Die Wahrhaftigkeit des großen Betrugs - Günter Scholz - E-Book

Die Wahrhaftigkeit des großen Betrugs E-Book

Günter Scholz

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Beschreibung

Ist der Mensch womöglich eine Sackgasse der Evolution, der die Götter als Ausflucht aus dieser Zwickmühle braucht? Denn alle bisherigen Zivili­sationen haben auf Götter nicht verzichten können – die Ägypter nicht auf Osiris, die Sumerer nicht auf Ischtar, die Hellenen nicht auf Zeus… und die Christen letztlich nicht auf ihren Mensch gewordenen Gott Jesus Christus. Sind Religionen im Allgemeinen und das Christentum im Besonderen also nichts anderes als heute noch erhaltene Relikte einer früheren Entwick­lungsstufe des menschlichen Denkens, das zwar selbst Teil dieser Welt ist, jedoch durch seine Entwicklung dazu beitrug, die Welt, sich selbst und seine Rolle in ihr zu reflektieren? Die Strahlkraft des Sterns über Beth­lehem allerdings ist inzwischen am Verblassen, der magische Kompass, der einst helfen mochte, aus dem Jammertal herauszufinden, ist im Laufe der Jahr­hunderte durch ein Navigationssystem nüchternen Denkens und notwendi­gen Wissens ersetzt worden: die Evolution entlässt ihre Kinder. Und die suchen und fragen hartnäckig und bohrend nach der Wahrhaftigkeit im Betrug. Nach seinem im letzten Jahr bei Lehmanns media erschienenen Erstling „Anleitung zur vergeblichen Gottessuche“ bietet Günter Scholz mit seinem neuen Buch ein weiteres provokantes Lesevergnügen zum Thema: wer bin ich, wer sind wir?

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Die Wahrhaftigkeit des großen Betruges

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der DeutschenNationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet abrufbar unterwww.dnb.de

Alle Rechte vorbehaltenDieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. JedeVerwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmungdes Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen,Übersetzungen, Mikroverfilmungen, Verfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungauf DVDs, CD-ROMs, CDs, Videos, in weiteren elektronischen Systemen sowie fürInternet-Plattformen.

©Lehmanns Media GmbH, Berlin 2019Helmholtzstr. 2-910587 BerlinUmschlag: Bernhard BönischSatz & Layout:LATEX(Zapf Palatino) Benjamin Zuckschwerdt, BerlinDruck und Bindung: Totem∙Inowrocław∙PolenISBN 978-3-96543-035-8 www.lehmanns.de

Ich bin klein, mein Herz ist rein

... soll niemand drin wohnen als Jesus allein! Kann ein von der kirchentreuen Mutter eingeübtes Kindergebet anheimelnder sein? Kaum, vor allem wenn man die Situation sieht, in die hinein es gesprochen wird – je flehentlicher, umso besser, je inbrünstiger, umso wirkungsvoller. 1945, der Krieg ist vorüber, aber das Elend geht jetzt erst richtig los. Wer kann den vermissten Vater zurückbringen – „vermisst“ als offizieller, als aktenkundiger Status des ehemaligen Soldaten und gleichzeitig auch die Gemütsregung von Frau und fünfjährigem Sohn. Selbstverständlich nur der liebe Gott! Wer denn sonst? Das Rote Kreuz etwa? Das hatte auf Stalin keinen Einfluss – der liebe Gott schon, zumindest vielleicht und ein bisschen. Die Nachbarin betete auch, genauso flehentlich, aber sie redete drum herum, kam mit der Sprache nicht so richtig heraus, war es doch für den lieben Gott kaum möglich, gegen seine Prinzipien zu verstoßen: Hier sollte er den Ehemann möglichst nicht zurückholen, also zumindest wenn’s eben ging, denn der neue Freund, der war toll im Bett und konnte Zigaretten besorgen! Nun, und da sind wir ja gleich bei einer besonderen Eigenschaft des lieben Gottes: ER macht doch, was er will. Mein Vater kam nicht zurück, der Mann der Nachbarin schon und mitten hinein in ein (Ehe-)Drama, das er selbst, beziehungsweise der liebe Gott, dem es in seiner Allmacht gefallen hatte ihn nach Hause zu schicken, ausgelöst hatte.

