Die um Bismarck - Rudolf Stratz - E-Book

Die um Bismarck E-Book

Rudolf Stratz

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Beschreibung

Spannungsgeladener Krimi um politische Intrigen im Berlin Anfang des 20. JahrhundertsGerade in Berlin angekommen trifft der junge Lutz Oberkampf einen ehemaligen Schulkameraden, der ihn bittet, eine Mappe mit absolut vertraulichem Inhalt bei sich aufzubewahren. Lutz gibt sein Ehrenwort und wird so, ohne es zu ahnen, Teil einer politischen Intrige gegen Reichskanzler Bismarck. Als Lutz' energische, junge Tante Ella entdeckt, dass ihr Neffe in die Hände der Bismarckgegner um Graf Laßbach geraten ist, steht fest: Lutz muss die Mappe mit den politisch brisanten Dokumenten so schnell wie möglich wieder loswerden! Aber wie, wo Lutz doch an sein Ehrenwort gebunden ist? Gemeinsam schmieden Ella und Lutz einen riskanten Plan...-

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Rudolf Stratz

Die um Bismarck

Saga

Die um BismarckCoverbild/Illustration: Shutterstock Copyright © 1932, 2019 Rudolf Stratz und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788711507346

1. Ebook-Auflage, 2019

Format: EPUB 2.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von SAGA Egmont gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk – a part of Egmont www.egmont.com

1

Seine Durchlaucht lassen Herrn Geheimrat sofort zu sich bitten!“

Der Geheime Legationsrat von Möllinghoff verliess, auf den Ruf Bismarcks hin, hastig an diesem milden Märztag der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts seine Aktenhöhle in der Wilhelmstrasse 76 zu Berlin. Er lief, ein rüstiger Fünfziger, beleibt, etwas kurzatmig, durch den langen Flur an den Türen der Direktoren, Dirigenten und Näte vorbei. Durch die Fenster zur Rechten beschien aus dem noch kahlen Park des Auswärtigen Amts die Frühlingssonne seine glattrasierten, feierlich erregten Züge. Auf ihnen lebte jetzt nichts von Laune, List, Ironie, Nervosität des vielgewandten, vielbeweglichen Kenners der Berliner Menschen und Dinge. Sie hiessen, auf dem Weg zum Kanzler: Klemens von Möllinghoff — der Unermüdliche — der Aktenriese — der Nachtarbeiter — Klemens von Möllinghoff — ein bescheidener Mitarbeiter, ein getreuer Diener des Fürsten Bismarck.

Eine dienstliche Pforte tat sich auf. Der Geheimrat betrat den an das Amt anstossenden Flügel des Reichskanzlerpalais und eilte mit der Sicherheit des hier Vertrauten weiter. Am Eingang zu den Gemächern des Fürsten winkte ihm eine mächtige bräunliche, dunkelbehaarte Hand Halt. Zwei hellbraune Augen blitzten durchdringend, fast dämonisch unter dichtem, pechschwarzem Haar. Aus dem rabenschwarzen Bart klang es gemütlich Bayrisch:

„Ob’s ihr mir meinen Fürsten in Ruh lasst, ihr Viechskerle! Eben ist er erst aufgestanden!“

„S. D. hat mich befohlen!“ Herr von Möllinghoff drückte ausser Atem Schweninger die Hand. Der Leibarzt Bismarcks lachte — dies Lachen unerschütterlicher, selbstvertrauender Urkraft, aus dem ein unbändiger Wille zum Leben auf jeden andern übersprang.

„Der Fürst hat, weil ich nicht da war, zum ersten Frühstück zwei Hummern und einen Spickaal und zwei Flaschen Bordeaux vertilgt!“ sagte er. „Und jetzt kommt erst der Rottenburg herüber und dann Sie — und machen ihm aus dem Masttag ’nen Lasttag und morgen ’nen Fasttag! Hätt’ der Fürst nur einmal ’nen Rasttag! Sie sind so aufgeregt! Gibt’s Krieg zwischen den Engländern und den Russen?“

„Der Krieg zwischen den beiden Weltmächten wegen Afghanistan liegt in der Luft! Ich muss dringend zu S. D.! Auf Wiedersehn, lieber Professor!“

Der Geheimrat durchmass, an dem öffnenden Diener vorbei, den kleinen Eingangssaal und stand allein in dem grossen Salon. Er kannte genau die rotseidenen Möbel, den runden, mit Zeitungen bedeckten Tisch vor dem Kanapee, den historischen Lehnstuhl, das Lenbachsche Bismarckbild, die goldgerahmten Landschaften an den Wänden. Und trotzdem fühlte Möllinghoff, der Getreue, immer wieder dieses Herzklopfen, dieses Wehen der Weltgeschichte, beim Warten auf den Eisernen Kanzler.

In der offenen Tür gegenüber erschien eine riesenhafte schwarze Dogge. Sie spitzte die kurzgeschnittenen Ohren und knurrte leise den Besucher an. Der kannte das. Er rührte sich nicht, um den Reichshund nicht zu reizen. Gleich darauf verdunkelte ein ungeheurer Schatten die Schwelle.

Bismarck stand vor seinem Geheimrat. In bis zum Hals zugeknöpftem schwarzem Tuchrock, darunter die langen dunklen Hosen seiner Halberstädter Panzerreiter, so dass er in einer Minute in den blauen, langen Kürassier-Interimsrock fahren und zum Empfang von Fürsten oder Botschaftern bereit sein konnte. Aus dem zweimal um den kragenlosen Hals geknoteten weissen Leinentuch wuchs glatt wie eine Elfenbeinkugel der für die Reckengestalt fast zu kleine, rosig-feine Rundkopf. Der Wille selbst die kurze, gerade Nase. Unter Augenbrauen, dick, grau und grimmig wie Gewittergewölk, zwei mächtige, feucht, fast feierlich schimmernde Augen.

Die Rechte des Kanzlers, die er, dem Rat reichte, war nicht kleiner als die seines Arztes Schweninger draussen, aber diplomatisch weicher ihr Druck. Seltsam leicht, parkettgewandt, die Bewegungen des gewaltigen, durch Schweninger seit Jahresfrist verjüngten Körpers. Herr von Möllinghoff verbeugte sich ehrerbietig. Er ging sofort mitten in die Sache.

„Seit heute früh sind wir durch Stieber über die neueste Intrige gegen Euer Durchlaucht im Bilde! Es handelt sich um frech gefälschte geheime Instruktionen des Auswärtigen Amts zugunsten Englands in der afghanischen Krise an unsere Missionen in halb Europa — Instruktionen, deren Entwürfe — angeblich in meiner Handschrift — angeblich mit eigenen Randbemerkungen Eurer Durchlaucht — durch einen Vertrauensbruch oder eine Saumseligkeit dem berüchtigten Skandalblatt ,Die Grosse Trommel‘ auf den Schreibtisch geflogen sein sollen. Wer unseren Dienstbetrieb kennt — jeder Hofrat, jeder Chiffreur, jeder Kanzleirat weiss, dass ein solches Vorkommnis absolut ausgeschlossen ist!. Die von selbst in das Schloss fallende Kassette, die Euer Durchlaucht tagsüber als Papierkorb dient, wird jeden Abend im Büro des Herrn von Rottenburg von dem diensttuenden Sekretär entleert und der ganze Inhalt an Brouillons und sonstigen Papierschnitzeln in Gegenwart der Geheimpolizei verbrannt. Wir haben es mit einem ruchlosen Falsifikat zu tun, dazu bestimmt, den Frieden Europas und Asiens zu erschüttern!“

Die Aufregung verschlug dem Geheimrat fast den Atem. Er fuhr fort:

„Hinter diesem Versuch, den Zaren, dessen Besuch wir in der nächsten Zeit hier erhoffen, und die russische Gesellschaft gegen Euer Durchlaucht aufzuputschen und unsere traditionelle Freundschaft mit Petersburg zu stören, stecket, wie Stieber zuverlässig festgestellt hat, die bekannte Fronde aus der Vossstrasse! Wahrscheinlich glaubt Graf Lassbach selber an die Echtheit des Dokuments! Aber angesichts der Gefahr eines europäischen Krieges ist nach meinem gehorsamsten Ermessen die sofortige Haussuchung bei ihm, eine Beschlagnahme der im Druck befindlichen ,Grossen Trommel‘ und die Verhaftung ihres Herausgebers geboten — ehe diese Stinkbombe — zudem noch morgen, am zweiundzwanzigsten März, am Geburtstag unseres Allerhöchsten alten Herrn — in den Spalten der ,Grossen Trommel‘ platzt!“

Der Geheimrat von Möllinghoff schwieg erregt und erwartungsvoll. Er hörte drüben ein dumpfes Räuspern. Dann, unter dem eisgrauen kurzen Schnurrbart die wunderlich helle, stockende Stimme.

