Grischa der Geiger - Rudolf Stratz - E-Book

Grischa der Geiger E-Book

Rudolf Stratz

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Beschreibung

Während der Revolution in Russland wurde der Wolkenkratzer des Millionärs Grigorieff beschlagnahmt. Viele Menschen leben jetzt in den völlig heruntergekommenen Räumen. Manchen Zimmern merkt man den herrschaftlichen Charakter des Hauses noch an. Im einstigen Luxusboudoir wohnt mit drei armseligen Kumpanen der Geiger Grischa. Keiner weiß, dass er der Sohn des ehemaligen Besitzers ist – außer seinen Zimmerkollegen. Ihnen hat er verraten, dass sein Vater vor seinem Selbstmord in einem Geheimversteck im Haus seine legendäre Kunstsammlung untergebracht hat. Grischa ist aus dem Pariser Exil nach Moskau zurückgekehrt. Als Ärmster der Armen getarnt, wartet er im Haus seines Vaters auf eine günstige Gelegenheit. In allernächster Zeit wird der Sowjetkommissar Litzband sterben. Wenn ganz Moskau seinem Leichenzug folgt, will Grischa zusammen mit den anderen sein Erbe holen. Eines Tages wird er als Geigenspieler von einem dubiosen Russen für ein Geschäftsessen zu einem Amerikaner, Mr. Roop, verpflichtet. Aber noch während des Abends stirbt Litzband. Als Grischa zu Hause das Versteck öffnet, stellen sich die Zimmergenossen als Spitzel heraus und er muss sofort fliehen. Mit Hilfe der Sekretärin des Amerikaners schafft er es, nach Paris zu kommen. Dort erfährt er, dass ausgerechnet Mr. Roop das Prunkstück der Sammlung, die Krone Alexander Newskis, in den Händen hält ...-

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Rudolf Stratz

Grischa der Geiger

Saga

Grischa der Geiger Copyright © 1936, 2019 Rudolf Stratz und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788711507391

1. Ebook-Auflage, 2019

Format: EPUB 2.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von SAGA Egmont gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk

– a part of Egmont www.egmont.com

Still: Grischa geigt . . .

Es gibt tausend Töne in dem längst von der roten Kreml-Regierung beschlagnahmten Wolkenkratzer des einstigen altrussischen Millionärs Grigorieff. Noch ragt der schmale, hohe Steinkoloss des alten Teehändlers hoch über die zahllosen Kirchenkuppeln und Klostertürme und Dächermeere Moskaus. Aber drinnen hausen zu Hunderten, froh von Sowjets Gnaden ein Plätzchen gefunden zu haben, grau durcheinander, die Menschen von 1924, die Masse Mensch der neuen russischen Zeit. In allen Stockwerken schreien die Kinder, an der Riesenherden klappern sechs, acht Beamtenfrauen und Fabrikarbeiterinnen und alte Gräfinnen zugleich mit den Kasserollen, ununterbrochen schrillen die Flurklingeln, die Treppent dröhnen von stampfenden Schmierstiefeln. Denn der Lift ist seit Jahren als Abfallschacht für den Abhub der Haushalte verwendet und bis zur halben Höhe des einstigen Palastes mit Asche und Porzellanscherben, Klaviertrümmern, zerbrochenen Marmorbadewannen, zerschlagenen Spiegeln, verfaulten Gemüsestrunken, verwesten Katzen gefüllt.

Aber wenn Grischa seine Geige nimmt und spielt, dann klingen und schwingen die schluchzenden, zitternden Töne durch all den Alltagslärm. Alle Zimmertüren im langen, linken Flur des dritten Stockwerks öffnen sich. Bärtige Männerköpfe, blasse Frauengesichter lauschen.

Auch die Türe zu Grischas Gelass haben sie aufgemacht, um ihn zu hören. Es ist ein einstiges Luxusboudoir im Stil Ludwigs des Vierzehnten, das Grischa, der Ärmste der Armen, mit drei Schicksalsgenossen teilt. Noch hängen Reste der Seidentapete an den grob weiss getünchten, mit Wanzenblut rotgetupften Wänden. Die Deckenkassetten aus Rosenholz sind längst verfeuert, die Parkettäfelung herausgerissen. Ein zertrampelter, mit Hunderten von Brandlöchern der Zigarettenstummel übersäter kostbarer altpersischer Teppich aus der berühmten Kunstsammlung des alten Grigorieff deckt die Sandschicht des Fehlbodens.

Zwei breite Kalkstriche mit dem Tüncherpinsel auf dem Teppich, eine Wandecke — diese Fläche von drei Ellen im Geviert — ist, innerhalb des ganzen Zimmers, Grischas Reich. Sein eisernes Feldbett lehut, für den Tag zusammengeklappt, an der Mauer. Auf den Resten eines Barocksessels daneben sitzt er, die Geige an der Schulter — mittelgross, in der ersten Hälfte der Dreissig, mit weichem, kurzem, blondem Volbart und langen, wirren, blonden Haarsträhnen.

Echt russisch der Schnitt seines schwermütigen Gesichts — die etwas vorspringenden Backenknochen, die breiten Nasenflügel. Träumerisch die blauen Augen. Kindlich-freundlich die Wölbung der stark aufgeworfenen Lippen.

Abgeschabt, an der linken Schulter von der Geige abgewetzt, sein europäischer Rock. Ausgefranzt die langen Hosen über den mit Rüstern vollgeflickten Schaftstiefeln, kragenlos das am Brustsaum rotgestickte Hemd.

Und Grischa geigt . . . Seine etwas groben Züge haben sich verklärt. Sein Blick verliert sich ins Weite. Er träumt mit offenen Augen und spricht wie im Traum.

Spricht leise, mit dem Geigenspiel seine Worte übertönend zu dem ehemaligen Psalmensänger Jermolai, seinem Kreidestrich-Nachbarn im Zimmer, der dicht neben ihm kauert, dürr wie ein Skelett, eine fahlgraue, läusebedeckte Wildnis sein Haar und Hängebart, unheimlich gross die Nase zwischen den eingefallenen, rotgefleckten Wangen des Schwindsüchtigen.

