Der graue Herr - Rudolf Stratz - E-Book

Der graue Herr E-Book

Rudolf Stratz

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  • Herausgeber: SAGA Egmont
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2019
Beschreibung

In der gemütlichen Wohnstube des Staatsanwalts Johannes Sigrist können er und seine Frau Klara den Zeitungsverkäufer gut hören. "Margot Sandners letzte Stunden". Jedem in der Stadt verkündet die Schlagzeile die Vollstreckung des Todesurteils der Frau, die in einer Nacht ihren Mann erschoss und seitdem eisern schweigt. Die Beweise sprechen eindeutig gegen sie: nur sie und ihr Mann in der Villa, die die Schutzleute direkt nach dem Schuss kurz nach elf Uhr betraten, der Revolver auf dem Teppich, die Schusswunde im Rücken und ein Geständnis. Aber Klara, die Frau des Staatsanwalts, ist trotzdem fest von der Unschuld ihrer Freundin überzeugt. Und sie ist nicht die Einzige, die die bescheidene, leise Frau vor dem sicheren Tod retten will. Noch an diesem Abend lässt der Staatspräsident den Staatsanwalt und den Verteidiger Margots zu sich kommen, um sich Rat zu holen, ob ein Begnadigungsrecht ausgeübt werden soll. Aber es gibt an den Vorgängen keinen Zweifel – oder doch? Um sich ganz sicher zu sein, bittet der Präsident auch die Frau des Verteidigers Morell zu sich. Sie soll die letzten Stunden vor dem Mordabend, die sie zufällig bei Margot verbracht hat, noch einmal schildern. Und tatsächlich fällt in der inoffiziellen Atmosphäre des Arbeitszimmers Lisbeth Morell etwas ein, was sie im Prozess nicht erwähnt hatte – eine hauchdünne Spur, während die Zeit abläuft ...-

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Rudolf Stratz

Der graue Herr

Roman

Saga

Der graue Herr

Copyright © 1935, 2018 Rudolf Stratz und Lindhardt og Ringhof Forlag A/S

All rights reserved

ISBN: 9788711507377

1. Ebook-Auflage, 2018

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt og Ringhof gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk– a part of Egmont www.egmont.com

Vorwort

In meinen hier folgenden Aufzeichnungen und den sonstigen, auf meine Bitte von den anderen Beteiligten gelieferten Berichten habe ich, der damalige Erste Staatsanwalt Johannes Sigrist, noch einmal, nach einem Jahrzehnt, die Erinnerung an die einstigen zehn Stunden Margot Sandners zwischen Leben und Tod heraufbeschworen. Das Geheimnis jener blutigen Winternacht ist längst gelöst. Der graue Herr ist wieder dahin gegangen, woher er kam. Übrig bleibt für uns alle — und namentlich für mich, den Hüter des Gesetzes — der ewige Warnungsspruch: „Irren ist menschlich.“

1.

Niederschrift des Staatsanwalts Sigrist

Draussen auf der Strasse riefen es die Zeitungsverkäufer immer wieder im ersten Dämmern des Frühlingsabends: „Margot Sandners letzte Stunden!“

Es klang eintönig und aufreizend und fiel einem auf die sonst starken Nerven: Ihre letzten Stunden — die verdankt sie dir ...

Ich bin der Staatsanwalt. Ich war der öffentliche Ankläger! Ich habe nur meine verfluchte Pflicht und Schuldigkeit getan, nach bestem Wissen und Gewissen! Ich habe das Todesurteil gegen Margot Sandner beantragt und durchgesetzt. Morgen früh ... um sechs ... ich sah auf die Uhr: es war jetzt acht Uhr abends. In zehn Stunden...

Wieder aus der Ferne dies Gebell der Strassenhändler. Es war sonst in unserer Grossstadt gar nicht üblich, so wie in den Weltstädten, die Blätter öffentlich auszuschreien. Das war heute die allgemeine Aufregung in der ganzen Stadt. Man glaubte, die heisse Welle aus der Innenstadt bis in unser stilles Villenviertel hinaus in der Luft zu fühlen.

„...Margot Sandners letzte Stunden ...“ Ich konnte es nicht mehr hören. Ich wollte nicht immer wieder daran erinnert werden. Ich trat in einer sonderbaren, mir selber unerklärlichen Unruhe vom Fenster in das Zimmer zurück.

Da drinnen purzelten sich der Peter und das Paulemännchen auf dem Teppich herum, und auf der Kautsch sass Klara und hatte Evchen auf dem Schoss und las mit ihm aus dem Bilderbuch: „Was ist das für ein Bettelmann — er hat ein schwarzes Röckchen an ...?“ und Eochen krähte und tippte mit dem rosigen Zeigefingerchen längs der Zeilen hin, als ob es schon längst buchstabieren könnte ...

Und wie so oft, wenn ich meine liebe Frau ansehe: Sie ist doch schon nahe an den dreissig — so alt wie Margot Sandner, ihre einstige Schulkameradin —, und hat doch noch in ihrem schlanken Wuchs etwas Mädchenhaftes — ein reines deutsches Gesicht mit klaren Augen und voll eines freien und frischen Friedens. Sie hat, was sie vom Leben wünscht. Und ich mit ihr und durch sie in unseren vier Wänden. Die letzte Abendsonne schien hell in einem schrägen Stäubchenstrahl in unsere kleine Welt. Und da draussen ist die Welt der Menschen und ihre Not.