„Ich bin jeden Augenblick, wenn Seine Majestät es wünscht, bereit, mich unter die Kanonen von Friedrichsruh zurückzuziehen. Aber me faire renverser durch Tonio Lassbach — das geht gegen den guten Geschmack!“

Ein Neigen des graubuschigen, grossäugigen Hauptes drüben. Es hiess: Tun Sie, was Sie für recht befinden! Greifen Sie schonungslos in das Wespennest! Herr von Möllinghoff verstand. Er zog sich mit einer tiefen Verneigung, das Antlitz gegen den Kanzler, nach dem Ausgang zurück.

2

In dem Arbeitszimmer drüben in der Wilhelmstrasse, das der Geheimrat wieder betrat, standen zwischen den Akten auf dem Schreibtisch zwei eingerahmte grosse Photographien. Rechts das grimme Haupt des Eisernen Kanzlers, links die schmalwangigen, hübschen Züge einer jungen Frau. Sie trug, nach der Mode der achtziger Jahre, das Haar aus der glatten Stirn nach hinten hochgekämmt, Sprechend, intelligent die Augen. Liebenswürdig lächelnd, die Dame von Welt, der Mund.

Der Geheimrat von Möllinghoff stärkte sich durch einen Blick stiller Liebe auf seine Frau für die neue Arbeit. Er Klingelte dem Diener. Er sass eine Minute und gähnte — ein müder Mann. Dann hob er, beim Eintritt eines jungen Husarenoffiziers, rasch den diplomatisch glattrasierten, klug beweglichen Graukopf.

„Sie sind aus einer kleinen Provinzgarnison zur Dienstleistung beim Auswärtigen Amt kommandiert, mein lieber Baron!“ sagte er in einer Pause des Diktierens eines Geheimerlasses zu dem angehenden Attaché. „Sie ahnen, bei Ihrer Jugend, nicht, wieviel Feinde S. D. hat und wo überall!. Statt dass wir täglich Gott auf den Knien danken, dass wir ihn haben! Noch haben! Wer weiss, wie lange noch!

Ohne Feinde“, fuhr er fort, „würde S. D. etwas fehlen! Das liegt in seiner Natur! Aber die Feinde im eigenen Lager arbeiten am Verschleiss seiner Nerven! Die Leute, denen er zu gross geworden ist! Diese Leute fragen sich: ,Ein Landjunker wie wir und jetzt Fürst? Ein Einjähriger bei den Gardejägern und jetzt General der Kavallerie? Ein Potsdamer Referendar a. D. und jetzt Kanzler des Deutschen Reichs?‘ Das sticht manchem ehemaligen Standesgenossen in die Nase!

Sehen Sie, mein Lieber: — Ich orientiere Sie pflichtgemäss für Ihre künftige und, so Gott will, erspriessliche diplomatische Berliner Tätigkeit! — solch einer, einer der Gefährlichsten unter den nach ihrer Meinung zu Unrecht Zurückgesetzten, ist Graf Anton Lassbach! Nicht dumm — wahrhaftig nicht — sehr tätig, sehr nervös, sehr kultiviert, sehr reich — grosse Güter — dabei zeitlebens — er ist doch nun schon an die Fünfzig — zusammengesetzt aus Eitelkeit und Ehrgeiz! Das macht diesen grossen Herrn gegen seine Umgebung blind. Er ahnt gar nicht, wer alles hinter ihm steht und ihn nach vorn in die Drecklinie schiebt!

Er hat eine Ölze zur Frau — aus ehemaligem hannoverschem Hofadel! Na also! Seine Schwiegermutter — sie lebt noch als Witwe drüben in der Nähe von London — ist eine vornehme Engländerin — aus derselben Nation wie die Frau Kronprinzessin — unsere künftige kaiserliche Landesmutter. Na bitte! Er selber, Tonio Lassbach, steckt fortwährend in England! Es weht englische Luft aus seinem Haus in der Vossstrasse — da gleich um die Ecke! Na danke . . . . Nun sind Sie im Bilde! Bringen Sie mir so schnell wie möglich die Reinschrift!“

Der Geheimrat sass allein. Der Sarkasmus war verflogen. Er gähnte — ein abgehetzter Mann. Er hatte heute nacht wieder bis vier Uhr gearbeitet und war doch kaum mit den Aufträgen des Kanzlers fertig geworden. Er schloss ermüdet die Augen. Rückte behutsam die Photographie seiner Frau auf dem Tisch mehr ins Licht und blies mit seinen dünnen, nach Bedarf launig-leutseligen und dienstlich-strenggepressten Lippen ein Stäubchen von dem Rahmen und wandte ungeduldig den Kopf nach der Tür, an der es leise klopfte.

„Na endlich! Fertig für die Unterschrift, Baron? Nee — ist er ja gar nicht . . . . .“

Er zwinkerte. Dann erhob er langsam die breitschulterige Gestalt vom Stuhl.

„Nanu — Etta — du?“

Das Bild seiner Frau war aus dem Rahmen getreten und stand da lebensgross und lachend in der Tür, frisch, windgerötet die schmalen Wangen, halb offen der Kluge Mund, lebhaft, unter dem schiefen, preussisch schwarzweiss mit Straussenfedern ausgeputzten Tellerhut die braunen, leicht ins Grünliche spielenden Augen.

Noch schlanker ihre mittelgrosse Gestalt durch die enge, mit weissen Spitzen besetzte Taille und den knapp um die Hüften schliessenden, mit dem Saum den Boden streifenden dunklen Tuchrock, nach der Mode gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts. Der elastisch wiegende Schritt einer Frau von noch nicht Dreissig, wie sie eifrig auf ihren Mann zuging. Sie hob dabei beschwörend in der elegant behandschuhten Rechten eine Depesche.

„Du — Klemens — ich muss dich stören!“

„Sogar sehr!“

„Eben ist das Telegramm gekommen. Aus Buggenhagen. Es betrifft den Taugenichts, deinen Neffen. Ich hab’s aufgemacht! Da!“

Herr von Möllinghoff setzte bedächtig seinen Zwicker auf und las.

„Mein Sohn Lutz heute früh nach Berlin ausgekniffen, um nicht mehr hier bei mir weiter Landwirt spielen zu müssen! Jetzt im Zug unterwegs. Erwartet ihn Bahnhof und schickt ihn postwendend zurück. Gruss. Dein Schwager Oberkamp.“

„So Streiche hat der Bengel immer gemacht!“ Der Geheimrat liess missbilligend das Blatt sinken. „So vor zehn Jahren — da war er etwa vierzehn — zigeunert er doch eines schönen Tages aus Mecklenburg zu Fuss nach Hamburg hinüber und als Schiffsjunge auf ’ner Brigg nach Westindien. Alle Konsulate hatten dort zu tun, bis wir ihn nach einem halben Jahr glücklich wieder heim hatten. Dann später, am Tage, nachdem er sein Jahr bei den. Dragonern abgedient hat, fordert er seinen Rittmeister, über den er sich geärgert hatte, und knallt ihm ins Bein!

