ich muss dich auch nicht töten. Wenn du mir den Apfel nicht gibst, werde ich dich einfach so lange foltern, bis du es dir anders überlegst.“
Es war schwer, nicht auf die Spitze des Säbels zu starren, die Samars Blickfeld auszufüllen schien. Koschei wäre es gleichgültig, ob sein Opfer ein Auge hätte oder zwei – oder gar keins.
„Wenn du mir etwas antust, beende ich mein Leben selbst“, zischte Samar. „Das wird deinen Herren nicht gefallen.“ Die Drohung hatte bei Fjodor funktioniert, der befürchtet hatte, Koschei als Ersatz seinen eigenen Sohn ausliefern zu müssen. Doch Nikolai wirkte unbeeindruckt.
„Das steht dir frei. Nachdem du mir den Apfel ausgehändigt hast.“
Samar verlagerte das Gewicht, aber Nikolai folgte der Bewegung und drückte die Klinge weiterhin gegen Samars Wange. Mit der anderen Hand nahm er die Scheide an sich.
„Hat der Zar sonst noch etwas gesagt?“, wollte Samar wissen. „Etwas über gewisse Ketten?“ Nikolai hob fragend die Augenbrauen. „Wenn du es mir verrätst, musst du mich nicht foltern. Ich gebe dir den Apfel auch so.“
Nikolai lächelte schief, als würde er kein Wort davon glauben, aber aus Gutwilligkeit mitspielen. „Ich habe ihn mit dem Zarewitsch streiten gehört. Dem anderen Zarewitsch.“ Sein Lächeln wurde breiter und Samar ging auf, dass er nur so getan hatte, als würde er Samar nicht erkennen. „Was auch immer das für Ketten sind, sie können wohl nicht repariert werden. Tut mir leid für dich, wenn das wichtig war.“
Samar wollte ihm nicht glauben, aber er hatte keinen Grund zu lügen. Samars Brust wurde eng. Mehr noch als auf Jankas Rückkehr hatte Samar auf die Abmachung mit dem Zaren gehofft, darauf, dass er die Ketten, die Koschei jahrhundertelang gefesselt hatten, gegen den letzten goldenen Apfel eintauschen würde. Aber wenn die Ketten sich nicht reparieren ließen, hatte Samar die einzige Möglichkeit verloren, Koschei gefangen zu nehmen. Der Tod erschien plötzlich unausweichlich.
Dagegen wirkten Nikolais Drohungen nahezu unbedeutend.
„Ich trage den Apfel nicht bei mir“, sagte Samar – eine dreiste Lüge, da der Apfel wie immer in Samars Mütze versteckt war. Aber Lügen fielen Samar leicht, egal wie dunkel die Stunde sein mochte. „Lass uns zusammen gehen, um ihn zu holen.“
„Oder du sagst mir, wo er ist, und ich schicke einen meiner Männer“, schlug Nikolai vor.
„Wenn du das bevorzugst.“ Samar beneidete den Mann nicht, der ungebeten Rozhoks Haus betreten sollte. Der Domowoi würde ihm den Hals umdrehen oder Schlimmeres.
Nikolais Augen verengten sich. Vielleicht war Samars Tonfall zu gelassen oder der Zar hatte seinen Boten zu Vorsicht angehalten.
Ohne Vorwarnung schlug er Samar mit der Schwertscheide ins Gesicht. Die Wucht des Hiebes warf Samar in den Schnee und fast in die Bewusstlosigkeit. Alles drehte sich. Mit dröhnendem Schädel blieb Samar zu seinen Füßen liegen.
„Ich glaube dir nicht.“ Nikolais Tonfall hatte beinahe etwas Plauderndes. „Was hältst du davon, wenn ich dir erst mal alle Kleidung vom Leib reiße, um mich zu vergewissern, dass du ihn wirklich nicht bei dir trägst? Und dann schauen wir mal, wie gut du Kälte verträgst.“
Samar biss die Zähne zusammen und stemmte sich hoch. Seelenruhig trat Nikolai vor und grub seinen Stiefelabsatz in Samars Hand. „Bleib besser unten.“
Samar entfuhr ein gequältes Keuchen. Der grelle Schmerz übertönte für einen Augenblick alles andere. Ungerührt beugte Nikolai sich vor und riss die Mütze von Samars Haar.
Sofort trat der Schmerz in den Hintergrund, alte Instinkte übernahmen. Ruckartig zog Samar an Nikolais Gürtel, um ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen. Als er ins Wanken geriet, zog Samar mit einem erstickten Schrei die Hand unter seinem Stiefel hervor. Der Lederhandschuh hatte den Druck etwas abgemildert, aber die Finger pochten trotzdem protestierend.
Ehe Nikolai mit dem Säbel ausholen konnte, sprang Samar ihn an. Zu zweit stürzten sie zu Boden, die Mütze fiel ihm zusammen mit der Scheide aus der Hand. Den Säbel verlor er nicht – es war wahrscheinlich zu viel verlangt, dass er sich im Sturz selbst damit aufspießte –, aber immerhin konnte er die Klinge auf diese Entfernung nur schlecht einsetzen. Knurrend versetzte er Samar einen Fausthieb.
Samars Kopf schwamm, während sie miteinander rangen. Blut sammelte sich in deren Mund. Samars Herz schlug hart gegen die drohende Bewusstlosigkeit an. Die ganze Welt schrumpfte auf Nikolais verzerrtes Gesicht und das Aufbäumen seines Körpers zusammen. Mit letzter Kraft hielt Samar ihn unten und die Klinge von sich weggedrückt. Wenn er es schaffte, Samar abzuwerfen, wäre alles vorbei.
Und dann bekam er Samars braune Locken zu fassen und die Welt kippte. Innerhalb eines Wimpernschlags fand Samar sich im Schnee wieder. Nikolai grub ein Knie in Samars Bauch und drückte die Klinge gegen deren Kehle. Er grinste, nur ein bisschen außer Atem, während Samars Lungen brannten.
„Möchtest du im Schnee ausbluten? Das kann ich arrangieren.“ Sein Blick fuhr zur Mütze. Etwas Goldenes lugte aus dem Innenfutter hervor und funkelte in der Sonne. „Ich glaube, ich habe schon gefunden, wonach ich suche.“
Was wäre besser – in einem magischen Ritual zu sterben oder durch die Klinge der eigenen Mutter? In Samars Kopf drehte es sich zu sehr, um solche Abwägungen anzustellen. Aber ein Teil von Samar fragte sich unwillkürlich, wie Koschei auf deren Tod reagieren würde. Hoffentlich würde er den Zaren büßen lassen …
„Ah, ah, ah.“ Von fern drang eine neue Stimme an Samars Ohr, amüsiert und voller gespielter Missbilligung. „Hände weg vom Eigentum anderer.“
Stirnrunzelnd sah Nikolai auf. „Was mischst du …“
Ein scharfes Knistern zerteilte die Luft. Mit einem Aufschrei brach Nikolai ab. Samar zuckte, als auch durch deren Körper ein heißer Schmerz schoss und deren Herz krampfen ließ. Für einen Augenblick konnte Samar nicht atmen.
