Der Frauenheld - Richard Ford - E-Book

Der Frauenheld E-Book

Richard Ford

4,5

Beschreibung

Der Frauenheld und Erzähler Martin Austin, ein Mann aus den Vororten Chicagos, Handlungsreisender und in seiner Freizeit Trainer eines Little-League-Baseballteams, ein ganz gewöhnlicher Amerikaner also, mit Ehefrau und Eigenheim, kinderlos, verliebt sich während einer Geschäftsreise in eine Pariserin „von eigenartiger Schönheit“. Mit ihr erhofft er sich eine romantische Affäre. Aber der sonst so selbstsichere, glatte Austin verliert sich bloß in einer blutleeren Romanze und schlittert - ohne es zu merken - auf direktem Weg in die Katastrophe. „Der Frauenheld“ ist eine brillant erzählte Novelle in der besten Tradition von Henry James: Ein Amerikaner in Paris, der nicht der Liebe, sondern einem krassen Fall von Selbsttäuschung erliegt.

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Hanser Berlin eBook

Richard Ford

Der Frauenheld

Aus dem Amerikanischenvon Martin Hielscher

Hanser Berlin

Die Originalausgabe erschien 1992

unter dem Titel The Womanizer bei Granta, London.

ISBN 978-3-446-24247-0

© Richard Ford 1992

Alle Rechte der deutschen Ausgabe

© Hanser Berlin im Carl Hanser Verlag München 2012

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Kristina

1 Austin bog in die kleine Straße ein – die rue Sarrazin –, an deren Ende er auf eine größere Straße zu stoßen hoffte, eine, die er kannte, die rue de Vaugirard möglicherweise, der er dann nur noch folgen mußte bis zu Josephine Belliards Appartement am Jardin du Luxembourg. Er wollte auf Josephines Sohn Leo aufpassen, während Josephine zu ihrem Anwalt ging, um Schriftstücke für die Scheidung von ihrem Ehemann zu unterschreiben, und dann wollte er Josephine zu einem romantischen Abendessen ausführen. Ihr Ehemann Bernard schrieb billige Romane und hatte ein skandalöses Buch veröffentlicht, in dem sie vorkam; er hatte ihren Namen benutzt und ihre Untreue in allen schlüpfrigen Details enthüllt. Der Roman war gerade erschienen, und jeder, den sie kannte, las ihn.

»Es ist nicht schlimm, so ein Buch zu schreiben«, hatte Josephine am ersten Abend gesagt, als Austin sie – es war gerade eine Woche her – kennengelernt hatte und auch schon mit ihr essen gegangen war. »Das ist seine Sache. Ich bin Lektorin. Okay? Aber. So was zu veröffentlichen? Nein. Tut mir leid. Mein Mann – er ist ein Arschloch. Was soll ich machen? Ich sag ihm Lebewohl.«

Martin Austin war aus Chicago. Er war verheiratet, aber kinderlos, und arbeitete für einen alten Familienbetrieb, der teures, besonders behandeltes Papier an ausländische Lehrbuchverlage verkaufte. Er war vierundvierzig Jahre alt und arbeitete seit fünfzehn Jahren für denselben Betrieb, die Lilienthal Company aus Winnetka. Er hatte Josephine Belliard bei einer Cocktailparty im Intercontinental Hotel kennengelernt, einem Empfang, den ein Verlag, mit dem er geschäftlich zu tun hatte, für einen seiner wichtigen Autoren gab. Er war nur aus Höflichkeit eingeladen worden, denn das Papier seiner Firma war nicht für das Buch dieses Autors verwendet worden, ein soziologisches Werk, das die Einsamkeit der arabischen Einwanderer in den Vorstädten anhand von komplizierten Differentialgleichungen berechnete. Austins Französisch war mangelhaft – er hatte es schon immer viel besser sprechen als verstehen können –, und demzufolge hatte er allein am Rande des Empfangs gestanden und Champagner getrunken, freundlich in die Runde geschaut und gehofft, irgendwo Englisch zu hören und jemanden zu finden, mit dem er sprechen konnte, statt an jemanden zu geraten, der ihn vielleicht Französisch reden hörte und daraufhin ein Gespräch mit ihm anfing, dem er nicht folgen konnte.

Josephine Belliard war Lektorin des Verlages. Sie war eine kleine, schmale, dunkelhaarige Französin in den Dreißigern und von einer eigenartigen Schönheit – ihr Mund war ein wenig zu breit und zu dünn, ihr Kinn wenig ausgeprägt, beinahe fliehend, aber sie besaß eine glatte, karamellfarbene Haut und dunkle Augen und dunkle Augenbrauen, die Austin anziehend fand. Er hatte sie an diesem Tag schon einmal kurz gesehen, als er den Verlag in der rue de Lille aufgesucht hatte. Sie hatte an ihrem Schreibtisch in einem kleinen, verschatteten Büro gesessen und schnell und angeregt auf englisch ins Telefon gesprochen. Er hatte zu ihr hineingeschaut, als er vorbeiging, aber nicht mehr an sie gedacht, bis sie beim Empfang auf ihn zukam, ihn anlächelte und auf englisch fragte, wie ihm Paris gefalle. Später an dem Abend waren sie essen gegangen, und schließlich hatte er sie im Taxi nach Hause gebracht, war dann allein ins Hotel zurückgekehrt und eingeschlafen.

Am nächsten Tag jedoch rief er sie an. Er dachte sich nichts Besonderes dabei, es war bloß ein zielloser, tastender Anruf. Vielleicht konnte er mit ihr schlafen – obwohl er gar nicht einmal daran dachte. Es war bloß eine Möglichkeit, eine unvermeidliche Option. Als er sie fragte, ob sie ihn gern Wiedersehen würde, sagte sie, das würde sie, wenn er es wollte. Sie sagte nicht, daß ihr der Abend zuvor gefallen habe. Sie erwähnte den Abend überhaupt nicht. Es war beinahe so, empfand Austin, als hätte er gar nicht stattgefunden. Aber es war eine Haltung, die er attraktiv fand; sie war schlau. Sie konnte die Dinge beurteilen. Es war ganz und gar nicht amerikanisch. In Amerika hätte eine Frau den Anschein erwecken müssen, daß es ihr wichtig war, wichtiger wahrscheinlich, als es ihr nach einer harmlosen Begegnung sein konnte.

An dem Abend waren sie in ein kleines, lautes italienisches Restaurant in der Nähe des Gare de l’Est gegangen, ein Lokal mit grellem Licht und Spiegeln an den Wänden, in dem das Essen nicht sehr gut war. Sie hatten einen leichten ligurischen Wein bestellt, sich ein bißchen betrunken und hatten ein langes und in gewisser Weise intimes Gespräch angefangen. Josephine erzählte ihm, daß sie im Vorort Aubervilliers, nördlich von Paris, geboren worden war und gar nicht schnell genug von zu Hause wegkommen konnte. Sie war auf die Universität gegangen und hatte Soziologie studiert, während sie noch bei ihren Eltern lebte, hatte jetzt aber keine Beziehung mehr zu ihrer Mutter oder ihrem Vater, der in den späten Siebzigern nach Amerika gezogen war und von dem man seither nichts mehr gehört hatte. Sie sagte, sie sei acht Jahre mit einem Mann verheiratet gewesen, den sie einmal sehr gerne mochte und mit dem sie ein Kind hatte, aber den sie nicht besonders liebte, und daß sie vor zwei Jahren eine Affäre mit einem anderen Mann, einem jüngeren Mann, begonnen hatte, die nur kurze Zeit dauerte und dann so endete, wie sie es erwartet hatte. Danach hatte sie gedacht, daß sie ihr Leben einfach mehr oder weniger dort wiederaufnehmen könnte, wo sie es unterbrochen hatte, ein lebenslanger bürgerlicher Wirrwarr von Kontinuität. Aber ihr Mann war über die Untreue seiner Frau schockiert und erbost und aus der gemeinsamen Wohnung ausgezogen, hatte seinen Job bei einer Werbeagentur aufgegeben, eine neue Lebensgefährtin gefunden und sich darangemacht, einen Roman zu schreiben, dessen einziges Thema die angenommenen Abenteuer seiner Frau waren – von denen er sich einige, wie sie Austin sagte, offensichtlich bloß ausgedacht hatte, von denen aber andere zu ihrem Amüsement überraschend genau nachgezeichnet waren.

»Es ist nicht mal, daß ich ihm einen Vorwurf mache, Sie wissen?« hatte Josephine gesagt und gelacht. »Solche Dinge gibt es nun mal. Sie passieren. Andere Leute machen, was ihnen gefällt.« Sie sah aus dem Restaurantfenster auf die Reihe kleiner Autos, die entlang der Straße parkten. »Na und?«

»Aber was geschieht jetzt?« sagte Austin, der versuchte, eine Stelle in der Geschichte zu finden, die ihm Einlaß gewähren würde. Einen Satz, eine Nische, irgend etwas, von dem man sagen konnte, daß es sein näheres Interesse einlud – aber solch einen Satz gab es nicht.

»Jetzt? Ich lebe zusammen mit meinem Kind. Allein. Das ist all mein ganzes Leben.« Unerwartet sah sie zu Austin auf, und ihre Augen öffneten sich weit, als wolle sie sagen: Was gibt es denn sonst noch? »Was noch sonst?« sagte sie tatsächlich.

»Ich weiß es nicht«, sagte Austin. »Glauben Sie, daß Sie wieder zu Ihrem Mann zurückkehren?« Das war eine Frage, die er nicht ungern stellte.

»Ja. Ich weiß nicht. Nein. Vielleicht«, sagte Josephine, schob die Unterlippe leicht vor und hob ihre Schulter in einer Geste der Unbekümmertheit, die Austin als für Französinnen typisch empfand. Bei Josephine störte sie ihn nicht, aber gewöhnlich mochte er es an Menschen nicht, wenn sie diese Geste vorgaben. Sie war offenkundig falsch und wurde immer bei wichtigen Angelegenheiten eingesetzt, von denen eine Person glauben machen wollte, sie seien ihr nicht wichtig.

Josephine wirkte aber nicht wie eine Frau, die eine Affäre hatte und dann jemandem, den sie kaum kannte, nüchtern davon erzählte (sie wirkte eher wie eine unverheiratete Frau, die nach jemandem suchte, für den sie sich interessieren konnte). Offensichtlich war sie komplizierter, vielleicht sogar schlauer, als er gedacht hatte, und ziemlich realistisch, was das Leben anging, wenn auch etwas desillusioniert. Wahrscheinlich konnte er sie, wenn er die Frage der Intimität mit Nachdruck angehen wollte, mit auf sein Zimmer nehmen – etwas, was er schon früher auf Geschäftsreisen getan hatte, und zwar, wenn auch nicht sehr häufig, doch häufig genug, daß es jetzt, zumindest für ihn, nichts Außergewöhnliches oder Bedeutungsvolles wäre. Gemeinsam an einer unerwarteten Intimität teilzuhaben, konnte vielleicht bewirken, daß sie beide ihre Leben besser in den Griff bekämen.

Dennoch umgab ein gewisses Maß an Unsicherheit eben diesen Gedanken – einen Gedanken, den er so gewohnt war, daß er nicht von ihm lassen konnte. Vielleicht war es so, daß, obwohl er sie mochte, ihre Offenheit und Direktheit im Umgang mit ihm mochte, Intimität gar nicht das war, was er wollte. Er fand sie auf eine überraschende Weise ansprechend, aber körperlich fühlte er sich nicht zu ihr hingezogen. Und vielleicht, dachte er, während er sie über den Tisch hinweg ansah, waren Intimitäten mit ihm das letzte auf der Welt, was sie interessierte. Sie war Französin. Er wußte nichts über Französinnen. Eine Illusion potentieller Intimität war wahrscheinlich das, was alle französischen Frauen ausstrahlten, und jeder wußte es. Möglicherweise interessierte sie sich überhaupt nicht für ihn und verbrachte bloß irgendwie die Zeit. Es gefiel ihm sogar, eine so vielschichtige Betrachtung anzustellen.

Sie beendeten ihr Essen in einem nachdenklichen, bedeutungsschweren Schweigen. Austin fühlte sich bereit, ein Gespräch über sein eigenes Leben zu beginnen – über seine Ehe, ihre Dauer und Intensität, über seine Gefühle sich selbst und seiner Ehe gegenüber. Er wollte gern über die beklemmende, nicht recht zu begründende Empfindung sprechen, die er kürzlich gehabt hatte, nämlich, daß er nicht genau wußte, wie er die nächsten fünfundzwanzig Jahre seines Lebens so ereignisreich und bedeutungsvoll gestalten sollte wie die vorausgegangenen fünfundzwanzig, eine Empfindung, die mit der Hoffnung einherging, daß es ihm nicht an Mut fehlen würde, wenn sein Mut gefordert war, und mit der Gewißheit, daß jeder sein Leben ganz und gar in den eigenen Händen hielt und gezwungen war, mit den eigenen Ängsten und Fehlern zu leben, etc. Nicht, daß er mit Barbara unglücklich war oder daß ihm irgend etwas fehlte. Er war nicht der auf übliche Weise verzweifelte Mann, der sich gerade aus einer Ehe löste, die nur noch langweilig war. Nein, Barbara war die interessanteste und schönste Frau, die er kannte, der Mensch, den er am meisten bewunderte. Er suchte nicht nach einem besseren Leben. Er suchte überhaupt nichts. Er liebte seine Frau, und er hoffte, Josephine Belliard eine andere menschliche Perspektive bieten zu können als die, die sie vielleicht gewohnt war.

»Niemand denkt deine Gedanken für dich, wenn du abends den Kopf auf dein Kissen legst«, war eine ernüchternde Redewendung, die Austin oft an sich selbst oder die wenigen Frauen richtete, mit denen er seit seiner Heirat zusammengewesen war – und auch an Barbara. Er war bereit, ein offenes Gespräch dieser Art zu beginnen, wenn Josephine ihn nach seinem Leben fragte.

Aber das Thema kam nicht zur Sprache. Sie fragte ihn nicht nach seinen Gedanken oder sonst in irgendeiner Weise nach seiner Person. Sie redete nicht einmal über sich selbst. Sie redete über ihren Job, über ihren Sohn Leo, über ihren Ehemann und über Freunde von ihnen. Er hatte ihr erzählt, daß er verheiratet war. Er hatte ihr sein Alter genannt, erzählt, daß er an der University of Illinois studiert hatte und in der Kleinstadt Peoria aufgewachsen war. Aber sie schien ganz zufrieden, nicht mehr zu wissen. Sie war sehr freundlich und schien ihn zu mögen, aber sie ließ sich kaum auf ihn ein, was er ungewöhnlich fand. Sie schien ernstere Dinge im Kopf zu haben und das Leben ernst zu nehmen – eine Eigenschaft, die Austin mochte. Es machte sie sogar auf eine Weise anziehend für ihn, wie sie es anfangs nicht gewesen zu sein schien, als er nur darüber nachgedacht hatte, wie sie aussah und ob er mit ihr schlafen wollte.

Aber als sie nach draußen zu ihrem Wagen gingen, den Bürgersteig entlang, an dessen Ende die hellen Lichter des Gare de l’Est und des um elf Uhr abends von Taxis wimmelnden Boulevard Strasbourg zu sehen waren, hakte Josephine sich bei ihm unter und schmiegte sich an ihn, legte die Wange an seine Schulter und sagte: »Es ist alles so verwirrend für mich.« Und Austin fragte sich: Was war alles so verwirrend? Nicht er. Er war nicht verwirrend. Er hatte beschlossen, ihr ein Begleiter mit besten Absichten zu sein, und das war etwas sehr Ehrenwertes unter diesen Umständen. Es gab schon genug Verwirrung in ihrem Leben. Ein abwesender Ehemann. Ein Kind. Allein durchkommen zu müssen. Das war genug. Dennoch löste er seinen Arm aus ihrem Griff, legte ihn ihr um die Schulter und zog sie dicht an sich, bis sie ihren kleinen schwarzen Opel erreichten und einstiegen, wo die Berührungen dann aufhörten.

Als sie sein Hotel erreichten, ein ehemaliges Kloster mit einem von Mauern umgebenen Sonnenhof mit Garten, zwei Blocks von der großen beleuchteten Kreuzung von St. Germain und der rue de Rennes entfernt, hielt sie den Wagen an und saß da und starrte geradeaus, als warte sie darauf, daß Austin ausstieg. Sie hatten nicht davon gesprochen, sich noch einmal zu treffen, und er sollte in zwei Tagen abreisen.

Austin saß im Dunkeln, ohne zu sprechen. An der nächsten Ecke der verschatteten Straße befand sich eine Polizeiwache. Ein Polizeitransporter war mit Blaulicht vorgefahren, und mehrere uniformierte Beamte mit leuchtenden weißen Schulterkoppeln führten eine Reihe von Männern in Handschellen, die die Köpfe gesenkt hielten wie reuige Sünder, in das Gebäude. Es war April, und der Straßenbelag schimmerte in der feuchten Frühlingsluft.

Dies war natürlich der Moment, um sie zu bitten, mit ihm hineinzukommen, wenn es je zu so etwas kommen sollte. Aber es war auch klar, daß das so weit wie überhaupt nur denkbar von jeder Möglichkeit entfernt war, und jeder von ihnen wußte das. Und abgesehen davon, daß er sich das innerlich eingestand, dachte Austin auch nicht wirklich daran, es zu versuchen. Obwohl er irgend etwas Gutes tun wollte, irgend etwas Ungewöhnliches, das ihr gefallen würde und sie beide wissen ließe, daß sich heute abend etwas ereignet hatte, das vom Durchschnittlichen leicht abwich, ein Ereignis, an das sich beide gerne erinnern würden, wenn sie alleine im Bett lagen, wenn auch in Wirklichkeit nicht viel passiert war.

Seine Gedanken arbeiteten daran, was dieses außergewöhnliche Etwas wohl sein könnte, das, was man tat, wenn man nicht mit einer Frau schlief. Eine Geste. Ein Wort. Was? Alle Gefangenen waren schließlich in die Polizeiwache geführt worden, und die Beamten waren wieder in ihren Transporter gestiegen und die rue de Mezières hinaufgefahren, wo Austin und Josephine Belliard in der dunklen Stille saßen. Sie wartete offensichtlich darauf, daß er ausstieg, und er befand sich im Zwiespalt darüber, was er tun sollte. Obwohl es ein Moment war, den er genoß. Es war jener einmalige Augenblick, bevor das Handeln einsetzt, wenn alles Möglichkeit ist, bevor das Leben diese Richtung einschlägt oder jene – hin zu Reue oder Vergnügen oder Glück, hin zu einer Art von Dauer oder zu einer anderen. Es war ein wunderbarer, verführerischer, wichtiger Augenblick, einer, der es wert war, daß man ihn bewahrte, und er wußte, sie wußte es ebenso wie er und wollte, daß er so lange anhielt, wie er es wollte.

Austin saß da mit den Händen im Schoß, fühlte sich groß und ungeschlacht in dem winzigen Auto, lauschte seinem eigenen Atem und war sich bewußt, daß er sich an der Schwelle zu der, wie er hoffte, richtigen – richtigsten – auszuführenden Geste befand. Sie hatte sich nicht bewegt. Der Motor lief, die Scheinwerfer beleuchteten trüb die leere Straße, die Armaturen ließen den Raum im Wageninnern grünlich schimmern.

Abrupt überbrückte er den Abstand zwischen ihnen – so kam es Austin jedenfalls vor –, nahm Josephines kleine, weiche, warme Hand vom Lenkrad und hielt sie zwischen seinen beiden großen, ebenfalls warmen Händen wie ein Sandwich, aber auch so, daß es beschützend wirken konnte. Er würde sie beschützen, sie vor irgendeinem noch ungenannten Leid bewahren oder vor ihren eigenen verborgenen Bedürfnissen, zunächst einmal jedoch vor seiner eigenen Person, denn er verstand, daß es mehr ihre als seine Zurückhaltung war, die sie beide jetzt auf Abstand hielt, sie davon abhielt, den Wagen zu parken und ins Hotel zu gehen und die Nacht in den Armen des anderen zu verbringen.

Er drückte ihre Hand fest und ließ dann locker.

»Ich würde dich gerne irgendwie glücklich machen«, sagte er mit aufrichtiger Stimme und wartete dann, während Josephine nichts sagte. Sie zog ihre Hand nicht weg, aber sie antwortete auch nicht. Es war, als würde das, was er gesagt hatte, nichts bedeuten oder als hörte sie ihm möglicherweise gar nicht zu. »Das ist doch nur menschlich«, sagte Austin, als ob sie doch etwas entgegnet hätte, als ob sie »Warum?« oder »Versuch’s nicht« oder »Das könntest du gar nicht« oder »Dazu ist es zu spät« gesagt hätte.

»Was?« Sie sah ihn zum ersten Mal an, seit sie angehalten hatten. »Was ist es?« Sie hatte ihn nicht verstanden.

»Es ist doch nur menschlich, jemanden glücklich machen zu wollen«, sagte Austin und hielt ihre warme, beinahe schwerelose Hand. »Ich mag dich sehr gern, das weißt du.« Das waren, so gewöhnlich sie sich auch anhörten, die perfekten Worte.

»Ja. Nun. Wofür?« sagte Josephine mit kalter Stimme. »Du bist verheiratet. Du hast eine Frau. Du lebst weit weg. In zwei Tagen, drei Tagen, ich weiß nicht, wirst du wegfahren. Also. Wofür magst du mich?« Ihr Gesicht wirkte undurchdringlich, als ob sie mit einem Taxifahrer sprach, der gerade etwas unangebracht Vertrauliches zu ihr gesagt hatte. Sie ließ ihre Hand in seiner Hand, sah aber weg, geradeaus.