Statt dass der dumme Junge froh ist, eines der schönsten Rittergüter von Mecklenburg zu erben“, der Geheimrat zerpflückte zornig das Telegramm über dem Papierkorb. „Viertausend Morgen muss man zum Donnerwetter doch auch bewirtschaften lernen . . .“

„Aber er hat doch einmal studieren dürfen . .?“

„Ja — was der gute Lutz studieren nannte! Ich glaube, es waren sieben Säbelduelle, wegen denen sie ihn nach ein paar Semestern relegiert haben! Na jedenfalls . . .“ Der Geheimrat von Möllinghoff warf einen nervösen Blick auf den Schreibtisch. „Jetzt blüht er uns also hier, und ich habe wirklich mehr im Kopf! Ich muss dir nachher erzählen, Etta: Es ist eine tolle Schweinerei im Gange . .“

„Hast du die Havas-Depesche schon gelesen?“ unterbrach die junge Frau ungestüm. „Also Gladstone wackelt!“

„Diese Drahtmeldung geht allerdings via Russland, aber . . .“

„. . . und Salisbury sein Nachfolger . . .“

„. . . und der Krieg zwischen England und Russland immer näher . . .“

„. . . also Bleichröder — das hörte ich eben unterwegs — glaubt nicht an einen europäischen Krieg! ,Behaltet eure Aktien‘ — sagt er den Leuten, denen er wohlwill!“

„Deswegen müssen wir doch den Herrschaften hier die brennende Pfeife wegnehmen, mit der sie auf der offenen Pulvertonne sitzen! Wer, Kind? Na natürlich wieder mal die Vossstrasse! Tonio Lassbach!“

„Ach — ich wollte, ich könnte die ganze Bande hängen, die gegen Bismarck ist!“ Die junge Frau ballte leidenschaftlich die Hände.

„Also jedenfalls gibt es heute einen kritischen Tag erster Ordnung, Etta! Ich sehe keine Möglichkeit, mich jetzt mit ungeratenen Neffen zu befassen!“

„Aber in einer halben Stunde kommt das Unglücksgeschöpf an! Ich hab’ im Fahrplan nachgesehen!“

„Fang’ du ihn am Bahnhof ab, Etta!“

„Ich kenn’ deinen Neffen Lutz ja gar nicht! Wir sind ja in den vier Jahren unserer Ehe noch nie draussen in Buggenhagen gewesen. Du kommst ja von deinen Akten nicht fort! Wie soll ich da diesen Jüngling . . . .“

„Herrgott — du hast doch oft genug seine Photographie gesehen! Wenn du auf dem Lehrter Bahnhof einen Menschen siehst — einen Kopf länger als gewöhnliche Sterbliche — einen flachsblonden Schlaks mit strahlenden blauen Augen und seelenvergnügtem Lächeln . . . . Der Lutz ist nie sonniger, als wenn er eine rechte Dummheit macht . . . Er wird schon gleich zutraulich auf dich lossteuern!“

„Und dem Ungetüm soll ich vor aller Welt die Leviten lesen? . . . Klemens . . . der Naturbursche lacht mich ja nur aus . . .“

„Packe ihn nur in eine Droschke und fahre ihn zu uns! Da werde ich dem teuren Neffen schon beim Essen den Kopf zurechtsetzen, und mit dem Abendzug dampft er wieder heim zu seinen Kartoffeln! Aber jetzt habe ich keine Minute Zeit . . .“

„Ja — ich muss mich auch eilen, dass ich noch rechtzeitig auf den Bahnhof komme! Ich bin so wahnsinnig gespannt, was du mir von Tonio Lassbachs Einmischung in die afghanische Frage erzählen wirst! Adieu, Dicker!“

3

Die Geheimrätin von Möllinghoff trat über die paar steilen Steinstufen der unscheinbaren Pforte des ebenso unscheinbaren, langen, niederen Auswärtigen Amts auf den Bürgersteig und winkte einem leer vorbeitrabenden „Schwarzlackierten“ — einer Droschke erster Klasse, auf dem Bock der Kutscher mit schwarzem, hohem Hut.

Ein schlanker, aufrechter Schattenriss, sass sie in dem offenen kleinen Einspänner und blinzelte zufrieden mit dem hübschen, ruhigen Antlitz unter Schleier und Spitzenschirm in die Märzsonne. An ihr vorbei glitten die altvertrauten Bilder Berlins. Die Zopfpaläste der Wilhelmstrasse aus der Zeit des Soldatenkönigs. Die Aktenmappen der wenigen Menschen in der feierlichen Leere des Wetterwinkels Europas. Die wichtigen, wissenden Gesichter unter würdevollen Zylindern: Wir sind Preussen. Wir sind das Reich. Das Kaiserreich der achtziger Jahre.

Harter Hufschlag auf dem Pflaster. Ein schwarzbärtiger Mann auf knochigem Braunen in scharfem Trab — mitten in Berlin! Bedeutsam blickte Etta Möllinghoff dem Depeschenreiter Bismarcks nach. Die Weltgeschichte in seiner umgehängten Ledertasche . . . . Afghanistan . . . England . . . Russland — Tonio Lassbach — Was ist vor Bismarcks Augen gross — was klein?

An der Ecke der Linden, vor dem grauen, alten Hotel Windsor, ein paar verwitterte uckermärkische Granden. Am Palais Redern gegenüber eine Hofequipage, breit die silbernen Adlertreffen am Hut des Kutfchers.

Bunte Uniformen aller Regimenter Unter den Linden. Lieutenants auf dem Weg zum roten Ziegelbau der Kriegsakademie drüben. Unauffällig dunkle Londoner Herrenmode des Zivils, nach Vorschrift des schon mählich alternden Prinzen von Wales. Die Damen in engen, langen, staubfegenden Röcken und in Schärpen um die dünn geschnittenen Taillen. Bei vielen hinten, am südlichen Teil des Rückens, die unwahrscheinliche Wölbung des Cul de Paris. Die elegante Etta von Möllinghoff schaute frostig über diese stoffverhüllten, rücklings befestigten Drahtgestelle nach Pariser Mode hinweg. In der guten Berliner Gesellschaft war diese Vorspiegelung falscher Tatsachen, die Tournüre, als unanständig verpönt.

Hinter den Fensterscheiben des Feudalklubs am Pariser Platz die strengen Profile zeitunglesender alter Exzellenzen. Vor dem blauen Himmel das Viergespann der Viktoria auf dem Brandenburger Tor, durch das vor anderthalb Jahrzehnten die drei Gewaltigen — Bismarck, Moltke, Noon — vor ihrem alten Kaiser und Herrn den Siegeseinzug in Berlin eröffnet hatten. Etta sann nach: Damals war ich noch klein. Erst dreizehn . . .

Auf dem weiten Königsplatz das Gewimmel der Arbeiter beim Ausschachten des Bodens für den neuen Reichstag. Vieleckig, unregelmässig drüben das Hirn des Heeres — das gelbe Generalstabsgebäude. Die Alsenbrücke. Überall das Heer. Überall das Reich.

Der Lehrter Bahnhof! . . . Eben noch zurecht! Von fern rollte schon der Zug heran. Auf seinen Trittbrettern balancierten aussen die Kondukteure von Kupee zu Kupee, rissen während der Fahrt die Türen auf und sammelten aus dem Innern vor der Ankunft die Billette.