„Heute nacht, Jermolai, wagen wir den grossen Schlag!“ raunt Grischa im Geigen. „Wenn ihr drei hier im Zimmer, denen ich Vertrauen geschenkt habe, euer Leben aufs Spiel setzt und mir helft!“

„Wie sollten wir nicht?“ Ein Hustenanfall erstickt die halberloschene Stimme des kranken Kirchensängers. Er speit auf den Teppich. Er röchelt. „Seit Jahren spricht Moskau von den hier im Hause verborgenen Schätzen. Uns armen Knechten Gottes fallen sie zu!“

„ . . . und diese eine Nacht kehrt nie wieder!“ Grischa der Geiger führt stürmisch den Bogen über die Saiten. „Ich will dir jetzt verraten, warum es heute geschehen muss oder nie! Drüben um die Strassenecke, auf dem Arbât, liegt Litzband, der grosse Sowjetkommissar, im Sterben. Gleich nach seinem Tode wird seine Leiche nachts bei Fackelschein in feierlichem Zug in den Kreml geleitet werden. Alles wird aus diesem Hause hier hinaus nach der Strassenecke laufen, um das Schauspiel zu sehen. Diese einzige Nacht im Jahr ist das Haus meines Vaters hier auf kurze Zeit von seinen Hunderten von Bewohnern leer. In dieser einzigen Nacht kann ich mein Eigentum, die hier im Hause vermauerten Kunstschätze meines Vaters, heben und ins Ausland retten. Seine Sammlung altrussischer Kleinodien war einst weltberühmt, Jermolai! Sie ist Millionen wert!“

„Wir alle werden reich, die es wagen und mit dir gehen!“ keucht der Kirchensänger und wirft über die Schulter einen schnellen, bedeutungsvollen Blick nach dem Flur. Dort wuchtet eben mit schweren Schritten, wie zufällig, in seinem roten Hemd der riesige Hausverwalter Ossip, der Einäugige, genannt „der Gottlose“ vorbei.

„Allein kann ich es nicht vollbringen . . .“ Grischa geigt. „Darum habe ich euch Mitbrüder hier im Zimmer in meinen Plan eingeweiht. Ihr seid die Mühseligen. Ihr habt nichts zu verlieren und alles zu gewinnen!“

„So ist es, Herr!“ murmelt der Psalmensänger Jermolai.

Über Grischas Haupt hängt an der Wand ein Kalender. Er zeigt den 13. März 1924. Der blonde Geiger wirft einen Blick hinauf und spielt.

„Ich bin längst kein Herr mehr!“ sagt er dabei, „ich bin ein Bettler wie ihr — ich, der Sohn des Millionärs Grigorieff, den ganz Russland kannte. Seit sieben Jahren esse ich das Brot der Fremde und ernähre mich kärglich in Deutschland und Frankreich als armer Musikant. Und doch bin ich kein Bettler, sondern reich. Denn mein sind die Schätze hier im Haus, nach denen der Kreml seit Jahren vergeblich sucht, um sie zu beschlagnahmen. Ihr hier im Zimmer, ohne die ich nichts machen kann, ihr allein, Jermolai, wisst, wer ich bin und warum ich mit einem falschen Pass nach Russland kam . . .“

„Wir schweigen, Herr!“

„Hütet nur jetzt eure Zunge, vor der letzten entscheidenden Nacht! Denkt daran, dass ihr innerhalb vierundzwanzig Stunden mit mir erschossen werdet, wenn sie am Lubjanka-Platz merken, dass ich der Sohn Grigorieffs bin und ihr es wusstet, ohne es zu melden!“

„Gott schütze jeden vor der Geheimpolizei, Herr!“ Ein Krampfanfall von Husten schüttelt das lebende Gerippe des Psalmensängers. Er keucht zwischen den Anfällen: „Gott hat mich gestraft.“ Er erhebt sich. „Ich muss frische Luft schöpfen, Herr — verzeiht!“ ächzt er und wankt zur Türe hinans und auf den Flur und in das Treppenhaus.

Dort steht auf dem Stiegenabsatz Ossip der Gottlose, in rotem Hemd und Ledergürtel und hohen Stiefeln, brutal das Antlitz mit dem dunklen Schnurrbart, und spuckt zerbissene Sonnenblumenkerne auf die Schmutzkruste der Stufen. Der Riese richtet sein einziges, tückisches, kleines Auge gespannt auf den Kirchensänger.

„Wir haben ihn!“ keucht Jermolai und fasst den andern in der Aufregung am roten Ärmel. „Heute nacht will er die Schätze heben! Sie müssen hier im Haus verborgen sein, wo wir sie seit Jahren vergeblich suchen. Von der Dachplattform bis zu den Kellern haben wir alles durchstöbert, alle Wände beklopft, alle Räume ausgemessen. Umsonst! Nun wird er uns selber an das Versteck führen, der Narr! Ich fahre gleich nach dem Lubjanka-Platz und melde es der Geheimpolizei!“

Die Mienen der beiden Spitzel des Kreml leuchten. Trotzdem unzufrieden der tiefe, rauhe Bass des Gottlosen:

„War er schon zu Ende mit seinen Plänen für heute nacht? Nein? Warum liefst du fort, während dieser dumme Vogel noch seine Geheimnisse ausplauderte?“

„Damit keine Zeit verloren geht, Genosse! Inzwischen redet er mit Ilja weiter!“

„Und ihm vertraut er auch?“ forscht der Ginäugige.

„Uns allen dreien! Grigorij Grigorieff ahnt nicht, dass er in unserem Zimmer nur von uns Geheimagenten umgeben ist!“

Droben, in dem Wanzengemach Ludwigs des Vierzehnten, hockt neben Grischa klein, dick, weissköpfig und verwahrlost, der Vater Ilja, der einstige grosse Branntweinpächter. Wässerig glitzern die rotgeliderten Äuglein in dem gedunsenen Trinkergesicht. Er lauscht mit offenem, zahnlosem Mund, die Wurstfinger über dem Spitzbauch gefaltet, und Grischa geigt und spricht — mehr zu sich als zu dem alten Bettler.

„Dies ist meines Vaters Haus . . .“ sagt er. „Hier sind meine Kindheitserinnerungen. Hier bin ich aufgewachsen. Wenn ich die Augen schliesse und geige, dann steht meines Vaters Haus wieder vor mir, wie es einst war. Glanzvoll die Säle. Alles voll Menschen. Ausländer kommen, um die Sammlungen zu besichtigen, Gelehrte, Museumsdirektoren. Generale mit Ordenssternen sind bei meinem Vater zu Tisch. Teehändler, Baumwollhändler, Pelzhändler — Geschäftsfreunde aus England und China, Künstler — mein Vater hielt ein offenes Haus!“

„Ich habe ihn noch oft gesehen!“ Es klingt heiser aus Vater Iljas Kehle. „Damals, als er vor dreissig Jahren dies Haus baute. Damals übernahm die Krone von uns Branntweinpächtern den Verkauf in den Schnapsbuden. Ich setzte mich als reifer Mann zur Ruhe. Harte Menschen nahmen mir Greis vor sieben Jahren Glück und Geld!“

Vater Ilja sieht sich vorsichtig um, ob auch niemand diese fredelhafte Lästerung wider die Schreckensmänner drüben auf dem Kreml gehört hat. Dann krächzt er weiter:

„Ob ich ihn noch gekannt habe — den alten Grigorieff und deine selige Mutter, Grischa! Bedächtig schritt er daher, dein Vater, im Überschlagpelz mit Gürtel und in hohen Filzstiefeln, langbärtig — sich vor jedem Heiligenbild bekreuzigend, ein Russe vom alten Schlag.“