Gottes Wege sind eben wunderbar! Und da tritt ein weiterer Wesenszug des Gottes zutage, von dem irgendwie immer die Rede ist, wenn es um den Allmächtigen geht: Wunder – entweder tut er sie oder sie sind, eben als wunderbar, eine Eigenschaft von ihm selbst. (Bitte nicht verwechseln mit wunderlich, was eine Eigenschaft alter Damen ist – manchmal auch als Demenz bezeichnet. Diese sind allerdings häufig gleichzeitig fromm, womit auch hier die Verbindung wieder hergestellt ist.) Anders gesagt: Der Mensch kann Gottes Handeln, sei es nun im Großen als Lenker der Geschichte, sei es im Kleinen, gewissermaßen für den Hausgebrauch, nicht verstehen. „Höher als alle Vernunft“ beten die Gläubigen konsequenterweise im Gottesdienst, nachdem sie selbige Vernunft an der Garderobe als hier nicht nur überflüssig, sondern auch als lästig, ja sogar als hinderlich abgegeben haben. Jetzt lassen sich die ganzen Wundergeschichten viel leichter glaubend begreifen, ist doch der eigene Intellekt selbst wunderlich, Verzeihung: wunderbar geworden – ein besonderer Gnadenakt des lieben Gottes, der das Wunder des Glaubens möglich macht.

Doch zurück zu dem kleinen Jungen, der angelernt worden war, wie er Kontakt zum lieben Gott aufzunehmen hatte, oder: der fromm gemacht worden war, bevor er danach gefragt hatte, dem es als so selbstverständlich wie Essen und Trinken und andere Elementarfunktionen des Lebens beigebracht worden war. Da war die Situation am abendlichen Bett: Diese Schlafstatt bestand aus drei durchgelegenen Matratzenteilen, die in Ermangelung eines Bettgestells in einer Zimmerecke direkt auf den Holzboden gelegt worden waren und so einen gemütlichen Winkel ausmachten. Wenn dann die Mutter an diesem Bett saß und vorlas, dann wurde es richtig kuschelig und das Kind kroch unter die Decke, drückte sich in das Kissen und folgte den Reitern über die Weite der Prärie und den Piraten durch die tosende See. Das Besondere aber an der Situation war der Kontrast zwischen den gehörten und in der Phantasie erlebten oft blutigen, bedrohlichen Abenteuern und der Geborgenheit im kuscheligen Bett, beschützt und bewacht von der davor lesenden Mutter, deren Geschichten das Gruseln lehrten und die doch gleichzeitig sicheren Schutz bot.

