Der flammende Sumpf - Rudolf Stratz - E-Book

Der flammende Sumpf E-Book

Rudolf Stratz

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Beschreibung

Spannungsgeladener Thriller aus der Zeit Alexander des DrittenIm Zug nach St. Petersburg trifft Mediziner Axel von Küster auf zwei geheimnisvolle Fürsten, von denen einer eine verkleidete Frau ist. Als Axel die beiden bei der Polizei melden möchte, flüchten sie und stehlen Axels Pass.In St. Petersburg angekommen macht Axel die Bekanntschaft des gefürchteten, zarentreuen Tschurisch, dessen älteste Tochter Ljuba sich von ihm abgewandt hat und seitdem auf der Flucht ist. Axel glaubt, dass sie der verkleidete Fürst aus dem Zug ist und ein Attentat plant, und plötzlich muss er um sein Leben fürchten. Ein Katz- und Maus-Spiel beginnt...-

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Rudolf Stratz

Der flammende Sumpf

Saga

Der flammende SumpfCover Bild: Shutterstock Copyright © 1930, 2019 Rudolf Stratz und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788711507315

1. Ebook-Auflage, 2019

Format: EPUB 2.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von SAGA Egmont gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk – a part of Egmont www.egmont.com

I

Die unheimlichen Abenteuer im einstigen zaristischen Russland, die die nachfolgenden Blätter verzeichnen, sind von dem, der sie in der Ruhe späterer Jahre zu Papier brachte, vor mehr als einem Menschenalter selbst erlebt. Er hat mit eigenen Augen im damaligen Zarenreich den Totentanz der Grossfürsten und Senatoren, der Popen und Tschinowniks, der Petersburger Mondänen und Moskauer Panslawisten gesehen. Er hat, vom Schicksal in die russische Unterwelt verschlagen, mit eigenen Ohren das Grollen der Tiefe unter den Füssen der Tänzer, lange vor dem Ausbruch des Vulkans, vernommen.

Er war von Beruf kein Mann der Feder. Sein Stil ist vom Herausgeber des Werks, so, wie es sich hier dem Leser vorstellt, geglättet, seine Darstellung geordnet, seine Namengebung geändert. Aber trotzdem bleiben seine Erinnerungen der getreue Spiegel einer einst furchtbaren und einem furchtbaren Schicksal verfallenen, nun lang in Nacht und Nebel verwehten, den Jüngeren unter den jetzt Lebenden schon völlig unbekannten Welt im Osten.

Und so möge hier folgen, was er niederschrieb.

Der Berliner D-Zug nach Russland dampft an einem kühlen, windigen Abend zu Anfang September achtzehnhundertneunzig langsam aus dem Bahnhof von Eydtkuhnen. Tausende von weissen Farbenflecken — wandernde russische Stoppelgänse — überschnattern rechts und links von ihm das Rattern der Räder. Noch rollen diese Räder auf deutschen Schienen. Aber nun — ich spähe ungeduldig, der Heimat nahe, in die Dämmerung hinaus — nur noch hundert Fadenlängen bis zum Flüsschen Lepone — nur noch fünfzig. Dumpf donnern die Bohlen der Brücke. Schwarzgelbweiss ragt auf ihr mit doppelköpfigem Reichsadler der russische Grenzpfahl. Dunkelgrün in der Dämmerung, mit umgehängtem Gewehr, leuchten neben ihm die Uniformen des Zaren.

Lange, finstere Gendarmen gehen durch den Wagen. Sie tragen noch die sommerlichen weissleinenen Schirmmützen und, vom letzten Türkenkrieg her, das Georgskreuz auf der Brust. Sie murmeln mit tiefen Stimmen: „Ihr Pass — belieben Sie!“ Ich reiche mit dem Pass in der Hohlhand eine Zehnrubelnote. Der Gendarm lässt sie stumm in seinen Ärmelaufschlag gleiten. Ich werde bei der Passrevision als erster aufgerufen werden.

Der Zug hält. Wirballen. Alles hinaus. Draussen in der Zollhalle, zum erstenmal wieder, der von Kindheit an vertraute Geruch Russlands — von Holz und Staub und trangeschmierten Stiefeln und Zigaretten und Schafpelzen. Neben dem Schragen, auf dem das Gepäck durchwühlt wird, sitzen an einem Tisch die Tschinowniks und blättern mit plumpen Fingern in den Pässen. Meiner liegt zu oberst. Mein Name klingt beim Aufruf zuerst:

„Gospodin Küster!“

Ich nähere mich erfreut und will meinen Pass in Empfang nehmen. Der Beamte hält die Hand darüber und schüttelt abwehrend den Kopf.

„Belieben Sie, in das Nebenzimmer zu treten!“

Der kleine, kahle Raum ist nur durch eine qualmende Petroleumlampe erhellt. Hinter ihr sitzt ein kahlköpfiger, schnauzbärtiger Gendarmerieoffizier. Neben ihm ein Schreiber. Noch ein bleicher, apostelbärtiger Kronsbeamter. Im Hintergrund ein Mann in Zivil, der sich nicht rührt und mich blinzelnd und durchdringend mustert. Ich begreife: das ist die Ochrana. Die furchtbare politische Geheimpolizei der dritten Abteilung im Ministerium des Innern. Aber ich habe die Ochrana nicht zu fürchten.

„Mein Pass ist in Ordnung!“ versetzte ich kurz und kühl. Man darf diesen Polizeikreaturen keine Demut zeigen. Sonst werden sie gleich frech.

Der Gendarmerieoffizier antwortet nicht. Er hält meinen Pass in der Hand und sieht abwechselnd das Papier und dann wieder prüfend mich an, so dass der Agent der Ochrana im Hintergrund es hören und vergleichen kann: „Gestalt: Gross. Schlank. Alter: Sechsundzwanzig Jahre. Haar: Dunkelblond. Augen: Blau. Bart: Kurzer dunkelblonder Schnurrbart. Nase: Gewöhnlich. Mund: Gewöhnlich. Besondere Kennzeichen: Keine.“ Ein Räuspern. Lauter: „Sie sind der russische Untertan, Doktor der Medizin Axel von Küster, geboren in Petersburg, lutherischen Glaubens, unvermählt . . .“

„Das steht ja alles in meinem Pass!“ versetze ich ungeduldig. Ich habe die lange Eisenbahnfahrt von Berlin her hinter mir. Ich bin hundemüde. Ich will nur rasch am Büfett soupieren und dann in den russischen Zug und schlafen . . .

„Wir müssen noch mehr wissen! Ihr Vater . . .“

„Mein Vater“, erwidere ich scharf und gemessen, „ist der Professor der Medizin Daniel von Küster in Petersburg, Exzellenz, mit dem Rang eines Wirklichen Staatsrats, Hofarzt seiner Kaiserlichen Hoheit des Grossfürsten Oleg Igorowitsch . . .“

Eine höfliche Handbewegung des glatzköpfigen Gendarmeriehauptmanns unterbricht mich.

„Gut! Gut! Und Ihre Frau Mutter?“

„Wenn Sie auch das interessiert: Katharina mit Vornamen. Tochter des verstorbenen lutherischen Pastors Casparson in Dorpat! Sind wir zu Ende?“

„Einen Augenblick noch, Gospodin Küster! Sie wuchsen in Petersburg auf?“

„Ich besuchte dort das Allexander-Lyzeum, dann die Kaiserliche Universität in Moskau und die neurussische Universität in Odessa und machte vor zwei Jahren mein medizinisches Staatsexamen in Dorpat!“

„Die beiden letzten Jahre“ — ein Blick in den Pass — „hielten Sie sich im Ausland auf?“

„Mein Vater stammt ja selbst aus dem Ausland. Er kam als junger Arzt aus Deutschland nach Petersburg!“

„Doch gehört Seine Exzellenz seit dreissig Jahren dem russischen Untertanenverband an! Wie Sie schon durch Ihre Geburt!“

„Sollte mich das hinder, in den beiden letzten Jahren in Wein, Zürich, Strassburg und Kiel meine medizinischen Kenntnisse zu vervollständigen? Westliche Bildung tut uns wahrhaftig in Russland not!“

„Gedenken Sie sich von jetzt ab wieder dauernd in Russland aufzuhalten?“

„ich werde meinem Vater künftig in seiner Praxis behilflich sein, die, wie Sie vielleicht wissen, die höchsten Sphärend er Petersburger Gesellschaft umfasst!“

„Og — wer kennt Exzellenz Küster nicht?“ mischte sich jetzt hüstelnd der zweite bärtige Tschinownik in das Verhör. „Auch mich hat er einmal, als ich unvorsichtig Newawasser getrunken hatte, im Alexanderhospital vom Typhus gerettet!“

Ich ziehe gereizt die Augenbrauen hoch.

