Der Fluch der göttlichen Gnade - Günter Scholz - E-Book

Der Fluch der göttlichen Gnade E-Book

Günter Scholz

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Beschreibung

Zu der Frage, warum gerade die Juden die Hassobjekte der christlichen Völker Europas sind, warum gerade die Anhänger der Mutterreligion des „einzig wahren Glaubens“ so ohne jegliches Mitgefühl und Erbarmen, so ohne Nächsten- und Feindesliebe verfolgt, ermordet und zu Tode gefoltert wurden – zu dieser Frage tritt seit dem Zweiten Weltkrieg eine andere hinzu: Warum sind es gerade die Deutschen, die diesen Hass mit unstillbarem Vernichtungswillen auf einen mit menschlichem Denken und Fühlen nicht fassbaren Höhepunkt trieben? Der Antworten hierzu gibt es viele, auch sehr gute und von tiefem geschichtlichen Wissen geprägte. Doch es bleibt beim Studium dieser Analysen ein Gefühl, dass da etwas fehlt, dass etwas nicht gesagt werden darf, dass da ein Tabu im Hintergrund droht, das jedem „das Maul verbietet“, der es anzurühren sucht. Doch genau diesem Unberührbaren wollen wir uns hier zuwenden, wollen es ohne Scheu vor religiösem Glauben und überkommenen Vorstellungen tun. Denn die Erwählung durch einen Gott kann zum furchtbaren Fluch, der begehrliche Neid darauf zum Verlieren alles Menschlichen werden.

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Günter Scholz

Der Fluch der göttlichen Gnade

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet unter www.dnb.de abrufbar

Alle Rechte vorbehalten Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen, Verfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung auf DVDs, CD-ROMs, CDs, Videos, in weiteren elektronischen Systemen sowie für Internet-Plattformen.

© Lehmanns Media, Berlin 2020

Helmholtzstraße 2-9 • 10587 Berlin

Vorbemerkung

Blicken wir auf die europäische Geschichte, auf das, was wir über den Verlauf der oft dramatischen Ereignisse innerhalb unseres Heimatkontinents, über sein Schicksal im Geschichtsunterricht gelernt und manchmal auch verstanden haben, so sind da Geschehnisse, die in besonderem Maße ins Auge fallen, die unsere Vergangenheit als typisch europäische Geschichte charakterisieren. Hierzu gehören zweifelsohne die Kreuzzüge und der Investiturstreit – dieses Ringen der weltlichen und der geistlichen Macht um die Herrschaft im Diesseits – wie auch die Reformation und die daraus resultierenden Religionskriege. Immer wieder sind es religiöse Feindschaften, die im „christlichen“ Mittelalter, aber auch weit darüber hinaus, das Bild unserer Geschichte prägen. So wird dieses Mittelalter mal als „christlich“, mal als „dunkel“ bezeichnet – als seien diese beiden Adjektive als Charakteristika dieser Epoche austauschbar, als sei „dunkel“ ein Synonym für „christlich“. Und mit genau dieser dunklen Seite der europäischen Geschichte sind zwei Begriffe verbunden, zwei historisch zwar gut erforschte aber doch gern gemiedene Themen, die da lauten: Judenpogrome und Inquisition. Beide sind nicht deckungsgleich, überlappen sich aber z. T. erheblich. Der Name einer kirchlichen Behörde wurde zu einem Begriff, der einstmals Angst und Schrecken verbreitete, deren lodernde Feuer das irdische Spiegelbild der so drastisch beschworenen Höllenstrafen wurden, deren quälende Glut aber trotz aller angedrohten und öffentlich vorgeführten Grausamkeiten den vermeintlich wahren Glauben nicht rein, nicht frei von Ketzergedanken halten konnten – und der auch die andere Zielgruppe, die Juden, nur zum Teil, niemals vollständig von der autoritär geforderten christlichen Wahrheit überzeugen konnte.