War dann der Fantasieausflug in die weite Welt zu Ende, diese gefährliche Erde, wo der Herr dieser Welt dem lieben Gott durchaus Konkurrenz macht und man darum sehr auf der Hut sein muss, von Gottes Pfaden nicht abweichen darf, denn dort im Abseits lauert überall das Böse; waren dann die Bücher mit ihren Geschichten, all das schön Schauerliche, wieder in einer Kiste verpackt und verschlossen – dann wurde gebetet. Und wie das jetzt passte, sich genau in diese Situation hineinfügte: Zuerst kam die Beschwörung des eigenen reinen Herzens, in dem, gewissermaßen als Untermieter, eine liebreizende und gütige Gestalt wohnt, die kleine Kinder besonders liebt und sie im Auftrage des Vaters, des allmächtigen lieben Gottes, bewacht und beschützt. Nach diesem eher etwas allgemein gehaltenen Gebetsauftakt folgte der persönliche Teil des bittenden Anrufes an die Allmacht und Güte der Gottheit: „Lieber Gott, mach doch bitte, dass …“ Bei diesen Bitten musste jetzt der liebe Gott höchst persönlich entscheiden, ob er den Wünschen mithilfe seiner Allmacht nachkam – oder eben nicht. Zu diesem Zweck musste er seine Allwissenheit bemühen, mit der er dann herausfand, ob die Erfüllung für den Bittenden auch wirklich in Anbetracht zukünftiger Umstände, die der Bittende selbst natürlich nicht wissen konnte, tatsächlich sinnvoll, also nützlich war. Dann erst wurde entschieden: Der Ehemann der Nachbarin kam zurück, was sich ihrer nur menschlichen Vernunft nicht erschloss, mein Vater blieb im Status des Vermisstseins, bis die weltlichen Behörden ein Einsehen hatten und ihn für gefallen erklärten. Die höhere Vernunft des lieben Gottes, die aus seiner Allwissenheit resultierte, hatte es so entschieden. „Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen, der Name des Herrn sei gelobt!“ Basta! So ist die Welt eben! Doch was unterscheidet denn eine Welt – die durch Zufall entstanden ist und die sich in einer Evolution entwickelt hat – von einer göttlichen Schöpfung, geplant vom Allmächtigen, der sich allerdings partout nicht in die Karten sehen lassen will? Wie sieht das aus der Perspektive des Geschöpfes, des (vorläufigen) Endpunktes der Evolution aus? Gibt es da einen Unterschied? Ja, es gibt ihn! Der Mensch kann versuchen, den Ablauf der (Welt-)Geschichte zu seinen Gunsten zu beeinflussen, gewissermaßen Gott Konkurrenz zu machen – und sich damit gegen den Allmächtigen, seinen Herrn, in Hochmut vergehen, also dem Herrn dieser Welt dienen; er kann aber auch in Demut den Allmächtigen bitten, alles zum Guten zu wenden. Dazu hat er nämlich beste Möglichkeiten: Er kann zu dem offiziellen Vertreter des Gottes hier auf Erden, gewissermaßen dem Vizegott, direkt und sogar in menschlicher Sprache reden und seine Bitten vortragen; oder er kann direkt mit jemandem aus dem Hofstaat des Allmächtigen reden. (Es gibt ausführliche Literatur darüber, wer aus der direkten Umgebung Gottes für was zuständig ist, also Verzeichnisse von Gotteslobbyisten, manchmal auch Heilige genannt.) Dafür ist nur eines notwendig: Man muss in dem richtigen (Interessen-)Verein Mitglied sein, seinen monatlichen Beitrag dort pünktlich abliefern und die Versammlungen regelmäßig besuchen. Hier ist also etwas zu machen! Man muss es nur richtig anstellen.

Doch nun zurück zu dem kleinen Jungen, der sich auf seinen drei Matratzenteilen wohlig kuschelt und wilden Abenteuern lauscht, die von einer weiten und bösen Welt erzählen. Dabei ist er in der sicheren Obhut der Mutter (den Vater hat ihm der liebe Gott in seinem unergründlichen Ratschluss vorenthalten) und in der Geborgenheit eben dieses lieben Gottes. Ja, so war das: Sicherheit lieferte die (leibliche) Mutter, Geborgenheit der (göttliche) „Vater unser …“

Aber die Matratze hatte drei Teile! Und damit fing die Bosheit des Herren dieser Welt an. Woher sollte das Kind wissen, was Sünde ist, beteuerte es doch jeden Abend, dass sein Herz rein sei. Der Junge fing gerade erst an, in der Schule lesen zu lernen, woher sollte er etwas von der raffinierten Erfindung des Kirchenvaters Augustinus wissen, von der Erbsünde, der sich damit nicht nur als kluger Vater der Kirche, sondern auch als geistiger Sklavenhalter der geistlichen Untertanen erwiesen hatte? Von dieser Theorie des Glaubens wusste der Junge noch nichts, doch mit dem Älterwerden geht’s irgendwann los! (Kant hat schon Recht, wenn er seine „Kritik der reinen Vernunft“ beginnen lässt: „Dass alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anfange, daran ist gar kein Zweifel“.) Nichts macht erfinderischer als der Drang zur begehrten Sünde, auch die Not kann da nicht mithalten. Und so ein Spalt zwischen zwei Matratzenteilen, auch noch im Bett, das so langsam zum Sündenpfuhl wird … Jedenfalls mit der kantischen praktischen Erfahrung fing es an, die Theorie der Sünde folgte. Sie, die theologische Theorie, machte aus dem atemraubenden Erlebnis eine Sünde, die von dem jetzt gar nicht mehr so lieben Gott strengstens bestraft wird, Hölle und so.