„Warum werde gerade ich, sein Sohn, allein hier dieser Vernehmung unterzogen?“

„Wie denn: allein?“ Der bleiche Kronsbeamte geleitet mich zur Tür und öffnet sie. „Belieben Sie: da draussen stehen in langer Reihe alle Reisenden, die mit Ihnen kamen, und warten. Es sind russische Fürsten darunter, wie dort die beiden jungen Leute am Fenster — der mit der Lammfellmütze und sein Bruder in Gymnasiastenuniform. Man macht keine Ausnahme. Jeder wird, seit gestern, einzeln vorgenommen un geprüft!“

„Was ist denn wieder passiert?“

„. . . damit Sie Seine Exzellenz aufklären können . . . Sein Missfallen wäre uns peinlich — wir haben durch unseren höchsten Vertrauensmann — nun — Sie kennen den Namen des Generals Seliwerstow in Paris — wir haben von dort sichere Nachricht, dass in diesen Tagen einige der gefährlichsten staatsfeindlichen Elemente vom Ausland her versuchen werden, die russische Grenze zu überschreiten. Und die Anschläge dieser Gottlosen“ — die Worte aus dem warren Vollbart drüben sind nur noch ein nervöser und heiserer Hauch — „richten sich umnittelbar gegen die geheiligte Person des Selbstherrschers!“

„Wo befindet sich der Imperator jetzt?“

„In Gatschine!“

Ich sehe den Zar Allexander den Dritten vor mir — den finsteren, vollbärtigen, breitschultrigen, gekrönten Muschik, in seinem Riesenschloss, inmitten weiter, ummauertet Parkwälder, von einem fünffachen Gürtel von Garden, Gendarmen, Geheimpolizisten, Tscherkessen, Palastwachen umgeben.

„Dort ist seine Majestät gut behütet!“ sage ich.

„Wie aber, wenn der Zar Ende nächsten Monats zum Herbstaufenthalt nach der Krim fährt — zweitausend Werst von Petersburg bis Livadia durch das ganze europäische Russland? Die Bösewichte, die ihn bedrohen, müssen vor dieser Reise unschädlich gemacht werden!“

„Hoffentlich schon heute oder morgen!“

„Alle Grenzstationen — Wirballen — Alexandrowo — Podwolotschiska — sin dim Zustand verstärkten Schutzes. Wir werden unsere Pflicht erfüllen! Möge uns nur die russische Gesellschaft dabei helfen! Das ist das Furchtbare, dass sie nur zu oft die, die wir verfolgen, gerade in ihrer Mitte birgt! Nun: mit Gott!“

Der bleiche Kronsbeamte gibt mir meinen Pass zurück. Ich verstaue das kostbare Dokument sorgfältig in einem Geheimfach meiner Brieftasche. Ein Händedruck mit den Tschinowniks. Für den Mann von der Ochrana in der Ecke habe ich längst, als politisch unverdächtig, jedes Interesse verloren. Ich stecke die Brieftasche in das Innenfutter meines Rocks und gehe hinüber zum Büfett. Ich nehme stehend schnell einen Imbiss. Ich trete auf die Holzplanken des Bahnsteigs hinaus. Es ist nun schon Nacht. Ich gähne. Ich schlenere den wartenden russischen Zug entlang. Er ruht, geräumiger und bequemer, auf breiteren Schienen, als die Bahnen des Westens. Aber ich frage missmutig den Träger, e rim Wagen erster Klasse mein Gepäck vor Stationsdieben bewacht:

„Hast du denn kein Abteil für mich allein besorgt?“

„Wie konnte ich? Der Zug ist überfüllt! Aber Euer Gnaden haben ja die ganze eine Seite für sich!“

Der Arteltschik sprach wahr. Meine beiden Coupégefährten hatten sich auf die andere Hälfte des Abteils beschränkt. Ich erkannte in ihnen die beiden jungen russischen Fürsten, die mir vorhin der bleiche, apostelbärtige Tschinownik durch die Tür des Passraumes in der Reihe der Reisenden gezeigt hatte. Der jüngere der Brüder lag lang ausgestreckt, das Gesicht gegen die Wand, auf der Polsterbank, einen Plaid halb über der dunkelgrünen, russischen Gymnasiastenuniform, wie man sie im Sommer auch im Ausland, unter russischen Familien in deutschen Bädern, häufig sah. Der junge Mensch schlief bereits fest den gesunden Schlaf seiner, nach den Umrissen seiner Gestalt zu urteilen, sechzehn oder achtzehn Jahre. Der andere, ältere, zu Anfanf der Zwanzig, sass noch aufrecht am Fenster. Er gate unter der Lammfellmütze ein backenknochiges, echt slawisches Gesicht mit schwachem, schwärzlichem Schnurrbart und kaute an seinen Nägeln. Diese Nägel waren Schwarz. Ein Fürst? Warum nicht? Es gibt allerhand russische Fürsten. Auch tief in den öftlichen Gouvernements. Nicht alle unter den Tausenden sind gewohnt, im Englischen Klub in Petersburg zu soupieren . . .

Die Bahnhofglocke bimmelt aufgeregt, kurzatmig zum drittenmal. Wir fahren los. In die Nacht hinein. Nach Russland hinein . . .

Ich lasse mich auf meiner Seite des Abteils häuslich nieder und sage dabei zu dem nägelknabbernden Knjäs am Fenster:

„Es tut mir leid, Ihnen beschwerlich zu fallen! Aber es gab keinen anderen Platz!“

„Oh — das macht nichts! Man wird sich schon einrichten!“ erwidert er in einem reinen markigen Moskauer Russisch. Dann Verstummt er wieder und schaut in das Dunkel hinaus. Sein Gesichtsausdruck ist stumpf. Ziemlich ausdruckslos. Er seufzt. Fährt sich mit der Hand über die Augen. Packt die Beine des schlafenden Gymnasiasten und rückt sie etwas gegen die Wand.

„Mache Platz, Kolja!“ sagt er kurz und verstaut seine Beine zu denen des Bruders auf der frei gewordenen Längshälfte der Bank. Kolja lässt es schlaftrunken geschehen. Er kuschelt seinen Schwarzkopf, von dem man nur das kurze im Nacken sieht, in die Polsterrolle und schlummert weiter. Die beiden Brüder liegen einander gegenüber, eng beisammen, der ältere mit dem Kopfende am Fenster, der Gymnasiast gegen den Seitengang des Wagens. Der Zug rollt langsam, gleichmässig, fast geräuschlos dahin. Er kennt nicht die Hast des Westens. Das dumpfe Singen der Räder, die pechschwarze Finsternis vor den Scheiben, das leise Geflacker der Wachskerzen, die unser Abteil nur matt erhellen — alles lullt ein und ladet zum Schlaf. Ich überzeuge mich noch einmal, mit dem gewohnten russischen Griff, dass ich alles bei mir habe: Uhr — Brieftasche — Pass — Geld. Dann werfe ich die Zigarette weg und mich selber der Länge nach auf die Bank. Nun merke ich erst recht, wie müde ich bin. In wenigen Minuten bin ich so tief im Land der Träume, wie die beiden jungen Knjäse drüben.

Mitten in der nacht wache ich plötzlich auf. Ich weiss nicht warum. Ich weiss in meiner Schlaftrunkenheit im efsten Augenblick überhaupt nicht, wo ich mich befinde. Dann wird es mir aus dem Dröhnen der Achse unter mir klar. Ich bin noch halb benommen. Ich liege, ohne mich zu rühren, und blinzle nur verschlafen durch die noch fast geschlossenen Lider. Dabei bemerke ich, dass der junge, dunkelgrüne Gymnasiast mir gegenüber auch wach ist. Sein Bruder schnarcht schwer. Er aber sitzt aufrecht in seiner Ecke. Man sieht jetzt sein Antlitz. Es ist klein und weiss und mager. Ein feingeschnittenes, etwas herbes Jungengesicht, blass von der Reise, mit verstrubelten, kurzen, schwarzen Haaren über der niederen Stirne, einem schmalen zähen Mund und einem weichen Kinn über dem steifen Lyzeistenkragen. Den hat der junge Fürst aufgehakt und ebenso die oberen Knöpfe seiner Uniform geöffnet. Er kramt unter ihr suchend mit der Han auf seiner Brust. Wahrscheinlich vergewissert er sich, dass da sein Lederbeutel mit Geld und Pass richtig an Ort und Stelle über dem Bild des Namensheiligen baumelt. Jetzt wendet er sich, um besser zu sehen, mit tiefgesenktem Kopf dem schwachen Licht der Wachskerze zu, das von der Decke zittert. Sein grüner, weiss gefütterter Uniformrock klafft dabei halb aufgeklappt. Ich beobachte es gleichgültig, geistesabwesend. Ich halte die Lider absichtlich bis auf einen schmalen Spalt geschlossen, um nicht ganz wach zu werden, sondern, sobald dieser Koljinka rüben mit seinem Gewirtschafte fertig ist, gleich wieder einzuschlafen. Und dabeu durchzuckt es mich plötzlich vom Scheitel bis in die Fussspitze . . .

Wie gesagt: der Uniformrock des Gymnasiasten steht offen. Man sieht ein Stück des weissen, rotgesticken Leinenhemds über seiner Brust. Und diese Brust, unter diesem Hemd, wölbt sich ganz deutlich in einem Busenansatz — jetzt, bei einer Seitenbewegung des jungen Knjäs gar nicht mehr zu verkennen: Es ist die Brust einer jungen Frau.

Gleich darauf knöpft der Schüler seinen Rock des Zaren wieder zu. Er wirft einen raschen, forschenden, misstrauischen Blick zu mir hinüber, ob ich auch schlafe? Dieser Blick der glänzenden, schwarzen Augen ist unheimlich. Er ist starr und zugleich unruhig-beweglich. Es sind die fanatischen und leidenden Augen eines erwachsenen Menschen, der schon viel erlebt und gewollt und erlitten hat. Gleich darauf glättet sich der gespannte Ausdruck des kleinen, weissen Gesichts, das zu bleich und hager ist, um, trotz seiner Jugend, eigentlich hübsch zu sein. Der grüne Gymnasiast ist überzeugt, dass ich schlafe. Er nestelt seinen letzten obersten Knopf zu und streckt sich beruhigt wieder, das Antlitz gegen die Wand, zum Schlummer hin.