„Mein Vater war noch als Leibeigener geboren!“ Grischas Bogen zittert nur noch ganz leise auf der G-Saite. „Wir stammen aus dem Volk. Wir vergassen es. Ich wurde als das einzige Kind wie der Sohn eines Bojaren erzogen. Für diese Trennung vom Volk hat Gott uns Hoffärtige gezüchtigt. Erst draussen in der Fremde habe ich zum Volk zurückgefunden, weil ich selbst wieder dazugehörte. In der Armut habe ich euch Arme liebgewonnen. Ihr seid meine Brüder, Ilja, und sollt es bleiben, auch wenn ich wieder ein grosser Herr bin. Ich glaube an euch!“

„Ich höre es mit Dank gegen Gott, Euer Wohlgeboren!“ Der greise Spion des Kreml nickt andächtig. Ein lauerndes Lächeln läuft über seine schnapsroten Züge. Er rückt zutraulich näher. „Ihr sagtet, Herr: das Versteck öffnet sich auf einen leisen Fingerdruck und schliesst sich geräuschlos wieder?“

„Mein Vater zeigte mir vor zehn Jahren, ehe ich in den Krieg ging, die Stelle, die sonst niemand auf der Welt kennt. Du meisst, ich habe ihn nicht wiedergesehen. Nach drei Jahren erfuhr ich in der deutschen Kriegsgefangenschaft, dass er sich auf der Flucht vor den roten Garden Moskaus in Nishni-Nowgorod von der Jahrmarktsbrücke in die Wolga gestürzt hat!“

„Gott helfe ihm!“ Vater Ilja schlägt mit zitterigem Zeigefinger ein Kreuz. „Dir werden wir helfen! Wir schliessen das leere Versteck wieder, als sei nichts geschehen. Wir verwahren die Schätze hier in unsern paar Kästen und Laden. Wer vermutet etwas bei uns Armseligen? Machmet“, er blinzelt in die Ecke der Stube, „trägt die Stücke einzeln zwischen seinen Teppichen aus dem Haus, ohne dass ein Milizionär draussen etwas merkt!“

Aber Machmet, der schlitzäugige, fast bartlose Teppichhausierer, ist jetzt nicht zu sprechen. Er ist ein Tatar. Er glaubt an Allah. Er kniet in seinem langen dunkelblauen Kaftan und den weissen Baumwollhosen auf seinem Gebetteppich und presst Stirne und Handteller gegen die buntgeknüpften Wollfäden und murmelt seine Abendandacht.

„Und der Mensch, zu dem der Tatar die Kostbarkeiten bringt . . .?“ Grischa lässt zögernd den Bogen sinken.

„Der Lithauer Keleidis ist beglaubigter Fremdendolmetscher!“ tröstet Vater Ilja. „Er ist ständig mit den Ausländern in Berührung. Es ist ihm ein leichtes, eine versiegelte Kiste als zollfreies fremdes Diplomatengut in das Ausland zu verschicken. Natürlich fällt auch für ihn dabei etwas ab — ein goldener Becher — ein juwelenbesetztes Kruzifix. Seien Sie unbesorgt, Herr! Keleidis gibt Teegeld und besticht, wo es nötig ist. Er ist treu wie Gold! Und nun“ — der greise Branntweinpächter rappelt sich schwerfällig auf die Beine, „mit Gott!“

Vater Ilja steigt die Stufen des Wolkenkratzers hinab. Er tastet sich an einem gespannten Strick. Das kunstgeschnitzte Geländer aus einem altfranzösischen Barockschloss ist längst zu Kleinholz gehackt. Noch lachen nasenlose Amoretten von den Wänden. Es dünstet im Stiegenhaus nach Kohlsuppe, nach Zigaretten, nach Tee und Leder und aus einem Konzertflügel in der Ecke, der als zuklappbarer Abort dient. Drunten zur ebenen Erde weht frische kalte Märzluft von der Strasse herein. Dort steht, die Hände im Ledergürtel, Ossip der Gottlose. Vater Ilja gesellt sich zu ihm.

„Wo ist der Psalmensänger?“ fragt der Spitzel Ilja.

„Zur Geheimpolizei!“ erwidert der Spitzel Ossip. „Er hatte recht: es ist keine Zeit zu verlieren, falls Litzband wirklich heute nacht stirbt!“

Um die Ecke, in der Arbâtstrasse, vor dem Hause des grossen Kommissars Litzband, steht im Abendgrauen eine ebenso graue, stumm wartende Menschenmenge. Von dort stiefelt ein langer, hagerer, leidlich, aber kragenlos gekleideter Mann auf das Haus Grigorieff zu. Graue Wolfsaugen liegen tief in seinem bartlosen, grob wie mit

der Holzaxt ausgehauenen Antlitz. Ein paar flachsblonde Strähnen lugen unter der spitzen hohen Pelzmütze vor. Keleidis, der litauische Fremdendolmetscher und Polizeispion, schüttelt den beiden, Ossip und Ilja, die Hand, hebt zweifelnd die Schultern, lässt sie fallen.

„Wie es mit Litzband steht?“ sagt er. „Man weiss es nicht. Noch lebt er, wie es scheint . . .“

Er tritt zur Seite. Die Räder der Droschke, die plötzlich neben den dreien hält, spritzen weithin den tauenden Schneeschlamm der Fahrbahn über den vereisten Bürgersteig. Aus dem kleinen, offenen Gefährt beugt sich ein eleganter Herr. Er hat den Kragen seines Pelzes so hoch über die Ohren geschlagen, dass man fast nichts von seinem Antlitz sieht.

„Ich traf den Psalmensänger am Lubjanka-Platz!“ sagt er leise und schnell zu den Spionen. „Lasst den Geiger Grischa nicht aus den Augen, ausser wenn er zu dem Amerikaner Roop geholt werden sollte. Dort bin auch ich heute abend und überwache ihn! Wo ist er jetzt?“

„Er geigt oben sein Sterbelied!“ grinst Vater Ilja.

„Wer ist bei ihm?“

„Der Teppichhändler Machmet.“

„Gut denn! Fahr zu!“ Der Wagen mit dem grossen Geheimagenten spritzt weiter die Powarskaja hinab rechts und links seine schmutzig grauen Schneewasserfluten.

Oben hat Machmet der Tatar ausgebetet. Er steht vor Grischa. Er zwinkert treuherzig mit den Schlitzaugen. Er hebt mit einer bittenden Bewegung die inneren Handflächen.

„Was hast du, Machmet?“

„Du schenkst uns so viel Vertrauen, unser Ernährer! Lasse deine Sonne voll aufgehen! Nenne mir den Ort des Verstecks!“

„Erst heute nacht!“ sagt Grischa und fügt mit einem seltsamen Lächeln hinzu: „Es ist gar nicht so fern! Es ist vielleicht viel näher, als du ahnst!“

Der krummbeinige kleine Tatarenspitzel wartet auf weiteren Bescheid. Es kommt keiner mehr. Da nimmt er seufzend seinen Teppichballen auf die Schulter, um ihn jetzt, vor sinkender Nacht, sicher in einem Gewölbe in den Kaufmannsreihen drüben aufzubewahren, und schleicht gebückt hinaus. Und Grischa ist im Zimmer allein mit seiner Geige.