Etta Möllinghoff hob sich auf die Fussspitzen und spähte in das Gewimmel von Menschen, Fresskörben, Reiseplaids aus den haltenden Wagen. Richtig: da stürmte es schon heran, sechs Fuss lang, flachsblond, mit Siebenmeilenstiefeln, als ob es draussen in Berlin brennte, hastete achtlos an Etta vorbei dem Ausgang zu, ein Kofferchen in der Hand, sonnenverbrannt, einen Inspektorfilz schief auf dem Schopf, Kleider vom Schneider im Ackerstädtchen, Dorfstiefel wie für die Ewigkeit. Mit dem einen streifte er in seiner Eile Ettas schwarzlackierten Stöckelschuh. Die leichte, schwippe Verbeugung eines jungen Mannes von guter Kinderstube: „Oh — Pardon!“ Er wollte weiter. Die junge Geheimrätin trat ihm in den Weg.

„Herr Oberkamp?“

„Ja.“ Der Recke vom Lande blieb betroffen stehen. „Wat’s denn los, gnädige Frau?“

„Ich bin hier auf Grund einer Depesche aus Buggenhagen!“

Etta Möllinghoff hatte ihr Gesicht in sehr ernste Linien gelegt. Ihre Stimme klang streng. Der junge Mann ihr gegenüber zeigte herzlich lachend die weissen Zähne unter dem blonden Schnurrbart.

„Nett, dass ich hier gleich begrüsst werde!“ sagte er sonnig und schaute Etta neugierig in das kluge, gemessene Antlitz. „Herrgott — wir haben uns doch schon mal gesehen?“

„Nur auf der Photographie! Ich bin deine Tante Etta!“

Der blonde, junge Hüne vor ihr riss die feurigen blauen Augen auf.

„Du bist Onkel Klemens seine . . . .“

„. . . seine zweite Frau! . . . Erkennst du mich denn nicht?“

„Dich hab’ ich mir ganz anders vorgestellt!“ Der Neffe legte ihr vertraulich die mächtigen Hände auf die schmalen Schultern und musterte sie. „Aus der Photographie hat man ja keine Ahnung, wie hübsch du bist!“

„Onkel Klemens ist empört über deine Flucht, lässt er dir sagen!“

„Der Hut steht dir auch famos!“

„. . . wo dein Vater im Reichstag sitzt und wirklich mehr Sorgen hat als dich . . .“

„Viel älter hab’ ich mir dich gedacht — nach der Photographie! Tante — wie alt bist du denn?“

„Da ich als geborene Schardt zum Uradel im Gotha gehöre, kann ich mein Alter nicht ableugnen! Aber was dich das interessiert, dass ich achtundzwanzig bin . . .“

„Also du siehst viel jünger aus! Jünger als ich! Und ich bin doch erst fünfundzwanzig!“ Der Vetter vom Lande schüttelte erheitert den blonden Schopf. „Nein — Tante — dir glaubt kein Mensch die Geheimrätin!“

„Mein lieber Ludwig . . .“

„Lutz! Lutz! Lutz!“

„Meinetwegen mein lieber Lutz: Ich bin — merke dir das gefälligst von vornherein — als Tante und verheiratete Frau für dich eine Respektsperson . . .“

„Ach wo!“ sagte der junge Mann froh.

„Das bitte ich mir ein für allemal aus! Lache nicht so blödsinnig!“

„Du musst ja selber lachen!“

„Unsinn!“

„Natürlich lachst du! . . . Du . . . Im Vertrauen . . .“

„Was denn?“

„Der Onkel kann lachen, dass er dich erwischt hat — auf seine alten Tage . . .“

„Nimm jetzt deinen Koffer vom Boden!“

„Du sollst ja so unheimlich gescheit sein! Ist das wahr?“

„Marsch!“

Lutz Oberkamp rührte sich nicht. Er schaute der jungen Geheimrätin kindlich überrascht in das unruhig belebte Gesicht.

„Tante — du hast ja grüne Augen!“

„Braune!“

„Grüne!“

„Also meinetwegen braungrüne! Lass jetzt die Dummheiten!“

„Jetzt weiss ich erst, warum du so apart aussiehst!“

„Komm jetzt! Wird’s?“

„Wohin?“

„Zu uns und abends nach Mecklenburg heim!“

Lutz Oberkamp lächelte aus seiner blonden Höhe auf das Straussenfederhütchen unter ihm herab.

„Berlin braucht mich, Tante!“

„Ja. Auf dich haben wir hier gewartet!“

„Ich schaff’s schon — wenn’s nicht Krach gibt! Wo ich hinkomm’, da ist nämlich gleich einer — der fängt mit mir Händel an! Die Frauen sind zu mir viel netter! Mit denen komm’ ich viel besser aus!“

„Das heisst: Du brennst wahrscheinlich gleich mit deinem blonden Schopf wie eine Strohfackel!“

Lutz Oberkamp sah die junge Frau an. Dann sagte er langsam und halb betroffen:

„Aber ich bin ja noch gar nicht in dich verliebt, Tante!“

„Das fehlte noch!“

Beide wurden plötzlich still. Lutz bückte sich und machte sich an seinem Gepäck zu schaffen. Er hörte über sich Ettas herbe Stimme.

„Komm jetzt, du dummer Junge!“

„Ja!“ Er schritt neben ihr her. „Ich geb’ jetzt den Koffer zur Aufbewahrung und suche mir dann gleich in der Nähe eine Bude!“

„Ja — was soll ich denn um Gottes willen meinem Mann sagen?“ Etta von Möllinghoff stand, etwas blass und strafend, vor dem Neffen.

„. . . . ich bliebe in Berlin! Riesig nett, dass du mir gleich zu meiner Ankunft in Berlin Glück gewünscht hast! Was — meinst du — bin ich?“

„Tumb!“ sagte Etta und lachte. Lutz Oberkamp beugte seine Länge über ihre schmale Hand.

„Heut nachmittag komm’ ich mal bei euch ’ran! Auf Wiedersehen, Tante!“

4

Lutz Oberkamp trat siegesbewusst aufgereckt aus dem Lehrter Bahnhof. Er schaute sich um. Hier im Bereich der grossen, freien Plätze gab es keine möblierten Zimmer. Denn man tau — mitten in dat Berlin! Er steuerte mit langen Schritten der Dorotheenstadt zu. Er stand im Gewimmel der Friedrichstrasse.

Endlos, schnurgerade lief sie vor ihm in die Weite. In Reihen rollten auf ihr die Pferdedroschken, die zweispännigen Volksomnibusse, die Equipagen. Ein paar Chinesen gingen vor ihm, in herrlichen blauseidenen und altgoldenen Gewändern und mit langen Zöpfen. Die Menschen wimmelten um ihn herum. Er kannte keinen.

Doch — da bleibt einer stehen und feixt ironisch über sein freches Froschgesicht mit dem Zwicker und dem kümmerlichen, schwarzen Schnurrbärtchen. Ein kleiner, säbelbeiniger Kerl . . . auch so Mitte der Zwanzig.

„Dat entfamigte Mul soll ick doch woll kennen!“ sagte Lutz Oberkamp in seiner Überraschung auf platt. „Jong . . . Jong . . . für dat Gegrinse haben wir dich oft genug auf dem Gymnasium in Rostock verhauen . . .“

„Nu — das ist jetzt sieben Jahr her!“ Ein mitleidig überlegenes Lächeln drüben. Eine ausgestreckte Hand. Lutz Oberkamp ergriff sie.

„Also bist du’s wirklich, Cassube?“

„Doktor Cassube!“ Gönnerhaft der einstige Mecklenburger Schulkamerad.