Und ich lasse ihn in dem Glauben und liege mit geschlossenen Augen wach und sammle meine Gedanken . . .

Und mach emir klar: Hier im Abteil, mit mir zusammen, fährt der Tod. Der Tod, der den Zaren, wenn er nicht durch die Postenketten von Gatschina zu ihm dringt, um so sicherer in wenigen Wochen auf der Fahrt nach der Krim umschatten wird. Der Tod, der, mit den gefälschten Pässen zweier junger russischer Fürsten, durch die engen Maschen des Grenzverhörs von Wirballen geschlüpft ist. Dort und an allen Eingangspforten des Russenreiches lauert jetzt noch die Geheimpolizei des Zaren auf die vom Ausland her gemeldeten Verschwörer. Gebt euch keine Mühe: die Mörder sind jetzt schon mitten im heiligen Russland! Da, auf der Bank mir gegenüber, liegen sie friedlich und schlafen . . . Oder ist es doch eine übertriebene Angst von mir? Ich klammere mich, während ich ausgestreckt ruhe und scheinbar auch schlafe, in meiner Verwirrung an diesen Gedanken. Nein: mit falschen Pässen, mit Verkleidungen in Männertracht spielt man in Russland nicht! Es ist, wenn es entdeckt wird, unter allen Umständen der Weg nach Sibirien! Es ist zu gefährlich! Das weiss jeder. Und darum ist da Gefahr für Russland. Höchste Gefahr.

Und meine Pflicht ist es, sie abzuwenden! Auch das stelle ich bei mir im stillen schweratmend fest! Ich überlege: Was ist zu tun? Vorläufig fahren wir. Die beiden falschen Fürsten, der Schwarznägelige und der Gymnasiast, können nicht aus dem Zug in die Dunkelheit hinaus springen. Man hat Zeit. Ich kann aufstehen und die Korridore entlanggehen und die Zugbeamten im Gepäckwagen wecken. Aber was vermögen diese paar armen, waffenlosen Schaffner gegen zwei zu allem entschlossene Verbrecher, die wahrscheinlich apfelgrosse Sprengbomben in ihren Hosentaschen mit sich führen? Und der Wärter unseres Wagens gar ist ein stumpfer Greis. Ich sah ihn vorhin schon mit offenem, zahnlosem neben dem grossen Kupfersamowar unter dem Kreuz des Heilands schlummern. Nein: es war entschieden besser, bis zu einer der seltenen Haltestellen an einem grösseren Ort zu warten. Dort — dessen konnte man in Russland sicher sein — gab es auf dem Bahnhof bei Tag und Nacht schwerbewaffnete energische Gendarmen. Und, wie um mich aller Zweifel zu entheben, verlangsamte der Zug seine Fahrt durch die Nacht. Hielt. Lichter tauchten auf. Lange Holzschuppen. In grossen russischen Lettern leuchtet der Name der Station: Pskow. Oder Pleskau, wie es noch ein Jahr zuvor hiess.

Draussen hallen, da und dort durcheinander, schwere Tritte auf dem hölzeren Boden. Ich recke mich verschlafen. Ich zünde mir eine Papyros an. Ich schlendere langsam auf den Gang hinaus. Meine beiden Abteilgefährten schlummern und merken von nichts. Ich trete auf den Bahnsteig. Reisende tummeln sich da mit Kissen un Betttüchern. Gepäckträger. Ein paar übernächtige Beamte. Aber keine Gendarmen. Ich gehe suchend nach vorn, den Zug entlang. Da ist er schon zu Ende. Da starren schon die Stapel von Feuerungsholzscheiten auf dem Tender im nächtlichen Funkenleuchten der Lokomotive. Ich kehre um und höre zugleich von einer laut schallenden, fragenden Stimme über den Bahnsteig hin meinen Namen:

„Gospodin Küster!“

„Hier Doktor von Küster!“ antworte ich und spähe zugleich weiter nach der unsichtbaren Gendarmerie. Ein höherer Stations-Tschinownik läuft aufgeregt auf mich zu. Er schwenkt ein Blatt in der Hand:

„Hier ist eine Eisenbahndepesche, an Gospodin Küster, im Schnellzug Wirballen—Petersburg!“

„Gut! Geben Sie!“ Ich will weiter. Dort, ganz hinten, gerade am anderen Ende des Zuges, sehe ich endlich die weissen Leinenröcke und Pluderhosen der Gendarmen. Der Beamte tritt mir in den Weg. Er stottert vor Ehrerbietung:

„Eine Kronsdepesche aus Gatschina, Euer Wohlgeboren! Aufgegeben in der Kanzlei des Hofministeriums . . .“

Also eine Nachricht von Papa! Papa wird oft zu ärztlichen Konsultationen hinaus nach Gatschina berufen. Irgendein Ehrenfräulein hat den Schnupfen oder ein Hofmeister die Gicht. Deswegen erledigt Papa seine Drahtung an mich aus den Mauern des Schlosses von Gatschina. Das ist nichts Besonderes . . .

„Belieben Sie einen Augenblick zu warten!“ sage ich zu dem Gehilfen des Stationschefs. Ich sehe jetzt: die Gendarmen schreiten den Zug entlang, von Wagen zu Wagen. Ich laufe auf meinen Wagen zu. Als ich dort ankomme, stehen die Gendarmen gerade in meinem Abteil.

Das Abteil ist leer.

Einfach leer. Die beiden Knjäse sinf verschwunden. Der Zugführer mit den rotsilbernen Achselschnüren neben den Gendarmen deutet auf mich:

„Dies ist der Barin, der mit in dem Abteil sass!“

Ein finsterer Blick des einen Gendarmen prüft mich.

„Wer war mit Ihnen in diesem Abteil?“

„Zwei junge Leute. Ein Älterer mit einem Jüngeren in kaiserlicher Gymnasiastenuniform!“

„Waren die beiden noch hier, als der Zug in Pskow einfuhr?“

„Ja.“

„Wohin sind sie geraten?“

„Ich weiss es nicht. Ich trat auf den Bahnsteig hinaus.“

„Warum? Mitten in der Nacht?“ Das Misstrauen in der Stimme des Gendarmen wächt. Es klingt darin: du hast wohl da draussen Wache gestanden, während die beiden entschlüpften?

„Ich hörte meinen Namen rufen! Man wollte mir eine eilige Kronsdepesche übergeben!“ versetzte ich gleichgültig. Und neben mir der Stationsgehilfe, zitternd vor Diensteifrigkeit und Untertänigkeit.

„Eine Depesche aus der Kaiserlichen Hofkanzlei an Seine Wohlgeboren!“

Der Gendarm nimmt das Blatt. Er liest:

„Ich bin in Gatschina. Steige dort aus, damit ich Dich sobald wie möglich wieder in der Heimat umarme. Ich erwarte Dich auf dem Bahnhof. Dein treuer Vater.“

„Nun — und was für ein Vater ist das?“ Die Stimme des Gendarmen wird unsicher und milder. Der Tschinownik berichtet flüsternd:

„Exzellenz von Küster. Hofarzt seiner Kaiserlichen Hoheit des Grossfürsten Oleg.“

Der Gendarm legt ehrerbietig die Hand an den breiten Mützenschirm, während er mir das Telegramm zurückgibt. Er fragt gedämpft und respektvoll:

„Haben Euer Wohlgeboren mit den beiden Mitreisenden gesprochen?“

„Nur beim Einsteigen mit dem Älteren ein paar gleichgültige Worte wegen unserer Plätze.“

„Kannten Sie diese Leute?“

Das ist die entscheidende Frage. Mich durchzuckt die erste instinktive Regung des russischen Untertanen: Nur nichts mit Gendarmerie und Polizei zu tun zu haben! In das Protokoll geschrieben ist der eigene Name leicht. Aber durch wieviel absichtlich unnütze, zeitraubende Verhöre werden nachher die Bestechungsgelder von einem erpresst, damit der Name endlich wieder aus den Akten verschwindet! Wenn ich hätte helfen können — gewiss! Ich hatte ja die beste Absicht, das unheimliche Paar dem Arm der Obrigkeit zu überantworten. Ich war auf dem Wege. Aber nun sind sie fort. Was nutzt es jetzt, wenn ich sage: „Der Gymnasiast war ein Mädchen!“ Das wissen die Gendarmen vor mir ohnedies wahrscheinlich schon ganz genau. Ich mache mich damit nur ohne Not verdächtig, als wüsste ich noch mehr. Bestenfalls komme ich in die Geheime Überwachungsliste der dritten Abteilung und habe noch nach Jahren Scherereien und Hinderniffe, ohne dass ich weiss, woher — gerade ich — ein junger Mann mit besten Beziehungen, der in Petersburg Karriere machen will! Ich entschliesse mich, die Wahrheit zu sagen und doch nicht ganz die Wahrheit:

„Wie sollte ich die beiden kennen?“ versetzte ich. „Ich habe sie bisher niemals in meinem Leben gesehen. Ich hörte nur in Wirballen durch den örtlichen Passrevisor, es seien zwei aus dem Ausland heimkehrende junge Knjäse!“

Der Gendarm nickt nur trübe. „Die Zwei haben leider Gottes das Grenz-Examen als Fürsten bestanden. Irgendwie mussten sie also in der hohen Welt Russlands Bescheid wissen. Wenigstens der bleiche, brünette Gymnasiast. Der andere, mit den schwarzen Nägeln, sah freilich einem Popensohn ähnlicher als einem Nachkommen Ruriks.“

„Die beiden müssen durch das offene Fenster nach der Rangierseite hinausgeklettert sein!“ murmelt der Oberkonduktor mit den rot-silbernen Tressen.