Diese (Diaspora)Juden waren sicherlich die in mancher Hinsicht bedeutendste Minderheit in der europäischen Geschichte, sie waren es vor allem in Hinsicht auf ihre gesellschaftliche Bedeutung, die oft in krassem Gegensatz zu ihrer (niedrigen) Zahl stand, aber genauso wegen ihrer anderen, dieser fremden Religion, die als ein Stachel im Fleisch des Christentums empfunden wurde. Zwar wurde das Judentum als die Mutterreligion der eigenen, der christlichen, durchaus akzeptiert, wurden deren Stammväter – Abraham, Isaak und Jakob – genauso verehrt wie Moses, der Begründer der nach ihm benannten Religion, doch da war ein entscheidender Unterschied: Die christliche Lehre betrachtete die heiligen Schriften Israels als bloße Vorbereitung auf die von ihr behauptete ultimative religiöse Wahrheit, die des Christentums, was der israelitischen Betrachtungsweise widersprach, deren Anhänger jetzt zu Juden wurden, zu Feinden des (wahren) Glaubens, die entweder (zwangs)bekehrt oder dem allzu irdischen Höllenfeuer übergeben werden mussten.

Apion – ein Ägypter, der Griechisch konnte

Und so war es einstmals gekommen, wie es damals hatte kommen müssen: Es war einmal in – Alexandria. Was heute unter der kühlen und klaren Oberfläche des Meeres liegt, das einmal das mare nostrum gewesen war, wo heute tauchende Archäologen von stummen Fischen neugierig angestaunt werden, da war einst das brodelnde, das heiße Herz der hellenistischen Welt. In den weiten Markthallen konnte man sein eigenes Wort kaum verstehen, so schnatterte das Gefeilsche der Händler in allen Sprachen des Orients über die ausgebreiteten Gewürze, über den duftenden Weihrauch hin; in den dämmrig kühlen Räumen der Bibliothek dagegen war nur geflüstertes Griechisch zu vernehmen und im Serapeum, dem Tempel des Stadtgottes Serapis, der hellenistischen Synthese aus griechischer und ägyptischer Frömmigkeit, waren griechische wie auch ägyptische Gebete zu hören. Die Söhne Abrahams aber blieben unter sich, im Stadtteil Delta, ihrem Viertel – in ihren Synagogen. Nur wenig drang von hier nach außen: neidisch-erlogenes und verleumderisches, von neugieriger Lüge erdachtes und vom Geheimnis umwittertes. Doch die Synagogen hatten ein Problem, ein Sprachproblem. Die Juden, die global tätigen Händler, die Handwerker und Künstler, die Wissenschaftler und Ärzte – sie alle sprachen die Universalsprache ihrer Zeit, das Englisch der Antike, das Griechische; die Sprache ihrer eigenen heiligen Schriften, das Hebräische, verstanden sie nicht mehr! Die Thora, die fünf Bücher Mose, waren für sie der „Pentateuch“! Also – heiliges Schriftbild hin oder her –, der Text musste ins Griechische übersetzt werden! Ab der Mitte des 3.Jh.v.u.Z. entstand die Septuaginta (angeblich waren es siebzig Übersetzer, die diese Leistung in siebzig Tagen vollbrachten!? Daher der Name.). Endlich konnten die Juden ihre eigenen heiligen Schriften wieder lesen, konnten den Worten ihrer Propheten lauschen, konnten die Gebote ihres Gottes wieder hören, der ihnen Bund und Treue versprach, und der dafür Gesetzestreue von ihnen verlangte. Sie konnten die glaubenden Worte des Entstehungsmythos ihres Volkes wieder nachvollziehen – die Befreiung ihrer Väter aus der Sklaverei, den Auszug aus dem Sklavenhaus Ägypten, aber auch die Erniedrigung der heidnischen Götter und des Pharao. Doch eines hatte niemand bedacht: Andere, jeder Andere, der das Griechische beherrschte, was alle Gebildeten des Imperiums waren, konnte das jetzt auch lesen! Die meisten wird es anfänglich nicht interessiert haben; was ging einen Verehrer des Iuppiter Optimus Maximus die seltsame Religion dieses orientalischen Volkes schon an! Doch bei einem Ägypter, der das Buch Exodus aufmerksam las – es werden am Anfang sicherlich nur wenige gewesen sein –, da schwoll der Kamm an, da kochte der Zorn hoch – es ist menschlich allzu verständlich! –, wenn er las, wie der Gott eines hergelaufenen Nomadenhaufens sich zum Herrn über Ägypten aufschwingt, wie er seinen König, seinen Herrschergott, zu einem lächerlichen Hampelmann in den angeblich allmächtigen Händen eines aufgeblasenen Wüstendämons werden lässt, wie dieser kultur- und geschichtslose Hirtenhaufen sich erhebt über die uralte Kultur am Nil. War doch das (hohe) Alter einer Kultur damals das höchste Signum ihrer Würde. Ein solcher Ägypter, der das Buch Exodus jetzt auf Griechisch las, der es verstehen konnte, der jetzt wusste, welche Texte in den Synagogen vorgelesen wurden, der den Triumph Israels über seine „Schwarze Erde“, über seine geliebte Heimat, auf ägyptischem Papyrus geschrieben, lesen konnte und las, der konnte nur Hass empfinden gegen dieses hochmütige Volk, gegen einen Gott, der sich zum Herrn der Welt aufspielte – und genauso gegen das Volk, das sich das seine nannte, dem er sich in besonderer Liebe und Gnade zuwendete.