Aber nicht nur Gott war jetzt gar nicht mehr so lieb, auch das Herz des Kindes war von nun an alles andere als rein. Nein, der Herr dieser Welt, oder einfacher gesagt der Teufel, hatte Besitz von ihm ergriffen. Doch warum war das so, wo kam denn dieser Gott her, und wo dieser seine Gläubigen bekämpfende Bösewicht? Und wie gelang es ihm, ein kindliches Herz, man ist versucht zu sagen: ein kindliches Gemüt, so leicht und ohne Umschweife zu erobern? Die Antwort ist verblüffend einfach: Es war nicht, wie die Mutter behauptet hatte, der vom Himmel auf die Erde gefallene Engel, der sich gegen Gott aufgelehnt hatte. Nein, der Böse, auch das Böse genannt, kam aus dem Inneren des Kindes selbst, aus genau der (kindlichen) Frömmigkeit, die von der dem Glauben ergebenen Mutter eingepflanzt worden war. Kleine Kinder übernehmen alles, was die Mutter (oder eine andere Respektperson) ernst und wichtig berichtet. Doch dann tritt plötzlich das Hormon Testosteron in diese heile Lebenswelt, ein fantastisches Hormon, ohne das es das (menschliche) Leben nicht gäbe, und vor allem, ohne das das Leben auch nicht lebenswert wäre. Nein, das Böse entsprang nicht einem gefallenen Engel, dem Herrn dieser Welt – es wurde geboren aus der naiven Frömmigkeit des Kindes selbst, eingepflanzt durch die fürsorgliche Mutter, die ihrer Pflicht gegenüber Gott nachgekommen war.

Diese Frömmigkeit machte eine natürliche, eine lebensnotwendige Entwicklung zu einer Sünde, zu einem Vergehen gegenüber einem Gott, der sich als „lieb“ eingeschlichen hatte, dann aber, einmal Fuß gefasst, wie ein bös-hinterhältiger Stief-„Vater unser …“ anfing zu drohen und zu strafen. Diesen konnte das Kind jetzt aber nicht mehr so ohne weiteres wieder loswerden, den schlimmen lieben Gott, der als Strafandrohung, als ein giftiger Dorn in seinem Herzen stach: So beginnt die psychische Versklavung. Denn: Die Sünde gehört zur Frömmigkeit wiedie Wellen zum Meer. Ohne Wasser keine Wellen, ohne Frömmigkeit keine Sünde. Und genau diese ist vielen, ja, den meisten Menschen in den modernen Industrienationen verloren gegangen, diese herrliche Sünde, weil ihnen die sie erst möglich machende Frömmigkeit abhanden gekommen ist. Sie ist nicht denkend überwunden, nicht im intellektuellen Streit, im Kampf besiegt und vertrieben worden, nein, sie ist nur abhanden gekommen.

Doch diesen armen Leuten entgeht etwas, entscheidendes Lustpotenzial ist ihnen versagt. Betrachten wir es von der praktischen Seite: Ein homosexuell-pädophiler Mann vergeht sich an einem Nachbarjungen. (Wir wählen hier aus Sprachfaulheit das völlig fantasie- und anspruchslose Verbum „vergehen“, obwohl es den Tatbestand nur unzureichend beschreibt und entschuldigen uns dafür, setzen dagegen wieder einmal auf die Vorstellungskraft des Lesers.) Die dabei empfundene sexuelle Lust wird zweifelsohne dadurch gesteigert, dass es sich hier um etwas gesetzlich Verbotenes handelt, ihm also Strafe droht – aber es ist keine Todsünde, noch nicht einmal eine stinknormale Sünde, nur eine banale Straftat.

