Der Gemeine Lumpfisch - Ned Beauman - E-Book

Der Gemeine Lumpfisch E-Book

Ned Beauman

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Beschreibung

Mark Halyard arbeitet als Umweltverträglichkeitskoordinator bei der Brahmasamudram Mining Company, die im Tiefseebergbau tätig ist und versehentlich den Lebensraum eines wenig bekannten Putzerfischs, des Gemeinen Lumpfischs, vernichtet hat. Um die Zerstörung des Planeten einzudämmen, sind Unternehmen gesetzlich verpflichtet, für viel Geld Auslöschungszertifikate zu erwerben, falls sie an der Ausrottung einer Spezies mitwirken. Allerdings hat sich Halyard mit Leerverkäufen von Lumpfisch-Zertifikaten verspekuliert. Nachdem er auf fallende Preise gewettet hat, stellt ein mysteriöser Hackerangriff auf diverse Biobanken, in denen Gewebeproben und Genomdaten gefährdeter Arten gespeichert werden, das System auf den Kopf. Alle Back-ups für den Gemeinen Lumpfisch sind futsch, und der Preis für Lumpfisch-Zertifikate geht durch die Decke. Halyards einzige Hoffnung ist, mithilfe der Lumpfisch-Expertin Karin Resaint irgendwo ein Exemplar des Fischs aufzutreiben, damit die Spezies nicht als ausgerottet gilt … Ned Beaumans neuer Roman ist Literatur mit hohem Drehmoment, ein Buch voller Kapriolen, rasant und mit großer Fabulierfreude erzählt. Noch nie wurden die wichtigen Themen unserer Zeit so humorvoll auf den Punkt gebracht wie hier.

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Seitenzahl: 481

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Ned Beauman

Der Gemeine Lumpfisch

Roman

Aus dem Englischen vonMarion Hertle

Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel

»Venomous Lumpsucker« bei Sceptre Books, London.

© Ned Beauman 2022

© Verlagsbuchhandlung Liebeskind 2023

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: Florilegius / Alamy Stock Photo

Umschlaggestaltung: Robert Gigler, München

eISBN 978-3-95438-162-3

Inhalt

HINWEIS DES AUTORS

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Epilog eins

Epilog zwei

Jedes Lebewesen – jeder Fisch, jeder Käfer, jedes Säugetier und jeder Baum –, das heute auf der Erde existiert, ist die Spitze einer Flamme des Lebens, die seit Milliarden von Jahren leuchtet … ein Phänomen, das sich durch einen unergründlichen Strom von Ereignissen entwickelt hat und im Universum einzigartig und unwiederholbar ist.

Edward L. Cord, The Value of Species

Ich schreibe, als könntest Du verstehen,

Und ich könnte es aussprechen.

Man muss immer etwas vorgeben

Unter den Sterbenden.

W. S. Merwin, For a Coming Extinction

HINWEIS DES AUTORS

Dieser Roman spielt in der nahen Zukunft. Um den Leserinnen und Lesern das Kopfrechnen zu ersparen, setze ich voraus, dass der Euro seinen Wert von 2022 beibehalten hat, ganz ohne Inflation. Das ist der einzige Punkt, an dem die Geschichte vom tatsächlichen Lauf der Dinge abweicht.

1

In einem Primatenforschungsinstitut in Leipzig wurde ein Wissenschaftler dabei ertappt, wie er die Überwachungskameras im Inneren des Geheges eines Orang-Utans abschaltete, der zweitausend Worte in Zeichensprache beherrschte. Er hatte einen Behälter mit Trockenpflaumen dabei, dem Lieblingssnack des Orang-Utans, und diese Trockenpflaumen gerieten schon bald unter Verdacht; vielleicht weil sich der Wissenschaftler bei der Befragung irgendwie verraten hatte oder weil beobachtet wurde, wie er des Öfteren nervös zu dem Behälter blickte. Also wurden die Trockenpflaumen untersucht, und in einer davon war eine Pille versteckt. Tests ergaben, dass die Pille eine 4-mg-Dosis der erinnerungshemmenden Droge Bamaluzol enthielt.

Mit anderen Worten, er hatte vorgehabt, dem Orang-Utan Roofies unterzujubeln.

Als die Geschichte aufflog, liefen fast alle Vermutungen auf sexuelle Absichten des Wissenschaftlers hinaus, was weltweit zur Steilvorlage für Comedians wurde. Aber Karin Resaint, die den Forscher bei einer Diskussionsrunde erlebt hatte – und sich an seine Bemerkung über einen »unbeschreiblichen Verlust« erinnerte –, begriff auf der Stelle, dass der Wissenschaftler nicht Sex mit dem Orang-Utan im Sinn hatte. Sondern etwas weitaus Extremeres.

Sie wollte gerade die letzten Fische in die Luft schicken, als Abdi an Deck gerannt kam, um sie zu warnen. Er zeigte nach Norden in die Dämmerung. Eine Weile zuvor hatte Resaint etwas am Horizont bemerkt, das sie für eine einzelne Gewitterwolke gehalten hatte; der Nebel verdichtete sich, während mit der Dunkelheit schlechteres Wetter aufzog. Aber jetzt, da die Wolke näher gekommen war, konnte sie die drei hohen Pfeiler an der Unterseite erkennen, wie Schlote, die dem Meer die Wellen absaugten. Ein Spindrifter. Der erste in ihrer gesamten Zeit im Baltikum.

Ihre Frachtdrohne sollte eigentlich direkt nach Norden fliegen. So würde sie geradewegs den Kurs des Spindrifters kreuzen, wie Resaint klar wurde, und der würde die Drohne aus der Luft schlagen. Der Sturm, der um einen Spindrifter herum tobte, war nicht mit einem natürlichen Sturm zu vergleichen. Er war gewaltig, nicht an Kraft, sondern hinsichtlich seiner Geometrie. Lummen und Silbermöwen, die den grimmigsten Winterstürmen völlig ungerührt begegneten, wurden herumgeschleudert wie Altpapier. Derartige Winde waren ihren Flügeln fremd. Und diese Drohne, die in der Regel bei Starkwind einigermaßen zurechtkam, würde nicht einmal erahnen, was sie vom Himmel geholt hatte.

Auf dem Bildschirm ihres Telefons leuchtete immer noch die Flugbahn der Drohne auf, also schaltete sie das Overlay an, das ihr die Schiffe in der Nähe anzeigte. Abdi deutete auf den Spindrifter, der auf der Karte nur ein weiterer, anonymer weißer Punkt war. Sie veränderte die Flugbahn, sodass die Drohne in sicherer Distanz östlich daran vorbeifliegen würde.

»Danke«, sagte sie und berührte seinen Arm. Sie sah sich den Kurs des Spindrifters noch einmal auf der Karte an. »Irgendwie sieht es aus, als würde er direkt auf uns zukommen.«

»Er wird uns nicht rammen«, sagte Abdi. »Wie nah er uns kommt, dürfte ihm aber ziemlich egal sein. Jedenfalls willst du dann wirklich lieber drinnen sein. Eindeutig.«

Die Varuna ist immerhin fast so groß wie ein Flugzeugträger, dachte Resaint, und wahrscheinlich würde der Spindrifter bei einer Kollision den Kürzeren ziehen. Was irgendwie auch schade war, denn auf gewisse Weise gefiel ihr die Vorstellung, wie die Varuna in Scheiben geschnitten wurde. Vielleicht nicht unbedingt, während sie an Bord war, trotzdem war das hier ein Schiff, das es verdiente zu sinken. Wenn der Spindrifter es irgendwie außer Gefecht setzen könnte, wäre das eine deutlich effektivere Abendbeschäftigung, als ein paar Seevögel in die Irre zu schicken.

Sie murmelte in ihr Telefon und die Rotoren der Drohne begannen zu surren. Die Drohne hob von Deck ab, vier Kabelstränge baumelten an ihrer Unterseite, bis sie sich spannten und dann auch die Fracht in die Luft hoben: einen Plastiktank, in dem zehn Gemeine Lumpfische in ca. 250 Liter Meerwasser herumschwammen. Die Drohne stieg weiter, bis der Tank über die Reling und um das Deck der Varuna herumfliegen konnte und Resaint Spritzer wie von Weihwasser auf ihrer Stirn spürte, weil Wellen über die Seite schlugen. Dann beschleunigte die Drohne langsam und flog Richtung Norden über das Meer davon, wie ein Storch mit einem besonders wertvollen Baby in der Schlinge.

Die Drohne sollte etwa zwanzig Kilometer bis zum Bottnischen Meerbusen zurücklegen, wo sich die Gemeinen Lumpfische zur Paarungszeit versammelten, und dort den Tank leeren. Theoretisch hätte Resaint nach der Beendigung ihrer Experimente die Fische über die Reling der Varuna ins Wasser lassen können, damit sie sich selbst ihren Weg nach Hause suchten. Sie konnten sehr gut navigieren. Aber dieses Risiko wollte Resaint nicht eingehen. Es gab nur noch so wenige. Jeder Einzelne war kostbar. Weshalb es ein besonders schändliches Missgeschick gewesen wäre, wenn der Spindrifter die Drohne so hart getroffen hätte, dass sich die Fische beim Aufschlag im Wasser die Wirbel gebrochen hätten.

»Und das war’s?«, fragte Abdi. »Bist du fertig?« Abdi war ein Servicetechniker, der ihr manchmal bei der Ausrüstung zur Hand ging, und sie hatten sich in den drei Monaten auf der Varuna angefreundet. Er war sechsundzwanzig und sie zweiunddreißig. Alle paar Wochen fuhr er nach Malmö zurück. Dort hatte er eine Freundin, eine Pflegehelferin, die ganz in Ordnung zu sein schien.