Und der Menschheit ganzer Jammer fasst mich an, wenn ich mein Haus verlasse, um anzuklagen, wo anzuklagen ist — um Strafe zu verlangen, wo Strafe not tut — um meine Pflicht zu tun — meine Pflicht — meine Pflicht! Aber so schwer wie diesmal habe ich meine Pflicht noch nie empfunden.

Klara liess das Eochen auf den Boden gleiten. Sie schaute in ihrer heiteren Mütterlichkeit aus dem Kleeblatt der Kleinen um sie her zu mir auf. Sie sagte nichts. Sie wusste: Ich lasse mich in dem, was ich für meine Pflicht halte und tue, von niemandem beeinflussen und beraten — auch nicht von der eigenen Frau. Das muss der Mensch für sich allein mit Gott und seinem Gewissen abmachen. Aber ich wusste, was Klara dachte.

Und nun warf sie doch ihren blonden Kopf in den Nacken. Das ist immer ein Zeichen der unbeirrten Selbständigkeit meiner guten Lebenskameradin. Sie hat ein viel stärkeres inneres Leben, als die meisten bei ihrer ruhigen und ausgeglichenen Aussenart ahnen, und ich habe nie daran getastet und merke: Jetzt bricht das durch und heisst Margot Sandner ...

Ich suchte den Disput über Margot Sandner, den wir, Klara und ich, schon so oft in den letzten drei Monaten geführt hatten, heute zu vermeiden. Er war ja doch aussichtslos. Dort drüben stritt das Gefühl, hier bei mir der Verstand. Das einte sich so gut wie Feuer und Wasser. Ich fühlte den Drang, mit mir allein zu sein! Ich wollte dem Schatten der Margot Sandner entgehen, der ständig seit einem Vierteljahr, seit dem Urteilsspruch der Geschworenen, hinter mir her wandelte, als sei sie die Anklägerin, nicht die Verurteilte. Ich ging stumm und schnell aus dem Zimmer. Ich griff draussen auf der Diele nach Hut und Mantel. Ich war schon an der Flurtür. Da fühlte ich mich von hinten am Arm gepackt. Ich drehte mich um. Ich sah in die blauen Augen meiner lieben Frau. Ich sah auf ihrem vertrauten, sonst so klar in sich befriedeten Gesicht nicht nur einen Schmerz — eine Angst —, sondern eine Leidenschaft, die selbst mir, der ich sie doch, weiss Gott, wie mich selber kenne, fremd war. Sie zog mich in das Zimmer zurück. Die Kinder schauten, auf dem Teppich sitzend, aus grossen Augen zu Pappi und Mutti auf, wie Klara erregt vor mir stand und die Hände vor der Brust faltete und atemlos hervorstiess:

„Du — höre — der Staatspräsident kann Margot Sandner noch im letzten Augenblick begnadigen! Besinne dich, ob nicht gerade du ihm etwas zu sagen hättest s...“

„Nur das, was ich immer gesagt habe und sagen musste!“

„Margot Sandner stirbt durch dich!“

„Nein! Durch das Gesetz, das ich vertrete!“

„Wenn sie schuldig wäre!“ rief Klara stürmisch. „Aber sie ist es nicht! Nach meiner heiligen, unumstösslichen Überzeugung ist sie es nicht!“

Ich rang die Hände.

„Klara — wenn ich nicht wüsste, was du für eine vernünftige Frau bist ... Ich könnte in diesem Fall hier wirklich an deinem gesunden Menschenverstand zweifeln. — Kind — überlege dir nur: Die Margot Sandner hat doch ...“

„Ich kenne sie doch von klein auf!“ Die Worte meiner Frau überstürzten sich. „Wir stammen doch hier aus derselben Stadt. Wir haben schon als Kinder zusammen gespielt. Wir sind als Mädel zusammen in die Schule gegangen. Erst in den letzten Jahren, seit ich geheiratet habe, habe ich sie ein wenig aus den Augen verloren!“

„Nun eben! Du weisst nicht, was inzwischen aus ihr geworden ist! Die Margot Sandner hat doch ...“

„Der Mensch ändert sich doch nicht! Der bleibt doch, wie er ist! Die Margot war immer ein romantisches Geschöpf Gottes. Sie ist träumerisch. Sie ist phantastisch. Eine Künstlernatur. — Sie war ja auch Kunstgewerblerin, ehe sie geheiratet hat ...“

„Die Margot Sandner hat doch selber ...“ begann ich wieder. Aber Klara liess mich nicht zu Worte kommen.

„Die Margot war niemals so recht von dieser Welt! Die hat immer in einer Art Wolkenkuckucksheim gelebt! Irgendeine Riesendummheit aus reiner Schwärmerei — ja — die würde ich ihr eines schönen Tages unbesehen zutrauen! Aber eines Verbrechens ist sie unfähig! Und mm gar der Ermordung ihres eigenen Mannes! Stelle dir doch das nur vor, was das heisst! Man schaudert ja, wenn man nur daran denkt!“

Mir riss der Geduldfaden.