Wie anders dagegen bei dem Priester, der dieselben Handlungen an sich und seinem Lustobjekt fingert: der begeht eine Todsünde. Er wird dafür für alle Ewigkeit im Höllenfeuer schmoren! Was macht es da schon aus, dass er keine irdische Strafe zu erwarten hat, da seine kirchlichen Vorgesetzten ihn in warmer brüderlicher Liebe beschützen? Nein, die absolut sicher zu erwartenden ewigen Höllenqualen sind ein irrsinnig hoher Preis für die Momente der Lust, machen daraus ein mit keinem irdischen Gut zu bezahlendes teuflisches Glück. (Dieses teuflische Glück wurde schon zu allen Zeiten als beglückender eingeschätzt als das himmlische!) Mich erinnert das an einen überzeugenden Spruch der sogenannten allgemeinen Bierwerbung der fünfziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts: „Durch Bier wird Durst erst schön!“ In Analogie dazu können wir hier sagen: Durch Sünde wirdFrömmigkeit erst schön! Eröffnet sich doch jetzt die wunderbare Möglichkeit des Bußetuns. Der sich z. B. der Sünde des Seitensprungs schuldig gemacht hat, wird als Buße für die nächsten sechs Wochen sich aller Sexualität enthalten und mit seiner Ehefrau nicht mehr schlafen! Auch Reue gehört in den Katalog des bußfertigen Sünders, besonders in der Steigerungsform bittere Reue etc. etc. Wenn wir uns bei unseren Überlegungen noch einmal auf das Kind zurückbesinnen, aus dessen vorpubertärem reinen Herzen der alleinige Mieter Jesus durch einen Nachmieter vertrieben worden war, nur weil dieser mit einem kräftigen Schuss Testosteron die Miete so in die Höhe getrieben hatte, dass nur er sie noch bezahlen konnte, dann können wir getrost sagen: Durch die Sünde wird die (kindliche) Frömmigkeit erst erwachsen.

Sünde ist das Vergehen gegenüber der Heiligkeit Gottes; kürzer gesagt gegenüber dem Heiligen schlechthin. Doch was ist das, das Heilige, dieses Etwas, dem es so furchtbar auf den Sack geht, wenn ein pubertierender Junge sein Testosteron herauslässt und onaniert, was macht diese Sünde, dieses Vergehen gegenüber dem Heiligen aus, dass deswegen der heilige Gott sogar mit ewigem Höllenfeuer drohen muss und mit Kanonen auf Spatzen schießt? Hier hat ein harmloser Junge etwas gemacht, das keinem schadet, ihm selbst auch nicht, das trotzdem vom heiligen Gott und seinem ausführenden Organ hier auf Erden, der genauso heiligen Kirche, mit den fürchterlichsten Strafen bedroht wird. Da ist alles heilig, wo man auch hinsieht: der oberste Chef mitsamt seinem Amtssitz „siebenter Himmel“, „heilig, heilig, heilig ist der Herr Zebaoth“, genauso wie sein Stellvertreter und Amtsverweser in der Provinz Erde, der „Heilige Vater“, sein Amtssitz „Heiliger Stuhl“ wie auch seine Topangestellten, das „Heilige Offizium“.

Um Ordnung in dieses Heiligkeitschaos zu bringen, stellte sich ein Theologe und Religionswissenschaftler namens Rudolf Otto zu Beginn des letzten Jahrhunderts genau unsere Frage. Was ist das eigentlich: „Das Heilige“? Sein diese Frage beantwortendes Buch kam gerade noch rechtzeitig heraus (1917), um die Gebildeten unter den Gläubigen zu beruhigen (also nicht unter ihren Verächtern, wie Schleiermacher es getan hatte). Denn die Frage tauchte damals unter nachdenkenden Christen bereits auf, wie es der Herr und Lenker der Geschichte, der seit anderthalb Jahrtausenden seinen Untertanen mit göttlichem Nachdruck Nächsten- und Feindesliebe gepredigt und verordnet hatte, ein solches Gemetzel, auch noch unter Christen – wenn die bösen Feinde doch wenigstens Heiden gewesen wären! – zulassen konnte, sogar die Waffen und somit das Massenmorden auch noch segnen konnte? Doch mit Rudolf Ottos Buch „Das Heilige“ nahte die intellektuelle Hilfe. Den moralischen Gott, so meinte Rudolf Otto, den überlassen wir lieber den Philosophen, dieses menschliche Gedankenkonstrukt möge sich mit Ethik und Rechtmäßigkeit von Kriegen herumschlagen – der heilige Gott hat damit nichts zu tun. Oder anders gesagt: Sitte und Moral sind keine Fragen der Heiligkeit Gottes – zehn Gebote hin oder her. Ob der kleine Junge onaniert oder sich christliche Völker untereinander millionenfach umbringen, die Heiligkeit Gottes tangiert das nicht, die spielt in einer höheren Liga, die gehört, wie das Religiöse überhaupt, in eine völlig andere Kategorie. Die Frage der Theodizee ist somit gelöst!