»Ich muss nur noch den Rest vom Labor zusammenpacken.«

»Und morgen reist du ab?« Er sprach mit neutraler Stimme und sah sie kaum an, was natürlich unbestreitbar ein Zeichen dafür war, dass er bei diesem Thema überhaupt nichts empfand, weder in die eine noch in die andere Richtung.

»Ja.« In diesem Augenblick gingen alle orangefarbenen Flutlichter der Varuna gleichzeitig an, obwohl der Himmel noch gar nicht dunkel war. Die Beleuchtung dieser Industrieschiffe war immer so grell, dass sie aus der Ferne aussahen, als wäre Weihnachten.

»Wirst du die Fische vermissen?«, fragte Abdi. Und dann: »Warum lachst du?«

Sie lachte, weil Abdi »Wirst du die Fische vermissen?« im zackigen Ton einer weiteren Höflichkeitsfloskel gesagt hatte. »Danach fragt nie jemand. Ja, das werde ich. Aber ich hoffe, dass ich sie bald wiedersehe.« Mit »sie« meinte sie die Spezies im Allgemeinen – Cyclopterus vulgaris –, nicht ihre eigentlichen Versuchsexemplare. Die waren ihr so sehr ans Herz gewachsen, dass sie sich darüber freuen würde, sie wiederzusehen, aber das würde natürlich nicht geschehen. Ihre vorübergehende Versetzung in die Welt der Menschen war vorbei.

»Wirklich?«

»Ja. Es fühlt sich an, als hätte ich gerade erst angefangen.«

»Wow, okay, also …?«

Sie antwortete nicht, sondern neigte nur leicht den Kopf in seine Richtung. Sie wusste, worauf er hinauswollte, und die Antwort war Ja.

Vielleicht war schon diese kleine Kopfbewegung ein Fehler. Nie über Erkenntnisse sprechen, bevor der Bericht eingereicht ist – ein ehernes Gesetz in ihrer Branche. Ganz sicher nicht mit dem Auftraggeber, oder mit jemandem, der für den Auftraggeber arbeitet – und noch viel weniger, wenn diese Erkenntnisse dem Auftraggeber nicht gefallen könnten. Diese Verschwiegenheitspflicht kam ihr ganz gelegen, sie hatte noch nie zu den Menschen gehört, die ihre Tage nur mit einem bereitwilligen Zuhörer als Pansen verdauen konnten. Abgesehen davon gab es auch noch andere Gründe für ihr Interesse am Gemeinen Lumpfisch, die nichts mit ihrer Arbeit zu tun hatten, Gründe, von denen niemand wusste, weshalb sie noch weniger über das ganze Thema sprechen wollte. Nicht mal mit Abdi.

Offiziell war sie im Auftrag der Brahmasamudram Mining Company auf der Varuna, um zu evaluieren, ob der Gemeine Lumpfisch eine gewisse »Intelligenzschwelle« überschritt – ein Wort, wissenschaftlich und philosophisch so umstritten und abgedroschen, dass es beinah nutzlos war, aber dennoch Konsequenzen für ein Unternehmen hatte, das an der Brutstätte einer Spezies Tiefseebergbau betreiben wollte. Nun konnte Abdi durch ihre Kopfbewegung erraten, was in ihrem Bericht stehen würde. Aber das hatte er vielleicht ohnehin schon. An manchen Abenden war wohl kaum zu übersehen, wie aufgeregt sie über die Ergebnisse des Tages in ihrem Labor gewesen war. Kein Wissenschaftler setzt sich abends strahlend an den Esstisch, weil er herausgefunden hat, dass ein Fisch nichts Besonderes ist.

»Willst du den Abschluss feiern?«, fragte Abdi.

»Feiern?«

Abdi zögerte, suchte nach Vorschlägen. Es gab nicht gerade viele Möglichkeiten, auf einem Förderschiff einen draufzumachen. Resaint hatte eine Flasche Absolut in ihrem Labor, aber Abdi war es aufgrund seiner Religion und des Biosensors, den er für Brahmasamudram am Unterarm tragen musste, untersagt zu trinken. Sonst gab es noch Karaoke, das sehr beliebt war an Bord. Aber für Resaint verbot sich eine solche Veranstaltung wegen ihrer tief verwurzelten Ansicht, die grosso modo besagte, dass Karaoke mit Steinigung bestraft gehörte. »Kuchen?«, fragte er schließlich. »Wir könnten Kuchen essen.«

Die Kantine hatte tatsächlich einen ganz ordentlichen Kladdkaka, den schweren schwedischen Schokoladenkuchen. »Ich glaube, ich bleibe noch ein bisschen hier draußen«, sagte Resaint. »Es ist meine letzte Nacht auf See. Aber wir sehen uns später.«

»Ich besorge dir ein PFD«, sagte er und meinte damit eine Rettungsweste.

Resaint winkte ab. »Ich komme schon zurecht.« Eigentlich hätte sie an Deck einen Schutzhelm tragen müssen, auch wenn keine Gefahr bestand, dass ihr etwas anderes als Möwenscheiße auf den Kopf fiel, aber in ihrem Fall nahm man die Sicherheitsvorschriften nicht ganz so genau.

Nachdem Abdi wieder reingegangen war, stand Resaint an der Reling und schaute nach Norden, die Kapuze ihres Anoraks hochgezogen, um sich gegen den Wind zu schützen. Die Ostsee war eines der schmutzigsten Meere der Welt, voller Verhütungshormone, Abwässern von Hühnerfarmen und sogar Nervengas aus alten Munitionsdepots, aber von einem solchen Aussichtspunkt aus konnte man das alles leicht vergessen. Das letzte Licht des Sonnenuntergangs war im Dunst verschwunden und das Meer und der Himmel sahen aus wie dunkles Eisen. Ihre Drohne war bereits außer Sichtweite, aber der Spindrifter war jetzt so nah, dass sie die gezackten Rotorblätter ausmachen konnte, die wie drei gigantische Knochenwirbel über den Ozean glitten, mit roten Warnleuchten an ihren Spitzen, fünfzig Meter über der Wasserfläche.

Ursprünglich waren ein paar Tausend Spindrifter geplant gewesen, über den ganzen Planeten verteilt. Ihre Rotoren sahen aus wie Masten, waren aber eigentlich eher Segel, weil sie das Gefährt nur dadurch vorantrieben, dass sie sich dem Wind entgegenstellten. Aber da sie sich immer mit Hochgeschwindigkeit drehten, machten sie sich den Wind indirekt zunutze, wie ein Tennisball beim Slice. Durch die Drehung pumpten sie Meerwasser in den Himmel, das, durch ein Silikonnetz geblasen, einen Nebel aus so winzigen Tröpfchen erzeugte, die ein Grippevirus wahrscheinlich als feinen Nieselregen bezeichnet hätte. Die Wolken, die sich um diese Tröpfchen bildeten, waren weicher als gewöhnlich, mehr Kaschmir als Baumwolle, und deshalb auch weißer, wodurch sie Sonnenstrahlen besser reflektierten. Würden also viele dieser Sprühfahrzeuge genügend Wolken erzeugen, könnte man die Erderwärmung stoppen.

Die Spindrifter hatten damals für viel Aufregung gesorgt. Leider zeigten sie nach einigen Tests gewisse Marotten, die keine der Computersimulationen vorausgesehen hatte. Sie erzeugten in geringer Höhe gespenstische Stürme, die außer Seevögel niemanden groß kümmerten; allerdings schienen sie auch die Niederschlagsmuster zu stören, selbst in unerklärlich weiter Entfernung. Und die Niederschlagsmuster wurden ohnehin schon durch die Mangel gedreht, und es wäre nicht fair gewesen, ihnen noch mehr zuzumuten. Das konnte ihnen den Rest geben. Daraufhin verflüchtigte sich die ganze Aufregung wie eine Feinstaubwolke, die Optimisten wandten sich neuen Perspektiven zu und die Armada wurde nie losgeschickt. Doch mehrere Firmen hatten bereits die ersten Spindrifter hergestellt (der Wettbewerb zur Rettung der Welt gehörte zu den härtesten überhaupt), und ein paar dieser Firmen machten die Schotten dicht, ohne ihre Prototypen je vom Wasser zu nehmen. Es waren also noch etwa ein Dutzend Spindrifter auf der Ostsee unterwegs. Unbemannt, selbst navigierend, vom Wind angetrieben, aus fast unzerstörbaren Polymeren gebaut, würden diese Geisterschiffe immer weitersegeln, bis ein Rotor abriss oder ein Kurzschluss auftrat – aber das konnte Jahrzehnte dauern.

So sah also die neue Fauna dieses vergifteten Meeres aus. Keine Ringelrobben mehr, keine Schweinswale, keine Samtenten, keine europäischen Aale, keine Engelshaie und so gut wie keine Gemeinen Lumpfische. Aber ein blühendes Ökosystem aus gesichtslosen Lasttieren: Frachtdrohnen, Spindriftern und autonomen Minenfahrzeugen (AMF), die vierzig Faden tief unter ihrem Mutterschiff Varuna den Meeresboden nach Ferromanganknollen absuchten.

Mittlerweile war der Spindrifter kaum mehr einen Kilometer entfernt. Der Wind, der Resaint ins Gesicht wirbelte, war nass und reinigend. Sie zog den Reißverschluss ihrer Jacke bis zur Nase zu und spannte die Kordel an ihrer Kapuze. In ein paar Minuten würde der Spindrifter die Varuna passieren, und eingedenk Abdis Warnung sollte sie jetzt besser reingehen. Aber etwas hatte ihre Aufmerksamkeit auf sich gezogen.

Am Fuße des Spindrifters, der wie ein Katamaran auf zwei Rümpfen dahinglitt, konnte sie einen weißen Schimmer ausmachen. Sie dachte an Meeresleuchten, phosphoreszierendes Plankton, das manchmal nachts aus den Wellen schien.

Aber das war es nicht. Das Licht wirkte künstlich.

Und es flackerte wie eine Kerzenflamme; außerdem brauchte ein unbemanntes Wasserfahrzeug, abgesehen von den Warnlichtern auf den Rotoren, kein Licht.

Und dann wurde Resaint klar, dass sie zu lange gewartet hatte. Der Sturm war da.

Der Spindrifter erzeugte keinen eigenen Wind, aber die sich zwischen seinen riesigen Rotoren schlängelnden Luftströme erschufen zusammen mit dem Salznebel, den er ausspuckte, ein Wurmloch im Wetter, eine Anomalie, die harmlose kleine Brisen anlockte und wütende Böen aus ihnen machte. Ihre Jacke würde sie auch in einem Monsun trocken halten, aber jetzt war Resaint bis zum unteren Rücken durchnässt, als wäre das Wasser nicht durch die Kapuze oder die Ärmel eingedrungen, sondern direkt durch das Nylon gesickert. Sie fühlte sich wie Kaugummi in einem Düsenstrahl, wie eine lose Schraube in einem Turbinentriebwerk. Auch wenn sie sich fast sicher war, dass der Wind nicht die Kraft hatte, sie von Bord zu schleudern, wollte sie die Reling trotzdem nicht loslassen. Doch einfach hier draußen zu warten, bis der Spindrifter vorbeigefahren war, machte ihr genauso viel Angst. Also zog sie sich langsam am Geländer entlang Richtung Treppe. Sie hätte die Rettungsweste nicht ablehnen sollen.

Sie rutschte aus. Ihr Knie schlug aufs Deck. Die Rotoren des Spindrifters ragten hoch über ihr auf, die Achsen orange gefärbt von den Flutlichtern der Varuna, wie Säulen eines riesigen Tempels, der halb im Nebel verborgen lag.

Sie hörte ein Klirren hinter sich und sah sich um. Es war das Geräusch einer aufspringenden Tür. Abdi stand mit einer Seilspule in der Hand im Türrahmen, an einem Ende war ein Karabiner aus Stahl. Er rief irgendetwas – unverständlich vor dem tosenden Sturm und dem Dröhnen der Rotoren –, und dann warf er. Er zielte ziemlich gut: Der Karabiner hätte sie um ein Haar im Gesicht getroffen. Sie fing ihn auf, ehe der Wind das Seil wegschleifen konnte.

Und doch wartete sie noch einen Augenblick, bevor sie sich daran in Sicherheit zog. Denn sie musste noch einen letzten Blick auf den Spindrifter werfen, der nun ein paar Meter entfernt an der Varuna vorüberglitt. Sie wollte sichergehen, dass sie sich nicht getäuscht hatte.

Der Lichtschimmer drang aus einem Fenster in der Steuerkabine des Spindrifters. Das Fenster war von innen mit einem Vorhang oder einer Jalousie verhängt, aber eine Ecke des Vorhangs flatterte hin und her, als wäre das Innere nicht winddicht. Deshalb hatte das Licht auch geflackert wie ein Mottenflügel. Und hinter diesem Fenster war eine menschliche Silhouette zu erkennen, wenn auch nur verschwommen. Jemand, der versuchte, den Vorhang wieder festzubinden. Der Spindrifter hatte einen Passagier.

Eine Stunde später in Abdis Bett: »Ich dachte, du hättest eine Freundin.«

»Ja, aber sie …«, er zögerte. »Wir führen jetzt eine ›offene Beziehung‹. Sie wollte es so.«

»Sie wollte es so, weil du das halbe Jahr über auf einem Förderschiff lebst.«

»Ja, genau.«

»Und sie ist in Malmö.«

»Ja.«

Die Varuna hatte eine wechselnde Besatzung, derzeit waren es elf Männer und fünf Frauen, und sexuelle Beziehungen an Bord waren laut Unternehmenspolitik untersagt. Malmö war eine Stadt mit einer halben Million Einwohnern. »Hast du das Gefühl, dass sie den besseren Deal gemacht hat?«, fragte Resaint.

»Es ist okay«, sagte er nicht sehr überzeugend. »Für mich ist es okay.«

Hoffentlich hatte sie ihm nicht die Stimmung verdorben, die eigentlich gut gewesen war, auch schon vor dem Sex. Nach ihrer Rettung war er nicht gerade übermütig gewesen, aber sie merkte wohl, dass er sich über seine kleine Heldentat freute. Im Nachhinein betrachtet, war sie an der Reling nicht wirklich in Gefahr gewesen, aber wenn sie es vor sich selbst größer machte, als es war, warum sollte er das dann nicht auch tun? Es war ja sehr süß gewesen. Falls Abdi jemals jemandem davon erzählen würde, könnte er sagen, dass er sie sich geangelt hatte, buchstäblich mit Haken und Schnur. Und jetzt war sie in seiner Kabine gelandet, die sie in vielerlei Hinsicht an ihr Zimmer im ersten Jahr an der Universität erinnerte: das helle Holz ohne Maserung, das sanfte Licht einer mit einem T-Shirt behängten Lampe, das Einzelbett, in das kaum zwei Körper reinpassten. Nachdem sie nun wochenlang jeden Tag dieses unselige Zitronen-Haarwasser an ihm gerochen hatte, war es seltsam befriedigend, endlich die Flasche dazu zu sehen, so als würde man eine berühmte Persönlichkeit treffen. Sie hatte nicht mit all dem gerechnet, aber zugegebenermaßen entsprach es ihren bisherigen Gepflogenheiten: mit Leuten dann zu schlafen, wenn die Umstände sicherstellten, dass sie sie nie wiedersehen würde.

»Die Spindrifter – sind sie je bemannt?« Sie hatte ihm noch nicht erzählt, was sie gesehen hatte. Seltsamerweise fühlte es sich wie ein Geheimnis an, das ihr anvertraut worden war.

»Nein.«

»Nie?«

»Manche können, glaube ich, Rettungsaktionen durchführen. Wenn zum Beispiel jemand mit seinem Boot untergeht und sonst niemand in der Nähe ist. Sie sind mit kleinen Kabinen ausgestattet und können einen wieder zurück zum Festland bringen.«

Aber warum, fragte sich Resaint, sollte ein Schiffbrüchiger, der vermutlich unbedingt gerettet werden wollte, die Fenster seines Rettungsbootes verhängen?

Später wurde sie von einem Klopfen geweckt, gerade noch rechtzeitig, um nicht von einer Dampflok an einem Kiesstrand überrollt zu werden. Überrascht stellte sie fest, dass sie beide doch tatsächlich in diesem abgrundschmalen Bett eingeschlummert waren. Ihr ganzer Arm war taub.

»Karin?« Die Stimme hinter der Tür gehörte Devi, der Kapitänin der Varuna. Resaint spürte, wie Abdi neben ihr erstarrte.

»Was ist?« Sinnlos, so zu tun, als wäre sie nicht hier, wenn Devi ohnehin Bescheid wusste.

»Bitte komm raus.«

Sie zog ihr Telefon hervor. Es war vier Uhr früh. Aus irgendeinem Grund hatte sie kein Netz. »Ist es dringend?«

»Ja.«

»Okay. In ein paar Minuten bin ich bei dir.« Resaint war sich ziemlich sicher, dass Devi aus Höflichkeit die Annahme aufrechterhalten wollte, dass sich hier nichts Verbotenes abgespielt hatte. Die Kapitänin war ziemlich anspruchsvoll, was bedeutete, dass sie im Zweifelsfall äußerst pedantisch war, es aber auch vorzog, die tierischen Triebe ihrer Crew zu ignorieren. Ob Devi selbst irgendwelche tierischen Triebe hatte, darüber wurde natürlich ausgiebig spekuliert.

»Es tut mir wirklich leid, Karin, aber wenn du nicht sofort rauskommst, werde ich die Tür öffnen müssen.«

Die Bettgenossen fluchten leise vor sich hin, sie auf Deutsch, er auf Somali. Sie zogen sich eilig an, reichten Kleidungsstücke hin und her wie bei einem Tauschhandel, dann trat Resaint zur Tür und öffnete sie. »Bitte komm mit mir zu deiner eigenen Kabine«, sagte Devi, den Blick abgewandt, als wäre Resaint immer noch nackt. Die Situation war ihr offenbar so peinlich, dass sie Resaint einen Augenblick lang schon fast leidtat. Es wäre viel einfacher gewesen, wenn Resaint in ihrem eigenen Bett geschlafen hätte, anstatt sie bei einem – soweit Devi wusste – Moment der verbotenen Ekstase zu stören.

»Was ist los?«, fragte Resaint. Sie startete ihr Telefon neu, hatte aber immer noch kein Signal. »Ist etwas passiert? Ist das Netzwerk zusammengebrochen?«

»Bei mir nicht«, sagte Abdi. Und Devi blickte ihr immer noch nicht in die Augen.

Dieser Umstand weckte in Resaint mehr als alles andere den Verdacht, dass sich ihre Lage gerade zum Schlechten gewendet hatte. »Hast du meine Netzwerkverbindung gekappt?«, fragte sie. »Was ist hier los?«

Eine andere höfliche, deutlich tiefgreifendere Annahme war für Resaints Arbeit unerlässlich: die ihrer Unabhängigkeit.

Es gab einen Grund, warum die Brahmasamudram Mining Company sie in ein Labor an Bord der Varuna gesteckt hatte, wenn sie genauso gut auch von der schwedischen Küste aus hätte arbeiten können. Das gehörte zu den psychologischen Strategien, den Stammesriten, die so oft hinter den unpersönlichen Transaktionen der multinationalen Konzerne lauerten, für die sie arbeitete. Wie die meisten ihrer Auftraggeber wollte auch Brahmasamudram ihr vermitteln, dass sie für die Dauer ihres Vertrags ihnen gehörte. Sie lebte im Wirkungsbereich der Firma, arbeitete darin, und außerhalb gab es nichts weiter als eiskaltes Ostseewasser.

Aber laut aussprechen sollte man das natürlich nicht. Ja, sie war abhängig von ihnen, wurde überwacht, war gefangen, eine Lakaiin der Varuna, genau wie jedes andere Mitglied der Besatzung. Aber die Prämisse ihrer Arbeit war, dass sie als Wissenschaftlerin objektive Urteile fällte, ohne irgendeinen Einfluss des zahlenden Klienten. Und alle Beteiligten profitierten von dieser Prämisse – von ihrer unantastbaren priesterlichen Aura. Dass Devi jetzt so mit ihr umsprang – so unverhohlen die Zwänge hinter ihrer Gastfreundschaft enthüllte –, befleckte nicht nur ihren aktuellen Einsatz, sondern jeden einzelnen, den sie je angenommen hatte.

Zumindest war es Devi im gleichen Maß unangenehm, wie Resaint es als empörend empfand. Das war eindeutig nicht ihre Entscheidung gewesen. Jemand zwang sie dazu. »In deine eigene Kabine«, sagte sie. »Bitte.«

Resaint wusste, dass sie sich weigern konnte. Devi würde sie wohl kaum an den Haaren hier herausziehen. Doch wenn sie ihr letztes Gefecht hier austrug, würde es für Abdi deutlich schwieriger werden, und das wollte sie nicht. »Wenn wir in meine Kabine gehen, klären wir dann dort, was für ein Scheiß hier abgeht?«

»Ja«, sagte Devi, dankbar für diesen Ausweg. »Ja, wir klären alles, das verspreche ich dir. Es kommt jemand, um mit dir zu reden.«

2

In derselben Nacht, nur etwas früher, saß Halyard in einem Taxi auf dem Weg zum Abendessen, als vor ihm ein Tumor wie ein Meteorit auf die Erde stürzte.

Sie bildeten das Ende des Konvois, ein Minibus und drei zusätzliche Taxis, die alle Teilnehmer vom Mosvatia Bioinformatics Hauptquartier außerhalb Kopenhagens zu einem Hotel am Wasser brachten. Er war sich nicht sicher, was mit dem Taxi vor ihnen passiert wäre, wenn es nicht im allerletzten Moment von der Straße abgewichen wäre. Eine interessante Schere-Stein-Papier-Frage, denn der Tumor war aus Fleisch, und Fleisch verliert normalerweise, wenn es gegen eine Stoßstange prallt; andererseits wusste er, dass man sterben konnte, wenn man auf der Straße ein Reh anfuhr, und dieses Ding musste mindestens dreimal so viel wiegen wie ein Reh.

Sein Taxi war nicht ausgewichen, sondern hatte nur gebremst und ihn und seine drei Mitfahrer nach vorn in ihre Sicherheitsgurte und sein Handy in den Fußraum geschleudert – was bedeutete, dass er nun freie Sicht durch die Frontscheibe hatte. Die Monstrosität war beim Aufprall auf dem Asphalt in vier schartige Stücke geplatzt, die jeweils selbst so groß wie Transportkisten waren. Das Geräusch dazu hatte wie ein einzelner scharfer Trommelschlag geklungen, aber irgendwie auch symphonisch – tief und feucht, eruptiv und matschig zugleich, jeder Geräuschemacher wäre stolz auf den Tumor gewesen – und doch hinkte der Klang dem eigentlichen Grauen des Bildes deutlich hinterher. Das Fleisch war rot-weißlich, seine Fetzen glitzerten und warfen Falten, außer an den Stellen, wo es von durchsichtigem Epimysium umgeben war oder wo ein dickes schwarzes oder weißes Fell zu sehen war. Hier und da stand ein Stück Knochen hervor.

Für Halyard war der Vorfall erschreckend, ja, aber kein Albtraum, wie er es vielleicht gewesen wäre, wenn er nicht gewusst hätte, was er da vor sich sah. Er wusste es, weil er Berichte gesehen hatte über den letzten derartigen Vorfall, der sich während einer Konferenz in der Nähe von Madrid ereignet hatte. Das, was da gerade auf den Boden geplatzt war, war ein Teratom, also ein Tumor aus Keimzellen, die jede Art von Gewebe bilden konnten (mit großer Wahrscheinlichkeit steckten da irgendwo auch Zähne drin, Gehirnmasse, sogar Augäpfel – wie das Anagramm eines Säugetierkörpers). Es war in einem illegalen Labor gezüchtet worden, mithilfe einer DNA-Raubkopie von Chiu Chiu, dem »letzten« Großen Panda. Und es war von einem Katapult aus abgeschossen worden, aus Protest gegen das, womit Halyard seinen Lebensunterhalt verdiente.

Chiu war zwölf Jahre zuvor an einer Pilzinfektion der Atemwege auf der Intensivstation des Forschungszentrums für Pandafortpflanzung in Chengdu gestorben. Zu diesem Zeitpunkt war er der letzte Große Panda gewesen. Aber das war er nicht lange, denn ihm folgten viele Klone, die im Bauch von Schwarzbären heranwuchsen. Dennoch würde er für immer der letzte einer ununterbrochenen Folge feuchter Fortpflanzung sein, der letzte Panda, der aus einem Panda hervorging, der aus einem Panda hervorging, der – hier einige Auslassungspunkte – aus dem allerersten Panda hervorging.

Der Tod von Chiu Chiu mag, was die schiere emotionale Wucht anbelangt, eine in der Geschichte der Menschheit noch nie da gewesene Erschütterung gewesen sein, die größte Anzahl von Menschen multipliziert mit der tiefsten Aufrichtigkeit der Gefühle. Normalerweise kann man bei einer Bevölkerung von 1,4 Milliarden Menschen keine Verallgemeinerungen machen, aber so ziemlich jeder in China liebte Chiu Chiu. In seinen letzten Tagen wurden die stündlichen Updates aus der Forschungsstation untersagt, wegen der potenziell destabilisierenden Auswirkungen auf den Aktienmarkt. Dieser geheimnisvolle Pilz, der auch der strengsten Quarantäne spottete, hatte weltweit bereits Hunderte von Pandas getötet, in freier Wildbahn lebend oder in Gefangenschaft, und dass ihm auch Chiu Chiu zum Opfer fiel, stürzte die Chinesen in eine enorme Welle von Trauer und Selbsthass. Es war ihnen nicht gelungen, ihr eigenes Nationaltier zu schützen, und diese Schande quälte sie. Tagelang waren die Straßen voller Wesen, die aussahen wie heulende, aus der Unterwelt entlassene Ghuls: Kinder, die sich zu Ehren von ji mo de Chiu Chiu (einsamer Chiu Chiu) wie Pandas geschminkt hatten, deren hemmungslose Tränen jedoch die Schminke über ihre Wangen verschmierten. Ein Journalist aus Peking, der eine Kolumne mit der Überschrift »Warum mir Chiu Chiu egal ist« geschrieben hatte, musste untertauchen. Ja, es würde schon bald geklonte Pandas geben, aber zu dieser Zeit führte die Kommunistische Partei eine Kampagne gegen »Lügenware«, weshalb Klone oft mit Blutwurst verglichen wurden, die illegal mit Formaldehyd angereichert wurde.

Im mächtigsten Land der Erde fanden Emotionen ihr Ventil in Taten. In einer Zeit, die Zyniker später als »Chinas große nationale Umnachtung« bezeichnen sollten, traten 196 andere Staaten, die im Wesentlichen aus wirtschaftlicher Not heraus handelten, der neu gegründeten Weltkommission zur Bekämpfung des Artensterbens bei. »Es wird keine Chiu Chius mehr geben«, verkündete ein chinesischer Beamter bei der Gründung der WKBA. »Chiu Chiu wird der letzte Endling aller Endlinge sein. Denn wir werden nicht zulassen, dass sich eine solche Tragödie wiederholt. Der Große Panda wird die letzte Spezies sein, die durch den Menschen ausgerottet wird.«

Natürlich kam alles ganz anders. Die Extinktionsindustrie entstand.

Und genau diese Extinktionsindustrie war Ziel des Protests: im Besonderen Halyard und Dutzende seiner Kollegen auf dieser Vergnügungsfahrt, nicht nur aus seinem Arbeitsbereich – er war Umweltverträglichkeitskoordinator (Nordeuropa) bei der Brahmasamudram Mining Company –, sondern auch Berater, Lieferanten und Verwaltungsbeamte. Innerhalb der nächsten Stunde würde online ein Kommuniqué veröffentlicht werden, und die Polizei würde irgendwo in der Nähe ein zurückgelassenes Katapult finden. Semiotisch gesehen hatte die Aktion mehr oder weniger die gleiche Struktur wie die Proteste damals, noch vor der Zwei-Grad-Erderwärmung, die im Rückblick so behutsam, so rücksichtsvoll, ja fast drollig wirkten: Menschen wurden damals mit Kunstblut bespritzt, um ihnen mitzuteilen: »Eure Hände sind mit Blut befleckt.« Aber im jetzigen Fall warfen sie Chiu Chiu auf die Leute, um zu zeigen: »Eure Hände sind mit Chiu Chiu befleckt.« Soweit Halyard verstanden hatte, wollten die Aktivisten damit nicht sagen, dass er und seine Kollegen irgendeine Schuld an Chiu Chius Tod vor zwölf Jahren trugen – das glaubten nur ein paar geschichtsklitternde Paranoiker –, sondern sie meinten, dass er und seine Kollegen für die anhaltende Ausrottung verantwortlich seien, deren großer Avatar der Heilige Chiu Chiu gewesen war.

Nun, es war eine komplizierte Angelegenheit.

Doch in einer Hinsicht waren die Hände der Leute in diesem Konvoi unbestreitbar mit Chiu Chiu befleckt: Sie verdankten diesem liebenswerten und rührenden Bären ihren ganzen Wohlstand. Sie lebten in einer Welt, die Chiu Chiu mit seinem Tod erschaffen hatte. Es gab einen chinesischen Schöpfungsmythos, der besagte, die Menschen seien als Milben entstanden, die ihren Heißhunger an der haarigen Leiche des Gottes Pan Gu stillten, und als Halyard eine Frau beobachtete, die auf dem Seitenstreifen aus dem Taxi stieg und sich den Nacken rieb, während sie zu dem Fleischbatzen auf der Straße hinüberging, stellte er sich vor, wie sie, wie er, wie sie alle sich darüber hermachten, bis nichts mehr davon übrig war als diese sinnlosen Knochen.

Und tatsächlich ergötzten sie sich an diesem Tumor, aber nur insofern, als er bei der Wartezeit auf das Abendessen für Gesprächsstoff sorgte. Die eigentliche Vorspeise, die wegen der ganzen Aufregung eine Stunde später serviert wurde, war Carpaccio vom Kalbshirn. Halyard war zu diesem Zeitpunkt komplett ausgehungert, was es noch frustrierender machte, dass man das Carpaccio kaum essen konnte. Das Hirn, das auf eine Dicke von 100 Mikrometer geschnitten worden war, schrumpfte, wenn man es mit der Gabel berührte, auf ein Nichts zusammen. Es war, als wollte man die Oberflächenspannung von einem Glas Wasser essen.

Im Grunde war das Carpaccio ein biotechnologischer Gag, ähnlich wie der Tumor. Zuvor hatten die Gäste in der Zentrale von Mosvatia Bioinformatics eine Präsentation darüber gesehen, wie das Gehirn eines vom Aussterben bedrohten Tieres mit einer vibrierenden Diamantklinge aufgeschnitten wurde, um jede Synapse für eine Untersuchung unter dem Elektronenmikroskop freizulegen, und jetzt bestand ihre Belohnung für das Ausharren während ebendieser Präsentation in einem Stück Fleisch, das mit demselben Gerät zubereitet worden war. Bei ihrem Brotjob im Labor trug die Diamantklinge nur zehn Nanometer dünne Streifen ab, weshalb diese viel umfangreichere Carpaccio-Schnittbreite einen Kompromiss zwischen der vollen Leistungsfähigkeit des Geräts und den praktischen Anforderungen der Gastronomie darstellte. Aber der Kompromiss fiel zu Halyards Ungunsten aus, und auch alle anderen um ihn herum schienen Probleme damit zu haben, einschließlich der Veganer mit der Rote-Bete-Version (allerdings nicht der Kollege Ismayilov, der sein Carpaccio gar nicht erst angerührt hatte und etwas mitgenommen wirkte).

Am Ende lutschte Halyard das Carpaccio direkt vom Teller, und selbst dann konnte er nur den Zitronensaft und den schwarzen Pfeffer schmecken, nicht aber das Kalbshirn, außer vielleicht als schwache neuronale Feuchtigkeit ganz hinten in der Kehle. Er hatte heute Morgen bewusst auf seine übliche Dosis Inzidernil verzichtet, in der Erwartung eines guten Mahls – und jetzt dieser Reinfall.

»Was verdammt noch mal sollte diese Präsentation?«, fragte er Ismayilov und schenkte sich noch Wein nach. »Wen wollen die damit beeindrucken? Okay, wir müssen alle für die Öffentlichkeit so tun, als wären wir ernsthaft überzeugt, dass es genauso gut ist, das Gehirn eines Tiers zu scannen und in einem Computer abzuspeichern, wie das Tier am Leben zu erhalten. Aber es gibt keinen Grund, uns gegenseitig hinter verschlossenen Türen in die Tasche zu lügen. Um die meisten Spezies schert sich doch kein Mensch. Weder um die West-Pipistrelle noch um den Barkudia-Skink. Noch nicht mal Aktivisten kümmern sich um die – jedenfalls nicht persönlich. Und wenn das arme kleine Vieh erst einmal gescannt ist, dann war’s das. Ende. Aus. Dann verschimmelt es in der Datenbank wie ein altes Bibliotheksbuch, das nie wieder gelesen wird. Es ist doch sinnlos. Sie können die Daten genauso gut nach einer Woche löschen, um Platz auf dem Server zu schaffen, den Unterschied merkt doch eh keiner.«

Ismayilov begann zu weinen.

Halyard war bestürzt. Er musste etwas Taktloses gesagt haben. War es möglich, dass Ismayilov aus irgendwelchen obskuren ethnischen Gründen oder wegen seiner Herkunft ein sehr enges Verhältnis zur West-Pipistrelle oder dem Barkudia-Skink hatte?

Dann fiel ihm ein, dass Ismayilovs Frau letztes Jahr an mehreren verschiedenartigen Myelomen gestorben war, und er ahnte, was Ismayilov so aufgewühlt hatte.

Ismayilov hatte nie erwähnt, dass das Gehirn seiner Frau bei ihrem Tod gescannt worden war, andererseits hatte er auch kaum über sein Leben als Witwer gesprochen; Halyard (achtunddreißig Jahre, Australier mit einem Thai-Einschlag seitens der Großmutter) und Ismayilov (Mitte vierzig, aus Aserbaidschan) waren befreundet, aber nicht besonders eng. Halyard konnte sich bildhaft ausmalen, wie Ismayilov die Hand seiner Frau hielt, während sie wegdriftete, und wie er dann, noch bevor er annähernd dazu in der Lage war, aus dem Zimmer gedrängt wurde, damit ihr Gehirn mit Konservierungsmitteln geflutet, operativ entnommen, gewaschen, gekühlt, in Gelatine eingelegt und aufgeschnitten werden konnte (wie Carpaccio), um es unter dem Mikroskop zu scannen. Es war so ziemlich der gleiche Prozess wie gerade bei der Präsentation, nur das Ziel war ein anderes. Wenn man das Gehirn eines Menschen scannte, dann geschah das in der Hoffnung, diesen Menschen eines Tages in einer neuen unbestechlichen Form wiederbeleben zu können. Aber wenn man das Gehirn einer West-Pipistrelle oder eines Barkudia-Skinks scannte, dann nur, weil dieser Scan es nach dem Ausrotten der Spezies einfacher machte, in einem bestimmten gesetzlichen oder ordnungspolitischen Kontext zu argumentieren, dass die Spezies in diesem Sinn noch nicht ganz verloren sei.

Ersteres war ein Akt der Liebe, bei Letzterem ging es darum, seinen Arsch zu retten, aber für Halyard war beides gleichermaßen zwecklos. Beide Varianten schienen von einer Zukunft in Saus und Braus auszugehen, einem nie enden wollenden Sonntagmorgen, wenn die Menschheit ihre To-do-Liste so weit abgearbeitet hatte, dass sie wirklich nichts Besseres zu tun hatte, als Millionen nicht sonderlich reicher, berühmter oder talentierter Menschen aus der Vergangenheit wieder aufleben zu lassen, oder sich eines verschwundenen Reptils ohne besondere Kennzeichen zu entsinnen und es in einem Labor wiederzuerschaffen. Es hörte sich gut an. Aber so lief das nun mal nicht.

Dennoch, wenn Ismayilov seine tote Frau transkribiert hatte, konnte Halyard verstehen, warum er über all das nicht nachdenken wollte. »Natürlich ist es bei Menschen etwas ganz anderes«, sagte Halyard fröhlich, als hätte er gar nicht bemerkt, dass Ismayilov weinte. »Jedes menschliche Leben ist kostbar, und wenn man ein menschliches Gehirn scannt, kann man sich leicht eine Zeit vorstellen, in der es Routine ist, Menschen wiederauferstehen zu lassen, wahrscheinlich schon in naher Zukunft, denn die Technik muss sich nur noch ein kleines bisschen weiterentwickeln, vielleicht in fünf oder zehn Jahren, wahrscheinlich eher fünf.« Er beobachtete Ismayilov – der sich mit seiner Serviette so über das Gesicht fuhr, dass es aussah, als würde er sich nur über den Mund wischen, dabei aber auch Augen und Nase trocknete – und suchte nach Zeichen, dass er auf der richtigen Spur war. »Wir sind wirklich nah dran an der Unsterblichkeit«, fuhr er fort, »vor allem wenn …« Sein Telefon vibrierte. »Sorry, Mergen, nur eine Sekunde.«

Der Anruf war von Devi, der Kapitänin eines Versorgungsschiffs von Brahmasamudram namens Varuna. »Ich wollte dich auf den neuesten Stand der Evaluation bringen«, sagte Devi.

»Wann reicht sie sie ein?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Devi. »Bald. Aber es sieht aus, als würde sie den Lumpfisch als intelligent rezertifizieren.«

»Du machst Witze.«

»Das habe ich jedenfalls gehört.«

»Von – wie heißt sie noch? Die Schweizerin?«

»Resaint. Nein, nicht von ihr. Von einem der Typen, der es von ihr gehört hat.«

»Hm, dem Fisch geht’s noch gut, oder?« Cyclopterus vulgaris war ein knolliger, gräulicher Fisch, ausgewachsen etwa zwölf Zentimeter lang. Er hatte ein krötenartiges Gesicht mit hervortretenden Augen und dicker Oberlippe; wenn man ihn ansah, hatte man den Eindruck, wäre er ein Mensch, hätte er die ganze Zeit Schweiß auf der Stirn und trotzdem einen erschreckend kalten Handschlag.

»Ja. Wir sind nicht mal in der Nähe des Sektors.«

»Gut. Wir müssen uns nämlich das Ganze noch mal genauer anschauen. Vielleicht müssen wir sie von dem Projekt abziehen. Danke für die Nachricht.« Halyard legte auf. »Ist das zu glauben?«, sagte er zu Ismayilov. »Anscheinend will sie rezertifizieren. Sie muss diesen Fisch für eine Art Einstein halten. Hast du ihn mal gesehen? Er sieht nicht mal nach Fischmaßstäben schlau aus. Selbst für einen Fisch sieht er dämlich aus.« Immer noch hungrig und unsicher, wann der Hauptgang kommen würde, sprang ihm ins Auge, dass Ismayilov sein Carpaccio nicht angerührt hatte. »Macht es dir was aus, wenn ich mir das nehme, falls du es nicht willst?« Ismayilov legte keinen Widerspruch ein, also griff Halyard hinüber und holte sich den Teller. Während er den dünnen Film grauer Masse runterschlürfte, fing er versehentlich Ismayilovs Blick auf und fragte sich, ob Ismayilov immer noch an das Gehirn seiner Frau dachte. Das schmälerte das kulinarische Vergnügen etwas.

»Fünfzig Nanometer«, sagte Ismayilov mit erstickter Stimme.

»Wie bitte?«

Wieder liefen Tränen über Ismayilovs Wangen. »So viel haben wir für ihre Krebsbehandlung ausgegeben. Obwohl nichts je geholfen hat. Wir haben Kredite aufgenommen. Als es vorbei war, hatte ich nicht mehr genug, um das koreanische Präservationsteam zu bezahlen, das ich haben wollte. Also habe ich Italiener engagiert. Sie haben ihr Gehirn in Fünfzig-Nanometer-Streifen zerschnitten und behauptet, das sei Standard. Jetzt komme ich hierher und erfahre, dass es für den Barkudia-Skink zehn Nanometer sind. Maximal zehn Nanometer für einen akkuraten Konnektom-Scan. Der Skink kriegt zehn, meine Frau fünfzig.« Ismayilov machte eine Geste, als hielte er nicht ein hauchdünnes Häutchen Carpaccio zwischen seinen Fingern, sondern ein dickes, fettes Stück Hinterschinken. Sein ganzes Gesicht verzerrte sich vor Verzweiflung. »Ich werde sie niemals zurückholen können.«

Halyard notierte sich in Gedanken, Ismayilov gegenüber nie die Geschichte zu erwähnen, die er neulich über den Hainan-Schopfgibbon gehört hatte. »Oh, Mergen, mach dir keine Sorgen deswegen. Ich wette mit dir, Fünfzig-Nanometer-Sektionen sind völlig okay. Vielleicht fällt irgendein unwichtiges Detail unter den Tisch, aber du kriegst immer noch alles Wichtige. Natürlich wollen uns diese Typen zehn andrehen, weil sie dadurch mehr Geld verlangen können, aber – sorry, es ist noch mal Devi von der Varuna, einen Moment bitte. Devi?«

»Es gibt ein Problem mit dem Fisch«, sagte Devi am anderen Ende.

»Du meinst, abgesehen von der Rezertifizierung?«

»Ja, es sieht aus, als …«

»Was?«

»Es sieht aus, als würden wir bereits in den Sektoren abbauen, in denen er lebt.«

»Aber ihr seid doch gar nicht in der Nähe dieser Sektoren?«

»Ja, sollten wir auch nicht sein«, sagte Devi, »aber gerade eben, direkt nach unserem Telefonat, habe ich noch mal nachgeschaut, um sicherzugehen, und wie es aussieht, ist das AMF bereits dort.«

»Seit wann?«

»Seit fünf Tagen.«

»Wie konnte das verdammt noch mal passieren?«

»Ich weiß es nicht.«

Die Varuna war Basisstation von acht AMFs, autonomen Minenfahrzeugen, die Ferromangan-Knollen vom Grund des Baltischen Meers abbauten. Jedes AMF war zwanzig Meter lang, wog tausend Tonnen und sah aus wie eine Belagerungswaffe aus Mad Max. An der Vorderseite hatten sie riesige, scharfe Schneidköpfe, um durch den Kontinentalschelf zu pflügen, und am Heck Schöpfketten, die die vorne freigesetzten Knollen aufschaufelten. Angetrieben von Wasserstoff-Brennstoffzellen, grasten sie den Meeresboden ab wie Rinder einen Weidehügel, sie entschieden selbst, wo sie als Nächstes hinwollten. Natürlich konnten vorab Grenzbereiche definiert werden, und in diesem Fall hätten die AMFs der Heimat der gefährdeten Fische fernbleiben sollen. Aber irgendwas musste schiefgelaufen sein. Devi klang beschämt, aber es war sicher nicht ihre Schuld: Ein Team in Mumbai war für die Programmierung der AMFs zuständig, während die Crew der Varuna im Grunde nur aus Mechanikern bestand.

»Sind da unten noch irgendwelche Fische übrig?«, fragte Halyard.

»Ich weiß es nicht.«

Halyards Job beinhaltete die Überwachung einer ganzen Reihe gefährdeter Spezies, was oft an die Aufgaben eines Nachtportiers in einem Grandhotel voller neurotischer Witwen und kränkelnder Prinzchen erinnerte. In diesem Fall hatte die Erwärmung der Ostsee den Gemeinen Lumpfisch weiter nach Norden getrieben, in angenehmere Gewässer, aber über einen bestimmten Breitengrad hinaus wurden felsige Riffe rar, und das führte dazu, dass ihr geeignetes Habitat auf einen kleinen Streifen vor der schwedischen Küste zusammengeschrumpft war. Es war also gut möglich, dass Brahmasamudrams AMFs die Spezies mit einem Streich ausgelöscht hatten. »Scheiße! Das bleibt unter uns, okay?«, sagte Halyard. »Bis wir genau wissen, wo wir stehen.«

»Okay.«

»Ich hoffe, das ist alles an schlechten Nachrichten für heute. Erzähl mir in zehn Minuten bitte nicht, dass die AMFs an Land gekrochen sind und ein Fischerdorf verschlungen haben.«

»Ich kann dir versichern, dass das nicht passieren wird«, antwortete Devi mit Grabesstimme. Halyard wollte gerade sagen, dass es ein Witz war, aber dann fiel ihm ein, dass im Vorjahr ein abtrünniger AMF einer malaysischen Firma tatsächlich eine Reihe von Bajau-Fluchtunterkünften an der Küste von Borneo zerstört hatte, die auf Stelzen standen.

»Äh, okay. Gut.« Er legte auf. »Also, erst erfahren wir, dass sie rezertifizieren will«, sagte er zu Ismayilov, »und jetzt hören wir, dass wir den Fisch, der rezertifiziert werden soll, bereits ausgerottet haben.«

Er spürte eine Hand auf seiner Schulter. »Das klingt nach Ärger!« Er blickte auf und musste ein Grinsen unterdrücken, denn es war Barry Smawl. Smawl hielt sich für einen Gerüchtemakler, der »Schwingungen« spürte, ein Orakel der Martini-Bar – »Ruf Barry Smawl an! Der sagt dir, was Sache ist, vorausgesetzt, du hast im Gegenzug was Saftiges zu bieten!« –, nur dass jeder in der Branche die einzigen Gerüchte, die Smawl je zu verkünden hatte, schon vor Wochen, Monaten oder manchmal sogar Jahren gehört hatte. Trotzdem konnte man Smawl nicht einfach als einen Niemand abtun, denn er war Senior Policy Specialist bei Kohlmann Treborg Nham, und innerhalb der Extinktionsindustrie umgab jeden, der bei Kohlmann Treborg Nham arbeitete, statusmäßig ein goldener Schein, einfach weil es die Firma war, die diese Branche mehr als jede andere geprägt und ihr Feld abgesteckt hatte.

In den Nachwehen von Chiu Chius Tod waren Zehntausende von Lobbyisten aus der ganzen Welt nach Chengdu gezogen. Aber in der PRC-Lobby zu sein war eine echte Herausforderung – es war ja nicht Brüssel, wo jeder Idiot eine Verordnung revidieren konnte. Und Kohlmann Treborg Nham hatten sich als Vordenker positionieren können, als große Strategen. In jenen berauschenden Tagen von »Der Große Panda wird die letzte Spezies sein, die durch den Menschen ausgerottet wird« wurden der chinesischen Regierung einige wichtige Dinge zu verstehen geben. Ihr wurde zu verstehen gegeben, dass natürlich jeder begeistert wäre, wenn Chiu Chiu der Endling aller Endlinge sein könnte, dies jedoch schlicht nicht möglich war, es sei denn, die menschliche Rasse wollte Massenselbstmord begehen, wie es einige von den radikalen Grünen verlangten. Im Interesse von Wachstum und Wohlstand – ja, auch nur damit acht Milliarden Menschen weiterhin jeden Morgen aufstehen konnten – war es unumgänglich, dass eine minimale Anzahl anderer Arten jedes Jahr verloren ging. Zum Beispiel die Pipistrelle, die kleinste Fledermaus Afrikas. Der kleine Scheißer machte zwar als Gegner nicht viel her, dennoch galt auf ziemlich nachvollziehbare Weise: er oder wir. Und nachdem das klar war, wurde der chinesischen Regierung ferner zu verstehen gegeben, dass eine marktfreundliche Lösung, für die Aktionäre jedweder Couleur empfänglich wären, der fairste und effektivste Weg sei.

So entstanden die Auslöschungszertifikate.

Wollte man heute als Unternehmen wie Brahmasamudram Mining eine Spezies vom Angesicht der Erde auslöschen, musste man im Grunde nur eine Bescheinigung dafür einreichen. Der Name für diese Bescheinigung ist Auslöschungszertifikat. Damit kann man sich das Recht erkaufen, jede beliebige Spezies der Erde auszurotten – außer sie wird von Tierkognitionsexperten als »intelligent« eingestuft, wie es diese Schweizerin auf der Varuna vorhatte. In diesem Fall musste man nicht nur ein, sondern dreizehn Auslöschungszertifikate aufwenden, eine Zahl ohne jede abergläubische oder metaphysische Bedeutung, denn sie war lediglich das Ergebnis von Rangeleien bei der Gründung der Weltkommission zur Bekämpfung des Artensterbens, wie jedes andere Detail in diesem Zusammenhang auch. Alle waren sich einig, dass der Verlust einer intelligenten Spezies der schwerwiegendste von allen ist, und da solche Ausrottungen nicht gänzlich verboten werden können – das wäre kein geschickter Ansatz für den freien Markt –, sollten sie mit aller Entschiedenheit unterbunden werden.

Jedes Jahr wurde eine gewisse Anzahl von Auslöschungszertifikaten kostenlos von der WKBA zugeteilt, während andere versteigert wurden; danach konnten sie gekauft und auf dem freien Markt weiterverkauft werden. Die Idee war, die Menge an Zertifikaten nach und nach herunterzuschrauben, sodass der Preis steigen würde, bis sie quasi unbezahlbar waren und die Leute einfach nur von ihrem Einfallsreichtum Gebrauch machen mussten, um zu vermeiden, dass Gattungen ausgerottet wurden.

Pech nur für die gefährdeten Spezies, dass am Abend des Dinners bei Mosvatia Bioinformatics der Preis für ein Auslöschungszertifikat bei etwa 38.432 Euro lag.

Es war der bedeutendste Sieg der Lobbyisten, der Stoff, aus dem Kriegsgeschichten und Gründungsmythen, Dinneransprachen und Memoiren im Eigenverlag gestrickt sind. Kohlmann Treborg Nham und ihren Mitstreitern war es gelungen, den Rahmenvertrag der WKBA mit so vielen Zuwendungen, Ablasszahlungen, Ausnahmeregelungen und Fristverzögerungen zu durchlöchern, dass die geplante Verknappung von Auslöschungszertifikaten nie eingetreten war. Auslöschungszertifikate gab es günstig und in Hülle und Fülle. Man konnte sie fast schon als demokratisch bezeichnen. Im Zusammenhang mit dem Rohstoffabbau am Meeresgrund waren 38.432 Euro nichts. Genauso waren in diesem Zusammenhang 38.432 Euro für den Bau einer halbwegs ansehnlichen Gartenlaube nichts – vorausgesetzt, der geplante Standort der Gartenlaube wäre dummerweise der letzte verbleibende Lebensraum einer vom Aussterben bedrohten Spitzmaus. Selbst die 499.616 Euro, die Brahmasamudram für den als intelligent eingestuften Gemeinen Lumpfisch wegen eines fehlgeleiteten Gefährts hätte zahlen müssen – also dreizehn Auslöschungszertifikate zu je 38.432 Euro –, fielen als Einzelposten kaum ins Gewicht. Und weil die 197 Mitgliedsstaaten der WKBA größtenteils ihre eigenen Gesetze in das Regelwerk der WKBA subsumiert hatten, gab es in den meisten Teilen der Welt jetzt weniger Hürden für die Auslöschung einer gefährdeten Art als je zuvor, zumindest seit die Gesetze Mitte des 20. Jahrhunderts in Kraft getreten waren. Das war das Erbe von Chiu Chiu. Jagdsaison für fast ausgestorbene Arten, Kalbshirncarpaccio für die Extinktionsindustrie. Hätte man einen der Demonstranten gefragt, die sich die Mühe gemacht hatten, Chiu Chiu als zwei Tonnen schweren Neoplasmaknödel aufleben zu lassen und ihn mit einem Katapult auf Halyard und seine Kumpels zu schleudern, hätte man ungefähr das als Antwort erhalten.

»Ich war gerade in der Gegend und dachte, ich schaue mal bei den Überlebenden vorbei!«, sagte Smawl, der Hermit Kingdom als kleiner Junge verlassen hatte, aber immer noch den Akzent seiner Eltern pflegte. Aus irgendeinem Grund trug er in letzter Zeit gern weit geschnittene Anzüge, deren Hosenaufschlag auf den Schuhen aufsaß, wie es vor fünf Jahren bei Leuten in Mode war, die fünfzehn Jahre jünger waren als er.

»Eigentlich saß ich nur im Auto dahinter«, sagte Halyard. »Und Mergen hat es noch nicht mal gesehen. Er war im Minibus.«

»Trotzdem, um ein Haar … Also, was ist das für ein Fisch?«

»Ein hässlicher kleiner Scheißer mit fiesem Gebiss.«

»Kein großer Verlust, wie es sich anhört.«

»Sein Status ist noch nicht bestätigt«, sagte Halyard, weil er nicht in der Stimmung war, Smawl auch nur mit der belanglosesten Neuigkeit zu erfreuen. »Aber ja, ich glaube auch nicht, dass viele um ihn trauern werden.«

»Die Familie meiner Frau sind fromme Muslime«, schaltete sich Ismayilov ein und starrte trübsinnig auf sein Wasserglas. »Sie sind der Meinung, dass es haram war, ihr Gehirn zerschneiden zu lassen. Wir diskutierten darüber, als sie im Sterben lag, und ich konnte mich durchsetzen, aber später erlaubten sie mir nicht, mit ihnen zu trauern.«

Smawl wirkte ein wenig verschreckt. Soweit Halyard wusste, hatte er Ismayilov noch nie getroffen. »Wie hat euch die Präsentation gefallen?«, fragte er.

Halyard zuckte mit den Schultern.

»Man könnte wirklich glauben, dass sie alle Probleme gelöst haben«, sagte Smawl. »Und, wisst ihr, offiziell glaube ich ihnen auch! Wenn unsere Leute hinter der WKBA stehen, ist das sicher kein Thema. Der Konnektom-Scan ist eine ausgereifte Technologie.« Smawl sah sich um, als wollte er sichergehen, dass keiner der Gastgeber zuhörte. »Aber habt ihr vom Hainan-Schopfgibbon gehört?«

Halyard war klar, dass er Smawl nicht in Ismayilovs Gegenwart weitersprechen lassen konnte. »Ja, habe ich. Aber sieh mal …«

»Ich habe davon nichts gehört«, sagte Ismayilov. »Was ist denn mit dem Hainan-Schopfgibbon?«

»Überhaupt nicht wichtig.« Halyard schüttelte den Kopf Richtung Smawl und fuhr sich mit der Hand über die Kehle, als wollte er sie aufschlitzen, wobei es ihm egal war, ob Ismayilov es mitbekam oder nicht. »Ich fand die Präsentation eigentlich sehr beeindruckend …«

Aber Smawl war zu erregt, weil Ismayilov noch nichts vom Hainan-Schopfgibbon wusste. »Der Hainan-Schopfgibbon ist ex« – was so viel bedeutete wie extinkt, nicht mehr existierend –, »aber sie haben einen Zehn-Nanometer-Scan, und dieses Labor in Shenzhen hat einen Probelauf gemacht, bei dem sie das gesamte Gehirn quasi in Echtzeit am Computer modelliert und es dann an einen Roboter-Körper angeschlossen haben – mit allen ein und aus gehenden Signalen –, und so hatten sie im Prinzip diesen toten Affen, der im Labor herumgerannt ist.« Er machte »Zzzt-zzzt-zzzt« und imitierte Roboterbewegungen.

»Sie haben ihn auferstehen lassen«, sagte Ismayilov.

Smawl nickte. Halyard deutete hektisch mit dem Zeigefinger in irgendeine Richtung. »Hey, Barry, ist das nicht …«

»Wie ging es weiter?«, fragte Ismayilov.

»Zuerst ist gar nichts passiert. Der Roboter hat sich nicht bewegt. Dann haben sie ein paar Parameter geändert, und offenbar hat der Roboter angefangen, sich die eigenen Gliedmaßen auszureißen.«

»Was?«, sagte Ismayilov.

»Ja, und ich weiß nicht, ob das so eine Art existenzielle Horrorvorstellung für den Affen war oder nur bei der Modellierung gepfuscht wurde, aber so oder so, allein die Vorstellung, dass sie so kurz davor sind, mithilfe dieser Scans das Bewusstsein eines Tieres zurückzuholen und startklar zu machen …«

Mit einem Schmerzensschrei schlug Ismayilov die Faust derart hart auf den Tisch, dass ihm seine Vorspeisengabel in den Schoß fiel. Alle um sie herum wandten sich um. Schnell stand Halyard auf und ging zu Ismayilovs Tischseite. »Warum gehen wir nicht ein bisschen frische Luft schnappen?«, sagte er.

Ismayilov hörte nicht auf zu wimmern, aber ließ sich vom Stuhl hochhelfen. »Dieser Affe«, sagte Ismayilov, während Halyard ihn zum Ausgang führte, an den Kellnern vorbei, die den Hauptgang servierten, »dieser Affe … dieser Affe bekommt zehn Nanometer, und selbst dann noch, selbst dann …«

»Das Scannen an sich funktioniert wunderbar, nur die Modellierung ist noch nicht ganz auf der Höhe«, sagte Halyard. »Das ist alles. Wenn die Modellierung weiter wäre, könnten wir morgen schon deine Frau zurückholen. Wir müssen einfach ein bisschen warten. Wie gesagt, Mergen, noch ein paar Jahre …«

»Aber was, wenn man sie zurückholt und sie wacht auf in ihrem neuen Körper und …«

Halyard klopfte Ismayilov auf den Rücken. »Pass auf, bis deine Frau an der Reihe ist, werden sie alle diese Probleme behoben haben. Ich meine, es ist ja nicht so, als ob sie …« Er unterbrach sich – gerade hatte er »als Allererste drankommen würde« sagen wollen. Er nahm eine andere Abzweigung. »Allein die Tatsache, dass der Affe dazu in der Lage war, sich die eigenen Gliedmaßen auszureißen – also diesen Plan zu fassen und ihn dann auch noch durchzuziehen –, das heißt doch, dass sie wirklich bemerkenswerte Fortschritte machen. Sie müssen schon eine ganze Reihe von Ausführungsproblemen gelöst haben. Dann sind das doch irgendwie auch … gute Nachrichten? Ein Meilenstein.« Ismayilov rang heftig die Hände, als wollte er selbst ein paar Mittelhandknochen loswerden.

Draußen gingen die beiden zur Promenade und setzten sich auf eine Bank mit Blick über den Kanal. Die gläsernen Neubauprojekte auf der anderen Seite des Wassers hatten sich architektonisch vage von den Lagerhäusern aus dem 18. Jahrhundert inspirieren lassen, die in ihrer Mitte standen, was eigentlich nur dafür sorgte, dass die älteren Gebäude verdrießlich wirkten, so als würden sie vermuten, dass man sich über sie lustig machte. Halyard konnte sich das Bedauern darüber, den Bankettsaal verlassen zu haben, nicht verkneifen, weil er immer noch unglaublich hungrig war nach anderthalb spektralen Portionen Kalbshirn, aber als Kollege und Fast-Freund fühlte er sich verpflichtet, mit Ismayilov hier so lange sitzen zu bleiben wie nötig. Also würde er es dem Aserbaidschaner überlassen, ihm ein Zeichen zu geben, dass er sich wieder gefangen hatte und sie zurückkehren konnten, ein Zeichen, mit dem Halyard in den nächsten fünf bis zehn Minuten rechnete, also innerhalb des Zeitfensters, in dem der Hauptgang serviert wurde.

Aber nach fünfunddreißig Minuten des Schweigens war Halyard nicht nur hungriger als je zuvor, er musste auch dringend schiffen, mit einem Seitenblick auf Ismayilov stellte er fest, dass der immer noch an seine tote Frau zu denken schien, an die unerträgliche Grausamkeit der Existenz etc. Was, wenn Ismayilov in einer Art Gedankenschleife festhing? Dann saßen sie für immer hier fest. »Willst du wieder reingehen?«, fragte Halyard.

Ismayilov schüttelte den Kopf. »Okay, macht es dir was aus, wenn ich mal kurz reinschaue?«

Nachdem er auf der Toilette war, steuerte Halyard den Bankettsaal an, aber es war zu spät. Die Kellner räumten bereits die Sorbetschalen vom Nachtisch ab. Also ging er in die Bar nebenan und sah sich die Speisekarte an. »Ich nehme drei Schüsselchen Oliven«, sagte er zum Barmann, »aber packen Sie sie der Einfachheit halber in eine große Schüssel. Und … ich gehöre zur Mosvatia Dinnerparty – werden Getränke übernommen?«

»Ja.«

Zufällig verfügte Halyard gerade über mehr Geld als je zuvor in seinem Leben, aber er konnte es nicht für rückverfolgbare Alltagsausgaben verwenden – und schon gar nicht für allzu offensichtliche Extravaganzen –, also fiel er auf alte Gewohnheiten zurück. »Ich nehme ein großes Glas Komagatake 30 Jahre«, versuchte er sein Glück. »Ein Eiswürfel.«

»Das gehört nicht zu den Getränken, die übernommen werden, Sir.«

»Machen Sie zwei draus.« Smawl stand plötzlich neben ihm. »Die gehen auf KTN«, fügte Smawl, der wahrscheinlich nicht die geringste Ahnung hatte, dass ein großes Glas Komagatake 30 Jahre in einem Kopenhagener Hotel irgendwo zwischen drei- und vierhundert Euro lag, mit einem Grinsen hinzu. Halyard wusste, dass er eigentlich ablehnen müsste, denn er hatte vorgehabt, seinen Absacker mit nach draußen aufs Trauerbänkchen zu nehmen; andernfalls war er verpflichtet, hier bei Smawl zu bleiben. Das war schon an sich keine verlockende Aussicht, aber er konnte der Vorstellung nicht widerstehen, dass Kohlmann Treborg Nham – diese blasierten Patrizier – für seinen Komagatake zahlten. Das Wissen, dass er ihn sich selbst leisten konnte, machte es nur noch verlockender – so konnte ihn wenigstens niemand einen Schmarotzer nennen. Er beschloss, den kosmisch teuren Whiskey so schnell zu trinken, wie er konnte, um sich dann wieder zu Ismayilov zu gesellen.

Die Drinks kamen und Halyard nahm einen kleinen Schluck. Er war hinreißend, wie das reine Destillat von tief stehender Herbstsonne, während dein Hund durchs Laub wühlt – sein Tag ohne Inzidernil war doch nicht umsonst gewesen. Und dass die Destillerie beim Bergrutsch des Mount Shogikashira zerstört worden war, machte es noch besser, denn die Vorräte an diesem Whiskey konnten nie mehr aufgestockt werden. Ihn hinunterzustürzen kam nicht infrage, und er beruhigte sich selbst damit, dass es keinen Unterschied machte, wenn er zehn Minuten länger wegblieb. Ismayilov würde es wahrscheinlich gar nicht bemerken.

Etwa anderthalb Stunden später beugte sich Smawl zu ihm hin. Sie saßen beide an der Marmortheke, als letzte Verbliebene des Mosvatia-Dinners. »Willst du wissen, was ich gehört habe?«, fragte Smawl. »Ich habe da eine wirklich gute Quelle.«

Halyard wartete. Smawl starrte ihn an. Halyard merkte, dass Smawl eine Antwort wollte. »Klar«, sagte er. »Prima.«

»Das musst du aber für dich behalten.«

»Okay.«

»Es ist groß. Ein dickes Ding! Aber ich habe es aus sehr verlässlicher Quelle.«

Halyard wartete.

»Das«, sagte Smawl, »wird wahrscheinlich alles auf den Kopf stellen.«

Halyard aß seine neunzigste Olive. »Was denn?«

Smawl kam noch näher. »Es geht das Gerücht, dass sie dieses Jahr mit Ja stimmen für das Biobanken-Ding. Sie werden es wirklich machen.«

Halyard ballte unwillkürlich die Faust. Er war so gefrustet, dass er sich gerade noch bremsen konnte, Smawl nicht anzubrüllen: »Herrgott noch mal, jeder in unserer Branche weiß das. Jeder. Das ist kein ›Gerücht‹, sondern eine anerkannte Tatsache. Ich habe mich neulich erst eines mittelschweren Finanzdelikts schuldig gemacht, das direkt darauf basiert. Du musst dich nicht vorbeugen und mich zappeln lassen, du verdammter Schimmelpilz.« Aber er dachte an die drei großen Gläser Komagatake auf Smawls Rechnung und schaute weg.

Das Ding mit den Biobanken bedeutete eine radikale Änderung der WKBA-Kriterien, die, wenn sie durchgesetzt würde, ein weiterer Triumph für Kohlmann Treborg Nham wäre. Die Neuerung war wie folgt: Selbst wenn von einer Gattung kein einziges lebendes Exemplar mehr auf Erden existiert, sollte diese Gattung dennoch nicht als ausgestorben gelten, solange sie Gegenstand einer sogenannten multimodalen Konservierung war. Damit waren DNA-Sequenzen gemeint, Mikrobiota-Profile, MRT-Scans des Körpers, Konnektom-Scans des Gehirns, Aufzeichnungen des Verhaltens in freier Wildbahn und Beschreibungen des Habitats und der Ernährung. Von der Nase bis zum Schwanz, wie man so schön sagt. All das würde auf Server der verschiedenen Biobanken der Welt hochgeladen werden, unantastbare Reliquienkammern wie diejenige, in der Ismayilov seine geliebte Frau aufbewahrte.

Der Weg zu dieser Reform wurde durch das wachsende Bewusstsein geebnet, dass ein physischer Körper, der sein Leben aushauchte, nicht unbedingt AM ENDE war. Das wäre zu simpel. Das Ende konnte vorher kommen – oder danach.

Es konnte vorher erfolgen, weil eine Spezies nicht nur aus einer Reihe von Körpern bestand. Sondern auch aus Gewohnheiten, Beziehungen, Territorien, Interaktionen. Man muss sich nur eine Krabbenart vorstellen, die sich darauf versteht, eine symbiotische Anemone so sanft zu massieren, dass die Anemone ihren Griff um die alte Schale der Krabbe löst und die Krabbe einer