Einer dieser Ägypter hieß Apion.

Apion war ein Großmaul. Aber er war keiner, von dem man sagen konnte: große Klappe, nichts dahinter. Nein, er hatte einiges dahinter! Aus der tiefen ägyptischen Provinz, irgendeiner Oase im Süden, war er in der Zeit, die wir heute das erste Jahrhundert der neuen Zeitrechnung nennen, in die damalige Metropole Ägyptens und eine der wichtigsten Zentren der hellenistischen Welt gekommen, hatte sich in Alexandria niedergelassen. Und er lernte und büffelte, büffelte und lernte, bis er es perfekt intus hatte, das Griechische, nicht nur die (Umgangs)Sprache sondern auch wie man sie lehrte, die Grammatik, und wie man mit ihr perfekt umging, wie man Schüler, Zuhörer, wie man andere Menschen mit Sprache, mit der Sprache Homers überzeugte, betörte – wie man sie einwickelte und auf seine Seite zog, wie die hohe Kunst der Rhetorik den geschliffenen Vortrag, die in den Bann ziehende Kraft der Sprache möglich machte. Bald war Apion Stadt-bekannt, so berühmt, dass er seinen Mitbürgern ihr Glück vor Augen hielt – große Klappe! –, einen solch bedeutenden Gelehrten wie ihn in ihren Reihen zu haben, und jedem, dem er seine Schriften widmen würde, versprach er Unsterblichkeit. Nun, seine Schriften selbst waren nicht unsterblich, es ist kaum etwas von ihnen erhalten, aber über ihn, da wissen wir einiges. Wir wissen, dass er sich in Rom als Lehrer der Grammatik und Rhetorik niederließ und sein Ruhm bis in den kaiserlichen Palast drang, denn Tiberius nannte ihn cymbalum mundi, die Trompete der (gebildeten) Welt, was Plinius in die „Posaune seines eigenen Ruhmes“ umdeutete. Heute würde man das alles Starrummel nennen, und Apion wäre ein Mann der Bild-Zeitung und gleichzeitig Träger des Georg-Büchner-Preises. Eine solche Stimme wurde gehört, seine Vorträge in allen Zentren des Imperiums waren Publikumsmagneten; in großen Städten machte man ihn zum Ehrenbürger und überschüttete ihn mit Lobpreisungen und Lobhudeleien – eine Art Mixtur aus Goethe und Grass, inklusive Nobelpreis. Und all diesen Ruhm, all diese Öffentlichkeitswirksamkeit nutzte Apion, um seinen persönlichen Hass gegen die Juden an den (antiken) Mann zu bringen. Er ist sicherlich nicht der erste, vielleicht auch nicht der wirkungsvollste, aber aus heutiger Sicht der bekannteste Antijudaist der noch nicht christlichen Antike. Er hat in seinen Reden und Schriften ein Bild von Ahasver, dem ewigen Juden, geschaffen, das bis heute nichts von seiner Kraft verloren hat, das – durch das Christentum gestärkt und mit neuen Ideen aufgeladen – in den Gedächtnisspuren des nun christlich gewordenen Abendlandes sich über das Mittelalter und Luther bis in Neuzeit und Gegenwart zieht, das im Deutschland der NS-Zeit seinen Höhepunkt fand aber auch heute noch quicklebendig ist.