„Die Margot Sandner hat doch vor Gericht gestanden“, schrie ich, „dass sie ihren Mann mit vollem Vorsatz und Überlegung erschossen hat!“

„Das hat sir erklärt! Das ist eben das Rätsel!“

„Ein Geständnis ist kein Rätsel, sondern löst das Rätsel!“

„Ja — wenn der Betreffende sagt, warum er es getan hat! Aber das weisst du als Staatsanwalt wahrhaftig am besten: die Margot hat die Tat zugegeben! Aber seit diesem einen Satz vor Gericht schweigt sie sich unverbrüchlich aus! Über den Grund der Tat ist niemals ein Wort über ihre Lippen gekommen!“

„Nein! Sie bleibt stumm!“

„Hans — da stimmt doch etwas nicht! Glaube meinem Gefühl ... da stimmt etwas nicht!“

„Ihr Schweigen ändert nichts an dem Geständnis selbst! Und sogar wenn sie nicht gestanden hätte: Die Begleitumstände — die gerichtlich erhärteten, unumstösslichen Tatsachen bekunden mit furchtbarer Deutlichkeit, dass überhaupt gar kein anderer Mensch in Frage kommen kann! Sie ist und bleibt die Mörderin!“

Es war fast unheimlich, wie in dem plötzlichen Schweigen zwischen uns diese Worte in unserem friedlichen, immer noch hell abendbesonnten Familienzimmer verzitterten. Durch die Stille hörte man aus der Nebenstrasse undeutliche, stossweise Rufe. Das Paulemännchen, unser Ältester, horchte vom Boden her.

„Pappi — was schreien denn die Männer?“

„Es muss nächstens jemand sterben, Kind!“ sagte ich. „Eine Frau!“

„Pappi! Ist das eine böse Frau?“

„Nein!“ rief Klara heftig. „Das ist sie nicht!“ Und dann etwas ruhiger, aber mit einer ihr sonst fremden Härte im Ton: „Das ist eine gute Frau! Das weiss Pappi nur nicht so! Er kennt sie nicht!“

Es wurde wieder still. Klara und ich ashen uns an.

„Wer schaut den Menschen ins Herz?“ sagte ich endlich. „Und nun gar euch Frauen! In Margot Sandner schlummerten eben verbrecherische Instinkte, die bis dahin niemand ...“

Meine liebe Klara richtete sich auf. Auf ihrem ruhigen und regelmässigen Gesicht lag jetzt ein tiefer Ernst.

„Man hat uns deutschen Frauen seit vielen Jahren viel Unrecht getan!“ sagte sie. „Man hat uns scheinbar viel Freiheit gegeben, aber man hat uns viel mehr genommen. Man hat nicht mehr begriffen, dass ein Volk in der Familie wurzelt und die Würde der Familie und damit des Volkes in die Hand der Frau gegeben ist. Man hat uns aus der Familie auf den Markt hinaus bugsiert und zu einer Art Männer-Reserve gemacht und nicht bedacht, dass wir damit unser Bestes verlieren. Man hat oft in der Kunst und in der Literatur ein Zerrbild aus uns gemacht — und wir liessen es uns leider gefallen, weil wir uns einbildeten, das gehöre so in die neue Zeit. Aber wir sind gar nicht so. Wir sind, wie wir immer waren. Wir haben in schwerer Zeit unsere Pflicht getan, und wenn Deutschland wieder einmal hochkommt, dann geschieht es auch dank uns!“

„Warum erzählst du mir das alles jetzt?“

„Weil ihr von diesem Standpunkt aus über Margot Sandner geurteilt habt! Ihr habt, weil ihr ewig Vampyre im Film und hysterische Weiber auf der Bühne gesehen habt, gar nicht begriffen, dass Frauen wie die Margot oder ich oder wen du willst von unserer Art, schon in ihren Gedanken über den Trieben stehen, die unsereins zur Mörderin machen könnten!“

„Es gibt doch auch schwarze Schafe!“

„Aber Margot gehört nicht dazu. Sie ist eine deutsche Frau. Auf ihrem Ruf lastet nicht der geringste Makel. Das hast du selbst als Staatsanwalt zugeben müssen!“

„Das beweist noch nicht ...“

„Nimm doch ihr Elternhaus! Gegen den guten Studienrat Markwart und seine Frau hat sich doch nie ein Schatten eines Worwurfs erhoben. Das ist doch das richtige bügerliche Haus. Direkt spiessbürgerlich sind die Leute!“

„Gewiss — aber...“

„Und von da aus hat doch die Margot Sandner geheiratet! Die Bombenpartie ist ihr doch gar nicht zu Kopf gestiegen. Sie war immer nett und lieb — ganz die alte —, wenn man sie mal auf der Strasse traf. Sie konnte ja auch lachen! Ihre Ehe war doch absolut glücklich. Das sagt doch jeder, der mal bei Sandners im Hause war! Und sie machten doch ein grosses Haus. Gott und die Welt war dort. Der Margot ihre Künstlerfeste waren doch berühmt!“

„Klara!“ Ich machte mich los und stülpte mir wieder den Hut auf und drängte zur Tür. „Glaubst du denn, dass du mir mit alledem irgend etwas Neues sagst? Darüber haben wir doch schon tausendmal geredet!“

Meine Fran folgte mir. Sie eilte neben mir die Diele entlang. Sie rief:

„Die Margot und einen Menschen umbringen! Es ist ja einfach lächerlich! Und wenn sie’s selber zehnmal sagt! Hans — wie kannst du denn die Verantwortung tragen?“

Ich blieb noch einmal stehen.