Unwillkürlich blicken wir alle nach den Rangiergeleisen und in die Nacht hinaus. Es ist draussen so dunkel, dass man kaum die Umrisse der nächsten, da stehenden, mit Holz beladenen Güterwagen erkennt. Man sieht nichts von Pskow, nichts von seinem Kreml und der Pleskauer Kathedrale in seiner Mitte. Diese pechschwarze Finsternis hat die gefährlichen Eindringlinge verschluckt. Jetzt sind sie irgendwo in der grossen Weite, in der Nacht über Russland.

Der Gendarm grüsst mich schweigend und dienstlichstramm und geht resigniert mit den anderen weiter. Sie stöbern wohl noch planlos im Zug herum, ob sich die zwei da irgendwo versteckt halten. Aber darauf ist wenig Hoffnung. Da stapfen die Gendarmen auch schon alle kopfschüttelnd in ihren schweren Kniestiefeln auf den Bahnhof hinaus. Die Glocke läutet. Wir fahren.

Nun habe ich das ganze Abteil für mich. Aber ich sitze unruhig aufrecht. Die Geschichte hat mich aufgeregt. Ich ärgere mich hinterher: Warum, zum Teufel, musste ich plötzlich aufwachen und diesen verwünschten Gymnasiasten bei seinem Tun beobachten? Ich habe doch sonst einen Schlaf wie ein Bär an Christi Erscheinungstag. Was hat mich eigentlich geweckt? Hätte ich, nach meiner gewohnten Art, durchgeschlummert, so wüsste ich jetzt von gar nichts, und mein Gewissen wäre völlig rein . . .

Immerhin gut, dass man aus der Sache wieder heraus ist! Es ist schliesslich nicht meine Aufgabe, die Verbrecher zu fangen! Wozu hat der Selbstherrscher seinen Polizeiminister, seinen Stadthauptmann, seine Ochrana? Der Gedanke beuhigt mich. Die Lider fallen mir zu. Ich schlafe schliesslich doch wieder fest ein.

Als ich die Augen aufschlage, ist es schon heller Tag. Draussen gleitet langsam unter stahlblauem Herbsthimmel Russland vorüber. Endlos das weisse Gewimmel der Birkenstämme mit den letzten bunten Laub. Strohgedecke Bauernhütten. Die grünen Hols-Zwiebeln der Dorfkirchen. Ich zünde mir eine Zigarette an und überlege mir, ob ich die Ereignisse dieser Nacht nur geträumt habe. Nein! Den Eltern werde ich sie berichten. Sonst keiner Menschenseele. Ich schue gedankenlos auf die Uhe, schnelle empor, greife hastig nach meinem Gepäck. Herrgott: wir sind ja gleich in Gatschina!

Da fahren wir schon ein. Halten. Ich will hinaus. Ein Blick durch das Fenster: Über den ganzen Bahnsteig hin steht längs des Zug seine Reihe schweigender Gendarmen mit umgeschnalltem, Revolver. Von irgendwo her schallt eine befehlende Stimme:

„Alle Reisenden sitzen bleiben! Niemand darf den Zug verlassen!“

Und neben mir sagt ein Schaffner draussen zu einem Stationsarbeiter, der die Räder mit einem Hammer beklopft und wahrscheinlich auch ein verkleideter Spitzel ist: „Es waren heute nacht politische Verbrecher im Zug. Sie entkamen. Man will, ehe der Zug Petersburg erreicht, untersuchen, ob sich nicht in ihm vielleicht noch Mitschuldige befinden. Alle Koffer werden durchsucht. Alle Pässe geprüft.“

Zum Glück fangen sie wenigstens mit den Wagen erster Klasse an! Mehrere Menschen treten in mein Abteil, Leute in Uniform und Zivil. Sie durchstöbern Stück für Stück mein Handgepäck. Dann wendet sich der eine, ein Kerl mit vielen Finnen in seinem käsigen Gesicht, an mich:

„Bitte Ihren Pass!“

Ich habe den Pass in einer unterirdischen Seitenklappe meiner Brieftasche verwahrt. Die Brieftasche steckt immer in meinem Rock. Ich hole sie heraus. Ich öffne sie. Ich greise in den Iuchtenlederschlitz, in dem mein Pass, mein getreuer Reisebegleiter im Ausland, seit zwei Jahren, ruht. Ich ziehe die Hand leer zurück. Ich fasse noch einmal in das Geheimfach der Tasche. Ich fingere hastig ihre dünnen ledernen Wände ab. Da ist nichts. Ein Blick hinein überzeugt mich . . .

Dabei weiss ich ganz genau: Ich habe den Pass, den mir der Grenz-Tschinownik in Wirballen nach beendetem Verhör zurückgab, in die Brieftasche gesteckt. Die Brieftasche ist noch da. Ihr Inhalt — Korrespondenzen, Visitenkarten, Fahrschein, selbst ein dickes Bündel regenbogenfarbiger Hundertrubelnoten — ist völlig unversehrt. Nur der Pass — der Pass fehlt . . .

Vielleicht habe ich ihn doch in eine andere Klappe der Tasche getan? Ich stöbere alles durch. Nein! Meine Aufregung wächst. Der finnige Geheimpolizist steht stumpfsinnig da. Hinter ihm die Gendarmen. Es regt sich nichts auf ihren schnurrbärtigen Zügen. Gegen einen Barin, der in der ersten Klasse reist, ist man rücksichtsvoll. Sie warten. Sie wissen: Ich muss ja meinen Pass besitzen! Wie wäre ich denne sonst über die Grenze gekommen?

Habe ich das verwünschte Papier am Ende in der Zerstreutheit irgendwo andershin in meinen Anzug gesteckt? Ich weiss: es ist aussichtslos! Es ist nur, um Zeit zu gewinnen. Um zu überlegen. Ich krabbele lächelnd in jedem Behältnis herum, das im Ausland der deutsche Schneider mir in Rock und Hose und Weste angebracht. Und dabei durchzuckt mich schreckhaft die Lösung des Rätsels . . .

Ein Erinnerungsbild der Erkenntnis steigt vor mir auf: Da sitzt wieder, mitten in der Nacht, wie ich plötzlich aufwache, mie gegenüber der bleiche, schwarzhaarige Gymnasiast. Er hat seine dunkelgrüne Uniform aufgeknöpft. Er birgt etwas auf seiner Brust — der gerundeten Brust einer Frau. Jetzt weiss ich, was dies Etwas ist. Der grüne Gymnasiast hat mir im Schlaf meinen Pass gestohlen und die Brieftasche wieder in meinen Rock zurückgeschoben. Mit dieser letzten Bewegung hat er mich, ohne dass er es merkt, aus meinem bleiernen Schlaf geweckt. Daher seine misstrauischen Blicke zu mir hinüber. Dann, als ich mich nicht rege, seine wiederkehrende Ruhe. Seine Berechnung: Wenn ich, während des Rests der Fahrt nach Petersburg, nur die Brieftasche an ihrem gewohnten Platz finde und in ihr Fahrkarte und Reisegeld — nach dem Pass in dem Geheimfach werde ich unterwegs nicht mehr sehen! Den Pass braucht man, wenn man einmal die russische Grenze hinter sich hat, ja erst wieder bei der Ankunft in Petersburg zur Ablieferung an den Viertelsmeister und die Stadthauptmannskanzlei.

Was nun? Ich bin völlig verdonnert. Ich starre leer zum offenen Abteilfenster hinaus, um meine Gedanken zu sammeln. Vor dem Fenster klirren Sporen. Der örtliche Polizeichef, ein schlanker, schnurrbärtiger, junger Mann, geht schnell die Reihen der Gendarmen entlang. Ich kenne ihn, von Estland her. Er ist ein Balte. Er ist, durch ein Scheffel Erbsen, mit der Frau meines dortigen Onkels, des Pastors Casparson, einer geborenen Baronesse Donstätten, verwandt. Ich rufe ihn lachend auf deutsch an. Ich spiele den unbefangenen, jungen Weltmann.

„Graf Rittmannshausen! . . . Graf Rittmannshausen! . . . Erbarmen Sie sich meiner!“

Er bleibt stehen und reicht mir zum Abteilfenster herein die Hand.

„Sieh da: Herr von Küster! Endlich aus dem Ausland zurück!“

„Aber vorläufig hier im Zug als Staatsgefangener! Ich möchte so gern hier heraus! Mein Vater, den ich seit zwei Jahren nicht gesehen habe, erwartet mich!“

„Ich sah jetzt eben dort hinten Seine Exzellenz! Er sucht nach Ihnen! Bitte steigen Sie nur aus!“

Ein kurzer Blick des örtlichen Polizeichefs zu seinen Leuten im Abteil, der besagt: „Für diesen Herrn stehe ich ein!“ Die Gendarmen und die dunklen Ehrenmänner neben ihnen begreifen. Sie sind wie ausgewechselt. Sie reichen selbst mein Gepäck aus dem Fenster dem Träger draussen. Ich trete hinaus. Ich drücke dem Grafen Rittmannshausen dankend die Hand. Ich eile den Bahnsteig entlang und liege in den Armen meines Vaters.