„Wie geht’s dir denn, Minsch?“

„Mir? Ausgezeichnet! Siehst ja . . .“

„Was machst du denn in Berlin, Cassube?“

„Frag’ lieber, was das Städtchen ohne mich machen würde . . .“

„Ich meine — was hast du denn hier für eine Tätigkeit?“

„Du kommst wohl vom Mond?“

„Nee. Aus Mecklenburg! Jetzt eben!“

„Mond und Mecklenburg — das ist dasselbe! Sonst würdest du Unschuld vom Land wissen, welche Position ich in diesem Fischerdörfchen an der Spree einnehme!“ Eine mitleidige Grimasse. „Na — und was willst du hier? Verkaufste Wolle? Kaufste Guano? Haste fette Ochsen?“

„Das kommt mir alles zum Halse ’raus! Ich bin meinem Vater . . . Du weisst doch von ihm . . .?“

„Spass! Wer soll den Buggenhagener nicht kennen! Vorige Woche hat er wieder im Reichstag für Bismarck durch dick und dünn ’ne Rede geschwungen — dem Mann des Jahrhunderts müssen die Ohren geklungen haben!“

„. . . also ich bin meinem alten Herrn ausgekniffen! Ich mops’ mich da draussen zwischen den Tüften und Swinen zu Tod! Ich bin korterhand nach Berlin!“

„Und was erwartest du dir von dem lütten Nest?“

„Gott! Ich lasse die Dinge eben auf mich zukommen! Es wird sich schon was für ’n bisschen dollen Kerl wie mich finden! Ich bin zu allem bereit!“ Lutz Oberkamp stand breitbeinig, feurig, verkehrsstörend auf dem Bürgersteig der Friedrichstrasse. Der salopp gekleidete, kleine Doktor äugte durch den schiefsitzenden stählernen Zwicker halb misstrauisch, halb neugierig zu ihm hinauf.

„Was heisst ,zu allem‘?“ erkundigte er sich gedämpft.

„Na“ — Ein leichtsinniges Lachen oben. „Ich nehme eben, was sich findet! Ich schluck’ den Düwel, wenn’s sein muss!“

„Du fürchtest dich also vor nichts?“

Ein verächtliches Achselzucken als Antwort aus der Höhe.

Die breiten Nasenlöcher des Mecklenburger Schulkameraden weiteten sich nervös und vertraulich. Er fasste den andern am Rockknopf. Er hörte dessen frische Stimme.

„Ich mache natürlich nur bescheidene Ansprüche . .“

„Bescheiden will er auch noch sein!“ Cassube pfiff vielsagend durch die Zähne. „Wo er den wahnsinnigen Dusel gehabt hat, in Berlin als ersten Menschen auf mich zu stossen! Ausgerechnet auf mich!“

„Kannst du mir denn helfen?“

„Wozu ist Berlin denn da?“ sprach der Schulfreund grüblerisch und nickte dann plötzlich entschlossen vor sich hin. „Wie ich hier steh’, siehst du mich gerade auf der Suche nach einer flotten, unverbrauchten, jungen Kraft!“

„Und da wäre ich . . .“

„Angenehme, selbständige Stellung! Glänzend bezahlt! Nach dem Posten lecken sich hundert die Finger!“

„Nu segg’ mal im Vertrauen: Wie kommst du da gerade auf mich?“

Drüben zwei wohlwollende Schlitzaugen hinter den schiefen Gläsern.

„Weil es eine Vertrauenssache ist, mein lieber Lutz! Da schaut man sich die Bewerber gründlichst an! Da nimmt man nur jemanden, den man von Kindesbeinen an kennt, wie wir beide uns von Sexta ab — wenn uns auch das rauhe Schicksal seit dem Abiturientenkommers auseinandergerissen hat!“

„Du — Günther — wann könnte ich denn die Stelle antreten?“

„Na — wir wollen nichts übereilen!“ Günther Cassube sah lässig nach der Uhr. „Sagen wir: in einer Stunde!“

„So schnell? Du — das kommt mir doch komisch vor!“

„Komisch — etwas in Berlin? Die Berliner sind unfreiwillige Komiker! Sie sind so einfach im Gemüt. Ich muss immer über sie lachen!“ Der kleine Doktor grinste wehmütig vor sich hin und wurde düster. „Aber wenn du keine Lust hast, mitzulachen — bitte — zeuch’ heim zu deinen Kartoffeln! Ich halte dich nicht!“

Günther Cassube machte kehrt und trollte sich durch das Gedränge der Friedrichstrasse, die Hände in den Taschen des abgetragenen Überziehers, mit hängendem Kopf misstönig vor sich hinsummend. Von hinten ein Griff an seine Schulter.

„Au!“

„Günther — lauf doch nicht gleich weg!“

„Na — was denn noch?“ Der dürftige Schulfreund wandte sich unwirsch um.

„Ich wär’ ja ein Esel . . .“

„Nicht wahr?“

„. . . . wenn ich nicht da mit Wonne zugriffe! Aber sage mir nur: Worum handelt es sich denn eigentlich?“

„Die Stätte deiner künftigen Tätigkeit ist da gerade um die Ecke! Ja — nicht wahr — das geht bei mir wie geschmiert!“ Cassube nickte herablassend zu dem aufgeregten jungen, blonden Hünen empor. „Den Seinen gibt’s der Herr im Schlaf! Na — komm mal mit mir dorthin, mein Sohn!“

5

Der kleine Gewaltmensch schlurfte durch den Engpass der Friedrichstrasse. Er schaute gönnerhaft nach rechts und links auf Berlin und die Berliner, so als ob ihm die Fünfviertelmillionenstadt gehörte. Der Jungmann neben ihm fragte:

„Wie hast du es eigentlich in Berlin zu deinem grossen Einfluss gebracht, Cassube?“

„Gott . . .“ Ein sarkastisches Schulterzucken. „Wenn man als genialer Mensch direkt vom Pennal in das verschlafene Städtchen kommt . . . . Schon merkten die Leutchen, was sie an mir hatten, und rissen sich um mich! Noch im ersten Semester hab’ ich die Juristerei wegen Überbürdung mit Geschäften an den Nagel hängen müssen!“

„Vorhin hast du doch gesagt, du seist Doktor?“

„Dann war das eben nicht wahr!“ Schlicht, von sich durchdrungen, die Worte des Schulfreunds. Er spuckte seitlings auf den Bürgersteig. „Siehst du das Haus an der Ecke?“

„. . . wo der Pferdebahnwagen mit den beiden knickebeinigen Gäulen hält . . .?“

„. . . weil er nicht über die Linden fahren darf! Verbot des Polizei-Paschas! Warum — wissen die Götter! Das Haus ist deine künftige Heimat, alter Knabe! Ehe ich’s vergesse: Ich führe dort einen Künstlernamen. Ich heisse Wurmhuber!“

„Wie . . .?“

„Doktor Wurmhuber-Fillitsch! Ohne Decknamen hat man, wenn man, wie ich, im Brennpunkt Berlins steht, keine ruhige Minute! So: da hinauf!“

„Donnerwetter — ist das hoch!“

„Vier Treppen, wie bei allen anspruchsvollen Menschen hierzuland! Ruhe in der Höhe! Frische Luft!“

Ein schmutziges, von Küchendünsten erfülltes Stiegenhaus. Steil die vier Stockwerke. Oben eine abgegriffene Tür. Auf dem zersprungenen Porzellanschild verwischte Lettern. Lutz Oberkamp las:

,Die Grosse Trommel. Wochenblatt für die Gesellschaft Berlins.‘

Der kleine Doktor öffnete mit einem Drücker. Innen Stickluft in einem stockdunklen, winzigen Vorplatz. Trübes Tageslicht vom Hinterhof über einem muffigen Gewinkel von zwei, drei niederen Stuben. Zeitungen, Papiere, Briefe wie Kraut und Rüben auf den vermotteten Möbeln. Da, wo es an den verstaubten Fenstern noch am hellsten war, stand ein kummervoller, fad blonder, übernächtiger Herr und ordnete Stösse von Schriftstücken. Er trug in die Stirn gekämmte Lämmchenhaare und schmale österreichische Bartstreifen längs der Backen.