2.

Die Geige des Geigers Grischa war verstummt. Sie ruhte auf den Knien des einsamen Mannes in der Nummer acht des dritten Stockwerks im einstigen Wolkenkratzer Grigorieff. Zwischen dem kurzen, krausen, blonden Vollbart und den langen, blonden, wirren Haarsträhnen träumten in dem schwermütigen, etwas backenknochigen Gesicht mit der breitgeflügelten Nase die weichen, blauen Augen des Geigers Grischa in die Dämmerung.

Aus der Dämmerung steigt wieder die Erinnerung. Sie webt in den Winkeln des kahlen Raumes. Der Raum wandelt sich. Er wird zu dem Prunkgemach von einst. Er weitet sich zu einer Flucht von Sälen. Die Toten sind anferstanden und leben und lachen und lärmen unter dem Wachskerzenschimmer der Kronleuchter zwischen den hohen Spiegelwänden auf den glitzernden Parkettflächen — die langbärtigen, altrussischen Grosskaufleute und ihre in grellfarbiger Seide herausgeputzten, mit Diamantentränten in den Ohren und Haselnussperlen um den Hals und Riesenbrillanten an allen Fingern beladenen rotbäckigen Frauen. Und unter ihnen, nur nicht vom Jahrhunderte alten Schlag wie sie, der Vater — der Sohn des Leibeigenen — der Millionär . . .

Nein. Zur ebenen Erde, da, wo in den Kontoren seines Teehandels Russen und Chinesen, altgläubige Hebräer und Westeuropäer sich die Türklinke in die Hand geben, da sitzt der Vater. Er hat, wie alle diese urmoskowitischen Rubelkönige, in seiner Jugend wenig mehr als Lesen und Schreiben gelernt. Und wenn er es nicht könnte — sein einfaches Wort genügt drüben am Karuninskiplatz auf der Börse und draussen auf dem äusseren Markt von Nishni-Nowgorod. Er sitzt und schiebt, Zahlenreihen aus dem Kopf vor sich in den Patriarchenbart murmelnd, die klappernden Kügelchen der Rechenmaschine. Er schlürft noch, wie sein Grossvater und Urgrossvater es getan, den Tee bedächtig aus der Untertasse. Er trägt in der Auferstehungsnacht die flackernde Osterkerze behutsam durch die Windstösse von der Moskwa her aus der Erlöserkathedrale nach Hause. Er missbilligt aus tiefster Seele das gottesferne Westeuropa — das verfaulte Ausland, das er nie gesehen. Er hängt am Brauch der Väter, am heiligen Russland. Und was er, der Teehändler aus dem Volke, ist und was er in seinem langen Leben mit seinem natürlichen Verstand an Türmen von Rubelscheinen rafft, das vollendet sich da oben im ersten Stockwerk in seiner weltbekannten Sammlung altrussischer Kunstschätze. Mit ihr, statt der riesigen Findelhäuser und Krankenanstalten, die andere Moskauer Krösusse stiften, entschuldigt er seinen Reichtum vor Russland.

Draussen schrillte die Flurklingel zweimal. Eine Pause. Noch zweimal. Das war das am Tor angeschlagene Zeichen für Nummer acht. Für den Raum, in dem der Geiger Grischa zusammen mit Vater Ilja und dem Psalmensänger und dem Tataren hauste.

Von den dreien war keiner da. Grigorij Grigorieff schrak aus seinen Gedanken auf. Er erhob sich. Er ging durch den Flur und öffnete die Türe. Er fragte:

„Was beliebt Ihren, Senossin?“

Das junge Mädchen, das draussen stand, war gross und schlank selbst in dem langen, billigen Pelz, der ihr bis zu den vom Eisschlamm bespritzen hohen Gummistiefeln reichte. Unter der Pelzmütze zeigte ihr angenehmes, von der Märzkälte gerötetes Gesicht einen Ausdruck von Ernst und Bestimmtheit über ihre fünfundzwanzig Jahre hinaus.

„Ich suche den Geiger, der hier wohnt!“ sagte sie mit heller, frischer Stimme. Sie sprach fliessend russisch. Aber Grischa merkte doch den deutschen Anklang.

„Nun — ich bin es!“ versetzte er.

Die Fremde zog die Rechte aus dem Pelzmuff, streifte den Wollhandschuh ab und reichte Grischa nach russischem Brauch die Hand.

„Ich habe eine Bestellung, Genosse Grischa!“

„Belieben Sie mir zu folgen!“

Innerhalb seines Kreidevierecks im Zimmer Nummer acht rückte Grischa seinen einzigen wackeligen Stuhl für die Besucherin zurecht. Er selber stellte sich davor und wartete schweigend und traumversonnen.

Das junge Mädchen liess seine klaren, hellbraunen Augen durch den verkommenen Prunkraum schweifen. Sie nickte kaum merklich vor sich hin, als wollte sie sagen: ‚So habe ich es mir gedacht! So sieht es überall in Moskau aus!‘ Dann hob sie den hübschen ernsten Kopf. Sie hatte eine grosse Sicherheit im Auftreten.

„Ich komme im Auftrag des Mr. William J. Roop!“ sagte sie.

„Was ist das für ein Vogel?“

Es klang gelangweilt. Die Besucherin lächelte nur dazu. Sie wusste mit Russen und ihren sprunghaften Launen umzugehen.

„Ein grosser amerikanischer Geschäftsmann, der seit Monaten hier mit dem Sowjetkommissar für Schwerindustrie wegen Maschinenlieferungen aus den Vereinigten Staaten verhandelt! Die Regierung hat ihm eine eigene fünfzimmerige Wohnung in der Iwerskaja angewiesen!“

„Das ist für Moskauer Verhältnisse etwas Gewaltiges! Er muss ein ganz grosser ausländischer Blutsauger sein!“ sagte Grischa halb geistesabwesend. Seine Gedanken waren bei der nahenden Nacht.