Doch Apion war nicht nur ein Mann des (literarischen) Wortes sondern auch einer der Tat. Als in Alexandria wieder einmal Unruhen ausbrachen, als lächerliche Ursachen – ein Römer (oder Jude?) habe eine (heilige) Katze erschlagen – die Stimmung des Pöbels anheizten, als man jüdische Rabbiner durch die Straßen der Stadt schleifte, als man sie erschlug und ihre heiligen Bücher schändete, als man ihre würdigsten Vertreter öffentlich demütigte, da versuchte eine Delegation der in große Bedrängnis geratenen Minderheit beim Caesar in Rom mehr Bürgerrechte für die Juden zu erbitten, für Bürger, die erheblich zum Wohlstand der Stadt beitrugen und deren Treue zur pax romana erwiesen war. Den würdigsten unter den Söhnen Abrahams hatte man als Sprecher der Bittsteller erkoren – Philon, den größten Gelehrten, den man aufbieten konnte, das Musterbeispiel eines Juden, der jüdische Schriftweisheit und hellenistische Gelehrsamkeit zu vereinen suchte. Doch die andere Seite schlief nicht. Wer die Gegendelegation leitete, ist unschwer herauszufinden; natürlich war es Apion. Und genauso leicht können wir erraten, wie das Ganze vor dem irren Blick des Caligula ausging, dem Caesar, der seinen Wahnsinn für göttlich hielt. Doch nicht um dieser Auseinandersetzung willen, die ihm den Ehrentitel „der Siegreiche“ einbrachte, ging Apion in die Geschichte ein, es war vielmehr der jüdische Historiker Josephus, der sich durch diesen Antijudaisten herausgefordert fühlte, sein Volk zu verteidigen, dessen altehrwürdige Religion zu rechtfertigen und die Schmähvorwürfe Apions zu widerlegen. Nur in diesem Spiegel kennen wir die Hetze, die dieser Ägypter über die Juden goss, nur die Apologetik des Josephus ist die Quelle unseres Wissens über den Ursprung eines Judenhasses, der in der Wut eines beleidigten Ägypters seine giftige Quelle hatte, eines Mannes, der sein Vaterland als gedemütigt ansah durch einen unwürdigen Gegner, den es darum zu vernichten galt.