Im Jahre 1936 schreibt Rudolf Otto ein weiteres Vorwort zu seinem Buch „Das Heilige“ und zitiert darin nicht ohne Stolz aus einem Brief, den ihm eine Gruppe norwegischer Pfarrer geschrieben hatte. Darin heißt es: „In tiefstem Mitleid mit der Tragödie Deutschlands haben wir ein unsägliches Gefühl dafür, dass Gott etwas bedeutungsvoll Neuschaffendes durch das große Volk Luthers vor hat. … Christus sei mit ihm … Wir warten alle auf Deutschland“. Der fromme Wunsch ging diesmal in Erfüllung, das „bedeutungsvoll Neuschaffende“ kam tatsächlich, mit einem Mann an der Spitze, der Luther für den größten Deutschen hielt – und sich selbst für den zweitgrößten. Diese norwegischen Theologen hatten also ein „unsägliches Gefühl“, mit dem sie das Handeln Gottes erhofften und erwarteten und auch „verstanden“. Und das trifft den Kern von Ottos Analyse des Heiligen tatsächlich. Er selbst betont zitierend: „Das Schaudern ist der Menschheit bestes Teil … Ergriffen fühlt er tief das Ungeheure“. Und dann, ein bisschen abgegriffen zwar, aber immerhin: „Gefühl ist alles, Name Schall und Rauch“.

Wenn wir dem Gedankengang Ottos folgen, dann stellen sich zwei Fragen, die auch konsequent beantwortet werden: Was erfühlen wir da und wie ertasten wir es instinktiv? Das Was ist natürlich das Heilige, das Otto nicht auf den christlichen Gott allein bezieht, sondern auf alles Heilige, das in Geschichte und Gegenwart dem Menschen begegnet. Dieses Heilige beschreibt der Denker des Nichtdenkbaren mit dem Wort „das Numinose“. Gemeint ist das Heilig-Göttliche, ohne dass es mit einer bestimmten Gottheit verbunden sein muss, sondern das sich nur im Gefühl des „Schauervollen“ zeigt, als „unheimlich-furchtbar“, gemischt mit Ehrfurcht vor dem Erhabenen. Dies beschreibt Otto an allgemein bekannten Beispielen: „Mir lief es eiskalt durch die Glieder. Mir lief eine Gänsehaut über den Rücken. Die Gänsehaut ist etwas ‚Übernatürliches‘.“ Hier sei sofort angemerkt: Nein, die Gänsehaut ist nichts so genanntes Übernatürliches! Sie ist eine gut zu erklärende Reaktion des menschlichen Vegetativums auf eine schwierige Situation. Doch bleiben wir zuerst noch bei Otto und seinem Heiligen: Dieses ganz Andere, dieses Gefühl, plötzlich einem mir unbekannten und auch unheimlichen Wesen gegenüber zu stehen, ist tatsächlich ein durchaus bekanntes Phänomen und ist vor allem an Orte gebunden. Wird „heiliger“ Boden betreten, taucht je nach Empfänglichkeit des Menschen für „Übersinnliches“, für – um es deutlicher zu sagen – Esoterisches, mehr oder weniger stark dieses von Otto beschriebene Gefühl auf. Beispiel: Betritt ein Indianer ein Gelände, welches ihm schon Vater und Großvater als Wohnplatz der Geister seiner Ahnen beschrieben haben – er wird im Flüstern des Windes die Stimmen der vertrauten Vorväter hören, er wird ihre Nähe körperlich spüren, wird sich mit ihnen beraten, er wird das Numinose dieses Ortes überdeutlich erfassen! Latscht ein Tourist auf der Suche nach einem schönen Wildnisfotomotiv völlig unbedarft durch diese Gegend – er wird nichts dergleichen bemerken, sondern in der Gebrauchsanleitung seines neuen Fotoapparates blättern und über die noch nicht verstandene Technik schimpfen. Das bedeutet: Dieses Momentum tremendum ist nicht an diesen Ort gebunden, sondern es findet in der Person statt, die diesen Ort betritt, hat seine Ursache in dieser Person, das heißt in ihrem Glauben und der damit verbundenen Erwartungshaltung. Rudolf Otto ist Realist genug, um dies zu sehen, nur zieht er nicht die Konsequenzen daraus.