„Nicht ich habe Frau Sandner schuldig befunden! — Das ist nicht meines Amts“, sagte ich, „sondern das der Geschworenen — zwölf Männer aus dem Volk...“

„Nicht alle...“

„Alle, bis auf eien! Diesen Herrn Nottebohm! Das genügte wahrhaftig, um die Wahrheit zu finden!“

„Es ist nicht die Wahrheit!“

„Klara — halte mich jetzt nicht auf! Ich muss frische Luft schöpfen! Die Geschichte dreht sich mir Tag um Tag wie ein Mühlrad im Kopf!“

„Nein! Ich lasse dich nicht fort! Höre mich...“

Gott sei Dank: Unten vor dem Haus surrte jetzt eben der Motor eines vorfahrenden Automobils. Der Regierungsassessor Fabri stürmte, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe empor. Ich atmete beim Anblick meines kleinen Fabri auf. Er war meine rechte Hand. Für seine Jahre schon ein bisschen rundlich und immer ein wenig ausser Puste. Wenn er gar so nach Atem rang wie jetzt, dann kam er in dringenden Dienstangelegenheiten, und ich war der weiteren Auseinandersetzung mit meiner Ehehälfte überhoben. Und da stiess er schon hervor:

„Der Herr Staatspräsident lässt den Herrn Ersten Staatsanwalt sofort um seinen Besuch bitten!“

„Wissen Sie, in welcher Angelegenheit?“

„Der Herr Staatspräsident geht in letzter Stunde noch einmal mit sich zu Rate, ob er im Fall Sandner sein Begnadigungsrecht ausüben soll! Er möchte noch einmal in privater Aussprache Ihre Anschauung — die des Anklägers — hören. Er hat zu gleichem Zweck den Verteidiger, den Doktor Morell, zu sich bestellt. Er muss einen Entschluss fassen. Die Stadt ist ja in einer Aufregung...“

„Und wie mag gar der armen Margot zumute sein.“ Meine Frau, die sonst so Beherrschte, kämpfte mit Tränen.

„Der einzige Mensch in der Stadt, der ganz ruhig ist“, sagte mein kleiner Assessor immer noch atemlos, „das ist Frau Sandner selber!“

„Was?“

„Ich habe vorhin den Geistlichen — den alten Dingsda — getroffen, der sie seinerzeit konfirmiert hat...“

„...und mich mit ihr!“ rief Klara. „Und was sagt der Pastor Schmidt?“

„Er kam jetzt eben von ihr...“

„Und sie ist nicht in Todesangst?“

„Sie ist völlig gelassen, berichtet der alte Schmidt, sie sitzt in ihrer Zelle und liest ein Buch über die Bienen. Sie sagt, die Bienen seien ihr interessanter als die Menschen!“

„Man müsste sie auf ihren Geisteszustand untersuchen!“ flüsterte meine Frau. Sie hatte ganz scheue blaue Augen.

„... ist doch schon längst vor der Gerichtsverhandlung geschehen!“ Ich trat in das Treppenhaus hinaus. „Drei ärztliche Sachverständige haben sie für klarer im Kopf erklärt, als wir normalen Staatsbürger selber es womöglich sind! — Kommen Sie, Fabri! Ihr Wagen steht doch noch unten? Warte nicht mit dem Abendessen auf mich, Klara! Gott weiss, was sich heute Nacht noch ereignet!“

2.

Weitere Niederschrift des Staatsanwalts Sigrist

Die Villenstrassen, durch die unser Krastwagen sauste, boten im Abenddämmern mit ihren frühlingsgrünen Vorgärten das gewohnte Bild friedlichen Stillebens. Aber je mehr wir uns dem Innern näherten, desto mehr veränderte sich das Alltagsantlitz unserer guten Stadt. Die Menschen standen in Gruppen an den Strassenecken beisammen, sie gestikulierten, sie hatten sich mitten auf dem Weg aufgepflanzt und vertieften sich in die Abendzeitungen. Im Aufblenden der abendlichen Laternen füllten sich die Bürgersteige mit einem immer dichteren Gedränge in der Richtung nach dem freien Platz, an dem das Amtsgebäude des Staatspräsidenten lag.

Hier stauten sich die Leute viele Glieder tief, Kopf an Kopf, zu dunklen, unruhig bewegten, unbestimmt murmelnden Mauern. Vereinzelte Rufe wurden aus der Menge laut — Gassenjungen pfiffen — die Strassenbahn bimmelte und kam nicht weiter. Auch für uns war es unmöglich, die Masse zu durchbrechen und vor dem Ministerium vorzufahren. Wir mussten aussteigen. — Schutzmänner hielten eine schmale Gasse durch das Gewühl bis zum Portal frei. Depeschenboten, Briefträger, Reporter, Abgeordnete, Beamte, Notabeln der Stadt drängten sich da zum Eingang oder schoben sich uns von dort entgegen.