Die Fremde überhörte das mit vollem Gleichmut. Sie fuhr fort:

„Mr. Roop ist ein grosser Freund Russlands und namentlich der russischen Kunst und Musik. Er hat heute abend Gäste. Er will sie durch echt russisches Geigenspiel unterhalten! Ein russischer Geschäftsfreund hat ihn auf Sie aufmerksam gemacht! Pflegen Sie nicht zuweilen an der Strassenecke zu spielen, Genosse Grischa?“

„Nun — man muss leben!“

„Da eben hat Ihr Landsmann Sie wiederholt gehört! Das, was aus Ihrer Geige klingt, sagte er zu Mr. Roop, sei die unverfälschte Seele des russischen Volkes. Mr. Roop war begeistert. Ich bin seine Sekretärin. Er schickt mich, Sie zu holen!“

„Ich kann heute abend nicht spielen!“

„Was hindert Sie?“

„Ich bin beschäftigt. Auch fühle ich mich nicht wohl!“

„Sie sehen blühend aus“, sagte Mr. Roops Sekretärin in ihrem deutsch gefärbten Russisch mit freundlicher Bestimmtheit. „Und was Sie sonst in Anspruch nimmt“ — wieder ein Blick durch die armselige Öde von Nummer acht — „erbarmen Sie sich: was wird es schon Grosses sein? Belieben Sie zu erwägen, dass Mr. Roop über Dollarvaluta, soviel er will, verfügt! Ihn kümmert es nicht, was ein Ischerwonez oder eine Kopeke wert ist! Er rechnet nach amerikanischem Massstab. Er zahlt mit offener Hand, so wie er in New York zahlen würde!“

 . . . Valuta . . .

‚Du könntest sie brauchen, Grischa‘ . . . ging es dem blonden Geiger durch den Kopf. ‚Der Mangel an Geld — das eben ist ja für deinen Plan das Schlimmste — das Gefährlichste . . .‘

„Mr. Roop ist ein aufgeräumter, leutseliger Charakter. Er hält es mit Leben und Lebenlassen. Er gibt Ihnen heute soviel Rubelnoten Sie wollen nach Hause mit!“

Grischa . . . Grischa . . . Wie würde, wenn alles geglückt ist, ein solches Bündel Scheine deine Flucht in das Ausland erleichtern, statt dass du dich armselig Wochen, Monate lang durchhungern, durchschlagen, durchfiedeln musst — in steter Sorge, entdeckt zu werden — mit deinem falschen Pass Nr. 504 392 . . .?

„Und doch ist es mir nicht möglich!“ versetzte Grischa der Geiger finster und verbissen.

Die Türe flog dröhnend auf. Ossip, der Hausverwalter, stapfte herein. Hinter ihm her der Vater Ilja. Der einäugige Riese in rotem Hemd tat, als suchte er nach dem Psalmensänger Jermolai. Es war ein Vorwand, um sich zu überzeugen, dass Grischa noch im Zimmer sei. Der zahnlose alte Ilja lispelte inzwischen aufgeregt:

„Weisst du es schon, Grischa: mit Litzband drüben um die Ecke geht es wieder etwas besser! Er wird diese Nacht noch überleben!“

„Machen Sie sich fertig, Genosse Grischa! Mr. Roop erwartet Sie!“ drängte das junge Mädchen.

Mr. Roop . . . Aus der einzigen Pupille des Gottlosen zuckte ein Blitz des Einverständnisses hinüber zu den schnapsfeuchten Augen des Branntweinpächters . . . Roop . . . das war der Name, den vorhin am Hauseingang unten der Unbekannte in der Droschke genannt hatte! Dorthin durfte man, nach seiner Weisung, Grischa den Geiger unbesorgt gehen lassen . . . Dort war heute abend der Unbekannte selber und überwachte ihn.

Und Grischa der Geiger fuhr in seine zerschlissenen Galoschen, hängte sich seinen abgeschabten Schafpelz um, stülpte die verblichene blaue Schirmkappe auf das lange blonde Haar und nahm seine Violine.

„Gut denn — ich spiele!“ sprach er zerstreut, „doch unter der Bedingung: ich bin ein Sohn des roten Russland und den Räten der Bauern und Arbeiter untertan! Sollte heute abend der Tod des grossen Genossen Litzband gemeldet werden, so bin ich zu erschüttert, um euch Bürgern weiter in die Ohren zu geigen. Ich klappe meinen Kasten zu und gehe nach Hause.“

Draussen, vor dem Wolkenkratzer, blieb das junge Mädchen stehen, schaute sich um und schlug sich ärgerlich mit der flachen Hand vor die Stirne.

„Ich bin doch wirklich zu dumm! Ich schicke meine Droschke weg, weil ich nicht wusste, wie lange es da oben dauern würde, bis ich Sie fand! Und nun ist weit und breit bei dem furchtbaren Schmutz kein Fuhrmann in Sicht!“

„Wir müssen eine Strecke zu Fuss gehen! Wir Armen sind das gewohnt!“ sprach Grischa schwermütig. „Ich kann Sie ja durch die Pfützen tragen!“

„Danke! Ich komme im Leben allein durch! Aber wenn Sie das nur Pfützen nenner . . .“

Das waren ganze schmutziggraue Seen von schmelzendem Schnee, die die Fahrbahn bis über den Bürgersteig hinaus überschwemmten. Moskau im März. Moskau im Matsch. Es tröpfelte und triefte von den Dächern, unter den Galoschen knirschten morsche Eisbänke, Bäche rieselten von tauenden Schneehügeln und sammelten sich in grossen, knietiefen Pflasterlöchern, auf deren Grund immer noch neue verharschte Schichten von Wintereis der Frühlingssonne harrten.

Es war ein mühseliger Marsch. Aber er schien Grischas Begleiterin nichts anzuhaben. Er musterte sie im Gehen von der Seite. Das Profil des ernsten, ruhigen Mädchengesichts zeigte ihm die Willenskraft eines Menschen, der schon viel im Leben durchgemacht hat. Jetzt lachte sie und sagte, unbekümmert mit ihren hohen Gummigaloschen durch einen Morast voll schwimmender Eisbrocken watend:

„Dieser Sumpf erinnert mich lebhaft an meine Moskauer Kindheit!“

Da war wieder der deutsche Anklang in ihrem fliessenden Russisch. Grischa sprach das schwere, volltönende, echte Russisch Moskaus. Er fragte:

„Sind Sie eine Deutschstämmige?“

„Ich bin eine Reichsdeutsche!“ sagte das junge Mädchen. „Aber hier in Moskau geboren und aufgewachsen. Mein Vater stammt aus Leipzig. Er hatte hier in Moskau ein schönes Pelzmagazin an der Schmiedebrücke. Als der Krieg ausbrach —— vor zehn Jahren — konnte er gerade noch mit uns nach Deutschland flüchten. Wir verloren alles.“

„Und wohin führte Sie draussen Gott?“

„Dahin und dorthin in Deutschland!“ sagte das junge Mädchen. „Mein Vater schlug sich so durch. Vor einem Jahr starb er in Berlin. Meine Mutter und ich standen allein. Sie stammt aus den Ostseeprovinzen. Von dort ist jetzt auch keine Hilfe. Das bisschen, was wir noch hatten, verschlang die Inflation. Ich suchte nach einer Tätigkeit. Aber Berlin ist ja von russischen Flüchtlingen überfüllt. Da kam Mr. Roop. Er versteht kein Wort Russisch. Er brauchte eine Dolmetscherin und Sekretärin für seinen Aufenthalt in Moskau.“

Das junge Mädchen sprach lebhaft und freimütig. Grischa merkte, dass er ihr gefiel.