Josephus geht in seiner Schrift in zwei Schritten vor: Einmal sucht er das begreiflich zu machen, was wir heute jüdische Kultur nennen würden und – dieses ist in der damaligen Zeit ein besonders gewichtiges Argument – verwendet große Mühe darauf, das hohe Alter des jüdischen Volkes zu beweisen. Und zweitens lässt er sich auf die Verleumdungen des Apion ein, die wir auf diese Weise kennenlernen, und kämpf dagegen an. Vergeblich, wie wir heute wissen, denn die Verbohrtheit und Albernheit der Vorwürfe hat die Zeiten überdauert – je lächerlicher und dümmer umso dauerhafter und unausrottbarer! Doch zuerst wollen wir uns dem zuwenden, was Josephus über die Kultur seines Volkes schreibt, und das heißt über das jüdische Gesetz, denn das ist Zentrum und Dreh- und Angelpunkt allen jüdischen Lebens. Im vierundzwanzigsten Kapitel des zweiten Teiles seiner Schrift „Über das hohe Alter des jüdischen Volkes, gegen Apion“ – und dies sei als Musterbeispiel herausgegriffen – stellt er die Frage nach den „Bestimmungen über die Ehe“. Und da geht es gleich und völlig unverblümt um den Sex: „Das Gesetz erkennt nur den naturgemäßen Verkehr mit dem Weibe an und zwar zum Zweck der Kindererzeugung.“ Was, so fragt sich der heutige Leser etwas scheinheilig und neugierig, aber ist „naturgemäßer Verkehr mit dem Weibe“? Und, vor allem, was trifft denn nun auf dieses Kriterium nicht zu? Was also ist nach diesem Gesetz alles verboten – in und erst recht natürlich außerhalb der Ehe? Geschieht es innerhalb der Ehe, so ist es Sünde, und außerhalb der Ehe ist es Todsünde, gewissermaßen die forte-Version der Sünde. Die Beantwortung dieser Frage mache ich mir ganz leicht und verweise den geneigten Leser auf das Internet, Sektion Pornographie; dort findet der selbstverständlich angewiderte Zuschauer all das in reichlicher Auswahl, was unter die Kategorie „nicht-naturgemäßer Verkehr mit dem Weibe“ fällt. – Damit wir hier nicht den Überblick verlieren, ordnen wir die „Sünden“ mal in ihrer „natürlichen“ Reihenfolge: Da ist zuerst einmal der Kinderwunsch, selbstverständlich in der mit Brief und Siegel geschlossenen Ehe; um sich diesen Wunsch zu erfüllen, begeben sich die Eheleute ins Schlafzimmer, damit der Ehemann sein Weib dort rechtmäßig begatte, und, so Josephus weiter, „nach der rechtmäßigen Begattung zwischen Mann und Frau gebietet das Gesetz eine Waschung.“ Nicht etwa weil … der Leser versteht schon und wenn er nicht versteht, dann geht’s ihn auch nichts an! Nein, Josephus weiß es besser: „Denn in der Seele wie im Leibe entsteht dadurch eine Befleckung, als wenn die Seele in eine niedrigere Sphäre versenkt würde.“ Also, normaler Sex zwecks Kinderwunsch in der Ehe ist zwar keine Sünde, aber nur so grade nicht, schrammt daran als „Befleckung“ nur so eben vorbei. (Augustinus wird später aus diesem Rohmaterial seine „Erbsünde“ basteln.) Aber dann geht’s los: Wer das „Laster“ des „Beischlafs unter Männern“ begeht, „hat den Tod verwirkt“. Und so geht das munter weiter, das mit der Sex-Sünde und der daraufhin leider notwendigen Steinigung: „Wer eine Jungfrau, die einem anderen verlobt ist, notzüchtigt oder eine Ehefrau verführt, der verfällt unbedingt der Todesstrafe.“ Wird eine Frau dabei ertappt, „die Leibesfrucht abzutreiben … so soll sie als Kindsmörderin angesehen werden“ und, was denn sonst, gesteinigt werden. Die Reihe der Sünden ist lang aber einfach zu merken, nämlich alles was nicht „naturgemäßer Verkehr“ in der Ehe ist, die der Strafen dagegen ist kurz: Tod (durch Steinigung). – Und jetzt stellen wir uns einmal folgendes vor: Neben der Weltstadt Alexandria, Zentrale einer globalisierten Welt, größte Ansiedlung von Juden außerhalb Palästinas (In dieser Großstadt lebten mehr Anhänger des jüdischen Gesetzes als in Jerusalem!), lag die Reeperbahn der Antike – Kanopus, die kleinere Hafenstadt am westlichsten Arm des Nildeltas. Hier wurden die Kanopen (daher ihr Name) für die Mumienbestattung gefertigt, hier stand das größte Heiligtum des Serapis, des Gottes, der die griechisch-römische Götterwelt mit der Ägyptens vereinte, aber – und das überblendete alles andere! – hier wurde Sex in allen nur erdenklichen Formen angeboten. Jede, aber auch wirklich jede Perversität konnte hier frei und völlig ungezwungen ausgelebt werden – ohne einschränkendes Gesetz, ohne Todesstrafe, ohne Steinigung! Selbst Geschlechtsverkehr mit Tieren wurde angeboten. Nicht dass man in Kanopus nicht auch mit einer Frau … ich meine so ganz normal … nicht dass man sich hier nicht besaufen und überfressen konnte, nicht dass man hier sein Geld nicht im (betrügerischen) Glücksspiel verlieren konnte – konnte man alles, aber das, was den betuchten Galeeren-Kreuzfahrttouristen am meisten nach Kanopus lockte, das war der Sex, der Sex in seinen verlockendsten Varianten, in seinen abstrusesten Formen – je perverser, desto besser! Und das neben der größten Ansiedlung von Juden, die ein Leben nach dem Gesetz zu verwirklichen suchten und mitten drin – Apion, der die Juden als einen Stachel im Fleische seines geliebten Ägypten sah, der sie mit allen Mitteln – z. B. Pogromen – aus seiner Wahlheimat Alexandria vertreiben wollte.