II

Papa küsst mich zur Begrüssung stürmisch auf beide Backen. Papa ist, vor undenklichen Zeiten, vor bald vier Jahrzehnten, aus Deutschland, wo es ihm zu eng war, nach Russland gekommen, und auch ich bin durch seine baltische Heirat rein deutschen Geblüts. Wir, die Eltern und ich, sprechen auch zu Hause untereinander nur deutsch. Aber jetzt, in der Freude, seinen einzigen Sprössling wiederzusehen, bricht bei Papa der alte Petersburger durch. Ein Schmatz nach Russenbrauch rechts. Ein Schmatz links. Sprechen kann Papa vor Rührung nicht. Auch ich nicht. Ich sehe Papa an. Er hat sich gar nicht verändert in den zwei Jahren meines Aufenthalts im Ausland. Immer noch die hohe, schlanke, biegsame Gestalt, trotz seiner Ende der Fünfzig, immer noch die geschmeidigen, fast lautlosen Bewegungen, die mehr an einen Höfling als an einen Professor der Medizin erinnern. Sein Haar über der hohen Stirn ist immer noch dicht und dunkelbraun, die ungewöhnlich grossen, klugen, grauen Augen sind immer noch brillenfrei. Auf seinem glattrasierten Diplomatengesicht mit der langen, geraden Nase und den schmalen, feinen Lippen liegt immer noch das verhaltene, unverbrüchlich verbindliche und verständnisinnige Lächeln des grossen Petersburger Modearztes, der nun schon von Generationen der Hohen Welt an der Newa die leiblichen und, zum Teil, auch seelischen Nöte kennt. Mir gegenüber schwindet bei Papa die glatte Tünche. Er schaut mich liebevoll an. Er streichelt mich mit seinen auffallend schön geformten, wundervoll gepflegten Händen. Seine Stimme, die er jetzt wiedergefunden hat, ist weich, eindringlich, von tröstendem, halblautem Klang eines Beichtvaters am Krankenbett.

„Mama schickt dir ihren Segen, mein Sohn! Sie zählt die Stunden, bis sie dich in Petersburg in die Arme schliesst! Ich wurde gestern abend zu heute früh nach Gatschina herausbefohlen. Ich sollte das Glück, haben, den Grossfürsten Oleg zu behandeln. Als ich kam, war der allerdurchlauchtigste Herr in das Lager von Kransnoje Selo hinübergefahren. Er inspiziert dort das Ismailowsche Regiment. Die Truppen bleiben dies Jahr länger als sonst dort. Ich muss seine Rückkehr abwarten. Nun komm, mein Junge!“

Papa fasst mich unter den Arm und geleitet mich gegen den Ausgang, wo majestätisch in Silber und Scharlach der dicke Stationsschweizer Wache hält. Papa erzählt dabei in seiner leisen, sanften und doch merkwürdig bestimmten Art, der er seine Macht über die Menschen verdankt:

„Mama ist — Lob sei Gott — wohl und munter. Auch sonst alles in unserer Verwandtschaft. Mamas Bruder und Tante Dorothea lassen dich aus Dorpat grüssen. Mit ihrer Tochter habe ich einigen Verdruss. Ich hatte der Magna, wie ich dir seinerzeit schrieb, durch meine Verbindungen im Hofhalt des grossfürsten Oleg die Stellung als Erzieherin seiner Kinder verschafft. Nun will sie wieder weg. Sie fühlt sich nicht wohl in Petersburg. Sie hat Heimweh.“

Es ist mir in diesem Augenblick ganz gleichgültig, ob meine hübsche, kühle blone Base Magne Casparson sich in das estländische Pastorat ihres Vaters zurücksehnt oder nicht. Ich überlege: soll ich Papa das Unheil dieser Nacht jetzt gleich hier brühwarm auf dem Bahnhof berichten? Und da kommt schon seine Frage:

„Nun — und wie verlief denn deine Reise von Berlin hierher?“

Ich hole Atem. Ich schicke mich an, zu reden. Aber das Dampfzischen einer Lokomotive übertäubt schon meine ersten Worte. Ein örtlicher Zug aus dem nahen Petersburg ist eingefahren. Und zugleich ist um uns auf dem Bahnsteig eine merkwürdige Geschäftigkeit von allerhand Menschen. Reisende jeder Art, Streckenarbeiter, ein paar Kleinbürger, ein langbärtiger Altgläubiger, einige elegante Frauen, ein Pope, stehen wie aus der Erde gewachsen, da in Gruppen. Diese Gruppen bilden eine Art unauffälliges Spalier von einem in den Petersburger Zug einrangierten Salonwagen, bis zu dem Bahnhofschweizer, hinter dem die Pfauenfedern auf der Pelzmütze eines dickwattierten Kutschers vom Bock eines prunkvollen, wartenden Dreigespanns sich im Winde wiegen.

„Welch eine Menge Geheimpolizei plötzlich!“ sagt mein kundiger Vater. „Da muss ein ganz grosses Tier aus Petersburg angekommen sein! . . . Ah — sieh dort!“ Er wendet mit jugendlicher Beweglichkeit seine lange, vornehme Gestalt gegen den zug hin, so dass die bunten Bändchen des Annen-, des Wladimir-, des Alexander Newskij- und Gott weiss welcher anderen Orden auf der Klappe seines dunklen Überrocks im Herbstsonnenschein aufflimmern. Er ist auf einmal aufgeregt. Sein gespanntes, immer liebenswürdiges Antlitz zeigt, durch die Ruhe des Arztes hindurch, jäh einen Schimmer freudiger Befriedigung. „Sieh dort!“ wiederholt er gedämpft. „Es ist wahrhaftig Tschurin selbst! Er ist mein Patient! Mein Gönner! Schon seit einem Jahr! Ich sage das mit Dank zu Gott! Du ahnst nicht, was ein Rückhalt an Tschurin im augenblicklichen Petersburg bedeutet! Betrachte dir Tschurin genau! Er ist zur Zeit einer der mächtigsten Männer von Russland.“

Aus dem Salonwagen ist langsam ein kleiner, dürftiger älterer Herr gestiegen. Er trägt einen grauen Mantel um die schwächlichen Schultern. Eine weisse Schirmmütze beschattet sein schläfriges Fuchsgesicht, dessen Wachsgelb sich fahl von dem grauen Spitzbart unter der kolbigen Nase und dem säuerlichen, argwöhnisch in Fältchen gerundeten Mund abhebt. Die Ohren sind auffallend gross. Sie stehen wie Muscheln von dem kränklichen Haupt ab. Aus diesem Haupt blinzeln, undurchdringlich, leidenschaftslos, ein Paar geschlitzter Augen über den Bahnsteig hin.

„Welche Stellung hat Tschurin, Papa?“

„Nach aussen hit ist sie verschleiert. Er ist, für besondere Aufträge, dem Ministerium des Kaiserlichen Hauses und der Ochrana zugeteilt, insbesondere für dir persönliche Sicherheit des Selbstherrschers. Daher hat er insgeheim seine Hand in allem. In wenigen Jahren stieg er zu dieser Macht, indem er regelmässig als Älterer Gehilfe seinen unmittelbaren Vorgesetzten stürzte. Pass auf: Gleich wird er mich anreden! Mein Gott — wie elend er aussieht!“

Boris Borissowitsch Tschurin, Hohe Exzellenz, Wirklicher Geheimer Rat, Senator, Mitglied des Reichrats, geht zitterig über den Bahnsteig. Sein Bart ist grau. Sein Mantel ist grau. Alles ist grau, wie bei einer leise aus ihrem Loch geschlüpften Maus. Nun verzieht sich sein faltiger, etwas verbitterter, resignierter Mund zu einem eigentümlichen, gefrorenen, gleichsam aus Sibirien stammenden Lächeln. Er hat meinen Vater erkannt. Er winkt ihm mit der welken Hand zu.

Papa eilt geschäftig, nach russischem Brauch den Handschuh unterwegs von der Rechten streifend, auf ihn los. „Sei vorsichtig mit jedem Wort! Man nennt ihn in Petersburg den ,Vater der Lüge’!“ raunt er noch schnell, ohne mich anzusehen. Ich folge Papa, der mit der tiefen, elastisch federnden Verbeugung eines Hofmarschalls dem kleinen gefährlichen Mann die Hand drückt. Dann stellt er mich vor. Auch mich würdigt Seine Hohe Exzellenz einer Berührung seiner vom Papyrossendrehen gelblichen Fingerspitzen. Er ist, bei aller aufmerksamen, stillen Unergründlichkeit seiner grünlichen Pupillen, sehr liebenswürdig.

„Meine Frau wird sich freuen, Sie bei sich zu sehen!“ sagt er auf französisch zu mir, leise und höflich, fast vertraulich, und mein Herz schlägt höher vor freudiger Überraschung. Über Tschurin selbst habe ich noch wenig gehört. Auch aus den Breifen meines Vaters kaum ein paar Andeutungen. Denn welcher Würdenträger in Russland vertrut der Post mit ihren schwarzen Kabinatten diskrete Mitteilungen an? Aber der Salon der alten Marina Georgiewna Tschurin ist eine altbekannte Petersburger Institution. Landsleute im Ausland haben mir viel von ihm erzählt.

Dieser Salon ist einer der einflussreichsten politischen Wetterwinkel an der Newa. Hier werden die neuesten Nachrichten aus den Zarengemächern kolportiert. Hier werden die wichtigsten Intrigen gesponnen und die nützlichsten Vervindungen angeknüpft. Hier findet ein junger Mann, der seine Zeit versteht, Protektion. Was ist in Russland ein Mensch ohne Protektion?