„Huch. Habe ich dich etwa erwischt, Räuber Nachtigall?“ Ein leises Lachen. „Wie bedauerlich.“
Der Druck auf Samars Bauch verschwand, als Nikolai mit einem Ruck auf die Beine kam. Er schwankte, hob aber den Säbel drohend in Richtung der Gestalt, die sich ihnen ohne jede Eile näherte. Es war einer von Nikolais Reisegefährten.
„Du bist nicht Boris“, stieß Nikolai hervor.
„Das hast du richtig erkannt“, sagte der Mensch, der kein Mensch war. „Wenn auch reichlich spät.“
Diesmal sah Samar das silberne Funkeln in seinen Augen, bevor er nachlässig die Hand hob und einen gleißend hellen Blitz aus seinen Fingern schießen ließ. Nikolais Körper zuckte und krampfte, als er erfasst wurde, sein Gesicht zu einem Ausdruck des Entsetzens verzerrt. Samar drehte unwillkürlich den Kopf weg. Im nächsten Moment hörte Samar, wie sein Körper schwer auf den Boden traf. Als Samar zurückschaute, rührte er sich nicht mehr. Der Gestank von verbranntem Fleisch erfüllte die Luft.
„So viel dazu.“ Der Zmey ging neben Samar in die Hocke. Bis auf das Silber in seinem Blick sah er aus wie ein gewöhnlicher Mensch, einer von Nikolais Reisebegleitern. „Schwebst du in Lebensgefahr? Ich habe überlegt, einfach zuzusehen, wie er dich tötet, aber dann hätte ich mir hinterher Olegs Gejammer anhören müssen. Er hasst es, seine Pläne zu ändern.“
Samar schluckte schmerzhaft. „Hat der Fürst dich geschickt?“
„Er weiß noch gar nicht, dass ich zurück bin. Ich wollte ihn überraschen.“ Die menschlichen Züge verzogen sich zu einem viel zu breiten Grinsen. „Jetzt kann ich ihm die Neuigkeit überbringen, dass sich sein zukünftiges Gemahl mit dem Zaren gegen ihn verschworen hat. Dafür hat sich die langweilige Reise mit diesen Radagradern gelohnt.“
Samars Gedanken ließen sich immer noch schlecht aneinanderfügen. Einer schälte sich jedoch deutlich aus dem Nebel heraus: Die Gefahr war längst nicht vorüber.
Keuchend stemmte Samar sich hoch. „Ich habe mich nicht gegen ihn verschworen.“
„Ach nein? Und wozu brauchst du dann die Ketten des Zaren?“
Offenbar hatte er eine ganze Weile zugesehen und gelauscht, ehe er entschieden hatte, einzuschreiten und Samars Leben zu retten. Oder aber Nikolai war während des langen Ritts nach Istradar sehr gesprächig gewesen.
„Ich wollte …“ Der Schwindel kehrte mit neuer Kraft zurück. Samar musste erst eine Welle der Übelkeit zurückdrängen, ehe an weitere Worte auch nur zu denken war. „Ich wollte nur nicht, dass der Zar die Ketten behält. Hat Koschei keine Angst, dass er ihn damit wieder gefangen nehmen könnte?“
Der Zmey lachte auf. „Du lügst mit jedem Atemzug, was?“ Abrupt packte er Samar am Arm. Sein Griff war wie aus Stein. „Du kannst niemanden mehr mit diesen Ketten fesseln“, zischte er. „Kein Mensch ist in der Lage, sie zu reparieren.“
Mit einem Ruck riss er Samar in die Höhe und brachte sein breites Gesicht ganz dicht an deren heran.
„Du wirst in der längsten Nacht des Jahres sterben, hilflos und allein.“ Kleine Blitze sprangen in Samars Körper über und ließen deren Muskeln schmerzhaft zucken. „Das ist ein viel gnädigeres Ende, als ich es dir angedeihen lassen würde.“
Samar versteifte sich. Der Zmey spürte die Wünsche und Sehnsüchte der Menschen. So konzentrierte Samar jeden Funken Willen, der nicht von Schmerz und Schwindel zersetzt war, auf den dringenden Wunsch, dem Zmey jede Schuppe einzeln vom Leib zu rupfen.
Wut verdunkelte sein geborgtes Gesicht. „Du hältst dich wohl für unverwundbar, nur weil Oleg dich bis zur Wintersonnenwende am Leben lassen muss“, knurrte er. „Glaub mir, ich kann dir viel Schlimmeres antun als den Tod.“
„Bisher hast du nur wieder einmal demonstriert, wie gern du dich reden hörst“, erwiderte Samar gepresst.
Ein weiterer Blitz ließ Samars Herz zucken wie einen Fisch auf dem Ufer. Der Schmerz drang kaum noch durch, jede Kraft schien deren Körper zu verlassen. Schwärze schloss sich um Samars Blickfeld.
„Oh, aber Reden kann manchmal mehr Schmerz zufügen als alles andere.“ Der Zmey schüttelte Samar noch einmal und ließ dann los. Ohne seinen Griff sackte Samar im Schnee zusammen. „Wunderwesen halten immer ihr Wort, Räuber Nachtigall, und ich verspreche dir, dass du leiden wirst. Und dein Vater wird dich nicht retten können, egal, womit du ihn bestichst.“
Verächtlich trat er nach der Mütze. Der goldene Apfel rollte daraus hervor und blieb neben Nikolais Leiche liegen. Samar hielt erschrocken den Atem an, doch der Zmey verzog bloß das Gesicht.
„Ihr Menschen seid so erbärmlich.“
Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um und marschierte davon. So, wie er über die Straße schritt, die Schultern hochgezogen, um den scharfen Wind abzuhalten, wirkte er überaus menschlich. Kein Wunder, dass Nikolai auf der ganzen Reise nach Istradar keinen Verdacht geschöpft hatte. Sie alle mussten sich noch daran gewöhnen, dass nun Wunderwesen unter ihnen wandelten.
Samar wartete ab, bis er in der nächsten Straße verschwunden war, und griff dann hastig nach dem goldenen Apfel. Wofür auch immer er jetzt noch gut war.
„Ich verspreche dir, dass du leiden wirst“, wisperte es in Samars Kopf. Erschaudernd schlang Samar die Arme um sich. Selbst als Koscheis auserwähltes Opfer war es in Istradar nicht sicher. Samar konnte nicht aufhören zu zittern.
