Der Flammen-Kreisel - Paul Rosenhayn - E-Book

Der Flammen-Kreisel E-Book

Paul Rosenhayn

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Beschreibung

Der Sammelband von Kriminalgeschichten erhält die Erzählungen "Der Flammen-Kreisel",  "Ein Streifen Blau-Papier", "Der späte Kunde", "Der Schrei" und "Drei gefährliche Mäntel". In der Titelerzählung "Der Flammen-Kreisel" jagt Paul Rosenhayns berühmter Detektiv Joe Jenkins mit höchst ungewöhnlichen Mitteln – die unter anderem einen Auftritt als entflohenen Sträfling, der einen Zug stoppt, beinhalten – den verbrecherischen Baron van Emmerinck. Hierbei spielt die halsbrecherische Zirkusnummer des Flammen-Kreisels eine wichtige Rolle: Artist Gallante wurde vom Baron erpresst, hat sich aber nun um Hilfe an Joe Jenkins gewandt. Doch jede kleinste Beeinträchtigung seiner rasenden Motorradfahrt auf dem Flammen-Kreisel müsste ihm unweigerlich das Leben kosten, und das weiß der Baron Emmerinck ebenfalls ...  Auch die anderen Erzählungen haben es in sich: In "Der späte Kunde" sieht sich ein Herrenschneider mit einer Bande von skrupellosen Betrügern und Räubern konfrontiert. Und in "Der Schrei" – ein kunstvoller Monolog, der in seiner brutalen Unerbittlichkeit an Meistererzählungen von Edgar Allan Poe erinnert – wird dem raffinierten Mörder eine Grammofonplatte zum Verhängnis. Alle fünf Erzählungen zeigen Paul Rosenhayn als einen Meister der deutschen Kriminalliteratur des frühen 20. Jahrhunderts.-

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Der Flammen-Kreisel

Paul Rosenhayn

Der Flammen-Kreisel

© 1930 Paul Rosenhayn

Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen

All rights reserved

ISBN: 9788711592670

1. Ebook-Auflage, 2016

Format: EPUB 3.0

SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com.

Der Flammen-Kreisel

Der Expreßzug Madrid-Paris, auf dessen Wagendächern noch der Staub der Pyrenäen lag, donnerte über die Weichen des Vorstadtbahnhofs.

In schmetternden Schlägen warfen die Wände des kleinen Stationsgebäudes das Geräusch der rollenden Räder zurück.

Das Dunkel nahm den Zug auf. Rechts und links der Schienen dehnte sich tiefer Wald; taktmäßig huschte das Licht der Waggons an den Baumstämmen vorüber.

Der Mann, der langsam die Böschung heraufkroch, legte das Ohr lauschend auf den Schotter des Bahndamms. Er wandte den Kopf und spähte nach Süden; dort hinten, im Dunst der Ferne, tauchten zwei Lichter auf. Er schwang sich hastig über die Ginsterbüsche und rannte wie einer, der verfolgt wird, quer hinüber zum Stellwerk.

Grünes Licht blinkte ihm entgegen: Freie Fahrt.

Ein Geräusch kam aus dem Dunkel. Er duckte sich lautlos. Deutlich ging durch die Stille der rhythmische Klang, der rollend vor dem Expreßzug einherlief.

Er kroch hinüber. Dort war das Rad, das den Mast des Vorsignals bediente.

Der Himmel jenseits des Waldes schimmerte rötlich: im Widerschein der Lichter von Paris. Schon trat die funkelnde Spitze des Eiffelturms aus dem Nebel hervor.

Plötzlich zerriß ein gellender Pfiff der Lokomotive die Stille. Gleich darauf kreischten die Bremsen. Das helle metallische Klingen der Räder ging in ein dunkles Rollen über — Puffer stießen dumpf zusammen: der Zug stand. Auf freier Strecke.