Ich passierte eilig zu Fuss diesen Menschenhohlweg. Ich wurde von der Masse als der Staatsanwalt Sigrist erkannt. Erregte Rufe umbrandeten mich. „Mörder!“ schrie mir ein blasser, leidenschaftlicher junger Mann ins Gesicht. Und eine Dame noch erregter: „Nein... Mörderin!“ — „Gnade — Gnade!“ tönte es da wie in einem Sprechchor, und dann wieder ein tiefer Bierbass: „Nee — Kinder — Gerechtigkeit! — Wo kämen wir denn sonst hin?“

Ich kümmerte mich nicht um die vox populi, obwohl die Leute mich am Ärmel fassten, mir in den Weg traten. Die Schutzleute schufen mir Bahn bis zum Eingang des Ministeriums. Dort harrte meiner ein Botenmeister. „Herr Staatsanwalt werden schon erwartet!“ meldete er und geleitete mich die Treppe hinauf, durch ein paar Vorzimmer voll Menschen, in den Empfangsraum des Staatspräsidenten.

Dr. Nöldechen war allein in dem weiten, stillen, von der steifen Würde des Staats erfüllten und durchkälteten Gemach. Er stand vor einem mächtigen grünen Tisch, auf dem das gedämpfte Licht elektrischer Deckenlampen die Dinge beschien, mit denen Margot Sandner seit Monaten die Öffentlichkeit beschäftigte — die Stapel von Gerichtsakten, die Stösse von Zeitungen, die Bündel von Depeschen, Briefen, Eingaben von Privaten und Vereinen, die Haufen von Visitenkarten ihrer Freunde und Gegner in diesem Prozess. Sinnend nun davor der kleine Mann, in dessen Händen ihr Schicksal lag. Ich kannte den Dr. Nöldechen seit Jahrzehnten, und es schien mir, als sei er in dieser ganzen Zeit weder alt noch jung, sondern äusserlich immer derselbe geblieben. Der zart gebaute, etwas gebückte Herr mit dem schütteren grauen Vollbart, der mächtigen gebuckelten Stirn über der goldenen Brille hatte etwas Zeitloses. Immerhin: Er war jetzt ein Siebziger. Sein Gesicht gefurcht, in seinem seltsamen Widerspiel von amtlicher Strenge um den Mund und menschlicher Güte in den Augen. In denen lag ein tiefer Ernst der Verantwortung, wie er langsam den Gelehrtenkopf zu mir umwandte und mir stumn die Hand bot und auf einen Sessel wies. Er hüstelte bedächtig. Das war immer seine Art, seine Gedanken zu sammeln, ehe er sprach. Dann begann er mit seiner hohen, leisen, heute etwas matten Stimme.

„Ich danke Ihnen, dass Sie gekommen sind! Ich brauche heute Menschen. Ich werde allein nicht fertig! Sie wissen: Ich bin ein gläubiger Christ. Ich habe heute Nachmittag einen einsamen, einstündigen Spaziergang gemacht und über den Fall Sandner nachgedacht. Ich habe mir dann die Stiftskirche aufschliessen lassen und eine Viertelstunde gebetet, dass Gott der Herr mich erleuchten möge. Aber mein Gewissen ist noch nicht in Ruhe. Ich habe ja freilich da die Akten. Ich habe die Berichte und Gutachten der zuständigen Stellen. Ein anderer würde sich vielleicht mit dem, was er da schwarz auf weiss besitzt, zufrieden geben. Aber gerade diesmal kämpft in mir etwas dagegen. Das sind starre, unpersönliche Schriftsätze auf der Schreibmaschine. In anderen Fällen wären sie mir auch Richtlinien für meine Entschlüsse genug. In dem Dunkel, in dem wir im Falle der Margot Sandner tappen, ist zweimal zwei nicht einfach vier. Es fehlt mir der Schlüssel zu dem Menschlichen in diesem Rätsel!“

„ — — — das höchstens in Frau Sandner’s Schweigen über die Gründe ihrer Tat liegt!“

„Ich kenne diese Frau nicht. Ich habe als Staatspräsident selbstverständlich der Gerichtsverhandlung nicht beiwohnen können. Ich suche irgendwie den lebendigen Eindruck ihrer Persönlichkeit. Ich habe mich mit ihren damaligen Richtern und dem Vorsitzenden des Schwurgerichts über sie unterhalten. Ich möchte nun noch Sie hören, der damals Frau Sandners Tod, und dann ihren Verteidiger, Doktor Morell, der ihr Leben forderte.“

„Ich weiss aus meiner Praxis wenig Fälle, in denen die Tatsachen so klar und einfach zutage liegen!“ sagte ich, bemüht, die Ruhe meines Amtes zu wahren. „Wir haben überhaupt nur zwei eigentliche Zeugen — die beiden Schutzleute Lemich und Neubert — beides erprobte, im Dienst ergrante, über jeden Verdacht erhabene Beamte. Herr Staatspräsident halten jetzt eben deren schriftliche Bekundungen in der Voruntersuchung in der Hand, wie sie nachher von den beiden in der Hauptverhandlung beschworen wurden!“

„An diesen Aussagen ist kein Zweifel!“ Dr. Philipp Nöldechen nickte bedächtig und legte den Akt auf den Tisch.