Doch das jüdische „Gesetz“ setzte sich durch, jedenfalls was den Sex betraf, es gewann die Oberhand über Kanopus, nicht zuletzt gerade durch den Mann, der es eigentlich verteufelte und durch den Opfertod Jesu für überwunden erklärte, durch Paulus. Der Heidenapostel meinte mit Gesetz sein äußeres Merkmal, die Beschneidung; und die schaffte er ab, ebnete damit dem Christentum den Weg in die antike Welt. So einfach, so banal ist das! Ist ja ganz interessant, was diese Judenchristen da so erzählen, so wie im Osiris- und Isis-Mythos, aber irgendwie persönlicher, aktueller, eigentlich … mit dem Verbot des Schweinfleischs, na ja, es gibt ja auch Schafe und Rinder, aber das mit der Beschneidung!? Hast du den Lucilius gesehen, der hat sich beschneiden lassen und jetzt? Jetzt läuft er mit einer weiten Tunica herum, damit sein entzündeter Penis nicht von der Kleidung berührt wird, der schreit beim Pinkeln, von was anderem wollen wir gar nicht erst reden – nein nicht mit mir! Doch damit räumt Paulus auf: Kein Gesetz! D. h. keine Beschneidung! Aber – es lebe das Gesetz: Sex ist Sünde und Sünde ist Sex! Man lese den Römerbrief: Sex am besten gar nicht, höchstens – aber nur so grade – in der Ehe, alles andere ist Sünde; Schwule und Lesben sind Sünder, die keine göttliche Gnade und Erlösung oder sonst irgendetwas Menschliches oder Göttliches vor der sicheren ewigen Verdammnis erretten kann.

Der Todeshauch der Sünde legt sich über den Frühlingswind der Sexualität. Überall wo das Christentum mit seiner Sünde hinkommt, ja, da muss man jetzt mit der neuen Situation umgehen (können): Im europäischen Mittelalter standen die Badehäuser, sprich Bordelle, neben den Kirchen; wie praktisch: konnte man doch die Sünde genießen und die Folgen bei der Beichte nebenan gleich wieder loswerden. Das änderte sich erst nach der Entdeckung Amerikas. Nicht, dass die Evangelikalen … nein, denn die mussten in die neue Welt erst noch auswandern; aber dafür kam die Syphilis nach Europa – und sorgte für bessere Moral! Was kein Papst oder Bischoff, was keine Frömmigkeit oder Höllendrohung je geschafft hatte, das erreichte der liebe Gott höchstpersönlich, indem er Treponema pallidum erschuf. Andere Völker als die praktisch orientierten Europäer konnten nicht so geschickt mit dem neuen Gedanken der Sünde umgehen: In der Südsee starben ganze Völker nach ihrer christlichen Missionierung aus, mangels Lebensfreude und der daraus resultierenden Kinderlosigkeit.