„Nun — er hätte sie auch hier unter wahren Russen finden können!“ sprach er launisch.

„Und Gott hätte ihm eine Agentin der Geheimpolizei beschert, so sicher als die Sonne hinter den Sperlingsbergen untergeht!“ Das junge Mädchen lachte hell. „Genosse Grischa — das wissen Sie doch so gut wie ich! Davor war Mr. Roop schon in Berlin gewarnt. Go fiel seine Wahl auf mich als Reichsdeutsche!“

„Wie alt ist dieser Geldsack?“

„Wieder leitet Sie Ihr Scharfsinn fehl, Genosse Grischa! Mr. Roop ist schon zu Anfang Fünfzig und leidenschaftlich verliebt!“

„In Sie?“

„Wie denn in mich? In seine Frau ist er verliebt. Er spricht den ganzen Tag von ihr. Er kabelt ihr jeden Tag. Sie ist zwanzig Jahre jünger als er. Eben weil er sie so liebt, hat er sie und die beiden Kinder nicht mit nach Russland genommen, sondern in Amerika gelassen. Nun gehe ich ihm auch hier im Haushalt zur Hand und passe auf, dass er nicht zu grimmig bestohlen wird. Ich kenne ja Moskan bis zu meinem sechzehnten Lebensjahr.“

„Nun — und Sie, Genosse Grischa?“ Sie wandte ihm mit einem plötzlichen Anflug von Befangenheit ihr

hübsches, braunäugiges Gesicht zu. „Ich habe Ihnen so viel von mir erzählt. Ich weiss selber nicht, wie ich dazu kam. Von wo kommen Sie? Wie lange sind Sie schon in Moskau?“

„Was ist von mir zu berichten?“ sagte Grischa der Geiger. „Sie waren hier eine Herrenmässige. Ich bin einer von den Vielen. Mein Vater ernährte sich als Ofenheizer auf einem Adelsgut im Iwerʼschen Gouvernement. Der Pope brachte mir Lesen und Schreiben bei. Zigeuner lehrten mich das Geigenspiel. Mit ihnen kam ich schon vor Jahren nach Moskau. Siehe da, Herrin!“ Er hob den Arm und winkte. „Da kommt eine leere Droschke!“

Der dick in den Hüften wattierte Iswoschtschik trieb sein struppiges Bauerngäulchen im Schritt durch einen kleinen See heran. Aber dann sagte er los, dass das Wasser hoch zu beiden Seiten unter den rasselnden Rädern aufspritzte. Das winzige Wägelchen ohne Rückenund Seitenlehne schwankte wild hin und her. Es war so eng, dass Grischas linkes Bein in die Luft hinaushing. Mit dem rechten Arm umschlang er den Pelz seiner Begleiterin.

„Sie werden sonst aus dem Wagen geschleudert!“ schrie er ihr durch den Lärm der Räder zu. „Warum suchen Sie sich meiner Hilfe zu entziehen? Missfalle ich Ihnen so?“

Das junge Mädchen drehte sich zu ihm herüber. Ihm schien, als habe sich unter der Pelzmütze die Windröte ihrer Wangen ein wenig verstärkt.

„Was sollte ich gegen Sie haben?“ sagte sie gelassen. „Ich kenne Sie ja gar nicht! Sind Sie wirklich der Sohn eines Ofenheizers?“

„Warum nicht?“

„Nun — Sie machen auf mich einen anderen Eindruck . . .“

„Sie sind eine Ausländerin!“ Grischa schüttelte feindselig abwehrend den blondmähnigen Kopf. „Sie waren zehn Jahre nicht in Moskau. Man hat sich dort ohne Sie beholfen! Was wissen Sie noch von Russland?“

„Je weniger heutzutage, desto besser!“ versetzte seine Begleiterin. Sie liess sich jetzt ruhig von ihm stützen. Das Wägelchen rasselte schon über die Twerskaja. Ein graues, farbloses Menschengewimmel wogte auf der endlosen Geschäftsstrasse Moskaus. Grau der Schnee am Boden. Grau der Schnee auf den Dächern. Grau der niedere Himmel. Grau die Welt.

„So halte doch, Bruder!“ Das junge Mädchen gab dem Jswoschtschik mit dem Muff einen freundschaftlichen Stups in den breiten, gepolsterten Rücken und wandte sich zu Grischa:

„Hier wohnt Mr. Roop!“

Im zweiten Stock des Hauses wurde ein Fenster geöffnet. Das grosse, runde, glattrasierte Gesicht eines wohlgelaunten grauköpfigen Gentleman blinzelte humoristisch herab.

„Haben Sie ihn, Fräulein Frobe?“ rief er mit dröhnender Stimme.

„Wohl! Da bringe ich den Volksgeiger, Mr. Roop!“ rief seine Dolmetscherin, leichtfüssig aus dem Wagen kletternd, in hellem Englisch zu dem breitschulterigen Yankee am Fenster empor. „Er ist so froh, kommen zu dürfen — lässt er Ihnen übersetzen!“

„Das ist nicht wahr!“ schrie Grischa der Geiger auf Russisch, während er behutsam, um sein Instrument nicht zu beschädigen, aus der Droschke stieg. „Fürchten Sie denn nicht Gott, so zu lügen? Fast mit Gewalt brachten Sie mich hierher!“

Das junge Mädchen riss die Augen auf und starrte ihn an.

„Wieso verstehen Sie denn Englisch?“ fragte sie. „Ich denke, Sie sind der Sohn eines Ofenheizers?“

Grischa der Geiger biss sich unter dem blonden Vollbart auf die Lippen. Er schaute finster die Iwerskaja entlang.

„Nun — ich genoss einigen Unterricht . . .“ sprach er endlich unsicher.

„In Englisch . . . von einem Dorfpopen im Twerschen? Oh, Genosse Grischa!“

„Nicht doch . . . hier in Moskau . . .“

„ . . . wo kein Mensch im Volk ein Wort einer fremden Sprache versteht?“ Das junge Mädchen lächelte. Es war ein freundschaftliches, still hilfsbereites Lächeln. „Sie brauchen nicht so verstört auszusehen, Genosse Grischa! Von mir haben Sie nichts zu befürchten! Ich sage es niemandem weiter und frage auch Sie nicht weiter, wer Sie sind!“

„Ja — bitte — vergessen Sie den Zwischenfall!“ sprach düster Grischa der Geiger und trat hinter ihr in das Haus an der Twerskaja.

3.

Und Grischa geigt . . .

Im Speisezimmer der Wohnung des Amerikaners William J. Roop in der Twerskaja sitzt er im Hintergrund, halb im Schatten, und fiedelt ohne Noten, so wie es ihm durch den bald schwermütigen, bald hoffnungsheissen Sinn geht, in die Ohren der Tischgäste, die der Vertreter der gewaltigen Nazareth-Stahl-Compagnie drüben in Detroit für heute abend zu sich gebeten hat.