„Sie treffen im Salon meiner Frau auch meine beiden Kinder!“ fügt die Hohe Exzellenz in leisem, mattem Französisch hinzu. „Halten Sie sich an meinen Sohn Platon! Er gehört zu den eifrigsten Panslawisten. Er ist — unter uns — Mitglied der geheimen ,Heiligen Schar‘ zum Schutz des Imperators. Sie wissen: diese Organisation ist nach aussen hin verboten. Nun — hähä! — es bekommt ihr recht gut! Mein Sohn wird Sie, nach Ihrem jahrelangen Aufenthalt in den westlichen Ländern, gern wieder in unsere russische Gedankenwelt einführen. Auch meine Tochter Irina . . .“ Er unterbricht sich und wendet sich zu meinem Vater: „Stellen Sie sich vor, mein teurer Professor: Irina will durchaus nicht mehr den Posten als Hoffräulein bei der alten Grossfürstin Anna Konstantinowna bekleiden! Warum? Sie fragen mich zuviel! Diese Irina ist ein Rätsel. Nicht nur mir, ihrem Vater, sondern allen! Ah — was erlebt man mit seinen Töchtern! Die Ljuba tot! Und die Irina sitzt mi rim Hause herum und weiss selbst nicht, was sie will . . .“

Papa neigt stumm, in einem verständnisvollen Beileid, seinen glattrasierten, schönen Kopf. Dann warnt er, ehrerbietig, aber mit der vertraulichen Offenheit des Arztes:

„Sie überarbeiten sich, Hohe Exzellenz! Ihr Aussehen will mir nicht gefallen!“

„In der Tat . . . Ich hatte gerade gestern . . . Ich bekam da Nachrichten . . .“ Boris Tschurin brach plötzlich ab und heftete seine undurchdringlichen, aber jetzt sonderbar melancholischen Augen starr vor sich auf die Sonnenblumenkerne am Boden, die da irgendein Muschik ausgespuckt hatte. Auch Papa und ich schweigen. Wir haben, in den Minuten dieser Unterredung, beide das Gefühl von Soldaten im Feuer. Wir wissen: wir befinden uns, so lange wir hier öffentlich mit dem Wirklichen Geheimrat Tschurin zusammenstehen, in unmittelbarer Lebensgefahr, wie er den ganzen Tag. Wohl beschrmt uns rings, in stummer unsichtbarer Aufmerksamkeit, die Ochrana. Aber wieviel Grosse Russlands haben trotzdem schon inmitten ihres Geheimschurzes die Erde mit ihrem Blut gerötet, und der Krach der Bombe, die der Hohen Exzellenz Tschurin gilt, würde auch uns in Stücke reissen. Doch es ereignete sich nichts. Der Würdenträger kam aus seiner merkwürdigen Versonnenheit zu sich. Er verabschiedete sich von uns.

„Ich muss in das Schloss!“ sagte er erregt und hastig. „In die Eigene Kanzlei seiner Majestät! Es sind da Dinge . . . Ich fahre mit dem nächsten Zug nach Petersburg zurück. Auch da warten Angelegenheiten . . . Kurz: ich schlafe nicht mehr in den letzten Tagen! Ich brauche Ihren ärztlichen Rat, mein lieber Meister! Wann kann ich Sie konsultieren? Nein — nein — besuchen Sie mich nicht! Ich möchte nicht, dass man den Arzt zu oft bei mir aus- und eingehen sieht! Schon flüstert man dann in gewissen Kreisen, ich sei krankheitshalber den Geschäften nicht mehr gewachsen! Sie kennen ja unser Petersburg! Es ist auf Sumpf gebaut und wird ewig eib Sumpf bleiben. Sind Sie heute abend zu Hause? Gut! Dann komme ich gegen acht Uhr, ganz unauffällig zur Beratung zu Ihenn. Auf Wiedersehen!“

Draussen wehte der lange Schweif des Orlow-Rappen. Die Beigäule galoppierten. Exzellenz Tschurin fuhr in Windesschnelle nach dem Schloss von Gatschina davon. Papa sandte ihm jenen ruhigen, ernsten und sachlichen Blick nach, mit dem er seit vielen Jahren die Menschen daraufhin prüft, was ihnen fehlt oder ob sie ihm nützlich sein können. Dann winkte er einem Iswoschtschik. Wir rasselten durch die baumbepflanzten Villenstrassen von Gatschina, dieser Kleinstadt vor den Toren der Residenz, die, wie Potsdam in Deutschlan, nur von Hofbestallten, Garde, Adel und Kronslieferanten bewohnt zu sein scheint.

„Seihst du vor uns die kleine blaue Datsche?“ sagt mein Vater, schon im Westen des Ortes, nahe den Marienburger Höhen. „Ich habe in ihr der Witwe eines Zivilgenerals, da ich so häufig im Sommer hier draussen zu tun habe, ein Absteigequartier abgemietet. Man mag nicht immer in dem grossen goldenen Gefängnis dort drüben sich aufhalten!“

Durch die staubigen kleinen Fenster der niederen hölzernen Villa sehe ich fern, zwischen laubleerem Parkgeäst und silbernen, windgekräuselten Seen den dreistöckigen Riesenpalast des Zaren mit seinen sechshundert Sälen und Gemächern, seinen seitlichen Säulengängen und Kavaliersbauten. Vor der mannshohen Mauer, die den Park gegen die Stadt zu abschliesst, karren Bauernwägelchen, spielen Kinder, gehen Bürgerfrauen spazieren. Aber zwischen ihnen reiten über die löcherigen Strassen die Kosaken mit rotgestreiften Hosen auf ihren struppigen Kleppern, alle Parktore sind grün von Gendarmerie, hinter jedem zehnten Baum lehnt ein Geheimpolizist in Bürgerkleidung. Alle die rothemdigen Arbeiter, die sich auf den Wiesen und Wegen zu schaffen machen, stehen im Dienst der Ochrana. Weiter gegen das Schloss zu spannt sich eine vielhundertfache Sperrkette der, sämtlich genau gleich grossen, russisch stumpfnasig ausgesuchten Mannschaften des Pawlowschen Regiments. Vor dem Palastportal bummeln baumlange Berg-Kaukasier des Leib-Garde-Convois in ihren roten, mit Patronentaschen benähten Knieröcken. Im Innern, auf den Paradetreppen, stehen wohl noch, mit geschultertem Pallasch, in schimmerndem Kürass, die Chevaliergarden. Dann beginnt esft, vor den Gemächern des Zaren, die eigentliche, persönliche Bewachung.

„Vor wenigen Wochen“, sagt langsam, meine Gedanken erratend, mein Vater, „fan der Zar morgens mitten auf seinem Schreibtisch sein Todesurteil. In seiner Erregung hat er, einige Tage drauf, den diensttuenden Flügeladjutanten erschossen. Dieser ahnungslose arme Graf hatte nicht bedacht, dass der dicke Teppich sein Sporenklirren dämpfte. Er tart zu hastig und lautlos hinter den Stuhl des Selbstherrschers, der ihn für einen Attentäter hielt. Aber du hörst ja gar nicht zu! Was hast du denn?“

„Weisst du, we rich bin?“ breche ich verzweifelt los. „Ein Mensch ohne Pass bin ich!“

„Was? . . .“

„Ein Mensch ohne Pass!“

„Um Gottes willen: Wie kann man seinen Pass verlieren?“

„Gestohlen wurde er mir!“ stöhne ich und erzähle alles. Als ich ende, ist das weltkundige Antlitz meines Vaters bleich vor Schrecken, aber ruhig. Er lässt sich schon lange nicht mehr von russischen Dingen überrumpeln. Er hat sich schon blitzschnell alles zurechtgelegt.

„Vor allem muss die Sache natürlich vollkommen vertuscht werden!“ versetzt er. „Die politische Polizei darf überhaupt nichts davon erfahren! Du must heute noch hinter ihrem Rücken einen neuen, gültigen, um zwei Jahre zurückdatierten Pass bekommen! Sollte dann die dritte Abteilung dich fragen, wo dein Pass geblieben ist, so zeigst du diesen neuen Pass vor und erklärst: ,Falls sich ein Verbrecher eines Ausweises auf meinen Namen bedient, hat der Halunke dieses Papier eben raffiniert gefälscht’!“

Ein wenig löst sich mir der lähmende Druck von der Brust. Papa furcht in tiefen Gedanken, als gälte es eine mathematische Preisaufgabe zu lösen, die glatte, hohe Stirne.

„Die Schwierigkeit ist nur, den Pass zu beschaffen!“ murmelt er.

„Wäre da nicht Exzellenz Tschurin . . .?“ wage ich zu fragen.

Ein rätselhaftes, düster-resigniertes Lächeln meines Vaters. Papa kann manchmal merkwürdig ironisch lächeln, so als zucke er, in kurzen Augenblicken der Besinnung, im stillen die Achseln über den Lauf der Welt, über sich, über Russland . . .

„In allen Dingen kann Tschurin helsen!“ sagt er. „Nur gerade hier nicht, mein armer Junge! Hier hat er selbst das Skelett im Hause!“

„Ich verstehe nicht . . .“

„Har er nicht vorhin erwähnt, das ser zwei Töchter hat?“

„Eine — die Irina!“

„Zwei!“

„Die andere, die Ljuba, ist doch, wie er sagt, tot . . .“

„ . . .und lebt! Mit achtzehn Jahren verliess sie das Elternhaus und ging ,ins Volk’, wie diese Feinde der Gesellschaftsordnung es nennen. Seit vielen Jahren lebt sie illegal!“

Illegal . . . Ich muss mir erst wieder die russische Bedeutung dieses Wortes in die Erinnerung zurückrufen. Illegal — so heissen hier die politischen Verschwörer, die, um den Verfolgungen der Polizei zu entgehen, ihren Namen abgelegt haben, ihre Herkunft verleugnen, und unangemeldet, unter wechselnder Verkleidung, da un dort in immer neuen Schlupfwinkeln hausen.

