Anleitung zur vergeblichen Gottessuche - Günter Scholz - E-Book

Anleitung zur vergeblichen Gottessuche E-Book

Günter Scholz

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Beschreibung

Wir wollen hier ein paar heftig ungebührliche Fragen zum Thema Christentum stellen: Wie ist der Stand der Forschung zur Entstehung des christlichen Glaubens, auch aus nichtchristlicher Sicht, heute, eines Glaubens – hier finden wir das erste Paradoxon -, der die Nächsten- und Feindesliebe mit so ungeheurer Grausamkeit ausbreitete? Stimmen denn diese Geschichten, die wir im kirchlichen Konfirmanden- und staatlichem Religionsunterricht als göttliche Offenbarungen und Wahrheiten notenüberprüft als für unser ewiges Seelenheil unabdingbar gelernt haben? Stellen wir doch mal die unerhörte Frage (allein deswegen gehören wir von Rechtswegen in die Hölle!), was denn dieser Jesus wohl von der neuen Religion gehalten hätte, die ihn selbst, den Menschen und frommen Juden (auch das noch!), zu einem Gott erhob! Warum wurde aus dem jüdisch-patriotischen Propheten Jesus in den Evangelien ein Antisemit (dafür gibt es auffindbare und nachvollziehbare Motive!) und dann auch noch ein Menschenopfer, das die kaum zu stillende Gier seines Vaters nach Grausamkeit befriedigen sollte? Es gibt genug Fragen dieser Art, bohrende Fragen – und es gibt Antworten darauf, Antworten, die die Wissenschaft in den letzten zweihundert Jahren gefunden hat, einleuchtende Antworten, veröffentlicht und jedermann zugänglich, nur – keiner liest das, weil es sich hinter Wissenschaft und Fachjargon versteckt. Und – wer ist denn dieser christliche Gott, der hinter „seiner“ Religion steckt, wo finden wir ihn, was hat er für einen Charakter und was sind seine Motive? Diese Fragen sind – für Glaubende unbegreiflich – durchaus einleuchtend und nachvollziehbar zu beantworten! – Bei Augustinus, dem Analytiker seines christlichen Glaubens schlechthin, fangen wir an, fügen Gedanken Ludwig Feuerbachs hinzu und sehen uns das Ergebnis in der Sprache Martin Heideggers an. Das Resultat: Gott ist auffindbar, zu „verorten“, Gründe und Motive seines Handelns sind erkennbar und zu analysieren. Doch dann kommt das Seltsame: Kaum haben wir Ihn gefunden und wollen ihn festhalten, da ist er, der angeblich unbegreifliche, der „ganz andere“, schon wieder weg, hat sich im Menschlichen allzu Menschlichen verloren, ist von der allzu irdischen Welt einfach verschluckt worden.

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Anleitung zur erfolglosen Gottessuche

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet unter www.dnb.de abrufbar

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© Lehmanns Media, Berlin 2018

Helmholtzstraße 2-9 • 10587 Berlin

Prolog

Den Kern einer Kultur bildet ihre Religion. Dies gilt für Gläubige, Halbgläubige und Ungläubige. So ist das Zentrum des arabischen Kulturkreises der Islam; er bestimmt seit langen Jahrhunderten alle Kulturleistungen der arabischen Welt. Kern der abendländischen Kultur ist das Christentum; ihre kulturellen Leistungen sind entweder aus dieser Religion hervorgegangen - oder in Gegnerschaft zu ihr entstanden. Aber, ob so oder so, ob sie dem Glauben entstammen oder sich an ihm feindselig reiben, die Religion Christentum spielte und spielt bei den meisten Kulturäußerungen des christlichen Abendlandes eine bedeutende Rolle. Newton entwickelte seine Astrophysik aus tiefem christlichen Glauben heraus, Kant kritisierte das kirchliche Christentum als „Afterglauben“; selbst der Antichrist Nietzsches atmet den (aufbegehrenden) Geist eines preußisch-protestantischen Pfarrhauses.

Der in einem Kulturkreis Geborene, der dort Sozialisierte wird seine Religion, ob er sie nun gläubig verehrt oder verachtend ablehnt, immer von innen heraus betrachten, er wird so denken wie Paulus, auch und gerade wenn er diesen als den Teufel höchstpersönlich ablehnt, und er wird fühlen wie Petrus, den er vielleicht als esoterischen Spinner verachtet. Auch der radikalste abendländische Atheist wird bei dem Wort Peter Sloterdijks vom „vaterlosen Jesus von Nazareth, dem schrecklichsten Kind der Weltgeschichte“ innerlich zusammenzucken, wird vielleicht die Krippenfiguren seiner Kindheit vor sich sehen – den chinesischen Konfuzianer wird dieser Satz völlig kalt lassen. Denn dieser Angehörige eines anderen Kulturkreises betrachtet die christliche Religion von außen.

Nehmen wir ein heute leider alltägliches Beispiel: Ein islamistischer Selbstmordattentäter hat sich und andere in die Luft gesprengt, was im Westen als scheußliches Verbrechen angesehen wird und von dem jetzt aus politischen Gründen behauptet wird, dies habe mit der Religion Islam nichts, aber auch gar nichts zu tun. Das ist von außen betrachtet. Von innen heraus, also aus der Sicht eines gläubigen Menschen des arabischen Kulturkreises, kann das allerdings völlig anders aussehen. Wir wollen uns hier die farbenreiche Schilderung des (islamischen) Paradieses, das den Märtyrer erwartet, verkneifen, würde es doch zu Recht als ironischer Spott verstanden – eben als von außen betrachtet, von jemandem, der nichts, aber auch gar nichts versteht.

So ist es auch für die meisten Christen völlig unbegreiflich, dass auch ihre Religion von außen her betrachtet werden kann. Wie ist es möglich, Gott – der christliche Gott ist doch automatisch der Gott schlechthin –, den man glaubend verehrt oder auch seine Existenz als Atheist bestreitet, mit seiner höchstpersönlichen Religion zusammen von außen her zu betrachten – das geht doch nicht! Wo ist denn dieses Außen? Gibt es einen solchen Punkt, von dem aus man auf Gott sehen kann, ihn in seinem Verhalten beobachten, ihn sogar beurteilen kann? Dem Christen erscheint dies weder theoretisch denkbar und schon gar nicht praktisch machbar. Auch unser schon mehrfach bemühter Atheist wird nur den Kopf schütteln, denn wie kann ich etwas betrachten, das es überhaupt nicht gibt? Doch langsam: Wir werden sehen, dass wir als Menschen einen Gott beobachten und beurteilen (!) können, den es als extramenschliches, als extraterrestrisches, als extrakosmisches Wesen überhaupt nicht gibt, der aber trotzdem als Gott die einzelnen Menschen, Stämme, Völker und Staaten nicht nur beeinflusst, auch (ins Unglück) führt, die Geschicke der Weltgeschichte (mit)lenkt.

Ein bisschen muss man allerdings schon mit- und nachdenken, vor allem muss man wenigstens versuchen, sich aus Denkschemata zu lösen, die anscheinend uns schon in den Genen vererbt, die fest im kulturellen Gedächtnis des christlichen Abendlandes verankert sind. Doch wenn diese Befreiung nur anfängt zu gelingen – das kann hier garantiert werden –, wird sie als großes Glück empfunden, als das was sie ist: als Befreiung, als „Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit“ (Kant).

Es gibt Menschen, die sich aus der psychischen Versklavung in ihrer eigenen Religion durch ein intensives Studium eben dieser Religion befreien konnten. Dies sind naturgemäß Theologen, also Fachgelehrte, denen die verwirrenden Widersprüche des göttlich geforderten Glaubens bei ihrer wissenschaftlichen Arbeit irgendwann einfach zu viel wurden und bei denen das, was man gemeinhin intellektuelle Redlichkeit nennt, so stark wurde, dass sie die göttlichen Fesseln sprengten und freie Menschen wurden. Es seien hier, stellvertretend für viele, nur zwei Namen genannt, einer aus der Geschichte und einer aus der lebendigen Gegenwart: David Friedrich Strauß wagte es vor zweihundert Jahren als junger Theologieprofessor Kritik an der Theologie des Christentums zu äußern; er tat das als gläubiger Christ und in der Annahme, dass seine verehrte Religion dies nicht nur aushalten, sondern auch stärken würde. Nun, der Scheiterhaufen war von den aufgeklärten Staaten zwar abgeschafft worden, aber der materiellen Vernichtung durch die evangelische Kirche entging er nur, weil er über genügend ererbtes Vermögen verfügte, das eine staatliche Gesetzgebung schützte. Durch das Verhalten der Kirche wurde er sogar reicher, reicher an Erkenntnis über christlich-kirchliche Nächsten- und Feindesliebe: Fluchtartig verließ er seinen Glauben und den dazugehörigen Nächstenliebeverein. Als Beispiel eines gegenwärtigen „Befreiungs“-Theologen sei Gerd Lüdemann genannt, den heute seine Universität vor der Ketzerverfolgung schützt.

Doch zurück zur Betrachtung einer Religion von außen. Der Muslim wird unsere Betrachtung seiner Religion von außen aus seiner Innenperspektive nicht verstehen können, genauso wie einem gläubigen Christen die Außenbetrachtung seiner religiösen Wahrheiten unmöglich erscheint. Aber genau darum wollen wir uns hier bemühen, nämlich die Religion Christentum soweit wie möglich von außen zu betrachten, und seien Sie versichert: Es ist möglich. Wir wollen das an drei Kernbegriffen dieser Religion fest machen: Gott, Seele, Ewigkeit. Aber wir wollen uns auch klarmachen, dass dies nur eine kurze Studie ist, nichts anderes als eine Aufforderung zum eigenen (Nach)Denken.

Gott

„…und alle Toten riefen: ‚Christus, ist kein Gott?‘ Er (‚eine hohe edle Gestalt mit einem unvergänglichen Schmerz‘) antwortete: ‚Es ist keiner‘.“ In Jean Pauls Alptraum „Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, dass kein Gott sei“, eingefügt in seinen Roman „Der Siebenkäs“ (1797), fährt der tote Christus fort: „Ich ging durch die Welten, ich stieg in die Sonnen und flog mit den Milchstraßen durch die Wüsten des Himmels; aber es ist kein Gott. Ich stieg herab, soweit das Sein seine Schatten wirft und schauete in den Abgrund und rief: ‚Vater, wo bist du?‘ Aber ich hörte nur den ewigen Sturm, den niemand regiert, und der schimmernde Regenbogen aus Westen stand ohne eine Sonne, die ihn schuf, über dem Abgrunde und tropfte hinunter. Und als ich aufblickte zur unermesslichen Welt nach dem göttlichen Auge, starrte sie mich mit einer leeren, bodenlosen Augenhöhle an, und die Ewigkeit lag auf dem Chaos und zernagte es und wiederkäute sich.“ Entsetzt stellt der nicht wiedererstandene, der immer noch tote Christus fest: „Wir sind alle Waisen, ich und ihr, wir sind ohne Vater.“ Umsonst hat er den schrecklichen Tod am Kreuz durchlitten, umsonst warten die Elenden, die Verzweifelten – die Menschen auf die göttliche Erlösung, denn: „Starres, stummes Nichts! Kalte, ewige Notwendigkeit! Wahnsinniger Zufall! …Wie ist jeder so allein in der weiten Leichengruft des Alls! Ich bin nur neben mir. – O Vater, o Vater! Wo ist deine unendliche Brust, dass ich an ihr ruhe?– Ach, wenn jedes Ich sein eigener Vater und Schöpfer ist, warum kann es nicht auch sein eigener Würgengel sein?“

Doch es gibt ein glückliches Erwachen aus dem grässlichsten aller Träume, aus dem Alptraum ohne Wiederkehr, aus dem Tod nach dem Sterben, und überglücklich fährt der Dichter fort: „Meine Seele weinte vor Freude, dass sie wieder Gott anbeten konnte.“ Und da ist es wieder, dies Glaube, Liebe, Hoffnung: „Auch mich kennst du, Unendlicher, und alle meine Wunden, und nach dem Tode empfängst du mich und schließest sie alle.“

Nur eine Generation nach Jean Pauls Alptraum, der doch nur als schauerlicher Kontrast zum befreienden (Wieder)Finden des erlösenden Glaubens in Szene gesetzt wird, kommt ein junger Theologe zu einem ganz anderen Ergebnis, wenn er das Thema Auferstehung Jesu zwar noch glaubend, aber schon wissenschaftlich betrachtet. 1835 veröffentlicht der erst siebenundzwanzig Jahre alte David Friedrich Strauß eine der revolutionärsten Arbeiten der Geschichte des deutschen Protestantismus: „Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet.“ Da nun aber der Scheiterhaufen, die Ultima Ratio des Bekenntnisses zur (Nächsten)Liebe und das überzeugendste Argument für diese Form von Religion, von Staats wegen abgeschafft worden war, überlebte der durchaus fromm glaubende Autor die Veröffentlichung seiner wissenschaftlichen Arbeit, die Albert Schweitzer für die bedeutendste des gesamten Jahrhunderts hielt. (Dass er – jedenfalls damals noch, bis ihn das Verhalten seiner Kirchenoberen eines Besseren belehrte – ein fest im Glauben stehender Christ war, teilte er mit all jenen Kritikern der „ewigen Wahrheiten“ der Kirche, die ebenfalls mehr intellektuelle Redlichkeit wagten und dies im allzu irdischen Höllenfeuer büßten.) Die Auferstehungsgeschichten des Neuen Testamentes werden von Strauß auf eine erstaunlich simple aber überzeugende Weise „kritisch bearbeitet“: Hier wird nicht z.B. medizinisch argumentiert, dass dies aus dem oder jenem Grunde gar nicht möglich sei, dass es allen bekannten Gesetzen der Wissenschaften widerspreche, nein, hier wird überhaupt nicht argumentiert, sondern es werden nur alle Textstellen des Neuen Testaments, die die Auferstehung Jesu betreffen, nebeneinander gehalten. Der Leser ist erst einmal nur verblüfft. Man kennt ja all diese Geschichten, aber so hat man sie noch nie gelesen. Denn es fällt sofort auf – und dazu bedarf es keinerlei philologischer oder sonstiger wissenschaftlicher Vorkenntnisse –, dass diese allesamt die Wahrheit beanspruchenden Berichte sich nicht nur widersprechen, sondern auch untereinander ausschließen. Diese Tatsache fällt beim üblichen Lesen dieser Geschichten, eingebunden in den jeweiligen umgebenden Text, kaum auf. Doch was ist die genauso simple Schlussfolgerung aus dieser schlichten Erkenntnis: Es handelt sich um verschiedene Einzelberichte, die sich unabhängig voneinander entwickelt haben, die nicht auf ein einheitliches Faktum zurückzuführen sind, sondern die im Laufe von Jahrzehnten jeweils einzeln entstanden sind, wie sie sich, anderen Wundergeschichten gleich, um herausragende charismatische Gestalten in dieser Zeit rankten, denn – wo Wunder geglaubt werden, da geschehen auch Wunder.

Unsere Zeit ist da schon weiter. Man denkt und fühlt anders, auch in diesen religiösen Dingen. Rudolf Bultmann, einer der bedeutendsten Neutestamentler des zwanzigsten Jahrhunderts, stellt ganz einfach und lakonisch zu dieser Frage fest: „Ein Mensch, der gestorben ist, wird nicht wieder lebendig“ (Punkt, Ende der Aussage). Auseinandersetzungen über dieses Thema fallen in die Zuständigkeit der Esoterik. Doch um so eifriger sind konservative Kirchenkreise bemüht, den Jean Paulschen Alptraum zu beschwören: Eine Welt ohne (christlichen) Glauben – ein entmenschtes Chaos! Nichts ist hier mehr lebenswert! Was nur die Evolution, die von weiten Kreisen der Christenheit immer noch als Teufelswerk der Wissenschaft verachtet wird, ohne Gott hervorgebracht hat, ist doch nur „von dieser Welt“, weiß nichts von der „anderen“, weiß nichts von Glaube, Liebe, Hoffnung etc. etc. Dass die Fähigkeit des Menschen zur Empathie, vulgo Nächstenliebe, ein Produkt eben dieser Evolution ist, weil sie einen enormen Vorteil für die Lebewesen ausmacht, die dazu fähig sind, diese Tatsache war schon im Altertum, lange vor dem Christentum, bekannt. Denn nur so konnte das Gemeinschaftstier Mensch überleben und sich zu höheren Lebens- und Gesellschaftsformen entwickeln, und auch nur so wird er sich in der Zukunft auf dieser Erde behaupten können, als „Übermensch“, der über den heutigen Menschen hinausgeht, der von dessen Niederträchtigkeit etliches zurück lässt.

Natürlich gibt es da diese ewigen Sinnsucher, sind sie doch identisch mit den Gottsuchern, denn ein Sinn ist in diesem metaphysischen Gewabere immer ein höherer, ein göttlicher. Wie befreit höre ich da Nietzsches Diktum: „Als ich des Suchens müde ward, erlernte ich das Finden.“ Wie erfrischend diesseitig ist es da zum Beispiel, von und über einen klugen Menschen namens Epikur zu lesen, dessen Weisheit uns die Angst vor dem Tode zu bewältigen, die vergebliche Sehnsucht nach einem endlosen Fortleben abzuschütteln hilft, die uns lehrt, dass dieses endliche Leben uns nur einmal, nicht vielfach vergönnt ist. Denn nur als ein zeitlich begrenztes und damit einmaliges hat dieses unser Leben einen tatsächlichen Wert. In der Ewigkeit löst es sich auf wie ein Tropfen Wein im Ozean – kein Geschmack, keine berauschende Wirkung mehr. Doch eigenartigerweise bleibt da trotz allem und wider jede Vernunft eine suggestive Wirkung, ähnlich derjenigen, die einem homöopathischen Arzneimittel innewohnt. Und diese flüstert dem in seiner Endlichkeit verunsicherten Menschen immerwährend geheimnisvoll raunend zu: Höre auf die Ewigkeit, die auf dich versprechend und drohend wartet, gehorche den Worten des Gottes, der dir alles verspricht, was auch immer du erhoffst, der alles kennt, was es auch sei, das du in den verstecktesten Winkeln deines Selbst ersehnst. Doch diese geheimnisvolle, diese das Göttliche offenbarende Stimme kommt aus – dir selbst. Darum kannst nur du sie hören. Darum bist du der Auserwählte, dem sich die göttliche Gnade zuwendet, darum spürst du die Liebe des Allerhöchsten ausgerechnet zu und in dir, weil es deine Liebe zu dir selbst ist.

Doch wir wollen uns hier nicht einmischen in das unendliche Gezänk, das vom Glauben und der Würde ihres hoch dotierten Amtes getragene Theologen und besserwisserische, neidische Leugner der Gottheit und Verächter ihrer mächtigen Vertreter auf Erden seit eh und je ausfechten. Stellen wir uns lieber die Frage, wie die Unsterblichen hierher kamen und was sie denn hier auf der Erde verloren haben. Doch versuchen wir, möglichst jede Form einer (metaphysischen) Spekulation auszugrenzen sowie fromme wie auch kritische Glaubensüberzeugungen zu meiden. Denn der Glaube versetzt nicht nur Berge, er erzeugt auch Berge, er erschafft ganze Welten, ja nie vorher gesehene Himmel dazu und Höllen gleich mit für diejenigen, die nichts von dem frisch geschaffenen Himmel wissen wollen.

Dass unsere Sinne uns täuschen können, dass sie sich häufig von dem leiten lassen, was wir (glaubend) erwarten, dass sie uns ein X für ein U vormachen, wenn uns das X genehmer ist, das ist mittlerweile eine allgemein bekannte Tatsache. Dass dieses Phänomen aber in besonderem Maße für die Dinge eines über (ewiges) Leben und (Höllen)Tod entscheidenden Glaubens gilt, davon lassen die Psychologen lieber ihre sündigen Finger, wollen sie nicht ihren nächsten Gutachterjob verlieren. Doch es gibt löbliche Ausnahmen: Hjalmar Sundén, Die Religion und die Rollen, Eine psychologische Untersuchung der Frömmigkeit (Berlin 1966). In den einleitenden Bemerkungen zu seinem Werk schildert der Autor ein höchst aufschlussreiches Geschehen, das er einem Polizeibericht entnommen hat: „Der Kriminalpolizei in einer Küstenstadt Nordschwedens wird aus Finnland gemeldet, zwei gefährliche Verbrecher hätten ihren Weg über den Bottnischen Meerbusen genommen und operierten nun wahrscheinlich an der schwedischen Küste. Eine Fahndungsgruppe rückt aus. Man entdeckt, dass in ein Sommerhäuschen eingebrochen worden ist, und dass die Diebe dort ein paar Gewehre und Munition gestohlen haben. Ein Ruderboot in der Nähe ist ebenfalls verschwunden; dieses wird jedoch auf einer Insel gefunden. Wahrscheinlich sind also die Diebe auf der Insel. Die Fahndungsgruppe geht an Land und untersucht das Gelände. Der Befehlshaber schreitet das eine Ufer ab. Plötzlich wirft er sich zu Boden und sucht hinter einem Stein Schutz. Er hat einen Mann gesehen, der ein Gewehr auf ihn gerichtet hat. Er wartet auf das Pfeifen der Kugeln, aber nichts geschieht. Da blickt er vorsichtig auf, ohne aber jemanden sehen zu können. Schließlich erhebt er sich und untersucht das Gelände genau. Außer Felsen und Steinen findet er nur eine Bierflasche, die mit der Öffnung auf ihn gerichtet daliegt. Vermutlich hat das Auge die runde Form der Öffnung registriert, und diese Form entsprach einem Bereitschaftsmoment, das der Befehlshaber im Verlauf der Fahndung aufgebaut hatte: der Mündung des Gewehrs, auf das seine Erwartung sich konzentriert hatte.“ Wohlgemerkt: Der Polizist „erkennt“ in der auf ihn gerichteten Bierflasche nicht nur die Lauföffnung eines Gewehres, nein er sieht die gesamte Waffe und auch noch den Schützen! Das als wirklich empfundene Erlebnis des Polizisten und das tatsächliche Geschehen in der Außenwelt sind zwar zwei völlig verschiedene Ereignisse, die aber als Gemeinsamkeit die Erwartung dieses Menschen haben, eine „glaubende“ Erwartung, die aus Wirklichkeit und Fiktion eine neue, eine „offenbarte Wahrheit“ machen.

Dieser Bericht bedarf heute kaum noch der Interpretation, doch man stelle sich einen Steinzeitmenschen vor und seinen angstvollen Blick auf die drohenden Wolken, aus denen die zornige Stimme des Donners hallt, und auf die feurig strafenden Blitze des Himmels, auf den Tod oder Heil verheißenden Kometen am nächtlichen Himmel, auf den wütenden Sandsturm aus den Tiefen der unendlichen Wüste, auf strafendes Feuer und vernichtende Lava des ausbrechenden Vulkans im Sinaigebirge – und Steinzeitmenschen sind auch heute noch die meisten unserer irdischen Mitbewohner! Doch zurück zu unserer Frage: Wie kommen die Unsterblichen oder der Allerhöchste überhaupt auf unsere vergängliche Erde? Was haben sie hier zuerst zwischen und später über uns denn eigentlich verloren, was wollen, was suchen sie hier überhaupt?