Klugerweise finden wir bereits am Anfang seines Buches eine unmissverständliche Aufforderung an den Leser: „Wir fordern auf, sich auf einen Moment starker und möglichst einseitiger religiöser Erregtheit zu besinnen. Wer das nicht kann oder wer solche Momente überhaupt nicht hat, ist gebeten nicht weiter zu lesen“. Denn, so wird einige Seiten später erläutert, „…es ist nur demjenigen möglich (nämlich dem Numinosen zu begegnen), in welchem eine eigentümliche von den ‚natürlichen‘ Anlagen bestimmt verschiedene Anlage des Gemütes wach geworden ist“. Hier wird also behauptet, dass es Menschen gibt, die über eine „eigentümliche“, nicht „natürliche“ Anlage verfügen, mit der sie das Numinose, das Heilige – den Gott wahrnehmen können. Natürlich müssen wir uns hier sofort an die Reformatoren Calvin und Luther erinnern, die in ihrer Prädestinationslehre ja auch behauptet hatten, dass Gott für ganze Völker, z. B. die Juden, wie für den einzelnen Menschen bereits im Voraus festgelegt habe, ob sie der Gnade, also dem Paradies, anheimfielen oder in der ewigen Verdammnis enden würden. Dies ist ja auch der theologische Grund für die Ablehnung des Ablass(-Handels), denn die eigenen „Werke“, um sich vor Gott Vorteile zu verschaffen, sind somit gegenüber Gottes bereits vorher festgelegtem Ratschluss sinnlos. Gerade deshalb ist die Versuchung aber groß, Gott doch in die Karten sehen zu wollen, um so zumindest für sich selbst herauszufinden, ob man nun zu den Erwählten oder den Verdammten gehört, was ganz schlaue Protestanten damit herausfanden, dass sie den irdischen (wirtschaftlichen) Erfolg eines Menschen, natürlich vor allem bei sich selbst, als Gradmesser göttlicher Gnade ansahen, um so mit ihm die Wahrscheinlichkeit des jenseitigen Paradieses an ihrem erwirtschafteten Reichtum zu messen suchten (vgl. hierzu: Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus).

Doch bleiben wir bei Rudolf Otto und seinem Numinosen, von dem er behauptet, dass es Menschen gibt, die dafür eine Antenne haben, die anderen eben nicht zur Verfügung steht. Der oben erwähnte Indianer hat diese Antenne für den Tummelplatz der Geister seiner Ahnen, der fotografierende Tourist hat sie nicht. Woher auch? Ihm hat keiner von diesen Geistern erzählt, er weiß nichts davon, diese Geister sind bei ihm ganz schlicht nicht da. Und wenn sie in seinem Inneren, seinem Gedächtnis – seinem Glauben – nicht da sind, dann kann er sie auch nicht erfahren, nicht hören, nicht sehen, kann nicht mit ihnen sprechen, nicht ihren Ratschluss einholen. Zu all diesem bedarf es nicht einer „eigentümlichen, nicht natürlichen Anlage“, sondern nur des Glaubens an eben diese Geister, eines Glaubens, der unserem Indianer schon als Kind von seinen Eltern und Großeltern eingeimpft worden war. Unser Indianer bringt die Geister, denen er an heiligem Ort begegnet, selbst mit und lässt sie jetzt nur los, lässt sie frei laufen, um ihnen dann zu begegnen. Und dieser Glaube, ob nun an Geister oder sonst etwas „Übernatürliches“, ob man es spirituell, also religiös nennt oder magisch-esoterisch, ist nicht übernatürlich! Menschliche Hoffnungen und Fantasien können angeregt, können erregt werden, sind steuerbar. Sicherlich gibt es da zum Teil erhebliche Unterschiede zwischen einzelnen Individuen: Die einen sind, wie man zu Recht sagt, leichtgläubig, andere sind skeptischer, manche sind eben Spökenkieker, andere nicht. Manche spüren die „Energie“ eines Ortes, andere lachen darüber. Doch letztlich sind wir alle gleich: „Die Visionen eines Geistersehers“ (Kant) stellen für die allermeisten Menschen immer noch ein Faszinosum dar. Das Erbe aus Jahrhunderttausenden der Menschheits(entwicklungs)geschichte lässt sich nicht so ohne weiteres wegwischen, es ist und bleibt auch in absehbarer Zukunft als „Geister der Ahnen“ weiterhin in uns, in unserer Weltwahrnehmung – in unseren Reaktionen auf die Dinge dieser Welt begleitet es uns immerfort.