„Da — nehmen’s Ihren Schmarr’n!“ schrie er weinerlich Cassube entgegen. „I mach’ net mehr mit! Net um a Müllion!“

„Gestatten die Herren . . . Herr Ritter von Erchinger aus Wien — Herr von Oberkamp!“

„Ich bin doch nicht ,von‘, Günther!“

„Du kannst dich dreist als von mir nobilitiert betrachten! Ihr Nachfolger als Herausgeber der ,Grossen Trommel‘, mein lieber Erchinger! Einer der führenden Geister von Berlin! Ganz versierte Kraft! Glänzende Referenzen! Anders als Sie!“

Der Österreicher schaute matt auf den Mecklenburger.

„Wo haben’s denn den ausg’lassen!“ murmelte er weichlich und wehleidig. Dann schluckste er und bekam feuchte Augen.

„Lasst’s mi aus! Dees wenn meine Mama wüsst’! I fahr’ nach Brünn zu meiner Mama! I helf’ ihr dort bei ihrer Tabaktrafik! Überhaupt: Mein Herr Vater war Major bei Esterhazy-Infanterie!“

„. . . und Sie getrauen sich nicht mal mehr, die ,Grosse Trommel‘ herauszugeben!“ Cassube lächelte verächtlich.

„Hier in Berlin ist’s ja verboten, mit dem Veloziped auf den Strassen umanand zu fahren. Aber am End’ von Berlin — gleich hinter dem Nollendorfplatz — da borg’ ich mir von meinem Freund dort sein Bycicle . .“ der Ritter von Erchinger fuhr geängstigt in seinen Mantel . . . „und radel’ bis Potsdam und steig’ dort erst in den Zug! Jesses Mariandjosef . . . Wann i bloss schon bei meiner Mama wär’. . . Plauschen’s net, Herr Doktor Wurmhuber! Servus! Servus!“

„Nervenklaps! Verfolgungswahn! Nichts für Berlin! Ich bin froh, dass ich ihn los bin!“ Günther Cassube grinste geringschätzig hinterher, während draussen die Tür schlug. „Was, mein alter Lutz: da sind wir andere Zeitgenossen als solch ein Hosenkönig?“

„Dabei unordentlich wie ein Zigeuner!“ Der kleine Doktor beugte sein Froschgesicht auf die Tischplatte und blies den Staub von den Stössen von Gerichtsschreiben, Rechnungen, Zuschriften von Rechtsanwälten. „Das wird dein Erstes sein, hier Ordnung zu schaffen . . .“

„Ja — als was denn?“

„Du hast’s doch vorhin schon gehört!“ Cassube schaute auf. „Als verantwortlicher Herausgeber der ,Grossen Trommel‘. Du hast doch hoffentlich schon einmal etwas von der ,Grossen Trommel‘ gehört?“

„Nee! Sei nicht böse! Aber bis sich so was bei uns in Mecklenburg ’rumspricht . . .“

„Die ,Grosse Trommel‘ ist das führende Gesellschaftsblatt Berlins!“ sprach Cassube leise und nachdrücklich. „Ihr Erscheinen ist jede Woche für Berlin ein Ereignis. Bismarck selber liest sie regelmässig mit gespannter Aufmerksamkeit. Ihr Herausgeber ist eine Macht . . .“

„Und da soll ich . . .? Davon versteh’ ich ja nicht die Bohne!“

„Was wir brauchen, ist einfach ein absolut anständiger Mensch, so wie ich selber einer bin!“ sagte Cassube ruhig und entschieden. „Weisse Weste, mein Sohn! Die hast du so wie ich! Du setzt einen ehrlichen, einen durch deinen Vater als Bismarck-Freund und Reichstagsabgeordneten weitbekannten Namen unter das Blatt . . . Bravo!“

„Aber . . . .“

„Das Material liefert dir durch mich ein Stamm bewährter Mitarbeiter aus den exklusivsten Kreisen der Berliner seinen Welt! Du klebst und schneidest nur die Druckvorlage für die Setzerei zusammen. Fixer Kerl wie du arbeitet sich im Nu ein . . .“

„Ich bin wie vor’n Kopf gehauen . . .“

„Nu — is das ’n edler Teil? Morgen erscheint die nächste Nummer der ,Grossen Trommel‘. Da bimmelst du schon, Lutz, dass den Berlinern die Ohren klingen! Nu noch der Turkel: Gerade morgen der zweiundzwanzigste März. Geburtstag unseres alten Wilhelm. Grosser Trubel! Mächtiger Strassenverkauf. Dein Name mit einem Schlag in aller Mund!“

„Du . . . Günther . . .“

„Na?“

„Ihr gehört doch natürlich zu den Wohlgesinnten?“

Ein niederschmetternder Blick von drüben.

„Auf solche Fragen habe ich keine Antwort! Dann zieh’ dich lieber hinter deine Mecklenburger Misthaufen zurück.“

„Cassube . . .“

„Wurmhuber! Leute, die an Wurmhuber zweifeln, kann ich nicht brauchen!“

„Ich bin ja schon beruhigt!“

„Na — dann sei dir noch einmal verziehen! Also abgemacht!“ Es zuckte geschäftig auf dem Antlitz des kleinen Doktors. „Ich habe jetzt noch hier eine Anzahl Abgeordnete zu wichtigen Konferenzen zu empfangen! Suche du dir inzwischen hier irgendwo in der Nähe ’ne möblierte Budel Träume nicht, sondern höre zu!“

„Ja.“

„Und dann — ehe ich’s vergesse: Einen kleinen Gefallen kannst du mir noch tun!“

„Ja.“

„Ich würde den kleinen Gang selber besorgen — aber du siehst ja, wie überlaufen ich bin! Du nimmst dir ’ne Droschke und fährst in die Vossstrasse 180. Aber nicht gleich, sondern erst in ’ner Stunde. Vorher ist der Graf Lassbach noch nicht zu Hause! Wenn du bei ihm ’reintrittst, sagst du: Es ist heut sehr schönes Wetter, Herr Graf!‘ . . .“

„Ja.“

„Dann weiss er Bescheid. Dann gibt er dir eine kleine grüne, verschlossene Ledermappe! Es ist nichts Besonderes darin! Ein paar Steuerquittungen. Mietsvertrag und so.“

„Und die Mappe bringe ich hierher?“

„Ja! Oder halt! Wart mal! Hier ist noch diese wahnsinnige Unordnung. Da geht sie womöglich noch verloren! Weisst du was: Heb’ sie lieber vorläufig auf deiner Bude auf!“

„Ja.“

„Und dann trittst du hier an und meldest mir, dass alles in Ordnung ist!“ Günther Cassube schob den Schulkameraden an der Schulter zum Ausgang. „Nu fix los, mein Sohn!“

6

Allein geblieben, verzog der Dr. Cassube das Antlitz in einem Anfall schmerzlicher Heiterkeit. Er schüttelte sich in lautlosem Lachen. Er griff nach Filz und Flauschmantel und stieg geschäftig die schmierige Stiege hinab. Auf der Strasse brummelte er nach seiner Gewohnheit gedankenvoll durch die Zahnlücken vor sich hin und stiess dann plötzlich, als sei ihm etwas Besonderes eingefallen, einen schwachen, quäkenden Angstschrei aus wie ein getroffener Hase und setzte sich in Trab.

„Na — auch wieder auf der Tour in Berlin, Herr Knöppke“, empfing ihn in einem dürftig möblierten Quartier der nahen Ziegelstrasse die ältliche, spillerige Stubenvermieterin.

„Jede Woche ’n paar Tage! So’n Reiseonkel hat’s nicht leicht! Frau und drei Gören in Breslau!“ Cassube, der Zimmerherr, stand und wischte unruhig mit einem vielgeprüften Taschentuch über das verstaubte Löschblatt auf dem wackligen, kleinen Schreibtisch. „Hier in Berlin geht’s ja noch — bei den vielen Droschkenkutschern — mit dem Vertrieb von Wagenschmiere! Ich muss gleich meine heutigen Aufträge zusammenrechnen, Fräulein Fahlbusch — lassen Sie mich jetzt um Gottes willen allein!“

Der möblierte Herr verriegelte hinter seiner Wirtin die Tür. Er rannte zum Tisch. Er raffte das Löschpapier in die Höhe und hielt es mit einer bang verbissenen Grimasse vor den Spiegel.