Er, der Hausherr, der untersetzte, grauköpfige, glattrasierte Fünfziger ist der einzige in der Tafelrunde, der Grischa zuhört. Das grosse runde Geschäftsgesicht ist andächtig wie in der Kirche. Die nüchternen Augen schauen ergriffen in das Leere. Diese einfachen Töne aus Steppe und Birkenwald, diese unvermittelt wehmütigen und übermütigen Naturlaute der russischen Erde empfindet er mit — er, der Selfmademan aus der Prärie. Da ist nichts von der Kompliziertheit des überalterten Europa und seines raffinierten, unverständlichen Notengewirrs.

Seine Gäste kümmern sich nicht viel um das Gefiedel in der Ecke. Es sind nur Herren. Tsao, der greise chinesische Teehändler, in angelsächsischem Smokinganzug, steifer Hemdbrust und Lackpumps, blinzelt mit seinen klugen Schlitzaugen durch den Zwicker den grossen Blechkästen nach, in denen nur noch einzelne Kaviarkörner kleben.

„Dies ist der wahre Schwachgesalzene!“ spricht der alte ostasiatische Feinschmecker in feltsamem Englisch. „In meiner Jugend fuhr ich nach Astrachan und schöpfte den Kaviar ungesalzen mit der Hohlhand unmittelbar aus dem Bauch des Störs.“

„Ich hätte einen Zollstock mitbringen sollen, um die Länge Ihres Sterlett zu messen!“ sagte geniesserisch in etwas singendem Russisch Jechiel Bendavid, der krausbärtige Moskauer Hebräer von der strengen altgläubigen Sekte der Karaim, der Schriftgetreuen.

„Gospodin Bendavid drückt Ihnen seine Zufriedenheit mit der Bewirtung aus, Mr. Roop!“ dolmetscht vom Büffet her, wo sie den Aufmarsch der Schüsseln beaufsichtigt, seine Sekretärin, Fräulein Frobe. William J. Roop kehrt bei ihren Worten von Grischas Geigenspiel in diese Welt zurück. Er wird wieder der wohlgelaunte Hemdärmelmann von jenseits des grossen Wasfers, mit dem Wahlspruch: „Lächeln in allen Lebenslagen!“ Er schlägt geräuschvoll Gesinus van Aaken auf die Schulter, dem noch jungen Holländer-Erdölagenten mit dem von der Glut Zentralasiens im Kampf um den Petroleummarkt gebräunten Bulldoggenkopf.

„Sie sollen nicht länger bei Fischeiern und Fischgräten hungern!“ tröstet er ihrt. „Sehen Sie da die unwahrscheinlich riesigen Rippenstücke eines Kalbes, das nach russischer Art zwei volle Jahre hindurch ausschliesslich nur mit Milch, von einer Kuh nach der andern, gesäugt worden ist! Sind Sie zufrieden?“

„Nur wenn ich auf Ihre Gesundheit trinken darf, Fräulein Anna!“ spricht der Mynheer und hebt sein Glas nach dem Büffet hit und hört von dort Anna Frobes Antwort in gelassenem Französisch, das sonst niemand am Tisch versteht.

„Sie haben schon einen roten Kopf, Herr van Aaken! Denken Sie daran, dass Mr. Rockfeller, euer grosser Feind, nur Milch und Wasser trinkt!“

Und der Geiger in der Ecke merkt: Anna Frobe lässt sich nichts bieten. Sie hält sich die Gentlemen aller Nationen, jeden nach seiner Eigenart, auf drei Schritte vom Leibe.

Und Grischa spielt und kümmert sich nicht darum, was die Weltgeschäftsmänner drüben am Tisch reden. Es ist zu weit, um durch das Singen der Saiten das Gemurmel dort zu verstehen.

„Wie geht es Litzband?“

„Ich höre, etwas besser!“ spricht Gesinus van Aaken, und Tsao, der alte Chinese im Smoking, lächelt das rätselhafte Lächeln des Ostens.

„Er soll keine Schmerzen mehr haben!“ sagt er.

„Das wäre ein gutes Zeichen!“ meint arglos Jechiel Bendavid.

„Kurz — man weiss nichts Gewisses!“ entscheidet. William J. Roop und erhebt sich. „Endlich kommen Sie, alter Bursche!“ und zu der Tafelrunde gewendet: „Gentlemen — ich brauche diesen Herrn nicht erst bei Euch einzuführen! Ihr kennt ihn alle! Setzen Sie sich, Graf Ragosin!“

Der neue Gast war ein blasser, eleganter Russe zu Anfang Vierzig, mit der überschlanken, langen Gestalt und den schmalen, abfallenden Schultern des Petersburger Grossfürstentyps. Auch sein längliches, schnurrbärtiges Gesicht, dem die kurzen Bartstreifen an den Wangen etwas vom ehrbaren Kaufmann gaben, zeigte nichts vom derben Schnitt des Moskauer Grossrussen. Es erinnerte eher schon an die Ukraine oder auch noch weiter nach Süden hinab. Es war da noch eine fremde Mischung — in der bräunlichen Gesichtsfarbe, dem Schwarz der Augen und der Haare, etwas von der Levante.

Der Fremde schüttelte allen mit der verbindlichen Sicherheit eines Mannes der grossen Welt die Hände. Er hatte ungezwungen-geschmeidige Bewegungen, wie er seinen bisher leeren Platz an der Tafel einnahm. Er zeigte lächelnd unter dem dunklen Schnurrbart die weissen Zähne.

„Oh . . . nichts vom Grafen, Mr. Roop!“ versetzte er in ausgezeichnetem Englisch, das Grischa in seiner Ecke durch sein Seigenspiel hindurch nicht verstehen konnte. „Ich war es einmal — nach dem Willen Gottes! Ich muss es zugeben! Ich bin es vielleicht noch im Ausland! Aber hier in Russland bin ich ein schlichter Kunstmakler, ein Sohn der neuen Weltordnung, und füge mich ihr, die mir das Vertrauen schenkt, dass ich in ihrem Auftrag den Verkauf russischer Kunstschätze an das Ausland betätigen darf, so weit meine bescheidenen Verbindungen in Europa reichen!“

„Oh . . . sind Sie da nicht sehr traurig, mit uns Vertretern des verruchten, westlichen Kapitals an einem Tisch sitzen zu müssen, Herr Ragosin?“ erkundigte sich Gesinus van Aaken.

„Ich halte mich grundsätzlich streng von aller Politik fern, gerade weil ich kaufmännisch zwischen Moskau und dem Ausland vermittele!“ Sergius Ragosin ging plötzlich in leidliches Holländisch über. Er erhob sich und verbeugte sich liebenswürdig nach der Türe, durch die eben vom Flur aus Anna Frobe rasch einmal nach dem Rechten schaute.

„Guten Abend, meine Gnädigste!“ rief er in tadellosem Deutsch. Dann fiel sein Blick auf den blonden Seiger in der Ecke, und seine Sprache wurde russisch laut und vertraulich, so dass jener seine Worte verstehen konnte.