Doch zurück zu Apion und seinem Judenhass! Es ist uns nirgends überliefert, dass er die heiligen Schriften Israels gelesen und dass er sich darüber aufgeregt hat. Aber er galt als einer der belesensten Männer seiner Zeit, der alles verschlang, was ihm in irgendeiner Form in der griechischen Sprache unter die Finger kam; er war allumfassend gebildet. Auch traf er mit seiner ablehnenden Haltung gegenüber den Juden sicherlich eine gewisse Grundstimmung im ägyptisch-griechischen Volk Alexandrias. Josephus schreibt: „Denn unsere Gesetze stehen bekanntlich nicht nur mit den Griechen in Widerspruch, sondern auch, und zwar in besonders hohem Grade, mit den Ägyptern und vielen anderen.“ Der Jude Josephus stellt also fest, dass die Juden mit ihrem ihr Wesen bestimmenden Kulturgut „Gesetz“ nicht nur bei den Griechen anecken, sondern dies auch im besonderen Maße bei den Ägyptern tun. Wir müssen bedenken, dass Apion ein Bürger Alexandrias ist, der Stadt, die Griechentum und ägyptisches nationales und religiöses Wesen in typisch hellenistischer Weise vereinigt. Nun dürfen wir uns weiterhin die griechisch-römische Welt nicht als Sodom und Gomorra, diese große Zivilisation nicht wie ein allumfassendes Bordell mit Aphrodite vulgo Venus als Puffmutter vorstellen – Griechen und Römer lebten sehr wohl nach Anstand und Moral, kannten Sitte und sittliche Ordnung, doch – und das machte den Unterschied zum Judentum und vor allem zum daraus hervorgegangenen späteren Christentum aus – die totale Fixierung von Sitte und Moral auf alles, was mit Sexualität zusammenhängt, das kannten sie nicht. Sie nahmen den Sex als das, was er ist: ein naturgegebener Trieb des Menschen, der neben der Fortpflanzung auch noch viel Freude macht, den man als Gott-gegeben genießen kann, der eben nicht eine vom Gott verdammte und zu bestrafende Sünde ist. Erst dadurch, dass er sündhaft wird, pervertiert der Sex, wird er zur Pornographie. Und wenn ein junger Mann lieber mit seinem Freund ins Bett ging als mit seiner vom Vater ausgesuchten Verlobten – wen kümmerte das? Wenn’s ihm Spaß macht, soll er doch! Jedenfalls wurde er weder gesteinigt – wie das heute noch im Iran geschieht! – oder sonst wie vom „Gesetz“ verfolgt. Und wenn wir über die griechisch-ägyptische Weltstadt Alexandria hinaussehen, das gesamte Imperium betrachten und uns die Rolle der Diaspora-Juden darin ansehen, dann fällt uns – allerdings erst auf den zweiten Blick – ein nicht zu beseitigender kultureller Widerspruch zwischen der gesamten griechisch-römischen Welt mit all ihren anderen mehr oder weniger integrierten Völkerschaften und diesen Diaspora-Juden auf: Die einen leben in einem Staat, in dem das gesetzte (staatliche, also menschliche) Recht das Zusammenleben der Menschen regelt, wo in der Kaiserzeit das Opfer für den Caesar, den Repräsentanten dieser Staatsidee, das Bekenntnis zu diesem Staat und seinem das Zusammenleben ordnenden Gesetz dokumentiert, wo religiöser Liberalismus Staatsräson ist, während die anderen, die Juden, auch und gerade in der Diaspora, immer noch Untertanen einer Theokratie sind, wo das göttliche „Gesetz“ das Leben bestimmt. Auf der einen Seite fanden die Juden in der globalisierten und liberalen Welt des Imperiums ein ideales Betätigungsfeld, konnten als Händler und Finanzjongleure, als Ärzte und Wissenschaftler sich frei entfalten, doch sie blieben unter sich, bildeten eine Parallelgesellschaft unter der Fuchtel oder dem Schutzschild (wie man will!) ihres Gottes, seines Bundes und seines Gesetzes.