Furchtbar stand da im Glas die Spiegelschrift. Nicht die Donnerkeile der gefälschten mächtigen Keulenzüge des Kanzlers. Die waren ja nachträglich mit einem seiner Riesenbleistifte als Randbemerkungen über die gefälschten, sein verschnörkelten Tintenbuchstaben des Entwurfs der Geheiminstruktion des Auswärtigen Amts an die deutschen Missionen gezogen. Aber eben der verkehrte Abklatsch dieser Handschrift des Geheimrats von Möllinghoff leuchtete verräterisch von dem roten Fliessblatt.

„Das hatt’ ich doch wirklich verschwitzt . . .“ Es würgte nachträglich den Dr. Cassube. „Wenn sie das bei ’ner Haussuchung fänden . . . Na danke! Bitte zu grüssen!“ Er kauerte zitternd vor dem Kanonenöfchen nieder. Ein Geflacker. Asche. Uff! Adieu, Plötzensee!

Er durchsuchte noch einmal ängstlich alle Fugen der Schreibtischschublade. Nirgends mehr ein Fetzen Papier — nirgends ein Schulheftschnitzel mit den ersten monatelangen, geduldigen Fälschungsversuchen. Cassube atmete auf. Er sah auf seine Tombakuhr. Er lief im Geschäftstrab davon.

An der Ecke der Linden und der Schadowstrasse löste er sich eine Karte für das Aquarium. Er durchschritt den lichten oberen Raum, in dem die weissen Webervögel lärmend ihre Nester bauten und der kleine schwarze Gorilla humoristisch Hof hielt, und stieg in die Unterwelt des Meeres hinab. Die Glaskästen voll perlenden Seewassers leuchteten farbig in die tiefe Dämmerung des Gewölbes. Vor der dritten Scheibe stand, in die Betrachtung der bunten Anemonen versunken, ein hochgewachsener Herr. Seine elegante Gestalt schattete nur undeutlich im Zwielicht, vom Zylinderhut ab bis zu dem vornehmen Fall der Beinkleider über das modische Wildledergrau der Gamaschen. Günther Cassube stellte sich ohne Gruss neben ihn und musterte tiefsinnig das Geruder der Seepferdchen. Von drüben eine halblaute, verwöhnte Stimme.

„Sie kommen spät, mein lieber Wurmhuber!“

„Dafür ist alles in Ordnung, Herr Graf!“ Noch leiser der Klang aus Cassubes Kehle. „Morgen früh steht die Bismarcksche Geheiminstruktion also schwarz auf weiss in der ,Grossen Trommel‘!“

Eine Pause. Dann kaum hörbar von drüben:

„Herr Doktor Wurmhuber: In letzter Stunde ein ernstes Wort zwischen uns! Die Sache ist furchtbar ernst. Es ist ein Spiel um die Ruhe Europas! Noch einmal: Wir haben Ihnen das Dokument für schweres Geld abgekauft . . .“

„Noch viel zu billig, Herr Graf von Lassbach! Was habe ich an Bestechungsgeldern zahlen müssen . . .

„. . . abgekauft in der vollen Überzeugung, dass es absolut echt ist . . .“

„Echt wie Gold!“

„Der Entwurf stammt wirklich und wahrhaftig, so wahr ein Gott im Himmel lebt, aus der Reichskanzlei?“ Plötzlich drehte sich der lange, elegante, schnurrbärtige Schatten drüben dem kleinen Doktor zu.

„Mein Ehrenwort!“

„Beruhigen Sie mich! Beschwören Sie es mir noch einmal — bei Ihrer Seligkeit!“

„Ich schwöre!“ Eine Hand hob sich feierlich vor dem Lichtgeflimmer der Wasserbeckenscheibe.

„Gut! Dann ist kein Zweifel! Danke!“ murmelte der Graf Lassbach und schaute tiefsinnig vor sich hin. „Sehen Sie mal, wie das Biest da hinter der Scheibe — nee — da links die Flunder — sich in den Sand einkuschelt! Nichts mehr von ihr zu sehen!“

„Was heisst das, Herr Graf?“

„So wie diese Flunder muss das Original des Schriftstücks, das noch in meiner Wohnung in der Vossstrasse liegt, spurlos bei irgend jemandem in Berlin verschwinden! Ich bin von morgen ab vor einer Haussuchung nicht sicher. Sie nicht. Niemand, den man in der Wilhelmstrasse kennt!“

„Muss es eben ein grosser Unbekannter sein!“

„Aber wer?“

„Ja — wenn Wurmhuber nicht wäre . . .“, sagte der kleine Mann leise und stolz.

„Wissen Sie jemanden?“

„In einer Stunde wird ein junger Mann bei Ihnen erscheinen, Herr Graf, und Ihnen mitteilen, dass das Wetter sehr schön ist.“ Günther Cassube verfolgte mit scheinbarem Interesse das Liebesspiel zweier Seeteufel im Wasserbecken. „Dieser junge Mann ist heute früh in Berlin eingetroffen. Kein Mensch hier kennt ihn. In der Wilhelmstrasse hat man keine Ahnung von seiner Existenz. Bei ihm ruht der Entwurf wie in Abrahams Schoss!“

„Und wer ist das?“

„Sie werden lachen, Herr Graf! Nie werden Sie seinen Namen erfahren: Aber er heisst mit dem Anfangsbuchstaben ,Oberkamp‘!“

„. . . doch nicht der Sohn des Buggenhageners?“

„. . . des Bismärckers — und mit dem Alten überworfen . . .“

„Ahnt er denn, was in der Mappe ist?“

„Nee! Warum auch? Neugier ist ’n Laster!“

„Aber wie weit kann man ihm trauen?“

„Ach — das ist ein ganz dummer, anständiger Kerl . . . Kenn’ ich von Kindesbeinen an!“

„Trotzdem . . .“

Ein nachdenkliches Schweigen des Grafen Lassbach. Dann ein erleichtertes Aufatmen.

„Ich weiss einen Weg, der uns sichert! Also ich erwarte den jungen Herrn! . . . Herr Wurmhuber — ich kenne Ihre Bewegung mit der gekrümmten Hohlhand . . .“

„Herr Graf . . . . . der treue kleine Wurmhuber macht doch alles! Aber man muss dem Tierchen auch ein Pläsierchen machen! Unter einem braunen Lappen, dafür, dass ich den Lutz Oberkamp als Helfer in der Not stelle, kann ich es nicht machen! Sonst pfeif’ ich den jungen Mann wieder zurück!“

Die lange, elegante Gestalt im Zylinderhut drüben liess unauffällig einen ihrer Brieftasche entnommenen Tausendmarkschein in die Finger des anderen gleiten. Dann schlenderte der Graf von Lassbach, ohne sich um seinen Nachbarn zu kümmern, in der Grottendämmerung längs der farbigen Glasscheiben weiter. Er beobachtete noch die Verdauungskünste der grossen Boa constrictor und war plötzlich nicht mehr da.

7

Gleich nach ihm trottete auch Günther Cassube, vornübergebeugt im Eifer der Geschäfte, quer über die Linden die Wilhelmstrasse entlang. Da, wo in ihr jenseits der Leipziger Strasse die grauen Paläste der Zopfzeit in die Fensterfronten des Berliner Alltags nahe dem Ende des neunzehnten Jahrhunderts übergingen, zog er im ersten Stock eines gutbürgerlichen Hauses neben einer Messingtafel „Casimir Stieber“ die Klingel.