Samar zitterte immer noch, obwohl im Haus eine stickige Wärme herrschte. Es war schwer gewesen, sich überhaupt dorthin zu schleppen, während sich alles um Samar herum drehte und deren Körper vor Schmerz pochte. Zum Glück blieb Anastasia in der Teestube und fragte nicht nach, warum Samar wie betrunken durch den Flur stolperte. Rozhok war in der Nähe, zeigte sich jedoch nicht. In Samars Zimmer wartete dafür ein mit heißem Wasser gefüllter Zuber, der an diesem Morgen nicht dort gewesen war. Es hatte seine Vorteile, mit einem Domowoi zusammenzuwohnen.
Samar verschloss die Tür und das Fenster. Ein einfacher Riegel würde weder den Zmey noch Radagrader Gesandte aufhalten, aber es fühlte sich trotzdem etwas sicherer an. Erst dann konnte Samar sich dazu bringen, sich auszuziehen und ins Wasser gleiten zu lassen. Die Hitze war fast zu viel, doch Samar tauchte dankbar bis zum Kinn darin ein. Dampfschwaden kräuselten sich um deren Gesicht. Der goldene Apfel lag auf dem Kleiderhaufen am Boden und schimmerte im Kerzenschein.
Es dauerte eine Weile, bis Samars Herzschlag sich wieder beruhigt hatte. Das Gewicht des feuchten Haars auf deren Schultern half, ebenso wie die vertrauten Winkel des Zimmers, in dem Samar von klein auf geschlafen hatte.
Nach der Rückkehr nach Istradar hatte Samar den Wandteppich in der Teestube abgenommen und ihn hier aufgehängt, direkt gegenüber dem Bett. Darauf erhob sich die stolze Figur eines Genn-Bogenschützen am Meeresufer und blickte in die Ferne, weiteren Abenteuern entgegen. In der Legende errang er sich mit seinen Heldentaten eine Ehefrau und ein Königreich. Als Kind hatte Samar immer sich selbst in der Gestalt gesehen und von eigenen Abenteuern geträumt. Einem eigenen Königreich. Nun betrachtete Samar abends vor dem Einschlafen den Bogen über seiner Schulter und dachte an Oksana, die in Radagrad Pfeil um Pfeil abgeschossen hatte, um Samar und Janka die Flucht zu ermöglichen. Es war eine tröstliche Erinnerung, auch wenn Oksana weit weg weilte. Vielleicht lebte sie nicht mehr.
Einsamkeit durchfuhr Samar wie ein Speer. Oksana war nicht hier, ebenso wenig wie Edik und Janka. Latifa war tot. Es gab niemanden, dem Samar sich anvertrauen konnte. Niemanden, vor dem Samar sich nicht verstellen und Stärke vorgeben musste. Würde überhaupt jemand trauern, wenn der Zmey oder Koschei oder der Zar Samar tötete?
Tränen wallten in Samars Augen auf. Hastig wischte Samar sie weg, auch wenn niemand es sehen konnte. Was für ein nutzloser Zeitvertreib. Der Zmey würde höhnisch lachen.
Statt sich weiter in Selbstmitleid zu suhlen, machte Samar sich an eine Bestandsaufnahme. Deren Körper war eine Ansammlung von blauen Flecken, aber nichts schien gebrochen. Auch die von Nikolai malträtierten Finger ließen sich spreizen und krümmen, wenngleich unter Protest. Die schlimmste Nachwirkung des Kampfes waren die übelkeitserregenden Kopfschmerzen. Es fühlte sich an, als würde Samar zur Seite kippen, egal, wie fest sich deren Hände an den Rand des Holzzubers klammerten.
Obwohl es im Zimmer still war, hörte Samar Stimmen. Die von Nikolai und dem Zmey, aber auch Koscheis und Fjodors und die des Zaren. Männer, die beschlossen hatten, dass Samar sterben sollte. Ihr Wille hielt Samar gefangen wie eine Bärenfalle.
Wie würde Koschei reagieren, wenn der Zmey ihm von den Ketten erzählte, die Samar vom Zaren gefordert hatte? Würde er beschließen, das Blutritual doch noch sofort zu vollziehen? Oder würde er Samar in einen eisigen Kerker werfen und bis zur Wintersonnenwende dort einsperren?
Wie von selbst hob sich Samars Hand aus dem Wasser. Die Eisblumen schimmerten unschuldig an deren Finger.
„Hast du schon versucht, ihn abzuschneiden?“
Samar schluckte hart. Noch vor einem Monat hatte Ediks Idee so befremdlich und abwegig gewirkt, dass Samar ihn verdächtigt hatte, nach seiner Verwandlung zum Oboroten alle menschlichen Gefühle abgelegt zu haben. Aber vielleicht hatte er bloß den Ernst der Lage schneller durchschaut. Es war leicht gewesen, sich in den letzten Wochen darauf zu konzentrieren, mit den Nachtigallen Vorräte anzuhäufen und den Menschen in der Stadt zu helfen. Koscheis Winter wurde immer schlimmer. Der Kampf ums Überleben war etwas Nahes, Unmittelbares. Die Hochzeit, die Samars Tod bedeutete, schien dagegen bisher in weiter Ferne zu weilen.
Diese Illusion war nun zersprungen. Panik brodelte heiß in Samars Bauch. Auf einmal wirkte es lächerlich, sich wegen eines einzelnen Fingers zum Tode zu verdammen.
Samars Blick ging zum Säbel, der neben dem goldenen Apfel lag. Diese Klinge hätte Samar heute beinahe getötet, doch nun könnte sie deren Rettung sein. Oder lieber ein Küchenmesser? Ein Beil?
Säure kroch Samars Kehle hoch. Verdammte Sentimentalität. Vielleicht war Edik doch zu beneiden, wenn seine Verwandlung ihm solche Entscheidungen erleichterte. Schwer atmend zog Samar die Beine an und presste das Gesicht gegen die Knie. Trotz des warmen Wassers ging ein Schauder durch deren Körper.
„Samar?“
Anastasias Stimme auf der anderen Seite der Tür ließ Samar zusammenzucken. Wasser schwappte über den Zuberrand und durchnässte die Kleidung auf dem Boden.
„Ja?“, erwiderte Samar rau.
„Ist alles in Ordnung? Ich dachte, du wolltest zu Galima.“
Samar räusperte sich, um den Kloß aus dem Hals zu entfernen. „Ich … ich gehe nachher zu ihr.“
„Ich habe Pferdehufe in der Straße gehört.“
Natürlich hatte sie das. Samar kniff die Augen zusammen.
„Da waren Reiter auf der Durchreise. Ich habe ihnen geraten, Istradar zu verlassen.“
Das verbliebene Mitglied von Nikolais Truppe hatte hoffentlich genau das getan, nachdem es die Leiche des Mannes gefunden hatte. Sollte der Zar sich selbst einen Reim darauf machen, was geschehen war.
Anastasia erwiderte nicht sofort etwas. Vielleicht glaubte sie Samar nicht. Zwischen ihnen herrschte nicht gerade inniges Vertrauen. Das Mädchen schien immer noch zu warten, dass Samar sie aus dem Haus warf, und Samar rechnete jeden Tag damit, dass sie ihren Domowoi auf Samar hetzte. Bislang schafften sie es jedoch, ohne Blutvergießen in denselben Wänden zu leben.