Auf diesem kulturgeschichtlichen Hintergrund, auf der Basis dieser Situation im östlichen Imperium zur Zeit der Zeitenwende müssen wir die Juden und ihren fanatischen Gegner Apion sehen, einmal in dem speziellen Fall Alexandria und dann im gesamten Reich. Judenpogrome aus Rom, aus Athen oder Ephesus sind nicht bekannt, die finden in Alexandria statt und hier gleich zuhauf und mit grausiger Heftigkeit. Warum? Weil Alexandria eine ägyptische Stadt ist, zwar unter griechischer Hoheit und römischer Oberhoheit, aber trotz allem eine ägyptische Stadt. Und dort gibt es auch ägyptische Gebildete, nicht viele, denn die meisten der Gelehrten sind Griechen und Juden, aber es gibt sie, die Ägypter, die Griechisch können, die jetzt auch die Schriften der Juden lesen können und dies auch tun; einer davon ist Apion, und Apion ist ägyptischer Patriot. Und Apion liest die Geschichte der Demütigung seines Volkes, er liest, wie diese Juden sich zu den Lieblingen, den „Erwählten“ eines Gottes aufspielen, den sie als Herrn der Welt ausgeben, mächtiger als Amun und Osiris, als Serapis und Zeus – und er hasst diese arroganten Fremdlinge, diese hochmütigen Stachel im Fleisch seines Volkes, des Volkes mit der altehrwürdigsten Kultur des Erdenrundes. Er wird die Griechen und Römer gegen diese Fremdlinge aufbringen, koste es was es wolle!

Im siebten Kapitel des zweiten Teiles seines Werkes greift Josephus eine Verleumdung Apions auf, die er als besonders lächerlich ansieht und die leicht umzudrehen ist: Einen goldenen Eselskopf würden die Juden in ihrem Tempel aufbewahren und als ihren Gott anbeten. Da kann der Apologet des Judentums nur lachen: Warum hat ein so berühmter und glaubwürdiger Besucher des Tempels wie Pompejus kein Wort davon erwähnt und auch Titus hat nach der Eroberung des Tempels nichts davon berichtet? Die Ägypter dagegen – noch der heutige Leser spürt die Häme zwischen den Zeilen –, die beten doch Tiere als Götter an, oder Götter mit Tierköpfen! Nein, mein Lieber – man sieht den Autor geradezu grinsen –: so nicht! Doch im nächsten Kapitel geht Josephus auf eine Diffamierung des Apion ein, die viel schwerer zu widerlegen ist, die auf einem Gerücht basiert, einem Gerede, das nicht fassbar ist, das zu all den Schauermärchen passt, die sich der Pöbel über die Juden und ihre geheimnisumwitterte Religion erzählt, die sich immer um Dinge ranken, von denen man nichts genaues weiß. Apion ist ganz offensichtlich der erste Judenhasser, der diesen Dinge vorwirft, die nicht zu widerlegen sind, denn wie will man die Nicht-Existenz von Dingen beweisen, die es nicht gibt? Sagt nicht der Volksmund: Das Gerücht ist der Rauch des Feuers der Wahrheit? Da wird schon etwas dran sein; wenn ich es so recht betrachte – denen traue ich das zu! Ja, der Apion wird schon Recht haben: „Sie fingen nämlich einen fremden Griechen auf, mästeten ihn ein Jahr lang, führten ihn dann in einen gewissen Wald, schlachteten ihn, opferten seinen Leib unter herkömmlichen feierlichen Zeremonien, genössen etwas von seinen Eingeweiden und schwüren bei der Opferung des Griechen einen Eid, dessen Landsleute zu hassen.“ Hier ist es ein Grieche; warum nicht auch ein Römer? Eigentlich sind es alle Nicht-Juden, die sie hassen, die sie vor ihrem Gott, dem Eselskopf, „unter herkömmlichen (religiösen) feierlichen Zeremonien“ schlachten, also schächten, diesem Monster opfern. Ja ja, so sind sie eben, diese Juden – die ganze Welt wollen sie verderben, wollen sie sich untertan machen, wollen ihr Blut, ihre Seele, trinken, um so, den Vampiren gleich, sich von fremdem Lebenssaft zu nähren, andere Menschen, andere Völker aussaugen – „tief verderbt und seelenlos“ wie Wilhelm Busch schreibt und diese Welt(Juden)Sicht ironisch veralbert.