„Rekapitulieren wir uns doch den kurzen und simpeln Vorgang!“ fuhr ich fort. „Die beiden Schutzleute hatten in der Nacht vom fünfundzwanzigsten zum sechsundzwanzigsten Januar draussen an der Ecke der Elisenund Gartenstrasse in einem im Winter fast unbewohnten und daher von Einbrechern bedrohten Villenviertel Wacht. Eine Viertelstunde, nachdem es vom Turm elf Uhr nachts geschlagen, verlassen sie ihren Posten in der Elisenstrasse, um in der unweit gelegenen, wenig gut beleumundeten Wirtschaft ,Knolls Taverne’ den Vollzug der Polizeistunde zu kontrollieren, und biegen in die Gartenstrasse ein. Dies Eckhaus, um das sie herumgehen, ist die grosse, winters völlig leere, dem Grosskaufmann Leopold Sandner gehörige Villa, mit dem Vordereingang nach der Gartenstrasse. Gerade als sie auf drei Schritte an dem Haustor vorbeikommen, kracht innen ein Schuss durch die Nachtstille, in der sie jeden etwa vorhergegangenen Schuss hätten hören müssen. Es war also unzweifelhaft der erste und einzige Schuss, der überhaupt abgegeben wurde.“

„Das Haustor ist unverschlossen —“, Dr. Nöldechen blätterte wieder stirnrunzelnd, in angestrengtem Nachdenken in dem Protokoll.

„Der eine Schutzmann fasst sofort davor Posten, so dass niemand nach dem Schuss hier die Villa verlassen konnte...“, fahre ich fort. „Der andere dringt mit seiner Taschenlaterne in die dunkle Diele ein. Alles ist still. Nichts rührt sich. Ein Hinterraum ist erleuchtet. Auf der Schwelle, zwischen diesem Salon und der Diele, liegt Sandner tot. Noch warm. Nicht weit davon auf dem Teppich ein Revolver — sein eigener Revolver, wie festgestellt —, in dem ein Schuss fehlt. Der Schuss ging von hinten an der tötlichen Stelle zwischen Wirbelsäule und Hinterkopf ins Genick. Es ist, nach Aussage aller Sachverständigen, ganz unmöglich, dass ein Mensch sich selbst einen solchen Schuss beibringen kann.“

„Und wenige Schritte davon, im Nebenraum...“

„...sitzt Frau Margot Sandner in Hut und Mantel, völlig teilnahmslos, und lässt sich gleichgültig festnehmen...“

„...und gibt nur die Tat zu, aber mit keiner Silbe jemals die Gründe!“ Der alte Nöldechen seufzte und warf das Protokoll auf das grüne Tuch.

„Der Schutzmann an dem Haustor hat sofort mit der Trillerpfeife eine Streifrunde herbeigerufen!“ fuhr ich fort. „Das ganze Haus wurde in allen Winkeln durchsucht. Es fand sich keine Menschenseele ausser Frau Sandner und dem Toten. Der Hinterausgang nach dem Park war von innen so fest mit Sicherheitsschlössern und Vorlegstangen verwahrt, dass man eine Viertelstunde gebraucht hätte, um zu öffnen...“

„Es gab noch eine Pforte aus dem Wintergarten ins Freie...“

„Sie war fest verschlossen. Der Schlüssel hing innen an der Wand. Einen zweiten Schlüssel besass Sandner selbst. Er fand sich in seiner Tasche. Den dritten und festgestelltermassen letzten hatte der für den Winter mit dem Sandnerschen Haushalt in die Stadt gezogene Gärtner. Dieser Schlüssel befand sich laut seinem Eid diese Nacht über wie gewöhnlich an einem Nagel an der Tapete über seinem Bett.“

„Und selbst wenn man von einem heimlich hergestellten Nachschlüssel reden wollte“, schloss ich, „so haben wir auch da einen klassischen Zeugen unter Eid dafür, dass während der kritichen Zeit niemand in der mondhellen Frostnacht, in der er weithin hätte gesehen werden müssen, von hinten heraus das Haus verlassen hat! Auch Fussspuren haben sich bekanntlich nirgends in der Umgebung gefunden.“

Dr. Philipp Nöldechen nickte und schwieg. Ich hub noch einmal an:

„Also müssen wir Frau Sandners Geständnis, dass sie ihren Mann mit voller Überlegung getötet hat, Glauben schenken, auch wenn sie uns ihre Beweggründe unerschütterlich vorenthält. Dadurch macht sie es uns ja so schwer. Da heisst es immer und verfolgt mich seit Monaten, der Staatsanwalt habe den Kopf der Schuldigen verlangt! Weiss Gott — mir wäre lieber gewesen, ich hätte mildernde Umstände für die Angeklagte beantragen und sie vor dem letzten Gang bewahren können! Aber wo wir, dank ihr, überhaupt keine näheren Umstände der Tat kennen, konnten wir beim besten Willen auch keine mildernden Umstände der Tat kennen und in das Urteil einsetzen. Wir mussten uns also an die Tatsachen allein halten: Ja oder nein? Schuldig oder nicht? Leben oder Tod? Es gibt keine Abschwächung. Keine Erklärung. Es gibt nur den Buchstaben des Gesetzes. Das ist die Zwangslage, in die Margot Sandner selbst aus freiem Willen damals mich und die Geschworenen und den Gerichtshof versetzte, und jetzt, bei der Frage der Begnadigung, Sie, Herr Staatspräsident, bringt!“

„ES ist, als ob sie sterben wollte!“ sagte der alte Herr mit seiner leisen, seltsam hellen Stimme. „Darf man einem Menschen von Staats wegen behilflich sein, der Selbstmord begehen will?“

„Ja!“ versetzte ich fest. „Wenn dieser Mensch seine Tat sühnen und sich selber richten will — aus Gründen, die nur Gott und er kennen!“

Der ergraute kleine Würdenträger sah mich durch die Brillengläser aus seinen grossen, dunklen Augen an, die, wenn auch alterstrübe, doch noch seine geistige Bedeutung verrieten.