„Herr Kommissionsrat ist verreist!“ sagte das öffnende Mädchen. „Ach so — Sie! . . . Herr Kommissionsrat“, sie rief es schrill rückwärts durch einen Türspalt, „darf der Doktor Nordmann-Humann ’rin? Ja? Bitte!“

Ein bleicher Herr unbestimmten Alters mit gefärbtem Schnurrbart unter den Augensäden und einem künstlich nachgedunkelten Haarfranz um die Glatze erhob sich nicht beim Eintritt des kleinen Gewaltmenschen. Er schob ihm nur die Zigarrenkiste über den papierbesäten Schreibtisch zur Hand und musterte ihn mit einem forschenden, feuchten Blick zwischen tränenden Lidern. Er hatte unheimliche Augen. Er fragte:

„Na — Herr Nordmann-Humann? Was bringen Sie Schönes und Gutes?“

„Ich bin jetzt so weit, dass ich Ihnen alles verraten kann!“ Der kleine Mann nahm strahlend Platz. „Auch das, was ich noch nicht wusste, als ich Ihnen heute morgen Bericht erstattete! Graf Lassbach steht im Begriff, die schamlose Fälschung, die er von einem unbekannten Betrüger erworben hat, so geschickt verschwinden zu lassen, dass ihr sie ohne mich niemals in Berlin findet!“

„So . . . so . . .“

„Ein junger Mann, den ich gut kenne — wen kenn’ ich nicht? — holt das Falsifikat jetzt gleich bei dem Grafen Lassbach ab und bringt es — wohin? Seine hiesige Wohnung verrät mir der Jüngling in spätestens einer Stunde. Ich schicke Ihnen dann sofort durch den flinksten Dienstmann, den ich an der Ecke finde, in einem Brief Strasse und Hausnummer!“

„Hm . . . hm!“

„Ihr braucht dann nur dem jungen Mann auf die Bude zu rücken und das Falsifikat zu beschlagnahmen! Ich liefere ihn euch ganz bestimmt ans Messer!“

„Wir wissen, was wir an Ihnen haben, Herr Doktor Nordmann!“

„Nu Geld!“

„Wie?“ Der Kommissionsrat legte harthörig die Hand an das Ohr.

„Dausend Dahler ist der junge Mann unter Brüdern wert. Dahler — nicht Märker!“ Der kleine Gewaltmensch schrie, da der andere sich taub stellte. „Sie werden staunen, wenn Sie hören, wer’s ist!“

„Erst die volle Adresse!“

„Und dann?“

„Dann in Gottes Namen!“

„Ehrenwort?“

„Ehrenwort beiderseitig!“

„Heissen Dank, Herr Kommissionsrat!“

„Meinerseits, mein Teuerster! Gehen Sie mit Gott!“

Der Kommissionsrat Stieber wartete fünf Minuten. Dann wanderte er die Wilhelmstrasse entlang, in ihre feudale Stille jenseits der Leipziger Strasse. In Nummer 76 kannte man den bleichen Herrn mit den Augenfäden und dem schwarzgefärbten Schnurrbart. Der Pförtner liess ihn, vertraulich zwei Finger an dem roten Mützenrand, passieren.

In seiner Aktenhöhle hob der Geheimrat von Möllinghoff das glattrasierte, geistvolle, nervöse Gesicht — einen leicht angegrauten, launig würdevollen Kopf aus dem achtzehnten Jahrhundert — und betrachtete mit mässigem Wohlgefallen und doch voll dienstlicher Spannung seinen Besucher. Der betupfte sich die feuchten Lider.

„Eben war mein Vertrauensmann bei mir, Herr Geheimrat!“ Der Kommissionsrat Stieber sah wieder aus, als müsse er über die Mangelhaftigkeit der Menschen weinen. „Der Esel ahnt immer noch nicht, dass wir genau wissen, wer er ist und wie er nach allen Seiten verrät!“

„Und was meldet dieser Cassube?“

„Er ist, nach seiner Angabe, dabei, das Dokument aus der Vossstrasse wegzueskamotieren und bei einem jungen Subjekt aus der Provinz zu verstecken! Eile tut not! Sonst verschwindet das Ding irgendwo auf Nimmerwiedersehen in Berlin!“

„Den Gefallen tun wir dem Grafen nicht!“ Die dünnen, feingeformten Lippen Klemens von Möllinghoffs zogen sich grausam zusammen. „Wir werden uns dieser Fälschung bemächtigen, solange sie noch im Hause Lassbach liegt!“

„Ganz meine gehorsamste Meinung, Herr Geheimrat!“

„Es ist Gefahr im Verzug! Wir wollen die Haussuchung dort also jetzt gleich, noch am hellen Tag, beginnen lassen, statt schamhaft am Abend! Und zur selben Zeit natürlich auch die Befessung der ,Grossen Trommel‘. Was diesen Cassube betrifft — wie nennt er sich bei uns? Nordmann-Humann . . .?“

„Und drüben Doktor Wurmhuber-Fillitsch! Er heisst auch Knöppke! Er wechselt seinen Namen häufiger als das Hemd! Das würde allerdings nicht viel besagen!“

„Damit dieses Chamäleon uns nicht dazwischenstänkert, lassen wir es sofort auf Grund des kleinen Belagerungszustandes vorläufig verhaften!“ Der Geheimrat stand auf. „In einer halben Stunde erfolgt überall gleichzeitig der grosse Schlag! Wir kommen dem unbekannten jungen Mann zuvor! Graf Lassbach soll sich hüten!“

8

In dem grossen Bibliothekraum seines Hauses in der Vossstrasse trat inzwischen der Graf von Lassbach nervös an das Fenster. Die Märznachmittagssonne beschien die hohe, schlanke, elegante Gestalt eines Fünfzigers, dessen gepflegter Haarscheitel und Schnurrbart noch kein graues Haar trug. Jugendlich lebhaft auch noch, trotz der Fältchen, die schönen, etwas weichlichen Züge. Raubritterartig, etwas vorspringend, ein Zeichen alten Blutes, die Nase. Weiblich sein darunter der Mund des von der breiten Stirn bis zu dem sanften, schmalen Kinn sich widerspruchsvoll verjüngenden Gesichts. Unruhig die dunklen Augen.

In stiller Krümmung lag unten die Vossstrasse, ohne Läden, ohne Keller, die unauffällig vornehmste Strasse Berlins. Vor dem Hause des Grafen Lassbach hielt eine Reihe Equipagen. Er klingelte dem Diener.

„Ich gehe auf einen Sprung hinüber zum Jour der Gräfin. Wenn sich ein junger Herr Oberkamp meldet, so führen Sie ihn hierherein und benachrichtigen Sie mich drüben, ohne seinen Namen zu nennen, durch einen Augenwink!“

Graf Anton Lassbach hatte, auf dem Wege zum Mittwochempfang seiner Frau, den leichten, gleitenden Schritt eines Blaublüters, der sein Leben lang auf dem Parkett von halb Europa, in den Salons hoher und allerhöchster Damen zwischen Themse und Donau heimisch gewesen. Drinnen, in den menschenvollen Räumen, summte ein feudaler Bienenstock. Spitzenbesetzte, lange, enge Nachmittagstoiletten, Sporengeklirr, Teetassengeklapper, Musik von nebenan, Handküsse, Ordenskettchen, Haussterne auf Uniformen, Garde, Gotha, Diplomatenfranzösisch. Das leise knarrende Märkisch eines alten Herrn aus einem Häuflein ergrauter Tories in der Ecke, zu denen sich Graf Lassbach unauffällig setzte.

„Seit der Schweinerei von Achtundvierzig bin ich mit Bismarck jahrzehntelang durch dick und dünn gegangen! Aber ich bin nu mal ’n oller Christ! Ich weiss, dass sie mich im Land den heiligen Tobias’ schimpfen! Meine Antwort drauf — nee — die ist hier nichts für die Damen!“

Der kleine, hagere Tobias von Rickwitz auf Rezenow trug unter treuherzigen hellen, blauen Augen einen langen, schlohweissen Husarenschnurrbart in dem braunverwitterten Gesicht. Stille Strenge in dessen Furchen.