„Diese Ljube — das älteste Kind Tschurins“, erzählt Papa, „ging damals in das Tulasche Gouvernement und organisierte dort die Gewehrarbeiter. Man nahm sie fest und begnügte sich, aus Rücksicht auf den Vater, damit, sie in Sibirien anzusiedeln. Nach kurzem war sie wieder da. Sie wurde verhaftet . . . Gott weiss es, wie sie aus der Peter-Pauls-Festung herauskam und nach Zürich floh. Seitdem lebt sie dort. Man beobachtete sie durch die Geheimpolizei auf Schritt und Tritt. Aber . . .“

Mein Vater schliesst plötzlich seine schmalen feinen Lippen, als wollte er einen sich zum Wort formenden Gedanken im letzten Augenblick zurückhalten. Er schüttelt den Kopf.

„Nein! Lassen wir Tschurin! Hier brauchen wir einen noch viel Höheren! Für einen Grossfürsten gibt es in Russland keine Gesetze. Nur das Machtwort des Grossfürsten Oleg Igorowitsch, meines allerdurchlauchtigsten Patienten, kann uns den Pass verschaffen!“

Papa wird lebhaft.

„Ich sehe jetzt bakd drüben im Schloss als Arzt den Grossfürsten! Aber man muss vorsichtig sein — ganz unendlich vorsichtig! Solch eine Bitte mitten ins Gesicht . . . Wer kann wissen . . .? Nein: Umwege sin dimmer besser . . . Fahre du jetzt sofort mit dem nächsten Zug nach Petersburg und dort in das Palais des Grossfürsten zu deiner Base Magna. Sie ist die Erzieherin seiner Kinder. Sie kennt sich im Palais aus. Sie ist klug. Sie wird dir besser, als ich es kann, verraten, auf welche besonderen und eigentümlichen Beziehungen e shier vor allem ankommt.“

Eine dralle, barfüssige Dirne trat, ein rotes Tuch auf dem Flachskopf, mit Tee und Brot und Butter herein. Mein Vater schob sie zur Seite. „Wir haben keine Zeit, Mascha! . . . Komm!“ Dabei war er schon an der Tür. Wir sprangen in das harrende Wägelchen. Zurück zum Bahnhof! Dort stand schon der örtliche Zug nach Petersburg. Ich wollte in einen Wagen treten. Da sehe ich, wie Papa eine Bewegung macht. Er begrüsst den Wirklichen Geheimrat Tschurin, der soeben verstört, mit quittengelbem, spitzbärtigem Fuchsgesicht, vom Zarenschloss zurückkehrend, aus der Troika steigt.

„Sie müssen mir helfen, Professor, bei der Konsultation heute abend!“ versetzt er leise, schnell, matt, ohne meine Anwesenheit zu beachten. „Sie müssen meine Nerven beruhigen. Ich befinde mich in einer Erregung, dass ich kaum mehr meinen Dienst zu versehen vermag . . .“

„Ich werde mein Bestes tun, durchlauchtige Exzellenz, um wenigstens die Symptome dieser Erregung zu beseitigen, deren Ursache ich ja nicht kenne und wahrscheinlich auch nicht kennen darf.“

„Warum sollte ich sie Ihnen nicht nennen!“

Der graue, faltige Fuchskopf dreht argwöhnisch seine grünlichen Lichter nach rechts und links, wo ringsum, als harmloses Bolk aller Art verkleidet, die Ochrana ihn beschattet. Seine Stimme sinkt zu einem erschöpften Flüstern. „Unter uns: wir sind in höchster Besorgnis. Wir haben Meldungen von neuen, umfassenden, verbrecherischen Anschlägen wider den Imperator vom Ausland her. Mehrere der gefährlichsten Bösewichte haben zu diesem Zweck bereits die Schweiz verlassen. Mit ihnen ist auch — mein Gott, machen wir uns doch nichts vor — es ist ja kein Geheimnis — meine verstorbene Tochter Ljuba lebt in Zürich . . .“

„Ich weiss es.“

„Die Unselige ist seit einigen Tagen aus Zürich verschwunden. Sie ist auf dem Weg nach Russland. Alle Polizeiorgane besitzen den Steckbrief. Man wird sie schon an der Grenze verhaften.“

„Wenn dem so ware . . .“

„Und dismal wird es furchtbarer Ernst. Man hat dieses Jahr schon Sophie Günsberg zum Tode am Galgen verurteilt. Gleich nach ihr Olga Iwanowskaja, deren Vater doch ein hoher Reichsbeamter war. Wie — wenn man nun Ljuba beim Betreten Russlands festnimmt — wir haben diesesmal alle Massregeln getroffen — keine maus kann an irgendeiner Stelle durch und nach Russland hinein!“

„Ich fürchte, Hohe Exzellenz: Kjuba Borissowna ist bereits in Russland!“

Boris Tschurin schaut meinen Vater labge Zeit schweigens an. Er fasst sich mechanisch, wie um aus einem bösen Traum zu erwachen, an die kolbige Nase, er nimmt, als würde ihm die kühle meernahe Herbstluft von Gatschina zu heiss, die Mütze von dem grossen, spärlich behaarten Grauschädel. Der kränkliche, verbitterte Mund steht ihm verblüfft halb offen. Er sieht in diesem Augenblick gar nicht aus wie ein Vater der Lüge, sondern wie ein unglücklicher Vater — ein noch halb ungläubiger, ängstlicher und schwächlicher Greis.

„In Russland? Wie das?“ fragt er endlich. Es ist noch das höfliche, lispelnde Petersburger Französisch. Aber es zittert aus gepresster Kehle. Papa gibt mir einen Wink, zur Seite zu treten. Er spricht leise auf den kleinen allmächtigen Mann vor ihm ein, der mit einem Federzug, immer geräuschlos, immer in einer leidenden, scheinbar schonenden Art die Untertanen des Zaren zu Hunderten nach Sibirien und in die Kasematten verschickt. Er erzählt ihm mein Abenteuer dieser Nacht. Dann, etwas lauter, mit einem warnenden Wimperzucken zu mir, nichts von dem Passdiebstahl zu verraten:

„Wie dieser Gymnasiast aussah? Mein Sohn kann das besser schildern!“

Ich nähere mich ehrerbietig.

„Ob es eine Frau war? Gewiss, Eure Hohe Exzellenz!“ versetze ich. „Ich habe es genau gesehen. Ich kann es beschwören! Ihr Alter? Ich denke, so etwa achtundzwanzig Jahre. Mittelgross war sie und sehr mager . . .?

„Wie hätte sie sonst die Gymnasiastenuniform tragen können?“ schaltet mein Vater, verhalten hinter der hohlen, weissen Hand hüstelnd, ein.

„Ihr Gesicht klein und hager und sehr bleich!“ fahre ich fort. „Sie hatte kurze, tiefschwarze Haare. Die Augen auch Schwarz und unruhig — unheimlich möchte ich fast sagen!“

„Haben Sie meine Tochter Ljuba je gesehen?“ fargt Boris Tschurin matt.

„Niemals, Eure Hoge Exzellenz!“

„Nun: Sie beschreiben mir ihr Äusseres, so wie ich sie zuletzt sah — in der Peter-Pauls-Festung — vor fünf Jahren, nachdem . . .“

Papa streckt rasch die Hände aus, als wollte er den schwächlichen Körper neben sich im Fallen auffangen. Denn der kleine, fahle Würdenträger schwankt. Aber er befiehlt sich, mit einer zähen Willenskraft um die dünnen, verschlossenen Lippen, aufrecht zu bleiben. Ein Ohnmachtsanfall hier — auf offenem Bahnsteig — gerade hier in Gatschine: es wäre das sarkastische Tagesgespräch in den Petersburger Klubs — das schadenfrohe Geflüster in den Salons und Ministerien — das entzückte Gewisper in den Vorgemächern des Zaren . . . womöglich der Anfang vom Ende — bei einem Menschen, der — schon dank seinem Amt — nur Feinde hat, den jeder fürchtet, vor dem jeder auf der Hut ist! Boris Tschurin sammelt sich. Er ist wieder ganz der Alte — in der undurchdringlichen Stille des Gesichts, das einem schlafenden Sumpfspiegel gleicht, in dem trockenen Pariser Tonfall seiner Kehle.

„Noch steht ja nichts fest! Es kann auch eine andere als meine tote Tochter sein!“ sagt er eindringlich, gedämpft und vertraulich. „Doch immerhin — urteilen Sie selbst: wie stehe ich da? Warum straft mich Gott? Soll denn an einem ungeratenen Kind wie Ljuba meine ganze Karriere scheitern? Und meine Zweite, die Irina, statt sich zu verloben — an jeder Hand hat sie mit ihrer gefährlichen Schönheit zehn glänzende partien —, wandelt durch die Salons meiner Frau als ein lebendes Rätsel! Gott weiss, welche Störung meiner Laufbahn mir von ihr noch droht!“

Dieser kleine alte Mann vor mir hat vielleicht noch zehn Jahre zu leben. Er hat eigentlich alles erlangt, was man an Würden und Bürden erreichen kann. Aber er denkt in diesem Augenblick an nichts anderes als an ein paar bunte Bändchen und Ordenssterne mehr auf seine eingefallenen Brust. Er tritt in seinen Salonwagen.