„Zhenja war gestern hier“, sagte Anastasia schließlich. „Sie hat mit den Fischern gesprochen und sich das Eis in Ufernähe angesehen. Ihrer Meinung nach wird es mit Hacken nicht aufzubrechen sein, aber vielleicht mit Sprengstoff.“
Samar nickte vor sich hin, dankbar für die Erinnerung an die alltäglichen Probleme des Überlebens. Sie mussten die Eisdecke auf der Istra aufbrechen, um wieder Fische fangen zu können. Das war ein konkretes Problem mit einer konkreten Lösung. Samar atmete durch.
„Ich rede mit ihr. Danke.“
„Meinst du, der Fürst lässt das zu?“, fragte Anastasia zögernd. „Er hat uns bisher ignoriert, aber er wird wohl kaum übersehen, wenn wir den Fluss freisprengen. Was, wenn wir ihn damit erzürnen?“
„Soll er doch zornig sein“, stieß Samar hervor.
„Was?“
Aber Samar wiederholte es nicht, sondern starrte nur auf deren Knie. Das Eisblumenband lag kühl gegen Samars warme Haut, wie eine Berührung des Hexenmeisters selbst. Anastasias Worte verschoben etwas in Samars Innerem. Abrupt schlug die Panik zu Wut um. Letztlich war es Koscheis Wille, der Samar in Istradar festhielt und mit dem Tod drohte. Seinetwegen saß Samar nun hier und überlegte, sich den eigenen Finger abzuschneiden.
Sollte der Zmey Koschei doch erzählen, dass Samar mit dem Zaren um die Ketten gefeilscht hatte. Wenn er erwartete, dass Samar sich diesem Schicksal einfach so fügte, würde er gehörig enttäuscht werden.
„Ich habe keine Angst vor ihm“, sagte Samar, so laut, dass auch Anastasia es hörte.
„Schön für dich. Aber wir müssen trotzdem vorsichtig sein.“
Samar kletterte aus dem Zuber. Der Schwindel war noch da, doch die Muskeln schmerzten nicht mehr so sehr. Die lähmende Angst hatte sich in dem heißen Dampf aufgelöst.
Vorsicht würde Samar nicht retten. Genauso wenig wie das Warten auf Janka. Wer wusste schon, ob Edik sie überhaupt gefunden hatte. Die einzige Person, die Samar retten konnte, war Samar selbst.
Samar hob den goldenen Apfel auf und wog ihn prüfend in der Hand. Der überlebende Reiter aus Radagrad konnte noch nicht weit gekommen sein. Auch wenn die Ketten nicht zu reparieren waren, gab es andere Wege, sich den Zaren zunutze zu machen. Samar konnte den Apfel gegen Waffen und ein Heer eintauschen – menschliche Werkzeuge, um Koschei zu Leibe zu rücken. Hatte jemand schon mal versucht, den todlosen Hexenmeister in die Luft zu sprengen?
„Samar?“, erklang es durch die Tür.
„Ich komme gleich.“
Samar kleidete sich an, in Gedanken versunken. Ein Prickeln im Nacken kündigte Rozhoks Gegenwart an.
„Danke für das Bad“, sagte Samar, ohne sich zu ihm umzudrehen.
Ein seltsames Geräusch war die Antwort. Es klang wie das Quietschen eines ungeölten Scharniers. Erschrocken fuhr Samar herum und sah sich zum ersten Mal von Angesicht zu Angesicht dem Domowoi gegenüber.
„Was ist los?“, ertönte Anastasias drängende Stimme von hinter der Tür. „War das Rozhok?“
Rozhok hockte auf dem Rand des Badezubers, eine grau befellte Gestalt mit kurzen Hörnern und einem krausen Bart. Üblicherweise versteckte er sich in den Schatten und ließ sich nicht blicken. Doch nun starrte er Samar aus glimmenden schwarzen Augen an.
Oder vielmehr den Apfel in Samars Hand.
Instinktiv schlossen sich deren Finger fest darum. „Er ist hier, ja“, antwortete Samar Anastasia, ohne den Blick vom Domowoi abzuwenden. „Weißt du, was das ist?“, fragte Samar ihn und bemühte sich um eine ruhige Stimme.
Rozhok nickte. Samar hatte keine Ahnung, wie sein Gesichtsausdruck zu deuten war, aber zumindest griff er nicht auf der Stelle an.
Langsam ließ Samar den Apfel in die Gürteltasche gleiten, um die Hände frei zu haben. Der Domowoi gab wieder dieses seltsame Quietschen von sich, seine Züge verzerrten sich. Wie er so auf dem Zuber hockte, befand er sich genau auf Samars Augenhöhe. Nur wenige Schritte lagen zwischen ihnen.
„Lass mich rein!“, verlangte Anastasia alarmiert und klopfte ungeduldig gegen die Tür.
„Willst du ihn haben?“, hakte Samar beim Domowoi nach.
Wieder nickte er. „Meisssterin“, zischte er. „Meisssterin soll ihn haben.“
Samar versteifte sich. Der Domowoi hatte noch nie zuvor gesprochen, zumindest nicht in Samars Gegenwart.
Anastasias Hämmern brach ab. „Was … was soll ich haben? Wovon sprichst du, Rozhok?“
Sein Blick flackerte in Richtung der Tür. „Der Apfel desss Zzzaren. Der goldene, goldene Apfel.“
Samar bückte sich nach dem Säbel, ließ den Domowoi dabei jedoch nicht aus den Augen. Er zischte. Der Riegel vor der Tür schob sich mit einem Ruck zurück, ohne dass jemand ihn berührt hätte. Anastasia stolperte fast hindurch und fing sich im letzten Moment am Türrahmen ab.
„Der Apfel?“, wiederholte sie atemlos. „Einer von denen aus Radagrad? Ich dachte, die sind alle verbrannt?“
„Woher weißt du das?“, fragte Samar scharf.
Das Mädchen nickte in Rozhoks Richtung. „Es gibt Domowois in Radagrad, genauso wie hier, und sie reden alle miteinander.“
Samar blinzelte verdutzt. Noch nie war Samar in den Sinn gekommen, dass Wunderwesen ebenso tratschen mochten wie Menschen. Nur dass ihr Austausch offenbar nicht im selben Raum stattfinden musste.
„Gib mir den Apfel“, forderte Anastasia, ohne Samars Antwort abzuwarten. Ihr Gesicht war leichter zu lesen als Rozhoks – ihre Wangen waren gerötet vor Aufregung, ihre blicklosen Augen funkelten, sie hatte sich unwillkürlich in Samars Richtung vorgebeugt. „Was willst du dafür haben?“
Samar hielt den Säbel so, dass er leicht zu ziehen war, beließ die Klinge aber noch in der Scheide. Sinnierend wanderte Samars Blick zwischen Anastasia und Rozhok hin und her.
„Wozu brauchst du ihn?“
Anastasia presste kurz die Lippen zusammen. „Das geht dich nichts an.“
Wusste sie, dass diese Äpfel Jankas Schwachstelle waren? Seitdem Janka sie aus Versehen geblendet hatte, machte Anastasia keinen Hehl aus ihrem Hass auf den Feuervogel. Sah sie nun ihre Chance auf Rache gekommen?
Aber Janka befand sich nicht einmal in Istradar. Wer wusste schon, ob sie tatsächlich zur Wintersonnenwende zurückkehren würde.
Samars Probleme hingegen duldeten keinen weiteren Aufschub.
Eben hatte Samar noch mit dem Gedanken gespielt, den Apfel gegen ein Heer aus Radagrad einzutauschen. Aber warum sollte Samar sich auf das Wort des Zaren verlassen, der schon einmal jemanden ausgeschickt hatte, um zu rauben, was er wollte? Hier in Istradar gab es auch ein Heer. Samar musste es nur hinter sich versammeln und in die richtige Richtung lenken.
„Ich gebe dir den Apfel. Aber erst musst du mich bei der nächsten Nachtigallenversammlung unterstützen.“
Anastasias Stimme hatte viel Gewicht bei den Nachtigallen, da ihr Haus dank Rozhok der einzige sichere Ort in der ganzen Stadt war. Sie übernahm auch die Kommunikation zwischen den Mitgliedern. Das Mädchen straffte die Schultern, immer noch begierig, aber gleichzeitig von Misstrauen erfüllt.
„Wobei denn?“
Samars Blick fiel erneut auf den Helden auf dem Wandteppich, wie auf der Suche nach Zuspruch. Er schaute in die Ferne, zu allem bereit. So jemand bat mit Sicherheit nicht um Hilfe oder wartete auf Rettung. Er schmiedete seine Zukunft selbst.
„Es ist an der Zeit, dass wir herausfinden, wie unsterblich der Fürst wirklich ist.“
Noch in derselben Nacht rief Anastasia in Samars Namen die Nachtigallen zusammen. Sie trafen sich wie üblich in dem Haus, über das Rozhok wachte. Schon Samars Mutter hatte in der Teestube Nachtigallengeschäfte besprochen und die meisten, die eintrafen, ließen sich wie selbstverständlich auf den bunten Sitzkissen im Raum nieder.
Es gab einige Neuankömmlinge wie Zhenja – als Zhan war sie früher keine Tochter der Nachtigallen gewesen, da Latifa und Firaya nur Fremdländerinnen aufgenommen hatten. Aber auch Galima war damals noch keine Nachtigall gewesen. Samar hatte sich persönlich dafür eingesetzt, Zhanka für ihre Reihen zu gewinnen. In diesen gefährlichen Zeiten hieß es, zusammenzuarbeiten oder zu sterben.
„Herzlich willkommen. Danke, dass ihr gekommen seid“, sagte Anastasia, als das gute Dutzend Nachtigallen Platz genommen hatte und mit Tee versorgt war. Sie war eine der Jüngsten im Raum, aber mit Rozhoks dräuender Gestalt im Augenwinkel wagte es niemand, ihr die Begrüßung streitig zu machen. Sie wirkte selbstsicher und erwachsen, wie sie am quadratischen Tisch in der Mitte der Teestube saß, Latifas blauen Schal um die Schultern. „Bitte denkt daran, diesen Raum nicht ohne meine Erlaubnis zu verlassen. Rozhok hat es nicht gern, wenn fremde Menschen durchs Haus wandern.“
Sie sagte es in einem beiläufigen, freundlichen Tonfall, aber Samar spürte förmlich den Schauder, der bei ihren Worten durchs Zimmer ging. Die meisten Anwesenden hatten bereits nähere Bekanntschaft mit dem Domowoi geschlossen, als ihnen lieb war.
„Wer hat das schon gern?“, erwiderte Galima neben ihr und lachte gutmütig. „Rozhok und dir gebührt wie immer unser Dank, Nastja.“
Die Genn-Hehlerin wirkte wie eine freundliche Großmutter, aber hinter ihrem herzlichen Lächeln verbargen sich ein scharfer Verstand und eine gute Menschenkenntnis. Nach Latifas Tod hatte sie den Nachtigallen so etwas wie eine Struktur gegeben, einen Hafen in all der Ungewissheit. Aber gerade da sie so darauf fokussiert war, alles zusammenzuhalten, scheute sie vor Risiken zurück. Und Samar musste sie davon überzeugen, das größte denkbare Risiko einzugehen.
„Ich habe um dieses Treffen gebeten, weil ich denke, dass wir unsere Strategie verändern müssen“, sagte Samar ohne Umschweife. Galima bestand immer darauf, dass Samar mit ihr und Anastasia am Tisch in der Mitte des Zimmers saß, auf Latifas Platz. Genau dort, wo Samar nie hatte sein wollen. Doch in diesem Augenblick fühlte es sich richtig an. Nur von diesem Platz aus konnte Samar etwas bewegen.
„Hm“, gab Galima nachdenklich von sich und nippte an ihrem Kräutertee. „Inwiefern verändern?“
„Wir haben uns seit der Machtübernahme des Fürsten darauf konzentriert, Vorräte aufzubauen und zu verteilen, uns auf den vorzeitigen Wintereinbruch vorzubereiten und unsere Toten zu begraben.“ Samar ließ den Blick über die Anwesenden wandern; die Erinnerung an die beiden Nachtigallen, die ihr Leben bei einem Attentatsversuch auf Koschei verloren hatten, wog schwer auf ihnen allen. „Aber es wird von Tag zu Tag kälter und jetzt ist auch der Fluss zugefroren. Der Fürst muss keinen Finger rühren, um uns zu töten – wenn das so weitergeht, überleben wir die Wintersonnenwende nicht.“
Ich überlebe die Wintersonnenwende nicht.
„Du hast eine Idee, wie wir das ändern können?“, erkundigte sich Galima. Ihre dunklen Augen fokussierten sich mit neuer Schärfe auf Samar, die lachende Wärme fiel von ihr ab.
„Wir müssen unsere Bemühungen darauf wenden, ihn zu töten“, sagte Samar geradeheraus.
„Aber er ist unsterblich!“, kam sofort der erwartete Protest.
„Das heißt nicht, dass er nicht verletzt werden kann. Vielleicht so stark, dass er die Flucht ergreift oder der Winter nachlässt, den er mit sich gebracht hat.“
„Amira und Soraya haben es versucht“, erinnerte Djamila dunkel. „Er hat sie abgeschmettert wie Fliegen und seine Wunden sind sofort wieder verheilt.“
Samar spürte das Gewicht aller Blicke auf sich und hielt sich sehr gerade. „Das waren zwei Frauen mit Dolchen, die nicht darauf vorbereitet waren, ein Wunderwesen anzugreifen. Wir wissen es inzwischen besser.“
„Hast du etwas vom Feuervogel gehört?“, fragte Galima. Anastasia presste die Lippen zusammen, behielt ihre Meinung über Janka jedoch für sich.
„Nein, noch nicht. Sie wird zur Wintersonnenwende hier sein.“ Zumindest hoffte Samar das. „Darauf können wir nicht warten.“
„Aber ohne den Feuervogel sind wir auch nur Frauen mit Dolchen“, wandte Djamila ein.
Samar versteifte sich. „Nicht alle von uns sind Frauen. Und uns stehen nicht nur Dolche zur Verfügung.“
„Ah, ich meinte nicht …“
Doch Samar ließ ihr keine Gelegenheit für eine Entschuldigung. „Zhenja, du hast vorgeschlagen, die Eisdecke auf der Istra zu sprengen.“
Die Zhan zuckte zusammen. Offenbar hatte sie nicht erwartet, direkt angesprochen zu werden.
„Nicht die gesamte Eisdecke, nur ein paar Löcher zum Fischen. Das Eis ist sehr dick, aber mit einigen gezielt angebrachten Sprengladungen könnte es funktionieren.“
Samar nickt knapp. „Was ist, wenn wir diese Sprengladungen stattdessen dafür nutzen, den Fürsten in die Luft zu jagen?“
Zhenja öffnete den Mund, bekam aber kein Wort heraus. Von den anderen Nachtigallen brandeten dafür umso heftiger Fragen und ungläubige Rufe auf.
„Wie stellst du dir das denn vor? Wir können ihm kaum einen Sturmtopf ins Bett schmuggeln!“
„Werden seine Wunden nicht auch dann heilen?“
„Wir müssten ihn überraschen …“
„… wird uns alle umbringen!“
Die Worte spülten über Samar hinweg, alles wie erwartet. Natürlich hatten sie Angst. Koschei schien eine Naturgewalt zu sein, der keine Menschen beikommen konnten. Aber Samar wusste auch, dass es einige unter ihnen gab, die das Warten und Nichtstun leid waren. Die fünfzehnjährige Nasrin, früher eines von Galimas Straßenkindern, sah Samar mit einem Leuchten in den Augen an, das eben nicht da gewesen war. Die Aussicht, endlich gegen die Bedrohung vorzugehen, hatte etwas Berauschendes, das Samar selbst verspürte.
Galima drehte nachdenklich einen ihrer Schläfenringe zwischen den Fingern. Sie wirkte nicht berauscht. Stattdessen schien ihr prüfender Blick Samar zu durchbohren. Anastasia trank ihren Tee und wartete, dass der Tumult abebbte.
Aus einem Tabaksbeutel holte Samar Pfeife und Kraut hervor. Beides hatte Latifa gehört und Samars Finger verweilten kurz auf der roten Stickerei, die den Lederbeutel zierte: eine singende Nachtigall. Während Samar sich ohne Eile die Pfeife an einer der Kerzen anzündete, musterte Galima den Beutel mit einem traurigen Lächeln. Sie kannte das Ritual ebenso wie Samar, hatte sie doch oft genug an diesem Tisch mit Latifa zusammengesessen. Auch die anderen Nachtigallen verstummten nach und nach, als sie es sahen.
Samar atmete würzigen Rauch ein und stellte sich vor, damit etwas von Latifas Präsenz in sich aufzunehmen.
„Es gibt viele Ungewissheiten“, sagte Samar endlich, als es wieder still war. „Wir müssten uns genau überlegen, wie und wann wir zuschlagen. Aber er wird den Angriff nicht kommen sehen, weil er uns Menschen unterschätzt. Und er wirkt verwundbar – ist es nicht so, Galima?“ Samar wandte sich der alten Genn zu. „Du hast von seinen Hustenanfällen berichtet, davon, wie er sich in die Banja flüchtet.“
Langsam nickte sie. „Er scheint krank zu sein.“
„Dann sollten wir angreifen, ehe er gesundet.“
„Wir wissen nicht, ob er je wieder gesunden wird“, gab Galima zu bedenken. „Vielleicht wird er immer kränker und der Winter lässt von selbst nach.“
In diesem Augenblick war Samar mehr denn je versucht, den Nachtigallen die ganze Wahrheit zu erzählen: dass Samar ein Kind des Zaren war und sterben sollte, um Koscheis Kräfte wiederherzustellen. Dass sie nicht viel Zeit hatten, um seine Schwäche auszunutzen. Es wäre so eine Erleichterung, dieses Geheimnis nicht mehr hüten zu müssen. Endlich die eigene Angst zu offenbaren.
Aber so sehr es Samar auch danach drängte, so sehr riet eine innere Stimme zur Vorsicht. Die Nachtigallen hassten den Zaren, erst recht, nachdem Fjodor mit der Radagrader Armee Istradar eingenommen hatte. Die Wahrheit über Samars Abstammung würde nur Misstrauen schüren. Ganz zu schweigen davon, dass sie auf die Idee kommen könnten, Samar zu töten, bevor Koschei von dem Blutopfer profitieren konnte.
Nein, das Risiko war zu groß. Samars Leben hing von diesen Menschen ab, aber das bedeutete nicht, dass Samar ihnen vertrauen konnte.
Gut, dass es andere Werkzeuge als Vertrauen gab.
Samar nahm noch einen Zug von der Pfeife und stieß unter dem Tisch unauffällig Anastasias Bein an. Das Mädchen straffte die Schultern und ließ die Teetasse sinken.
„Wir wissen nicht genug, um über die Gesundheit des Fürsten spekulieren zu können“, sagte sie, ehe sich aufs Neue eine Diskussion entspinnen konnte. „Aber darauf zu hoffen, dass sich alles schon von selbst löst, klingt für mich naiv. Nichts für ungut, Galima.“ Sie lächelte in ihre Richtung. „Ich finde, Samar hat recht. Es wird Zeit, etwas zu unternehmen.“
Samar atmete auf. Offenbar wollte Anastasia diesen goldenen Apfel wirklich dringend, wenn sie dafür so gegen Galima vorzugehen bereit war.
„Du hast gut reden“, sagte Djamila und schnaubte. „Ist ja nicht so, als würdest du dich selbst in Gefahr bringen, du sitzt doch nur in diesem Haus herum.“
Das missfiel Rozhok. Er stieß einen metallischen Laut aus, ein Knirschen wie das Ausschaben eines rostigen Kessels. Die Kerzen brannten genauso hell wie zuvor, doch auf einmal schien der Raum voller Schatten zu sein. Der Pfeifenrauch hing dicht und schwer zwischen ihnen.
„Das war natürlich nicht als Vorwurf gemeint“, beeilte Galima sich zu sagen.
Djamilas Gesicht hatte an Farbe verloren. „Nein, nein, natürlich nicht“, murmelte sie hastig. „Tut mir leid.“
Anastasia nickte ihr hoheitsvoll zu. „Ich nehme dir deine Worte nicht übel, aber danke für die Entschuldigung.“ Die Schatten lichteten sich wieder etwas.
„Wir sterben doch eh alle, wenn der Winter noch schlimmer wird“, sagte Nasrin. Ihre Stimme klang laut in der unbehaglichen Stille. „Ich treffe meinen Tod lieber im Kampf als zitternd und halb verhungert im Keller.“
Etwas Schweres ließ sich auf Samars Brust nieder. Nasrin wirkte geradezu aufgeregt. Sie sprach zwar über ihren Tod, aber sie sah darin nur die Möglichkeit einer Heldentat, nicht das abrupte Ende ihres Lebens. Samars Mutter hätte nie ein halbes Kind in solche Gefahr gebracht.
Doch Nasrins Worte hatten ein zustimmendes Raunen im Zimmer zur Folge. Einzig Galimas Gesicht verdüsterte sich und sie maß Samar mit einem gewichtigen Blick. Auch sie dachte vermutlich daran, dass Latifa so etwas nie zugelassen hätte. Samar nahm einen weiteren Zug von der Pfeife und nestelte unruhig an dem Tabaksbeutel herum. Der Rauch hatte nichts Tröstliches mehr.
Zhenja räusperte sich, ehe Samar sich durchringen konnte, noch etwas zu sagen.
„Ich habe nicht genug Schwarzpulver“, sagte sie. „Zumindest nicht, wenn wir eine große Explosion wollen. Meine letzte Lieferung wurde vor zwei Monaten im Hafen beschlagnahmt und ich habe keine Möglichkeit, Nachschub zu besorgen.“
Dankbar wandte Samar sich diesem unmittelbaren Problem zu. „Weißt du, wo deine Lieferung hingebracht wurde?“
Zhenja zuckte mit den Schultern. „Ins Zollhaus, nehme ich an.“
Das Zollhaus befand sich im Kreml, wie alle anderen wichtigen Verwaltungsgebäude. Seit Koscheis Einmarsch war niemand mehr hinter den Mauern hervorgekommen und niemand hatte sich hineingewagt.
Angst schnürte Samar die Kehle zu bei der Aussicht, Koschei wieder zu begegnen. Noch dazu jetzt, nachdem der Zmey ihm vermutlich längst vom Zaren und den Ketten berichtet hatte.
Aber Samar konnte niemanden in diesen Kampf schicken, ohne bereit zu sein, sich selbst zu riskieren.
„Ich werde morgen in den Kreml gehen und danach suchen“, sagte Samar. Unter dem Tisch ballte sich deren Hand zur Faust.
„Ich begleite dich!“, sagte Nasrin sofort.
Alarmiert fuhr Samars Kopf herum. „Nein, das wird nicht nötig …“
„Ich ebenfalls“, fiel Zhenja Samar ins Wort. „Ich weiß, wie die Lieferung aussieht.“
„Wir müssen uns nicht alle in Gefahr bringen“, versuchte es Samar erneut. „Ich gehe allein.“
„Allein bist du in viel größerer Gefahr“, hob nun auch Djamila an. „Wenn wir gegen den Fürsten kämpfen wollen, müssen wir eh den Kreml auskundschaften.“
Fassungslos sah Samar von einer zur anderen, doch sie blickten voller Entschlossenheit zurück. Auf einmal fühlte sich Samars Mund ganz trocken an und es wollten sich keine Worte mehr formen.
Eine Berührung ließ Samar zusammenzucken. Galima hatte eine Hand über Samars Faust gelegt.
„Auch der Räuber Nachtigall braucht mal Unterstützung. Wir halten zusammen.“
Es war Samar, als schwinge ein Echo von Latifa in den Worten mit. Samar schluckte und nickte.
Das schlechte Gewissen wog immer schwerer.
Samar hätte sich nie vorstellen können, das Rusalka-Tor einmal sperrangelweit offen stehen zu sehen. Nicht nur offen – es war nicht mal mehr mit den Mauern verbunden. Eine unfassbare Kraft hatte es aus den Angeln gehoben und achtlos zu Boden geworfen, wo es halb von Eiskristallen überwuchert war. Zwischen den grauen Steinmauern gähnte nun eine große Öffnung, ohne jede Bewachung. Auch auf den Zinnen war niemand zu sehen. Der Kreml lag wie verlassen da.
„Sieht aus wie eine Falle“, kommentierte Djamila. Ohne sich abgesprochen zu haben, waren sie alle vor dem Tor stehen geblieben. Offenbar verspürte nicht nur Samar ein lähmendes Unbehagen bei diesem Anblick.
Nasrin hob einen Stein auf und warf ihn mit aller Macht Richtung Tor. Er verschwand zwischen den Mauern und traf dumpf auf der anderen Seite auf. Nichts und niemand reagierte darauf.
„Vielleicht ist er nicht zu Hause“, meinte sie.
„Oder es interessiert ihn nicht, was wir Menschen tun, weil er denkt, dass wir keine Gefahr darstellen“, fügte Samar an.
Zhenja äußerte sich nicht, nur ihr Stirnrunzeln wurde tiefer. Samar überlegte nicht zum ersten Mal an diesem Morgen, sie zu fragen, ob sie nicht doch noch umkehren wollte. Aber Samar wollte die einzige Zhan unter ihnen auch nicht vor den anderen bloßstellen.
„Bleibt leise und vorsichtig“, mahnte Samar stattdessen alle. „Wir gehen zum Zollhaus, holen das Schwarzpulver und verschwinden. Beim kleinsten Anzeichen von Gefahr verstecken wir uns, verstanden?“
Nasrin verdrehte die Augen. „Mit Verstecken wirst du ihn aber nicht töten.“
„Um ihn zu töten, brauchen wir einen Plan. Den wir zurzeit nicht haben. Ich will Galima nicht deinen Leichnam zurückbringen.“
Nasrin biss sich auf die Unterlippe und nickte widerwillig.
Samar führte sie an, als sie durch das Tor gingen. Die anderen waren noch nie im Kreml gewesen, doch auch Samar musste sich erst mal neu orientieren. So vieles hatte sich verändert, seit Samar als Oksanas Gast – Geisel – hier gewesen war.
Damals war der Kreml voller Leben gewesen. Auf den gepflasterten Wegen hatten hohe Herrschaften in prächtigen Kleidern flaniert, Kinder Ball gespielt und Kaufleute frischen Kwas gekauft und lautstark diskutiert. Im Schatten von duftenden Fliederbäumen waren Sperber in ihren blauen Uniformen marschiert, den Blick immer wachsam auf die Umgebung gerichtet. Samar war als Ehrengast der Großfürstin durch den rosenbewachsenen Garten gewandert und hatte sich in naiven Träumen darüber verloren, wie es wohl sein mochte, so etwas sein Eigen zu nennen.
Nun hätte selbst Oksana ihren Kreml kaum wiedererkannt. Die blauen und gelben Häuserfronten waren von Eiskristallen bedeckt, die Schicht so dick, dass es wie eine glitzernde Panzerung wirkte. Die Türen und Fenster waren zugefroren. Wer diese Gebäude nicht rechtzeitig verlassen hatte, war darin verhungert, wenn die Kälte nicht schneller gewesen war. Die Bäume und Büsche hatten ihr Laub und ihre Blüten verloren. Ihre kargen Äste zierten an manchen Stellen bunte Stofffetzen, als wären Kleider oder Umhänge bei einer hastigen Flucht daran hängen geblieben. Es war so kalt, dass die Luft bei jedem Atemzug brannte.
Nasrin gab einen schrillen Schrei von sich. Samar fuhr herum, den Säbel gezückt. Das Mädchen hatte einen der Stände näher betrachtet, an dem früher Teigtaschen verkauft worden waren. Als Samar sich ihr näherte, offenbarte sich hinter dem Stand ein grausiger Anblick: zwei reglose Körper, fest aneinandergeklammert, ausgedörrt und wächsern, wo sie unter der Schneedecke hervorschauten, die die beiden begraben hatte.
Offenbar waren nicht alle Menschen rechtzeitig geflohen.
Djamila zog Nasrin weg und wandte sich selbst schnell ab, das Gesicht verzogen. Zhenja ging neben den Toten in die Hocke und betrachtete sie mit sachlichem Interesse.
„Ich habe nur einmal eine Leiche gesehen, die diesen hier ähnelte – die eines Mannes, der in den Bergen von einer Lawine verschüttet und erst Jahre später gefunden wurde.“
„Vor dieser Lawine ist man nirgends sicher“, murmelte Samar. Was für ein nutzloser Tod. Samar bezweifelte, dass der Verkauf von Teigtaschen eine Gefahr für Koschei dargestellt hatte. Aber vielleicht hatten die beiden ihn bei seiner Neugestaltung des Kreml gestört. Menschenleben waren ihm offenbar gleichgültig.
Das kalte Band um Samars Zeigefinger pochte.
Sie setzten ihren Weg fort. Auch Nasrin bewegte sich jetzt langsamer und vorsichtiger. Nun, da Samar darauf achtete, waren die Leichen nicht zu übersehen, die zwischen Häusern, in den Höfen und auf offener Straße verstreut lagen. Die Körper wirkten wie beiseitegeworfen, als hätte Koschei sie mit einer beiläufigen Geste aus dem Weg gewischt. Samar versuchte, darin nicht die Zukunft der Nachtigallen zu sehen.
Samar steuerte gerade das Zollhaus an, als ein Funkeln vom Hinrichtungsplatz deren Aufmerksamkeit erregte. Nach kurzem Zögern bedeutete Samar den anderen, zurückzubleiben, und schlug die Straße zum Platz ein.
Wo sonst blutige Urteile vollstreckt wurden, glänzte die Sonne nun auf goldenen Vasen und edelsteinbesetzten Kerzenleuchtern. Farbenfrohe Stoffballen stapelten sich neben Körben voller Samtpantoffeln und Pelze, sanft von Schnee bedeckt. Prächtig bemaltes Geschirr lag überall auf dem Platz verteilt, teilweise in Scherben, teilweise an Ort und Stelle festgefroren. Alle Kostbarkeiten des Kreml waren unter freiem Himmel ausgebreitet, Sonne, Wind und Schnee preisgegeben, als wären sie nicht mehr wert als Kieselsteine.
Ein Pfeifen ließ Samar zusammenzucken. Die drei Nachtigallen hatten sich ebenfalls zum Platz geschlichen und starrten nun beeindruckt auf die Reichtümer.
Djamila pfiff erneut. „Das nenne ich mal ein reichhaltiges Büfett!“
„Sieht immer mehr nach einer Falle aus“, kommentierte Zhenja und beobachtete aufmerksam die umstehenden Häuser. Auch Samars Nerven waren zum Zerreißen angespannt. Was bezweckte Koschei mit dieser Zurschaustellung? Wollte er sehen, wer von den Schätzen angezogen wurde?
„Behaltet die Umgebung im Auge“, sagte Samar knapp und trat vorsichtig vor, um sich das Ganze näher anzuschauen. Falls es eine Falle war, hatte Samar von ihnen allen am wenigsten zu befürchten.
Es sei denn, Koschei hatte es sich anders überlegt und wollte sein Zarenblut schon vor der Wintersonnenwende vergießen. Oder der Zmey hatte die Geduld verloren.
Langsam bewegte Samar sich über den Platz. Festgefrorene Gänsefedern knirschten unter Samars Stiefeln. Die dazugehörigen Kissen lagen ausgeweidet daneben. Ein dicker Wandteppich, der den Kreml und die Stadt abbildete, war mit etwas besudelt, das aussah wie Blut.
„Siehst du was zu essen?“, rief Djamila herüber.
„Nein. Aber genug Schätze, um uns alle reich zu machen.“ Samar griff in einen silbernen Weinpokal und zog eine Perlenkette mit einem großen Anhänger aus Onyx heraus. Der Edelstein war mit Reif überzogen.
„Schätze halten uns nicht warm und füllen auch nicht die Bäuche unserer Kinder“, erwiderte Djamila ungeduldig. „Wenn das hier nur der Inhalt irgendeiner Schatztruhe ist, brauchen wir keine Zeit damit zu verschwenden.“
Sie hatte recht und Samar warf die Perlenkette widerwillig beiseite. Aus dem Augenwinkel sah Samar, dass auch Nasrin sich auf den Platz getraut hatte und mit berechnendem Gesichtsausdruck in einem funkelnden Haufen Schmuck wühlte. So viel dazu, dass die Nachtigallen auf Samars Befehle hören sollten.
„Die Pelze werden uns warm halten“, rief Samar Djamila zu und steuerte auf die Körbe zu, die halb unter Schnee begraben waren.
Schon der erste Blick verriet, dass es sich bei den Pelzen nicht um Eichhörnchen oder Kaninchen handelte, sondern um wertvollen Zobel. Vorsichtig strich Samar etwas Schnee beiseite und zog einen Mantel mit einem Innenfutter aus Zobelköpfen hervor. Das Fell schmiegte sich weich an Samars Finger. Hatte Oksana diesen Mantel getragen?
Mit einer seltsamen Mischung aus Trotz und Sehnsucht streifte Samar ihn sich über. Fühlte sich so eine Großfürstin?
„Achtung!“, schrie Zhenja.
Samar fuhr herum und sah, wie sich der Schnee auf den Körben erhob. Es war immer noch völlig windstill, doch die Schneeflocken wirbelten in die Höhe wie bei einem Sturm. Gänsehaut überzog Samars Arme. Die Luft knisterte.
Instinktiv hielt Samar den Säbel vor sich, auch wenn die Geste so aussichtslos war wie der Versuch, die Strömung eines Flusses mit den Händen aufzuhalten.