„Das ist Ihr Standpunkt!“ sprach er langsam. „Audiatur et altera pars!“ Ich höre da draussen die stürmische Stimme des Verteidigers. Wir kennen sein Ungestüm.“ Und zu dem einen Spalt der Tür öffnenden Diener: „Lassen Sie Herrn Doktor Morell nur gleich herein!“

3.

Noch eine Niederschrift des Staatsanwalts Sigrist

Der Rechtsanwalt Morell stürzte herein. Stürzen war das rechte Wort. Er ging nicht wie andere. Er war immer der Läufer von Marathon, von einem rastlosen Temperament getrieben, auch drüben im Justizpalast, in flatternder Robe über Gänge und Treppen, von einem Verhandlungszimmer in das andere, einen unbändigen Ehrgeiz als Schrittmacher im Genick. Er war, mit kaum fünfundzwanzig Jahren, schon einer der gesuchtesten Verteidiger. Aber man sah es ihm an: das war nur der Anfang! Er, Paul Morell, musste der exste Rechtsanwalt der Stadt werden. Geheimer Justizrat, Millionär. Was weiss ich...

Er passte in unsere nordische Stadt wie die Faust aufs Auge. Schon nach seinem Äussern. Ein südlicher Mensch. Ein Mittelmeermensch. Darauf deutete dieses krause, dichte, schwarze Haar, die starken schwarzen Brauen über den feurigen, dunklen Augen, der kleine schwarze Schnurrbart, unter dem beim Lachen die weissen Zähne blinkten, das ewig bewegte Mienenspiel seines bräunlichen, ausdrucksvollen Gesichts. Dabei war er aber ein rechter Sohn unserer guten Stadt, einem ehrbaren, seit Jahrhunderten in ihr ansässigen Patriziergeschlecht entsprossen. Das südliche Blut — das musste irgendwie durch Heirat einmal in die Familie gekommen sein.

Der Rechtsanwalt Morell und ich standen uns wie Katz’ und Hund. Wir kreuzten oft genug vor Gericht die Klingen, und ich muss gestehen: Er machte es einem nicht gerade leicht! Nicht, als ob sein juristisches Wissen so profund gewesen wäre! Im Gegenteil: Morell litt bei seinem unruhigen Geist oft unter einer gewissen Oberflächlichkeit! Auch nicht, als ob die Logik seiner Ausführungen immer entwaffnete! Er setzte sich, wenn es nicht anders ging, mit kühnem Gedankensprung über unbequeme Zusammenhänge hinweg! Aber er war der geborene hinreissende forensische Redner. Als solcher feierte er Triumphe. Die Worte ballten sich ihm wie durch Naturgewalt auf den Lippen. Er besass das grosse Geheimnis eines Demosthenes: er glaubte in dem Augenblick, in dem er sprach, felsenfest selber an das, was er sagte, und darum glaubten ihm, zu meinem Kummer, auch oft genug die Geschworenen.

Hier, ausserhalb der gerichtlichen Arena, waren wir zwei gute Bekannte. Ich bot ihm die Hand. Er drückte sie flüchtig, fast ohne hinzusehen. Er beachtete mich kaum. Er wandte sich an den Staatspräsidenten. Der ganze Mensch war Feuer und Flamme. Er bebte von jenem, mir nur zu gut als seine Spezialität bekannten heiligen Zorn, den er oft genug vor Gericht im Interesse seiner Klienten ins Treffen führte. Aber so völlig ausser Fassung hatte ich diesen nervösen Mann doch noch nie gesehen.

„Ein Justizmord — Herr Staatspräsident!“ rief er, ohne eine Frage abzuwarten, und wiederholte es in einem erstickten und darum wirkungsvollen Pathos. „Ein Justizmord, Herr Präsident! Sie haben in Ihren ehrwürdigen Jahren das biblische Alter überschritten. Ihre vorbildliche Gottesfurcht ist bekannt. Sie können die Spanne Zeit ermessen, in der Sie vor einem höheren Richter stehen werden, als es die waren, vor denen Margot Sandner stand...“

Das waren wieder seine Phrasen aus dem Gerichtssaal. Ich kannte das. Aber er wirkte doch wieder durch eine leidenschaftliche Überzeugungskraft, die in seiner Sprache, seinen Bewegungen, seinem ganzen Wesen mitschwang.

„Herr Präsident!“ fuhr er atemlos fort. „Können Sie sich die Auffassung dieses Mannes hier — Verzeihung: des Herrn Ersten Staatsanwalts hier — zu eigen machen? Ich sehe an seinem Gesicht, was er denkt! Ich weiss, was er Ihnen gesagt hat! Es ist sein Beruf, immer nur das Schlechte — das Entartete — das Niedrige im Menschen zu sehen! Aber eben dadurch kommen, durch Menschenirrtum, die Justizmorde zustande!“

„Ich protestiere gegen diesen Ausdruck! “ rief ich. „Das Gericht hat zu Recht erkannt!“

„Auch ich möchte Verwahrung einlegen!“ sprach Dr. Nöldechen leise, aber bestimmt.