Fenster öffneten sich geräuschvoll. Neugierige blickten in die Dunkelheit hinaus. Die Schaffner eilten an den Wagen entlang — der Lokomotive zu. Der Führer beugte sich weit aus seinem Stand. Er wies mit der Hand nach vorn. Dort, beim Kilometerstein 32,5, stand das Signal auf Halt!

In hastigem Lauf erschien der Wärter der Blockstation. Er rief dem Zugführer etwas zu, was dieser nicht verstand; der Wärter winkte. Die beiden gingen eilig und verstört zur Lokomotive.

„Das Signal muß von fremder Hand gezogen worden sein!“

Der Lokomotivführer schüttelte den Kopf.

„Kann man bei euch so einfach die Streckensignale stellen, Papa Benoit? Ohne daß ein Mensch es merkt? Ich glaube, wir werden alt, Papa Benoit!“

Der Zugführer nahm brummend das Notizbuch, schrieb ein paar Worte hinein. Pierre Loubet, der Hilfsschaffner, drückte dem Streckenwärter den Bleistift in die Hand; nicht ohne Widerstreben setzte Papa Benoit seinen Namen unter die Meldung. — —

Der Hilfsschaffner Pierre Loubet kehrte in sein Dienstabteil zurück. Er hörte das Zischen des Dampfes, der, wie in der Freude der neugewonnenen Freiheit, den Ventilen entströmte. Die Lichter draußen glitten vorüber. Der Zug hatte sich wieder in Bewegung gesetzt.

Loubet schlug fröstelnd den Kragen seines Mantels hoch. Er steckte die kurze Holzpfeife in den Mund; sie war kalt. Er zog ein Streichholz und drückte sich in die Ecke seines hölzernen Sitzes. Mißmutig entzündete er das Hölzchen an der Stiefelsohle.

Noch eine halbe Stunde; dann war man in Paris. Dann war der Dienst zu Ende. Er freute sich auf sein warmes Bett.

Er setzte paffend die Pfeife in Brand und warf das Zündholz auf die Strohmatte. Ein paar glühende Ascheteilchen fielen in den trockenen Staub. In einer Masche des Geflechts glühte ein Funke auf. Loubet blickte zur Seite, ohne des kleinen Brandherdes gewahr zu werden, zum Fenster hinaus. Aber dann stieg ihm der beizende Rauch in die Nase, und er wandte unruhig den Kopf.

Plötzlich bemerkte er zu seinem Erstaunen eine Hand, die unter dem Sitz hervorkam. Sie tastete sich sorgsam nach dem glimmenden Fleckchen und löschte behutsam das kleine Feuer aus.

Pierre Loubet beugte sich vornüber und blickte unter die Bank, auf der er saß. Dort lag zusammengekauert ein Mann.

„Kommen Sie hervor“, sagte der Schaffner barsch.

Der Aufgeforderte zwängte sich aus seiner unbequemen Lage hervor. Er richtete sich ächzend auf. Sein Überzieher, aus dem die geflickten grauen Hosen lugten, war unsauber, die ganze Erscheinung hatte etwas unsäglich zerlumptes.

„Wie kommen Sie hierher?“

Der Landstreicher rümpfte die Nase. „Hören Sie mal, lieber Freund: Sie rauchen aber einen scheußlichen Knaster!“

Loubet setzte sein finsterstes Beamtengesicht auf.

„Ich frage Sie noch einmal: wie kommen Sie hierher?“

„Das ist ziemlich einfach“, antwortete der Fremde. „Der Zug hielt — und ich stieg ein.“

„Haben Sie etwa das Signal auf Halt gestellt?“

Der andere zuckte die Achseln.

„Was tun Sie hier?“ Loubet ärgerte sich selbst über seine dumme Frage. Seine Stimme klang scharf und drohend, aber sein strenger Ton schien keinen nennenswerten Eindruck auf den andern zu machen.

Wieder stand das harmlose Lächeln in dem Gesicht des Fremden.

„Mein Gott — ich überlegte gerade, ob es nicht vorteilhafter wäre, einen weichen Platz im Schlafwagen zu belegen als hier unter der Bank zu kauern. Könnten Sie mir vielleicht noch ein Bett anweisen, lieber Freund?“

Er legte dem Schaffner die Hand auf die Schulter.

Dem schwoll die Zornesader. „Lassen Sie die Unverschämtheiten!“. Und dann, während sich sein Gesicht, vielleicht im Diensteifer, vielleicht vor Zorn, rötete, setzte er eifrig hinzu: „Ich werde Sie dem Zugführer melden.“

Der Landstreicher setzte sich achselzuckend auf die Bank. Langsam zog er die Hose über die Knie, als fürchte er die Bügelfalte zu beschädigen. Dann schlug er, vielleicht unabsichtlich, den Mantel beiseite …

Der Schaffner starrte ihn an. Diese grauen Drillichbeinkleider — diese plumpen benagelten Schuhe …?

„Mensch!“ schrie der Schaffner auf. „Sie — Sie sind ja ein Sträfling! Ein entlaufener Gefangener . .!“

Angstvoll wich er zur Tür zurück.

Aber der Fremde hob beschwichtigend die Hand.

„Sie sind sehr scharfsichtig, Kamerad.“ Loubet zuckte bei der vertraulichen Anrede zusammen. „Verdammt scharfsinnig! Es ist richtig: Sie haben den Nagel auf den Kopf getroffen, ich bin wirklich ein Sträfling. Ich bin entlaufen. Und ich werde verfolgt. Und Sie, Kamerad — Sie sind ein Schaffner. Nicht wahr? Nun also. Jeder hat seinen Beruf. Nur schade, daß der Ihre Sie anständig ernährt, was ich von dem meinigen nicht behaupten kann. Also, warum wollen wir uns gegenseitig das Leben schwer machen?“

„Was wünschen Sie von mir?“ murmelte der Hilfsschaffner, ein wenig unsicherer werdend, wütend über seine eigene Hilflosigkeit, über das Mitleid, das in ihm aufstieg — und doch unfähig, sich zu einem rücksichtslosen Entschluß aufzuraffen.

„Wollen Sie eine Zigarette?“ fragte der Sträfling.

Loubet zuckte die Achseln, was der andere für eine Bejahung halten mochte, denn er faßte in die Tasche.

Der Schaffner sah erstaunt auf das blitzende Etui, das der Landstreicher zog.

„Das ist ja Gold …“, stammelte er. „Gold …“

Der Strolch nickte. „Freilich. Und die Zigaretten sind echt ägyptischer Tabak. Stück Ein Franc.“

„Beute?“ flüsterte Loubet atemlos.

Der andere lachte. „Nein. Persönliches Eigentum.“ Aber dann, plötzlich ernst werdend, sah er dem Hilfsschaffner ins Gesicht. „Wir wollen von Geschäften reden. Ich brauche nämlich Ihre Hilfe.“

Der Marconiboy lief durch die Gänge des Waggons und öffnete einen Spalt breit die Coupétüren.

„Der Herr Baron van Emmerinck! Der Herr Baron van Emmerinck!“

Das Rattern der Räder erstickte fast die helle Knabenstimme.

Der Boy klopfte an ein Schlafcoupé.

„Was gibt es?“ kam eine verdrossene Frage von innen.

„Herr Baron van Emmerinck?“

„Ja, zum Teufel!“

„Bitte zum Telephon! Ein Anruf aus Amsterdam!“

Die Tür rollte zurück. Ein Herr im Pyjama erschien.

„Im Dritten Wagen bitte, mein Herr. Ich werde mir erlauben, Sie zu führen.“

Der Reisende warf einen schnellen Blick in den Korridor. Kein Fahrgast hielt sich im Gang auf. Er knöpfte die Schnüre seines Pyjamas zu und folgte ärgerlich dem Boy, der trinkgeldwitternd vor ihm herstapfte.

Fast in dem gleichen Augenblick, da die Tür der drahtlosen Kabine hinter dem telephonierenden Baron ins Schloß rollte, fast in diesem selben Augenblick geschah es, daß zwei Männer, zwei einfach aber robust aussehende Männer mit breiten Schultern und mit ruhigen ein wenig eckigen Bewegungen sich von ihren Sitzen erhoben und einen Rundgang durch die Abteile des Zuges Madrid-Paris begannen. Sie öffneten die Türen, tippten an ihre Hüte, blickten spähend hinein, schlossen die Türen wieder. Wechselten ein paar Worte miteinander und gingen weiter.

In jenem Waggon des Zuges indessen, in dem die Schlafcoupés Erster Klasse lagen, war ein Mann, der dem allmählichen Näherkommen der beiden Herren nicht ohne Besorgnis entgegenzusehen schien. Er trug einen grauen nicht sehr sauberen stark geflickten Mantel und darunter einen grauen Sträflingsanzug. Sein Blick fiel auf die Tür des Schlafcoupés Nummer Eins; sie stand zwei Finger breit offen; als er hineinspähte, gewahrte er, daß der Raum leer war.

War das nicht ein Wink des Himmels?“

Er schlüpfte hinein, schob die Tür mit einem festen Ruck hinter sich zu und schloß den Riegel. Dann sah er sich gewissenhaft in dem eleganten kleinen Raume um.

Dort, auf einem Mahagonibügel, hing ein nagelneuer Herrenanzug vom letzten Londoner Schnitt. Und hier, in dem Koffer, blinkte herrliche seidene Wäsche. Daneben lagen, schimmernd im Licht der Glühlampen, englische Krawatten; ein ledernes Kästchen mit Kragenknöpfen sprang auf einen Fingerdruck auf. Lackschuhe, Kragen und Nappahandschuhe vervollständigten das lockende Bild.

Kann man es einem, der gehetzt ist, in Ernst übelnehmen, wenn er versucht, sich jener Merkmale zu entledigen, die die Augen seiner Verfolger auf ihn ziehen müssen? Gibt es auf der Welt einen Menschen, der, mit einem Sträflingskittel angetan, vor die Wahl gestellt, sich entweder in der nächsten Minute verhaften zu lassen oder aber seinen Verfolgern mit der Würde eines Grandseigneurs entgegenzutreten und ihnen für ihr Vorhaben viel Glück zu wünschen — gibt es einen Menschen, der sich in dieser Lage nicht für das Zweite entscheiden würde?

Um es gleich zu sagen: der Besucher in diesem kleinen Schlafabteil Erster Klasse entschied sich für das Zweite. Er faßte nach dem Anzug auf dem Mahagonibügel — er griff in den hellen englischen Lederkoffer, in dem Krawatten, Kragen, Lackschuhe und sonstige schöne Dinge lagen; und er zog sich mit seiner köstlichen Beute ebenso geräuschlos wie er gekommen war, an einen jener Orte zurück, die auch Leute mit gutem Gewissen hinter sich zu verriegeln pflegen, um für einige Minuten ungestört zu sein.

Zwei Minuten später geschah es …

Ein Herr im Pyjama kehrte aus der Telephonkabine in sein Schlafcoupé zurück. Er überflog mit einem entsetzten Blick sein Reisegepäck und konstatierte, daß jene Dinge fehlten, die er am notwendigsten brauchte: nämlich sein einziger Anzug, seine schönste Krawatte, seine Lackschuhe — und einiges mehr.

Er drückte auf den Klingelknopf.

„Sie wünschen, mein Herr?“

„Man hat mich bestohlen!“

„Oh, là là!“

„Ich verlange von Ihnen Ersatz!“

„Wir werden einen eingehenden Bericht an die Eisenbahndirektion aufsetzen.“

„Damit ist mir nicht geholfen, Sie Trottel! Ich verlange von Ihnen einen Anzug! Oder soll ich etwa im Pyjama über die Boulevards gehen?“

„Ich bin untröstlich, mein Herr“, sagte der Zugführer. „Aber Sie werden im Ernst nicht glauben, daß wir Anzüge für bestohlene Reisende auf Vorrat haben. Und im übrigen bin ich kein Trottel.“

„Verdammt noch einmal! Stehen Sie nicht da wie eine Schießbudenfigur! Tun Sie etwas!“

„Was soll ich tun?“

„Was soll ich tun? fragt dieser Kretin! Suchen Sie den Dieb! Verhaften Sie ihn! Verprügeln Sie ihn! Legen Sie ihn in Eisen!“

„Gut“, sagte der Zugführer. „Gut, mein Herr. Ich werde den Dieb suchen. Sie werden mich begleiten.“

„Ich? Im Pyjama?“

„Ich bin zwar nur ein Kretin, wie Sie zu erklären beliebten — aber ich glaube behaupten zu dürfen, daß ich ohne Ihre Mitwirkung, mein Herr, den Dieb kaum finden werde.“

„Sie haben recht. Ich werde einen Mantel über den Pyjama ziehen.“

Aber es stellte sich heraus, daß der Dieb auch den Mantel mitgenommen hatte …

Die Tür eines Coupés der Zweiten Klasse öffnete sich. Die Dame, die darin saß — eine junge schöne dunkelhaarige Pariserin — sah beunruhigt auf. Es war schließlich ein wenig ungewöhnlich, daß, sozusagen fünf Minuten vor Beendigung der Reise, ein neuer Passagier erschien.

Der Fremde grüßte höflich. Sie neigte stumm den Kopf.

„Ich bin auf der Flucht, gnädige Frau. Wollen Sie mich schützen? Man hat mir verboten, auf dem Korridor zu rauchen. Würde es Sie stören, wenn ich mir hier eine Zigarette anzünden würde?“

„Nein“, sagte sie lächelnd.

Sie warf einen prüfenden Blick auf den Ankömmling.

Er war von jenem internationalen Typ, den man häufig in den Luxuszügen antrifft. Seine grauen Augen blickten kühl, fast ein wenig spöttisch, in die Welt. Sein Auftreten war von jener Sicherheit, die den Vielgereisten verrät. Allenfalls schien es ein wenig verwunderlich, daß der elegante Anzug, den er trug, ihm nicht recht paßte.

Der Fremde zog ein goldenes Zigarettenetui.

„Rauchen Sie, Madame?“

Sie nahm, fast gegen ihren eigenen Willen, eine Zigarette. Er hielt ihr das brennende Zündholz hin. Einen Moment ging es ihr durch den Kopf: wenn nun diese Zigarette Opium enthält?

Sie konnte ihren Blick nicht von dem Gesicht des Fremden losreißen. Sie wußte genau, daß sie diese Züge kannte. Vor kurzem noch hatte sie sie irgendwo gesehen — in irgendeiner Zeitung — diese Augen, dieser Mund, diese Nase waren unverkennbar. Aber wo — wo — wo? Vielleicht in einem Steckbrief? Irgend so etwas mußte es gewesen sein. Bestimmt verknüpfte sich die Erinnerung an dieses Bild mit der Erinnerung an eine illustrierte Wochenschrift, und an irgendeine kriminelle Affaire.

‚Bitte, Madame“, sagte er und zündete ihre Zigarette an.

Von außen kam lebhaftes Sprechen; ein Herr im Pyjama, von zwei Zugbeamten begleitet, blieb vor der Tür stehen und blickte ins Abteil. Dann riß er die Tür auf und schrie:

„Das ist der Dieb! Das ist mein Mantel! Das ist mein Hut! Das sind meine Lackschuhe!“

Die Dame blickte entsetzt auf ihren Reisebegleiter, der sich, scheinbar aufs höchste erstaunt, erhoben hatte.

„Ist dieser Mensch irrsinnig?“ fragte er.

„Sie Halunke wagen es …!“

„Pst!“ gebot der Zugführer.

„Ich werde doch wohl einem Verbrecher sagen dürfen, daß er ein Verbrecher ist!“

„Sie haben mir die Führung dieser Angelegenheit übertragen, mein Herr. Sie müssen mir daher auch gestatten …“

„Sie sind ein …“

„Ich weiß. Ein Trottel. Ein Kretin.“

„Ich stehe Ihnen selbstverständlich zur Verfügung“, sagte der Fremde würdevoll.

„Darf ich um Ihren Namen bitten?“

Der Aufgeforderte zog eine Visitenkarte aus der Westentasche.

„Baron van Emmerinck“, las der Zugführer halblaut vor.

„Das ist mein Name!“ schrie der Bestohlene.

„Sie haben gehört, was dieser Herr behauptet. Können Sie sich legitimieren?“

„Gewiß.“ Der Fremde zog eine Brieftasche. „Hier sind mehrere Papiere: ein Trauschein — eine Geburtsurkunde …“

„Das alles hat er mir gestohlen! Den Trauschein — die Geburtsurkunde — und die ganze Brieftasche dazu!“

„Dieser Mann muß nicht richtig im Kopf sein“, sagte der Beschuldigte anscheinend mitleidig.

„Ich schlage Ihnen …“

Die Bremsen zogen an. Der Zug fuhr langsamer. Über die Einfahrtsweichen des Bahnhofs Quai d’ Orsay.

Der Hilfsschaffner Loubet kam eilig gerannt.

„Das habe ich eben unter dem Bette des Schlafcoupés gefunden!“ Damit schwenkte er triumphierend einen Sträflingsanzug.

„Sehen Sie wohl!“ schrie der Bestohlene. „Den hat er ausgezogen und dafür meine Garderobe angelegt!“

„Und ich behaupte“, erklärte der andere seelenruhig, „dieser Herr ist der wahre Eigentümer dieser kleidsamen Uniform. Aus Furcht vor Entdeckung dreht er den Spieß um.“

„Sie Schwindler!“

„Er handelt nach einem altbewährten Rezept. Er ruft: Haltet den Dieb! — und ist selbst dieser Dieb.“

„Jetzt wird mir die Geschichte zu dumm!“ Der Baron van Emmerinck griff sich an den Hals. „Ich ersticke vor Wut!“

„Ich bin bereit,“ sagte der Dieb, „mich jeder Untersuchung zu unterziehen, die Sie wünschen.“

Mit einem knirschenden Ruck stand der Zug still. Das Gewühl des Bahnhofs umfing ihn; tausend Geräusche brandeten auf, man hörte nur mühsam die Unterhaltung der wenigen an diesem kleinen Abenteuer Beteiligten.

Aber es geschah etwas Unerwartetes: dieser Herr — der Herr in dem eleganten Anzug, der hartnäckig behauptete, der Baron van Emmerinck zu sein, schwang sich mit einem plötzlichen Satz vom Trittbrett hinunter und lief den Bahnhof entlang.

„Sehen Sie wohl!“ brüllte der Bestohlene. „Sehen Sie wohl! Und Sie haben ihn laufen lassen, Sie Idiot!“

„Wir werden ihn schon einholen“, antwortete nunmehr der kleine unscheinbare Geheimpolizist, der die ganze Zeit über schweigend neben dem Zugführer gestanden hatte. „Wir werden ihn schon fangen, mein Herr.“

„Das bezweifle ich sehr.“

„In zehn Minuten werden wir ihn auf der Präfektur haben. Wollen Sie sich überzeugen?“

„Ich würde nichts lieber tun als das. Aber soll ich in diesem Pyjama …?“

„Hier hat er seinen Mantel zurückgelassen.“