„Sieh — da bist du ja!“ winkte er. „Komm näher, Grischa!“ Er reichte dem Spielmann aus dem Volke brüderlich die Hand. „Sind Sie mit meiner Empfehlung zufriedent, Mr. Roop?“ Es klang wieder Englisch und dann, während Grischa düster an seinen Platz zurückkehrte, zu den anderen Gästen: „Ich habe den Teufelskerl ein paar Mal auf dem Arbât-Platz spielen hören. Ich erkundigte mich bei dem nächsten Milizionär. Er wohnt im ehemaligen Palast Grigorieff . . .“

„Einem Gespensterhaus . . .“ murmelte Jechiel Bendavid, der Karaim.

„Wieso Gespenster?“ Der internationale Kunsthändler Ragosin schöpfte sich mit der Kelle ein paar Hände voll Kaviar aus dem Blechkasten.

„Nun — es sollen da Schätze verborgen sein . . .“

„Vielleicht mehr Schätze als sonst, mit Ausnahme des Kreml, unter irgendeinem Dache Moskaus!“

Grischa der Geiger hatte sich wieder im Hintergrund auf seinen Stuhl gesetzt. Er konnte kein Wort des Gesprächs am Tisch verstehen. Es interessierte ihn auch nicht, was diese Geldmänner über Stahl und Tee, Erdöl, Devisen und Gemälde miteinander schwatzten und wieviel sie daran verdienen mochten. Er spielte leise und träumerisch und dachte an heute nacht. Wird Litzband sterben? Wird er nicht?

„Ich habe den alten Grigorieff noch wohl gekannt!“ sprach am Tisch drüben Mr. Tsao, der chinesische Teehändler. „Er war mein Geschäftsfreund. Ich sehe ihn noch vor mir, wie er langbärtig und bedächtig die Teeblätter zerkaute, an ihnen roch, sie zerkrümelte. Oh — Grigorieff liess sich nicht täuschen. Er war klug!“

„Das hat er durch das Versteck seiner Kunstschätze bewiesen!“ Jechiel Bendavid langte nach einer Schüssel verzuckerter Kieffer Veilchen. „Seit Jahren sucht man umsonst nach ihnen! Es ist ein Rätsel!“

„Es ist — belieben Sie mir zu verzeihen — kein Rätsel!“ Der Kunsthändler Ragosin sprach noch leiser. „Es ist einfach die Erfindung des Bürgers Tolschinski aus dem Jahre 1684.“

„Wie das?“

„Er baute als Schatzkammer bei feindlichen Einfällen über der rechten Seitenkapelle der Troizy-Kirche in Twer die berühmten ‚Geheimen Zimmer“. Diese Zimmer sind heute noch vorhanden!“

„Und was ist deren Geheimnis?“

„Die Stärke der Zwischenmauern eines Gebäudes“, sagte Sergius Ragosin gedämpft, erst auf Englisch, dann auf Russisch. „Macht man sie weit dicker als nötig, so lassen sich in ihrem Innern Hohlräume anbringen, zu denen durch einen Fingerdruck auf eine nadelkopfgrosse Stelle in der Mauer eine Pforte sich öffnet, und die durch kein Beklopfen der Wände, durch keine Messungen von aussen festzustellen sind. Man muss den winzigen Schlüsselpunkt kennen. In solch einem Geheimraum ruhen unzweifelhaft drüben in der Powarskaja die Museumsschätze des alten Grigorieff.“

„Und was für Schätze!“ seufzte Jechiel Bendavid, der Hebräer.

„Sie sind unermesslich!“ sagte der Kunsthändler. „Da ist der berühmte Smaragd von Bagdad, der grösste der Welt. Da ist der Sternsaphir von Peking, ein märchenhaftes Stück, weil es in seiner Härte selbst vom Diamanten nicht geritzt wird. Da ist die safrangelbe Riesenperle Luciana von Taubeneigrösse, deren Wert schon vor zwei Jahrhunderten auf eine halbe Million Rubel geschätzt wurde . . .“

„Erbarmen Sie sich und hören Sie auf!“ stöhnte der Karaim.

„Es gibt da Zarenzepter, die mit Tausenden von Edelsteinen besetzt sind. Handhohe Diamantenkreuze über Brokatkronen . . .“

„Und alles für immer vermauert und verschwunden!“ Jechiel Bendavid weinte beinahe.

„Aber dies alles verblasst gegen das unschätzbare Prunkstück der Sammlung, um das alle Museen der Erde den alten Grigorieff beneideten . . .“ sprach Sergius Ragosin beinahe feierlich, „um die Krone des heiligen Alexander Newski, Grossfürsten von Wladimir, des Schutzherrn Russlands!“

„Ist die Krone sehr alt?“ erkundigte sich William J. Roop gespannt.

„Sie hat ein märchenhaftes Alter, vielleicht von

Jahrtausenden. Michael Paläologos fand sie 1261 nach der Eroberung von Byzanz unter den dort gewonnenen Kirchenschätzen und schenkte sie eben dem heiligen Alexander von Wladimir, um diesen für seinen Lieblingsplan, die Wiedervereinigung der lateinischen und griechischen Kirche zu gewinnen. Aus Wladimir, wo sie über dem Grab Alexander Newskis in der Roshdestwenskaja-Kirche aufbewahrt wurde, flüchtete zu Anfang des vierzehnten Jahrhunderts der Grossfürst Alexander vor den Tataren mit ihr nach Pskow in die Kathedrale ‚Zur heiligen Dreifaltigkeit‘. Dort hat sie während der Unruhen von 1906 der alte Grigorieff von den geängstigten Mönchen erworben, die gar nicht ahnten, welchen Schatz sie besassen!“

„Diese Krone wäre etwas für meine Frau!“ rief William J. Roop und schlug mit der Faust auf den Tisch.

Alle Gäste platzten heraus. Der humoristische Graukopf des Hausherrn drehte sich majestätisch in der Runde.

„Lacht nicht, Gentlemen! Für Mrs. Roop ist mir nichts zu gut und zu teuer! Ich bin mit meinen Gedanken ständig bei ihr. Fragen Sie Fräulein Frobe, ob es nicht mahr ist!“

„Ich kann es bestätigen!“ rief aus dem Arbeitskabinett, wo sie den Rauchtisch richtete, Anna Frobe mit heller Stimme.

„Man hat in Europa das Wort ‚Dollarprinzessin‘ erfunden!“ fuhr William I. Roop fort. „Nun — dann ist meine Frau eine solche! Ihr Vater ist reicher als ich. Wohl: zu einer Prinzessin gehört eine Krone. In der Krone Alexander Newskis würde Mrs. Roop den kostbarsten Kopfschmuck der Welt besitzen! Ich wäre stolz darauf. Es wäre ein ernstliches Ziel meines Ehrgeizes!“