„Ich bitte um Verzeihung! Ich nehme die Wendung zurück. Entschuldigen Sie sie mit dem Eifer des Verteidigers, der im letzten Augenblick ein Leben, das ihm anvertraut ist, retten will! Herr Präsident — es lastet eine furchtbare Verantwortung auf Ihnen...“

„Dessen bin ich mir bewusst!“ sagte der alte Herr vor sich hin.

„Lassen Sie sich nicht von dem Mann zu Ihrer Rechten, der die Seelenlosigkeit des toten Buchstabens vertritt, zu einem Entschluss drängen, der...“

Ich hob abwehrend die Hand.

„Ich habe lediglich auf Befragen nach bestem Wissen meiner Überzeugung Ausdruck gegeben, dass Frau Sandners Verurteilung nach ihrem Geständnis eine Selbstverständlichkeit war!“ sagte ich. „Ob nachträglich Gnade für Recht ergehen soll — das zu entscheiden steht nicht bei mir. Als Mensch habe ich nichts dagegen!“

„Und es muss Gnade ergehen, Herr Präsident!“ Dr. Paul Morell dämpfte plötzlich seine schmiegsame und biegsame Stimme zu einem geheimnisvollen Flüstern, das mir aus vielen seiner Plaidoyers nicht fremd war: „Meine Klientin hat allerdings mit einem einzigen knappen Satz ihre Schuld gestanden! Aber was eigentlich in jener Villa in der Nacht geschah, davon haben wir trotz dieses angeblichen Geständnisses keine Ahnung!“

„Sie schweigt!“ Der Staatspräsident Nöldechen nickte und wiederholte in tiefem Sinnen, mehr für sich als für unsere Ohren: „Das ist es... sie schweigt!“

Und Morell, seinen Vorteil erkennend, weiter:

„Herr Präsident: Soll man deswegen einen Menschen für immer stumm machen, weil er nicht spricht?“

„Auch nicht zu Ihnen spricht?“ rief ich.

Der Rechtsanwalt Morell wandte sich zu mir. Zum erstenmal sah ich eine gewisse Mutlosigkeit und Ratlosigkeit in seinen heissen dunklen Augen. Er zuckte erbittert die Achseln.

„Was soll ich tun?“ sagte er. „So schwer hat es mir allerdings noch nie ein Klient gemacht. Aber ich war doch mit dem armen Sandner so dick befreundet, ich verkehrte doch soviel in dem Sandnerschen Haus — gerade weil auch meine bessere Hälfte und die Margot Sandner von klein auf ein Herz und eine Seele waren und schon zusammen in die Schule gegangen sind...“

„Meine Frau auch!“ sagte ich.

„Eben! Das ist ja alles derselbe Jahrgang. Das hängt alles zusammen. Deswegen war es meine Gewissenspflicht, als das Unglück geschehen war, mich Frau Sandner als Verteidiger zur Verfügung zu stellen! Sie nahm es ja auch sofort an. Irgendeinen Verteidiger musste sie ja haben, und ich als Freund des Hauses konnte ihr doch ganz anders zur Seite stehen als irgendein wildfremder, womöglich vom Gericht bestellter Herr in schwarzer Robe. Aber ins Vertrauen gezogen — das muss ich leider Gottes ehrlich gestehen und habe es schon in der Verhandlung offen zugegeben — hat sie mich sowenig wie sonst jemanden, und bei diesem direkt wahnsinnigen und selbstmörderischen Standpunkt ist die verblendete Frau bis heute geblieben!“

Eine Weile war es still. Dann sagte Dr. Nöldechen:

„Es gibt nur eine einzige Frage, die trotz Frau Sandners Schweigen über die näheren Umstände ihrer Tat einwandfrei geklärt ist und die wir jetzt noch einmal prüfen wollen — die Frage: Was wollte Frau Sandner in dieser Winternacht in dem einsamen, unbewohnten haus?“

Er wandte sich an den Rechtsanwalt Morell:

„Das war der Grund, weswegen ich Ihre verehrte Frau Gemahlin um ihren Besuch bitten liess!“

„Ich habe sie mitgebracht! Sie ist draussen!“

„Dann sagen Sie der gnädigen Frau, ich wäre ihr dankbar, wenn sie sich jetzt hereinbemühen wollte!“

4.

Die vierte und vorläufig letzte Niederschrift des Staatsanwalts Sigrist

Wie so oft in guten Ehen, ergänzten sich auch bei Morells zwei grundverschiedene Hälften zu einem erfreulichen Ganzen. Schon äusserlich waren er und sie das gerade Gegenteil. Frau Lisbeth Morell, die leise eintrat, in respektvoller Haltung sich dem greisen Staatspräsidenten näherte, war so blassblond wie ihr Mann tief brünett, die Augen von einem unbestimmten, etwas matten Blau statt seiner schwarzen Irrlichter, schmal und schmächtig von Gestalt, in der Kopfneigung und dem schwachen Lächeln, mit dem sie uns begrüsste, von einer gewissen damenhaften Kühle, im Gegensatz zu ihm, bei dem das Barometer immer auf Sturm stand.