„Heute abend um acht bin ich bei Ihnen, mein Professor“, murmelt er dabei. „Doch halten Sie Ort und Stunde geheim! Ich werde beständig von Mördern verfolgt!“

Der Zug hat nur auf Seine Hohe Exzellenz gewartet. Kaum sitzt sie darin, so ruft der Oberkonuktor schon zur Abfahrt. Ich erreiche eben noch mein Abteil. Gleich darauf setzt sich der Wagen schon in Bewegung,

III

Ich sitze fiebrig in meinem Abteil. Ich trommle verstört mit den Fingeren auf den Knien. Ich qualme eine Papyros nach der anderen und werfe sie in meiner Aufregung halbgeraucht durch das Fenster. Es sind nur zweiundvierzig Werst von Gatschine nach Petersburg. Doch was kann während dieser Stunde alles geschehen? Unter mir rattern eintönig die Räder: Dein Pass . . . dein Pass . . . Verschaffe dir einen neuen, gültigen Pass, ehe man einen Hochverräter mit deinem alten Pass erwischt!

Mein Gott — wo bleibt denn Petersburg? Ich atme auf: Da flimmert endlich fern aus Seedunst, Fabrikrauch und Herbstnebel die gekrönte galeere als Wetterfahne auf der goldenen Turmspitze der Hauptadmiralität. Das Wahrzeichen meiner Vaterstadt Petersburg. Ich fahre vom Warschauer Bahnhof den schnurgeraden Ismailowski-Prospekt hinunter. Rechts und links begrüssen mich die bunten und doch nüchterne Häuser, die vielen Kuppeln und Kirchen — von Kindheit an vertraut das alles, und doch mit seinen russischen Strassennamen und Ladeninschriften ein wenig fremd, wenn man so lange im Ausland war.

Der Pass . . . der Pass . . . Ich beuge mich in dem Wägelchen vor, als könnte ich dadurch den Hufschlag des Gauls auf den Katzenköpfen des Granitpflasters beschleunigen. Gottlob: da hallen dumpf die Bohlen der Blauen Brücke. Da ragt duster in der grossen Seestrasse das Palais des Grossfürsten Oleg Igorowitsch. Zwischen den beiden wachehaltenden finnischen Gardeschützen verbeugt sich auf der Paradetreppa des Ehrenhofs ein blossköpfiger Lakai: Fräulein Magna Casparson wird erst um zwei Uhr mit den grossfürstlichen Kindern von einer Ausfahrt nach den Inseln zurück sein . . .

Der Pass . . . der Pass . . . Jetzt ist es Mittag. Ich fahre in unsere Wohnung in der Michailowskaja. Ich stürze die Treppen hinauf und in Mamas Arme. Ich sitze neben ihr auf dem Sofa. Ich halte ihre Hand in meiner. Mama ist noch rundlicher und behaglicher geworden in diesen zwei Jahren. Ihr pastörlicher, baltischer Blondscheitel schimmert schon stark ins Graue. Dicke Freudentränen laufen über ihr rotbäckiges, gutes Gesicht. Ach — es ist doch schön, wieder bei Muttern zu sein . . .

Aber er Pass . . . der Pass . . . Ich soll Mama Rede und Antwort stehen und tue es nur geistesabwesend. Ich soll effen und bringe kaum einen Bissen hinunter, und Mama nötigt liebevoll:

„Du ist Jungwild. Da sind eingemachte Mossbeeren. Nimm von diesen geräucherten Killo-Strömlingen! Mein Bruder schickte sie aus Estland. Er denkt noch jetzt an uns der Gute, mitten in seinem Kampf gegen den Dschingis-Khan!“

„Dschingis-Khan?“ frage ich mechanisch, und Mama kollert auf:

„So nenne ich den Zaren, seit er uns Balten unterdrückt! Hängen sollte man diesen Pobjedonoszjew mit seinem ganzen heiligen Synod! Ich kann mir nicht denken, dass Iwan der Schreckliche schlimmer gehaust hat als diese orthodoxen Kreaturen!“

Der Pass . . . der Pass . . . Ich bemühe mich, mir den Pastor Casparson in den estnischen Wäldern vor Augen zu rufen: Ich frage: „Was hat Onkel Martin denn getan?“

„Seine Pflicht als Seelsorger!“ ruft Mama empört. „Er hat einen lutherischen Kirchspielangehörigen mit einer russischen Orthodoxen auf deren Wunsch lutherisch getraut! Darauf steht nach dem Ukas des Tamerlan in Gatschina Sibirien! Die Untersuchung ist eingeleitet. Gott weiss, was wird . . .“

Armer Onkel Martin . . . Aber ich bin selbst in Nöten . . . Ich sehe auf die Uhr. Ich stehe hastig auf. Mama erschrickt.

„Wohin, Axel?“

„Zu Magna Casparson! Nein — nein — Mama! Ich muss. Papa schickt ihr durch mich ein eiliges Rezept für die Kinder des Grossfürsten.“

Der Grossfürst — da ist sofort das russische Verstummen. Der russische Gehorsam. Mama lässt mich zärtlich ziehen, und ich fahre wieder atemlos in die Bolschaja Morskaja. Ein Diener führt mich in einen kahlen, dumpfigen Empfsngsraum. Ich gehe da rastlos auf und ab. Ich fange in meiner Nervosität mit Händeklappen die Motten, die aus den verstaubten Mahagonimöbeln flattern. Dann öffnet sich die Tür, und Magna Casparson tritt ein. Sie ist mittelgross und schlank. Sie trägt ein einfaches, weisses Kleid. Sie drückt mir die Hand und sagt in ihrem Baltisch-Deutsch:

„Willkommen, Vetter! Bitte — nimm Platz!“

Ich setze mich und sehe meine blonde Base an und beginner unwillkürlich:

„Wie hübsch du geworden bist!“

Magna schaut mir seelenruhig aus ihren blauen Augen ins Gesicht. Das Schönste an ihr sind der reine, rotweisse Teint — die schwedische Abstammung der Casparson — und die blendend weissen Zähne.

„Als du vor zwei Jahren weggingst, war ich ja noch ein Kalb! Kaum achtzehn!“ spricht sie gelassen. „Nun bist du also wieder in Petersburg, du Ärmster!“

„Ärmster? Wie das?“

„Wie kann es ein Mensch in Petersburg aushalten?“

„Eine Million Menschen bringen das Kunststück fertig!“

„Ich nicht! Sowie die Grossfürstin aus Deutschland zurück ist — nächste Woche —, bitte ich um meinen Pass!“

Bei dem Wort „Pass“ von Magne Casparsons roten Lippen fahre ich wider Willen zusammen . . . Sie zuckt die Achseln.

„Man wird mich höchst ungnädig davonjagen! Einerlei!“

„Warum willst du von hier fort? Ist der Grossfürst zu dir zuringlich?“

„Ich bin für ihn Luft! Gelobt sei Gott!“ sagt Magna kühl.

„Schikaniert dich die Grossfürstin?“

„Mein Gott: die arme, kleine, deutsche Prinzessin ist froh, dass sie das Leben hat!“

„Ärgern ich die Kinder? Das Hoffräulein? Der Intendanturchef? Der Adjutant? Der Haushofmeister? Nein? Alle nicht? Also warum denn?“

„Weil man meinen Vater nach Sibiren schicken will!“ sagt Magne Casparson hart. „Und dabei soll ich mit diesen Leuten hier schöntun und unterwürfig gegen sie sein? Danke! Ich will heim!“

„Freilich: Da braucht man dich jetzt!“

„Daheim sind noch Geschwister und Verwandte genug! Aber Papa kann doch nicht allein nach Sibirien. Er braucht Pflege. Ich geh’ mit!“

„Wird man denn das erlauben?“

„Wenn es mit Sibiren Ernst wird — das ist dann meine letzte Bitte an die Grossfürstin! Wie die Russen sind — gerade so etwas schlagen sie einem nicht ab!“

„Fürchtest du dich denn nicht vor Sibirien?“

„Nein!“ sagt die blonde Magna in ihrem kühlen Baltisch. „Aber nun genug von mir! Heute morgen erst wurdest du aus dem Ausland von deinen Eltern erwartet. Warum kamst du dann gleich hierher, wenn du nicht irgend etwas brauchst?“

„Einen Pass brauche ich!“ versetze ich leise und verzweifelt und erzähle die ganze Geschichte. Als ich geendet, faltet Magna die Hände über em blonden Haarknoten im Nacken zusammen und schaut sinnend mit zurückgelegtem Haupt zur Decke. Ich warte eine Weile. Dann versetze ich kleinlaut:

„Papa meint, du wüsstest, wie man den Grossfürsten dazu kriegt, dass mir heute noch auf seinen Befehl ein neuer Pass . . .“

„Natürlich weiss ich es! Du must umgehend zur Krasnopolska!“ sagt Magna so geschäftsmässig, als handle es sich um ein Billett zum Zirkus Ciniselli. „Du wirst doch wissen, wer die Krasnopolska ist! Die Kinder hier nebenan im Kronsfindelhaus wissen es! Ach so — du kommst aus dem Ausland! Also Jesse Krasnopolska oder, wie sie sich jetzt nennt, Hesia Krasnopolska, stammt aus dem Kaiserlichen Ballett, aber seit Jahr und Tag tanzt sie nicht mehr, sondern ist die Mätresse des Grossfürsten Oleg. Deswegen ist die Grossfürstin ja ewig in Deutschland bei ihren Eltern. Sie langweilt ihn. Die Krasnopolska ist entschieden amüsanter!“

Meine Base behandelt diese russische Angelegenheit so rein sachlich wie Papa einen Fall von Influenza. Nur ihre Lippen sind dabei verächtlich gekräuselt. Ich forsche ängstlich: