Der Geruch der Seele - Jad Turjman - E-Book

Der Geruch der Seele E-Book

Jad Turjman

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Beschreibung

Eine bewegende Liebesgeschichte im syrischen Bürgerkrieg –und zugleich ein authentischer Bericht über Unterdrückung, Revolution und den Terror des IS. In der vibrierenden Stadt Damaskus herrscht 2010 die Ruhe vor dem Sturm. Hier verliebt sich der Sunnit Tarek in die alawitische Sanaa, und trotz aller Widerstände und Verbote werden die beiden ein Paar. Ihre heimlichen Treffen finden ein jähes Ende, als Tarek eingezogen und beim Militär in Gewaltaktionen und Antiquitätenschmuggel verwickelt wird. Es gelingt ihm, nach Europa zu fliehen, doch als Sanaa ihm folgen will, wird die junge Frau vom IS verschleppt und gefangen genommen. Was Sanaa in den Kerkern des IS erleiden muss, beruht auf authentischen Erlebnissen, wie auch Turjman in "Geruch der Seele" geschickt Bericht und Fiktion zu einem atemberaubend aktuellen Roman verdichtet.

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Jad Turjman

Der Geruch der Seele

Eine Liebesgeschichte in Zeitenvon Krieg und Revolution

© 2021 Residenz Verlag GmbH

Salzburg – Wien

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

www.residenzverlag.com

Alle Urheber- und Leistungsschutzrechte vorbehalten.

Keine unerlaubte Vervielfältigung!

Umschlaggestaltung: buero 8 / Thomas Kussin, unter Verwendung eines

Fotos von Safa Hasaballah

Typografische Gestaltung, Satz: Lanz, Wien

Lektorat: Jessica Beer

ISBN ePub:

978 3 7017 4666 8

ISBN Printausgabe:

978 3 7017 1747 7

Just because it’s fiction, doesn’t mean it’s any less true …

JODI PICOULT

Inhalt

Damaskus, April 2011

Damaskus, Juni 2010

Damaskus, Juni 2010

Damaskus, Juni 2010

Syrische Wüste, August 2015

Damaskus, Juni 2010

Arraqa, August 2015

Arraqa, August 2015

Damaskus, Juni 2010

Damaskus, August 2010

Damaskus, August 2010

Arraqa, September 2015

Damaskus, August 2010

Arraqa, September 2015

Damaskus, September 2010

Arraqa, September 2015

Damaskus, April 2011

Arraqa, September 2015

Damaskus, April 2011

Arraqa, September 2015

In der Umgebung von Homs, April 2011

Arraqa, September 2015

Damaskus, April 2011

Damaskus, August 2011

Damaskus, April 2012

Damaskus, April 2012

Damaskus, Mai 2012

Damaskus, Mai 2012

Damaskus, Mai 2012

Damaskus, Mai 2012

Bei Al-Hasaka an der irakischen Grenze, September 2015

Damaskus, Mai 2012

Bei Al-Hasaka an der irakischen Grenze, September 2015

An der libanesischen Grenze, Mai 2012

Bei Al-Hasaka an der irakischen Grenze, September 2015

Flughafen Erbil, September 2015

Flughafen München, September 2015

Flughafen München, September 2015

Flughafen München, September 2015

Damaskus, April 2011

»Meine Dame, ich habe mit meinen eigenen Augen gesehen, wie die Polizisten auf unbewaffnete, friedliche Demonstranten das Feuer eröffnet haben! Dutzende Menschen fielen auf der Stelle tot um und die Menge lief hysterisch und panisch in alle Richtungen davon«, schreit eine aufgeregte Stimme im Fernsehen. Tarek sitzt mit vorgeneigtem Oberkörper vor dem Fernseher und schaut gebannt auf den Bildschirm.

»Habibi, bitte schalte dieses Gefasel aus, du wirst doch nicht diesen letzten Morgen mit den Nachrichten verbringen statt mit mir!«, bittet seine Mutter Salma, während sie einen Plastikbeutel mit Brotröllchen in seinen Rucksack packt.

»Habibti, einen kleinen Moment, ich möchte diesen Augenzeugen noch bis zum Ende hören. Die Demonstrationen in Damaskus haben letzten Freitag eine neue Dimension erreicht!«, versucht Tarek, sie auf später zu vertrösten, ohne seinen Blick vom Bildschirm zu lösen.

»Die Demonstranten haben nur nach Freiheit und Reformen gerufen! Und die Regimeschlägertypen haben einfach in die Menge geschossen, es gab einige Tote, unter ihnen auch Kinder, und Dutzende wurden festgenommen!«, berichtet der Augenzeuge der Moderatorin weiter.

»Habibi, du darfst nicht alles glauben, das ist Al Jazeera, und die verbreiten nur Nachrichten, die der Agenda ihrer Geldgeber dienen. Und dieser Augenzeuge, wie heißt er«, Salma schaut genauer auf den Bildschirm, »der sitzt wahrscheinlich bei ihnen im Studio in Doha!« Sie setzt sich neben ihren Sohn, nimmt die Fernbedienung und wechselt auf einen staatlichen Kanal. »Unsere Quellen berichten über gewalttätige Ausschreitungen im Umland von Damaskus. Jugendliche Demonstranten schleuderten Molotow-Cocktails auf die Polizeistation und verletzten dabei mehrere Polizeibeamte. Die Demonstranten wurden festgenommen. Sie gaben an, von Geheimdiensten der USA und Saudi-Arabiens angeheuert und bezahlt worden zu sein«, berichtet eine stark geschminkte Moderatorin. Daraufhin zeigt ein kurzer Film einen der Festgenommenen, der mit reumütig gesenktem Blick zugibt, dass er mit Dollars dafür bezahlt wurde, den Einflüsterungen des Teufels nachzugeben, um die Bevölkerung aufzuhetzen. Unmittelbar danach wird ein rhythmisches Lied gespielt, unterlegt mit vielen Bildern des Präsidenten. »Und wie ist das, hier gilt das Prinzip, dass die Nachrichten nur der Agenda der Geldgeber dienen, nicht?«

Die Ironie in Tareks Frage ist eindeutig. Salma schaltet den Fernseher aus, legt die Fernbedienung auf den Tisch und rückt näher an ihren Sohn heran. Sie legt eine Hand auf Tareks Schulter und die andere auf sein Knie. »Habibi, auf meiner Zunge sind Haare gewachsen, so oft habe ich mit dir schon darüber diskutiert. Du musst aufpassen. Ab morgen bist du ein Soldat im syrischen Militär! Ich werde es dir nicht verzeihen, wenn du an diesen Demonstrationen teilnimmst. Ich kann es nicht verkraften, wenn dir etwas passiert!« Das Flehen in ihrer Stimme wird deutlicher. Salma merkt, dass ihre Worte Tarek nicht erreichen. So wird sie bestimmter und lauter: »Habibi, deine Generation hat die Siebziger- und Achtzigerjahre nicht erlebt, das Regime in Syrien ist nicht wie das in Libyen oder Ägypten. Es hat sich seit vierzig Jahren mit Feuer und Schwert tief verwurzelt. Sie werden erst gehen, wenn sie das ganze Land zugrundegerichtet haben. Ich weiß, wovon ich rede. Wir haben gesehen, was beim Massaker in Hama 1982 geschehen ist.«

Tarek steht auf und geht zum Fenster. Sein Herz ist schwer. Er schaut ins Leere und kann die Ironie des Schicksals nicht verstehen. Er träumt seit Jahren, dass dieses Regime und die Sippe dahinter ein Ende finden. Jetzt, wo es so weit ist, kann er nicht dabei sein, jetzt geht er nicht mit den Demonstranten auf die Straße, sondern muss seine Wehrpflicht erfüllen, um genau diesem Regime zu dienen.

Heute ist Sonntag, der Beginn einer neuen Woche. Und obwohl es erst acht Uhr früh ist, zeigt die Sonne schon ihre Kraft. Tarek beobachtet die Kinder, die spät dran sind und in ihren blauen Schuluniformen in die Schule laufen. Sie sehen aus dem fünften Stockwerk wie kleine Schlümpfe aus. Darüber hat Tarek sich öfter lustig gemacht, aber er hat auch Mitgefühl mit ihnen, er hat als Kind immer zu jenen gehört, die ein wenig zu spät kamen. Tarek hatte es gehasst, in die Schule gehen zu müssen, und sein Vater, der schon ganz verzweifelt war, musste ihn jeden Morgen mit Gewalt aus dem Bett werfen, da es weder half, ihn mit Wasser anzuspritzen, noch ihm vorzumachen, dass es schon acht Uhr war.

Gerade sieht er, wie der Schulwart das große Tor schließen möchte. Tarek kennt ihn gut. Vor Abu Mudar hatte Tarek damals große Angst, denn der verschloss immer absichtlich vor Tarek das Schultor, wenn dieser wie so oft zu spät kam. Das war seine Rache an dem Jungen, der, wenn er wieder einmal heimlich aus der Schule flüchten wollte, die Mülltonnen aufeinanderstapelte und, hinaufkletterte, wobei die Tonnen umkippten und ihren Inhalt über den Hof verteilten. In syrischen Schulen ist das Schulgelände wie ein Gefängnis von einer hohen Mauer umgeben und darf nur durch ein Tor betreten oder verlassen werden. Tarek war geübt darin, gemeinsam mit zwei Schulfreunden von der Mauer zu springen und unten abzurollen. Zu seinem Glück waren die Lehrer nachlässig und nahmen wegen seiner Abwesenheit nicht mit seinen Eltern Kontakt auf. Um genau zu sein, waren sie ganz froh, dass er öfters nicht in der Klasse war, denn er passte nie auf und war nur bemüht, Witze zu machen, um die anderen zum Lachen zu bringen.

Außerdem verspätete Tarek sich absichtlich, um sich die Rede des Direktors bei der morgendlichen Versammlung zur Fahnenbegrüßung im Schulhof zu ersparen, denn diese Rede über die Herrlichkeit und Glorie des ewigen Führers und seiner Partei wurde seit fünf Jahren wiederholt, ohne ein einziges Wort daran zu verändern. Tareks Onkel Nisar hatte ihm das Geheimnis der gleichbleibenden Rede offenbart. »Der Geheimdienst hat im Kopf des Direktors eine Schallplatte installiert, und jeden Tag drücken sie in der Zentrale auf einen Knopf«, erklärte er dem Jungen im Sommer 1999. Onkel Nisar studierte in Frankreich. Wenn er im Sommer nach Damaskus kam, durfte Tarek einige Zeit bei ihm verbringen. Er liebte den wachen Geist und die fantasievollen Geschichten seines Onkels.

Tarek hasste die Schule und die Lehrerinnen, die ihm bei jedem Versäumnis mit dem riesengroßen Holzstock gnadenlos auf die Hände schlugen. Ein Jahr später, als er in der fünften Klasse war, ersparte Tarek sich das Springen von der Mauer und ging oft gar nicht mehr in die Schule. Sein Onkel Nisar hatte ihm ein paar Bücher geschenkt, und auf einmal war er vom Lesen wie besessen. Er tat, als würde er in die Schule gehen, machte einen großen Bogen, steckte seine Schuluniform in den Rucksack, ging zurück zu seinem Wohnblock und verschwand im Keller. Zwischen den alten Möbeln las er bei schwachem Licht stundenlang. Eine Uhr hatte er nicht. Wenn er den Lärm der heimkehrenden Kinder hörte, kam er wieder aus seinem Versteck. Bald war er mit den Büchern von Onkel Nisar fertig. Tarek schaute sich zu Hause und bei Bekannten nach Lesestoff um, aber er stieß nur auf religiöse Bücher. In der Schulbibliothek war es nicht besser. Dort ging es nur um Geographie, Nationalismus und um die Herrlichkeit des Präsidenten und seiner Partei. Seine Suche war auf Romane ausländischer Autoren gerichtet, kam allerdings rasch an ihr Ende, weil sein Schulschwänzen aufflog und sein Vater ihn schmerzhaft wieder zurechtbog. An diesem Abend verwandelte sich sein Vater Basam in Rocky Balboa und boxte ihn so heftig von allen Seiten, dass Tarek nicht mehr wusste, wo sein Vater stand. Er solle nie wieder ans Schulschwänzen denken. Einen der Boxhiebe bekam er auf die Schulter, die ihn noch jahrelang schmerzen sollte.

Trotz allem las Tarek manchmal heimlich in der Klasse weiter. Eine Geschichte liebte er ganz besonders: »Die Verwandlung« von Franz Kafka. Er identifizierte sich stark mit der Hauptfigur. Wenn er schlechte Noten hatte und nicht in die Schule gehen wollte, fühlte er sich wie der Käfer. Später, als Erwachsener, würde er eine andere Interpretation für diese Metapher finden.

Nach all den Jahren wirkt der Schulwart Abu Mudar auf Tarek nicht mehr so bedrohlich wie damals, sein böser Blick ist milder geworden und mit seinem gebeugten Rücken steht er kurz vor der Pensionierung. Jetzt lässt er alle Kinder durch das geöffnete Tor, obwohl es schon zwei Minuten nach acht ist, und sperrt es erst nach dem letzten Nachzügler ab.

Tareks Blick bleibt auf das Schultor gerichtet, er ist ganz in Gedanken versunken. Er nimmt kaum wahr, dass Salma hinter ihn tritt. »Habibi, bitte schau immer darauf, dass dir nicht kalt ist«, sagt sie mit besorgter Stimme und umarmt ihn fest von hinten. Tarek blickt weiterhin schweigend aus dem Fenster. »Tarek! Hörst du mich?«, wird sie lauter. »Ja, Habibti, mach dir keine Sorgen! Außerdem ist schon Frühling und vielleicht habe ich ja Glück und werde in Latakia oder in Tartus am Meer stationiert«, erwidert Tarek, lächelt seine Mutter an und versucht, sie aufzurichten. »Nein, Habibi, sag das nicht. Lass uns doch hoffen, dass du in der Nähe von Damaskus stationiert wirst und oft nach Hause kommen kannst«, erwidert Salma.

»Was haben wir ausgemacht? Ruhe bewahren! Ich werde nicht sterben! Es sind nur ein Jahr und neun Monate. Die werde ich ganz sicher überleben. Außerdem weißt du doch, dass der Vater von Nauras ein hochrangiger Offizier ist, der sich sicher dafür einsetzen wird, dass ich einen relativ ruhigen Büroposten bekomme«, sagt Tarek tröstend.

Ihn bedrückt auch, dass sein Vater sein festes Ritual eingehalten und bei seiner zweiten Frau übernachtet hat, obwohl Tarek an diesem Tag zum Militär einrücken muss. Tarek ist mit der Regelung aufgewachsen, dass sein Vater jeden zweiten Tag bei seiner anderen Familie verbrachte. Tarek wusste von ihnen, hat aber weder seine drei Halbschwestern noch Basams zweite Frau jemals kennengelernt. Der Vater wollte diese strikte Trennung. Tarek hasste diese zweite Frau von Anfang an und machte sie für die Kälte in seinem Zuhause verantwortlich. In seinem Freundeskreis kennt er niemand, dessen Vater zwei Frauen hat. Basam beruft sich dabei auf die religiöse Erlaubnis zur Polygamie. Aber er weiß, der Koran verpflichtet den Mann, der mehrere Frauen heiratet, gerecht zu sein und sie ganz und gar gleich zu behandeln. Jedoch geht Gott im Koran davon aus, dass diese verpflichtende Gleichbehandlung keinem Mann jemals gelingen kann. Daher schläft Basam abwechselnd bei seiner ersten Frau Salma und bei seiner zweiten Frau. Und das ist das Einzige, womit Basam seinen beiden Frauen und Familien Gerechtigkeit widerfahren lässt.

Tarek hatte seine Enttäuschung darüber schon immer vor seiner Mutter verborgen, sie hatte unter diesem Mann genug gelitten, und er will auch heute keine alten Wunden aufreißen. Salma erfuhr durch Zufall von der zweiten Frau, einen Monat vor Tareks Geburt. Basam war bei der Geburt nicht dabei, als wollte er seinem Sohn gleich vermitteln, übernimm du meine Rolle bei deiner Mutter. Tarek erlebte seinen Vater zu Hause niemals lächelnd. Für ihn war deutlich, dass der Vater nur zu ihnen kam, weil er sich dazu verpflichtet fühlte. Sobald er die Wohnung betrat, setzte er sein Pokerface auf, nahm auf seiner Stammcouch Platz, schaute mit unbeweglicher Miene in den Fernseher und sprach mit Salma nur das Allernotwendigste. Tarek und seinen beiden Geschwistern hielt er nur ihre schulischen Misserfolge vor. Draußen bei seinen Freunden erlebte Tarek seinen Vater als rhetorisch begabten Charmeur und begnadeten Erzähler. Den staatlichen Kanal hatte er auf die lauteste Lautstärke aufgedreht. Tarek bewunderte seine Extrovertiertheit und sein Selbstbewusstsein, er ahmte den Vater nach und benahm sich in großen Runden wie er. Wie Basam liebte er es, den Frauenhelden zu spielen. Bei Festen begeisterte Basam Verwandte und Nachbarn mit seinen Erzählungen über jene Zeit, als er noch das Büro des Vizepräsidenten leitete. Mittlerweile hatte der Vizepräsident nach Frankreich fliehen müssen und dort Asyl erhalten. Ihm wurde unterstellt, in den Achtzigerjahren deutsche und französische Bestechungsgelder angenommen zu haben, um diesen Ländern zu gestatten, Atommüll in der Wüste bei Palmyra zu vergraben. Das Büro wurde daraufhin aufgelöst, Basam und alle Mitarbeiter eineinhalb Jahre in Untersuchungshaft genommen. Auch seine attraktive Sekretärin, mittlerweile Basams zweite Frau, wurde festgenommen. Jeder Mensch, der dem Vizepräsidenten jemals die Hand gegeben hatte, wurde über sein Verhältnis zu ihm befragt. Seitdem hatte sich das Leben für Tareks Familie grundlegend verändert, sie mussten sich von ihrem Wohlstand verabschieden und lernten, mit den neuen Umständen umzugehen. Basam versuchte mehrmals, sich selbständig zu machen, aber er scheiterte jedes Mal.

Tarek dreht sich um und nimmt Salma in die Arme. »Jetzt muss ich aufbrechen«, flüstert er an ihrem Ohr. Salma protestiert: »Warum willst du jetzt schon gehen, du musst dich doch erst um 12 Uhr bei deiner Aufnahmestelle melden!«

»Ich muss mich mit Adnan und Nauras treffen, bevor ich einrücke, das habe ich ihnen versprochen«, grinst Tarek. Er ist schon seit seiner Kindheit ein begnadeter Lügner, aber bei Salma hat ihm diese Begabung noch nie genützt, sie durchschaut ihn jedes Mal. Salma grinst zweifelnd zurück. »Du willst doch diese Alawitin treffen. Dir ist es wichtiger, mit ihr Zeit zu verbringen als mit deiner Mutter«, klagt sie wie ein kleines Kind. »Sanaa heißt sie, Mama«, und das Lächeln verschwindet aus seinem Gesicht. Tarek hat keine Lust, schon wieder über dieses Thema zu diskutieren. Ihm ist bewusst, dass diese Beziehung bei seiner sunnitischen Familie unerwünscht ist. Die religiösen Gegensätze sind so groß, dass es für einen Moslem akzeptabler ist, eine Christin zu heiraten als eine Alawitin, obwohl Alawiten und Sunniten islamischen Konfessionen angehören. Sein Onkel Nisar, der in Frankreich Chemie studiert hat, hat dort eine katholische Französin geheiratet. Das wurde in der Familie mit weit weniger Aufregung zur Kenntnis genommen als Tareks Beziehung mit Sanaa. Diese religiösen Grenzen haben für Tarek kein Gewicht. Er lächelt seine Mutter wieder an. In dieser Stunde des Abschieds soll kein Unfrieden aufkommen. »Ich lasse diese schönen Augen nicht traurig werden, trinken wir noch einen Mokka zusammen.« Mit diesen Worten geht er bereits Richtung Küche. Er holt sein Mobiltelefon aus der Tasche und schreibt Sanaa, dass er sich ein bisschen verspäten wird.

In der Küche füllt er die Kupferkanne für den Kaffee mit frischem Wasser und stellt sie auf den Gasherd. Er öffnet das Glas mit dem Kaffeepulver und atmet den Geruch des Mokkas, der mit Kardamom gemischt ist, tief ein. Tarek liebt diesen zurückhaltenden Duft des Kardamoms, der sich seiner Macht bei voller Entfaltung bewusst ist. Plötzlich klingelt es. Salma öffnet die Türe, es ist Sausan, Tareks Schwester. Sie betritt die Wohnung keuchend mit ihrem neunmonatigen Baby im Arm. Sie gibt es Salma weiter, stürzt in die Küche, auf Tarek zu und umarmt ihn fest: »Gott sei Dank habe ich dich noch erwischt!« Tarek freut sich, das tut ihm gut an diesem Tag. Die beiden hatten immer eine enge Beziehung. Sausan nennt Tarek »meinen Geheimnisbrunnen«. Er hatte sie, als sie noch ein Teenager war, oft vor den Händen des Vaters und des ebenfalls gewalttätigen Bruders Salman bewahrt. Tarek wusste alles von Sausans ersten Erfahrungen mit jungen Männern und reagierte gelassen darauf, was keineswegs üblich war. Tareks Haltung unterschied sich radikal von der seines jüngeren Bruders, der Sausan immer geschlagen hatte, wenn er sie unterwegs mit jungen Männern sah.

Salman hatte die Schule mit fünfzehn Jahren abgebrochen, den Beruf des Schneiders erlernt und führte mittlerweile einen eigenen Betrieb. Basam hatte Salmans Brutalität stets befürwortet und Tarek oft verspottet: »Salman schützt unsere Ehre, und du, du lernst von deinen ehrlosen Unifreunden, wie man Hörner aufsetzt.« Tarek würde erst später darauf reagieren können, als er erfuhr, dass sein Vater bei seinen Halbschwestern ganz andere Regeln anwendete. Sie dürfen sehr westlich und modern erzogen werden, denn ihre Mutter findet, dass sie ihre eigenen Erfahrungen machen sollen. Basam hingegen schwor nach jeder, oft auch gewalttätigen Auseinandersetzung mit Sausan, sie dem Ersten, der um ihre Hand anhielt, zur Frau zu geben. Und das tat er dann auch: Er akzeptierte den Heiratsantrag eines Metzgers und mutete Sausan diese Zwangsehe zu.

Inzwischen ist der Mokka fertig und Tarek kommt mit einem Tablett, auf dem alles hergerichtet ist, ins Wohnzimmer. »Hier ist der beste Mokka für die schönste junge Mutter auf der Welt!« Mit diesen Worten reicht Tarek seiner Schwester eine Kaffeetasse. Sausan lächelt zurück, aber langsam füllen sich ihre Augen mit Tränen. »Habibti, warum weinst du, es sind nur ein Jahr und neun Monate, und dann kehre ich zurück und ich werde euch sicher immer wieder besuchen können«, versucht er sie zu trösten. Doch Sausan weint nicht, weil ihr Bruder zum Militär eingezogen wird, sondern weil ihr Mann, der Metzger, wieder begonnen hat, sie zu schlagen. Salma versucht das Thema zu wechseln. Sie weiß ganz genau, dass Tarek darauf explosiv reagieren und es wiederum zu einer Auseinandersetzung mit seinem Schwager kommen wird. Zu ihrem Glück klingelt es in diesem Augenblick an der Haustür. »Vielleicht ist es dein Bruder Salman«, hofft Salma und geht zur Tür. »Was sagst du zu den Ereignissen im Land? Ist es eine gute Idee, jetzt zum Militär zu gehen?«, fragt Sausan ihren Bruder.

»Ich habe keinen anderen Plan, auch wenn es noch nie eine gute Idee war, zum Militär zu gehen. Ich bin sehr verwirrt«, seufzt Tarek.

»Mit Sanaa habe ich gestern telefoniert, sie weiß nicht so recht, wie sie mit der Situation umgehen soll«, will Sausan das Gespräch in eine andere Richtung lenken, stoppt aber abrupt, um kein Salz in die Wunden ihres Bruders zu streuen. »Was in den letzten Monaten passiert ist, war so surreal und hat alle unsere Pläne über den Haufen geworfen«, greift Tarek das Thema auf.

Da betritt Salma mit der Putzfrau Om-Fatima wieder den Raum. Als Tarek sie ansieht, zuckt er zusammen. Er hat vor dieser Frau seit seiner Kindheit Angst, und auch wenn er jetzt ein einundzwanzigjähriger, erwachsener Mann ist, schreckt er noch immer vor ihren finsteren Blicken zurück. Om-Fatima ist mittlerweile eine alte Frau, eine Beduinin aus der Wüste, die seit Jahrzehnten in dem teuren Barzeh-Viertel putzt, in dem Tareks Familie wohnt. Sie reinigt das Stiegenhaus und auf Anfrage die Wohnungen. Aber nicht nur das, sie liest auch aus Händen und Kaffeetassen und löst schwarzmagische Flüche und Schadenzauber auf. Ihr Aussehen ist seit Jahren immer dasselbe. Sie trägt eine schwarze, lange Abaya. Ihre Stirn schmückt eine Kette mit bunten Steinen. Ihre Augen sind nachtschwarz umrandet, und sie hat auf der Stirn eine Tätowierung, vier blaue Punkte und ein roter, die ein verkehrtes Kreuz bilden. Unter der Unterlippe schmückt sie ein mysteriöses Tattoo. Tarek glaubt allerdings nicht an ihre übersinnlichen Fähigkeiten, er empfindet nur große Abneigung ihr gegenüber, denn sie hat ihm als Kind sehr wehgetan. Damals, als Tarek neun Jahre alt war, hatte Salma Om-Fatima gebeten, zu überprüfen, ob Tarek von einem Djinn besessen war, da er zeitweise kaum zu bändigen war und oft mit dem Fußball in der Wohnung randalierte. Die alte Frau saß damals auf der Couch und Tarek musste vor ihr auf dem Boden niederknien. Sie drückte fest auf seinen rechten Zeigefinger und murmelte dabei etwas in einer unverständlichen Sprache. Der Druck wurde immer stärker, sodass Tarek zu weinen und zu schreien begann. Als er den Druck nicht mehr aushalten konnte, biss er in ihre Hand, rannte in sein Schlafzimmer und versteckte sich unter dem Bett. Das Problem löste sich allerdings von selbst, als seine Eltern draufkamen, dass ihm sein Onkel Nisar stets Gläser mit Schokoladencreme mitbrachte, wenn er mit seiner französischen Frau aus Paris zu Besuch kam. Tarek aß die Creme nicht auf Brot, sondern löffelte die Herrlichkeit heimlich in seinem Zimmer. Im Kasten fanden sich einige leergegessene Gläser, und als Tarek daraufhin seinen Zuckerkonsum radikal einschränken musste, legte sich auch seine Hyperaktivität.

Om-Fatima geht auf Tarek zu und legt ihre Hand auf seine Schulter. »Ich habe gehört, du rückst heute ein. Möge dir Gott den richtigen Weg voller Wohltäter offenbaren«, wünscht sie ihm. Tarek spürt ihre Hand schwer auf seiner Schulter, als hätte sie hundert Kilo, und so neigt er seinen Körper ein wenig. Er will nicht unhöflich sein, aber er will ihre Hand nicht spüren.

Sausan fragt Om-Fatima: »Liest du mir endlich einmal aus der Hand? Ich möchte wissen, wann mein Mann sterben wird!«

»Ich darf niemals den Tod eines Menschen verraten. Ja, ich lese dir aus der Hand, aber erst, wenn Tarek mir erlaubt, auch seine Hände zu lesen«, antwortet sie und schaut ihm dabei in die Augen. Om-Fatima lässt sich nie dafür bezahlen, die Zukunft aus der Hand zu lesen, sie macht es selten und nur, wenn sie Lust dazu hat. Viele Nachbarn schwören auf ihre hellseherischen Fähigkeiten. Tarek ließ sich aber nie davon beeindrucken, obwohl sie ihm ihre Dienste schon einmal angeboten hatte. Er hält das Ganze für Schwachsinn. Sausan versucht ihren Bruder zu überzeugen, und der verdreht die Augen, streckt den Arm aus und sagt: »Ich muss in zehn Minuten den Bus erwischen! Sei also kurz und prägnant!«

Om-Fatimas Augen glänzen und werden ganz schmal. Sie setzt sich im Schneidersitz vor Tarek auf den Boden und nimmt seine Hände. Es ist wie damals, nur mit vertauschten Sitzpositionen. Sie wirft einen Blick auf seine Handflächen und atmet tief ein. Tarek spürt sofort Om-Fatimas ungeheure Energie. Er kann nicht zuordnen, ob sie positiv oder negativ ist, auf jeden Fall aber ist sie ihm zu stark. Er setzt sich auf, macht sich breit und zieht die Augenbrauen zusammen. Er möchte mit dieser Energie nicht in Kontakt kommen. Salma und Sausan setzen sich zu ihm und richten ihre Blicke fest auf Om-Fatima. Alle schweigen. Salma schaltet den Fernsehapparat aus. Nach einer Minute bricht Tarek das Schweigen. »Und? Kannst du mir jetzt sagen, wann ich Präsident werde?« Om-Fatima schaut ihm kurz in die Augen und blickt wieder in seine Hände. Dann beginnt sie eindrücklich zu sprechen. »Vor dir liegt ein langer und mühevoller Weg, der dir ein unbekanntes Territorium in deiner Seele offenbaren wird. Jedoch musst du ihn zu Ende gehen und viel Schmerz durchleben. Ich könnte dir sagen, rück nicht ein, geh nicht zum Militär, aber den einfachen Weg im Leben zu nehmen, führt niemanden zu sich selbst. Nur wenn du Leid und Anstrengung in Kauf nimmst, kannst du dir selbst begegnen.«

Om-Fatima schaut mit ernster Miene zwischen Tareks Augen und seinen Händen hin und her. Tarek kann ihre Worte nicht einordnen, aber er hört weiter wortlos zu. »Ich sehe auch, dass du dir deine Finger an der Liebe schwer verbrennen wirst. Aber scheue auch davor nicht zurück. Wer von der Liebe besiegt wird, hat gewonnen. Merke dir diese Worte gut und behalte sie wie Ohrringe in deinen Ohren: Die Liebe ist wie ein Kamin. Um das Feuer am Brennen zu halten, muss man klug mit ihm umgehen können. Man darf nicht zu wenig Holz hineinwerfen, sodass es erlischt, und auch nicht alles Holz auf einmal, sodass man es in der Nähe nicht mehr aushält.« Om-Fatimas Ton ändert sich, sie spricht nicht mehr voll Überschwang und theatralisch, sondern bedächtig und wohlwollend. Tarek zieht seine Hände aus den ihren und meint spöttisch: »Danke für die Prophezeiung, Frau Wahrsagerin! Schau nicht so viele Hollywood-Filme!« Er hätte ihr gerne noch gesagt: Welche Zukunftsaussichten, die man vorher überhaupt wissen will, haben wir in diesem Land, in dem wir wie Schafe leben, aber er hält sich zurück. So steht er auf, umarmt seine Mutter und seine Schwester lange, küsst dann das Baby auf die Stirn, nimmt seinen Rucksack und geht, denn Sanaa wartet auf ihn im Park. Er will noch möglichst viel Zeit mit ihr verbringen.

Ihr Plan für eine gemeinsame Zukunft ist zunächst gescheitert, sie müssen sich einen neuen Plan ausdenken, und die Hürden, die sie schon überwunden haben, waren nur eine Kostprobe dessen, was ihnen bevorsteht.

Damaskus, Juni 2010

Um acht Uhr wäre Tareks erste Vorlesung auf der Uni gewesen. Um Punkt acht Uhr öffnet er die Augen. Er hat schon wieder verschlafen. Kaffeearoma erfüllt den Raum und strömt in seine Nase. Seine Mutter hat wie jeden Tag den Mokka mit Kardamom nach ihrer Geheimmethode gekocht. Der Geruch hat auf ihn eine magische Wirkung, er ist blitzschnell hellwach und gleichzeitig von einer tiefen Ruhe erfüllt. Er hört Gesprächsgeräusche vom Balkon her. Die Nachbarinnen trinken den Mokka heute bei seiner Mutter. Sie wechseln sich jeden Tag bei ihrem festen Ritual ab, morgens gemeinsam Kaffee zu trinken, über die Nachbarinnen der anderen Wohnblocks zu lästern und neueste Informationen auszutauschen. Langsam steht er auf, ohne sich zu beeilen. Seit einiger Zeit lässt er die erste Vorlesung gerne ausfallen. Er hat die Begeisterung für das Studium der arabischen Literatur mittlerweile verloren, obwohl er als Jugendlicher große Liebe und Leidenschaft für die arabische Sprache und ihre Schrift empfunden hatte. Doch Arabischlehrer will Tarek nicht werden. Dafür hasst er die Schule zu sehr. Und er hat langsam begriffen, dass er vom Gedichteschreiben nicht einmal einen Hund ernähren kann. Früher schrieb er viele Gedichte über Liebe, Sehnsucht und Ekstase an eine fiktive Frau, häufig in der Mathematikstunde. Leider erwischte ihn der Lehrer ab und zu und es gab Schläge mit einer Holzstange auf die Hände für seine Unaufmerksamkeit. Nicht nur vom Lehrer wurde er ertappt, auch von seinem Vater. Einmal, vor dem Freitagsgebet, suchte sein Vater nach einer Nagelschere. Dabei öffnete Basam eine der Schubladen und fand die zusammengefalteten Zettel mit den Gedichten.

Basam las den ersten Text, in dem er sich darüber lustig machte, dass der verstorbene Vater des Präsidenten stets als ewiger Führer bezeichnet wurde. Basam stürzte in Tareks Zimmer und gab ihm wortlos eine solche Ohrfeige, dass Tarek minutenlang ein Klingen im Ohr hörte. Sein Vater zerriss den Zettel mit dem Text, drehte sich zu Tareks Bücherregal und riss einige Bücher heraus, die ihm Onkel Nisar geschenkt hatte.

»Dieser Blödsinn verdirbt deinen Kopf! Oder willst du dasselbe Schicksal wie Onkel Nisar erleiden?«, brüllte Basam, als er mit den Büchern das Zimmer verließ.

Nisar war vor drei Jahren verhaftet worden, und Basams Nerven waren deswegen auf das Allerhöchste angespannt. Denn als sein Bruder sich 2002 nach Abschluss seines Chemiestudiums mit seiner französischen Frau in Damaskus niedergelassen hatte, hatte er sich öffentlich zu Menschenrechten und journalistischer Freiheit geäußert. Er war daraufhin in einer Nacht-und-Nebel-Aktion verhaftet worden und seither fehlte jede Nachricht von ihm und seinem Schicksal.

Basam verbrannte die Bücher und Tareks Texte. Seit diesem Abend schrieb Tarek nur mehr wenige Gedichte, jedenfalls nichts Politisches mehr, und Romane will er schon gar nicht verfassen. Er hält Schriftsteller für einsame Einzelgänger, die kein Sozialleben haben. Außerdem lesen Araber nicht viel, und wenn, dann meistens Werke von ausländischen Autoren. Die syrischen Autoren und ihre Werke verschwinden in den Kellern der Geheimdienste. In Baramkeh gibt es einen Buchbasar, das ist der beliebteste Ort in Damaskus, um Bücher zu kaufen. Die Händler dort verkaufen haufenweise ins Arabische übersetzte Trivialromane. Onkel Nisar ist Tareks Vorbild. Er stellte sich oft vor, was der Onkel im Gefängnis gerade machte.

Salma sitzt schon seit einer Stunde mit Wisal, Maisaa und Fardous, ihren Nachbarinnen, auf dem Balkon mit Ausblick auf die Stadt. Sie trinken ihren Mokka, und im Hintergrund singt Fairuz mit ihrer sanften Stimme. Das ist die morgendliche Göttin des Gesanges, eine libanesische Sängerin, deren Lieder jeden Tag von sechs bis neun Uhr in der Früh an jeder Ecke von Damaskus gespielt werden.

»Wieso bist du noch da?«, fragt Salma ihren Sohn. »Vielleicht solltest du dir irgendwann doch einen Wecker anschaffen, sonst schließt du dein Studium erst mit Krücken ab«, sagt sie, und die Nachbarinnen kichern. Von der Erfindung des Weckers hält Tarek nicht viel. Er behauptet immer, dass der Wecker ihn dumm mache und ihm den ganzen Tag eine Blockade im Kopf bescheren würde. Er wache lieber von selbst auf. Es mache ihn produktiver.

Eigentlich ist Tarek mit seinen Gedanken ganz woanders. Er verspätet sich absichtlich, um im Bus Sanaa zu sehen, eine Studentin, die an derselben Universität studiert wie er. Sie ist bereits im dritten Semester und für sie beginnen die Vorlesungen erst um neun. Auf der Uni will Tarek sie nicht ansprechen, aber zum Glück wohnt sie in der Nähe und nimmt manchmal den gleichen Bus wie er, um zur Uni zu fahren. Heute will er die Gelegenheit nutzen, um sie endlich einmal anzusprechen.

Er zieht sich mit großer Sorgfalt an und besprüht sich übermäßig mit seinem »Amber«-Parfum.

»Trinkst du jetzt einen Mokka mit uns oder nicht?«, ruft Salma ungeduldig. »Sag etwas oder hat die Katze deine Zunge gefressen?«, fügt sie hinzu. Tarek geht zu ihnen auf den Balkon und küsst seine Mutter auf die Stirn. »Zu deinem Mokka kann ich nicht Nein sagen, das ist der beste Wecker auf der Welt«, antwortet Tarek. Salma kann kaum atmen, die Duftwolke, die Tarek umgibt, ist zu stark. Sie hält sich einen Teil ihres Kopftuches vor den Mund. Auf dem Balkon muss sie Kopftuch tragen, da ist sie in der Öffentlichkeit.

»Es ist immer wieder verwunderlich, wie du dich in diesem Saustall von einem Zimmer so hochzeitsreif herrichten kannst«, stichelt Salma weiter.

»Und was ist der Anlass, dass du dich so fein machst?«, wundert sich Wisal.

»Habe ich sonst schlecht ausgeschaut?«, will Tarek wissen. »Das mache ich nur für mich«, fügt er hinzu.

»Hol dir eine Tasse aus der Küche«, fordert ihn Salma auf. Aber Tarek will keine Zeit verschwenden. Er gießt sich aus der Kupferkanne einen Mokka in Salmas Tasse, trinkt ihn im Stehen in einem Schluck aus und verabschiedet sich.

Als Kind liebte er es, in der Runde von Salmas Nachbarinnen zu sitzen und zuzuhören. Die Frauen erzählten die spannendsten Geschichten, besonders aufregend waren die von Wisal. Sie arbeitete bis zu ihrer Pensionierung als Gerichtsschreiberin und ihre geheime Schatztruhe ist voller Geschichten. Salma ruft ihm nach: »Du bist ein echter Dimashqi, wie dein Vater, euch bringen nur Frauen zum Aufblühen!«

Tarek läuft die Treppen hinunter. Sein Nachbar aus dem vierten Stock, der Apotheker, schließt gerade hinter sich die Wohnungstür ab.

»Gott beglücke deinen Morgen, Nachbar«, begrüßt ihn Tarek im Vorbeigehen.

»Wohin, wohin? Warte kurz, ich wollte dich fragen, wo ihr eure neue Klimaanlage gekauft habt. Ich habe von meiner Frau gehört, dass sie gut ist. Es ist mittlerweile Juni, wir haben mittags schon 35 Grad, wie wird das erst im August werden? Unsere alte funktioniert nicht mehr gut«, will der Apotheker wissen.

»Die Europäer würden ›Klimawandel‹ sagen«, erwidert Tarek.

»Die Europäer haben andere Probleme. Sag mir, was eure Anlage gekostet hat. Sie scheint teuer zu sein, denn der äußere Teil ist sehr leise«, sagt der Apotheker neugierig.

»Mein lieber Nachbar, ich schicke dir die Nummer des Installateurs, und er wird dir weiterhelfen. Die Preise ändern sich ständig«, meint Tarek im Weitergehen.

»Warte kurz! Ich fahre bei deiner Uni vorbei, du kannst mitfahren!«, bietet ihm der Nachbar an.

»Ich gehe heute nicht zur Uni, ich muss meinem Bruder im Geschäft helfen. Salam aleikum«, lügt Tarek.

Tareks Bruder Salman hat eine Schneiderei für Damenbekleidung. In Wirklichkeit hat Tarek seinem Bruder noch nie ausgeholfen. Ihr Verhältnis ist nicht besonders gut.

»Für deine Gedichte bekommst du nur dann Geld, wenn du sie als Einwickelpapier für Falafelröllchen verwendest«, spottet Salman, wenn bei Familientreffen über Tareks Zukunftsperspektiven gesprochen wird.

»Was stört dich daran? Es ist doch gut so, du machst Kleider für Frauen, die sich für ihre Männer hübsch machen wollen, und ich schreibe Lieder für Frauen, die ihre Männer vermissen. Außerdem es ist eine super Werbekampagne, wenn meine Schriften als Einwickelpapier genutzt werden. Ich erreiche die Menschen zu einer besonderen Zeit, dann haben sie etwas für den Magen und die Seele gleichzeitig«, kontert Tarek. In Wahrheit jedoch jobbt er auf einer Baustelle bei einem Elektriker.

Tarek tritt auf die Straße. Es ist ein herrlicher Tag, wolkenloser Himmel, die Sonne steht noch nicht im Zenit, es ist angenehm warm. Die Vögel zwitschern so enthusiastisch, dass man die einzelnen Stimmen nicht unterscheiden kann. Der Geruch des Frühlings liegt noch stark in der Luft. Die Dimashqis wohnen in Barzeh, einem reichen Stadtteil am Rand von Damaskus mit vielen kleinen Gärten zwischen den Wohnblocks, in dem viele Beamte und hochrangige Offiziere leben. Die Damaszener haben eine große Vorliebe für Blumen und alle Grünpflanzen. Auch wenn man die Stimmen der Vögel nicht unterscheiden kann, so kann man unter den vielen Blumengerüchen doch einen herausriechen: So unterschiedlich die Bewohner das kleine Grün vor ihrer Haustür auch gestalten, alle sind sich darin einig, Jasmin zu pflanzen. Die Vielfalt an Religionen und Konfessionen in dieser Nachbarschaft ist auch eines der Merkmale dieses Viertels. Nach dem Vorbild der Altstadt wurde hier eine Kirche neben einer Moschee gebaut. Von Tareks Balkon sieht es so aus, als würden sich die beiden Türme umarmen.

Tarek schaut auf die Uhr, es ist acht Uhr fünfunddreißig. Die Busse in Damaskus haben keinen Fahrplan. Aber er hat beobachtet, dass Sanaa um diese Zeit zur Universität fährt. So läuft er zur Hauptstraße hinunter und hat nur einen Gedanken im Kopf, den er ständig wiederholt: »Sprich sie, verdammt noch einmal, endlich an! Hast du nicht gesehen, was ihre Augen dir sagen?« Er klopft sich mit der Faust an die Schläfe. Plötzlich zuckt er zusammen: Hinter ihm macht ein Auto eine Vollbremsung und der Fahrer hupt ununterbrochen. Tareks Puls schießt in die Höhe, er springt auf die Seite und schaut nach hinten. Sein Freund Nauras lacht sich hinter dem Lenkrad kaputt. Erleichtert, wenn auch nicht begeistert, beruhigen sich Tareks Gesichtszüge und er nähert sich dem Auto seines Freundes.

»Wie ich immer sage, du bist der Sohn des Harams!«, ruft er. So nennt man in Damaskus Menschen, die durch außerehelichen Sex gezeugt wurden. »Aber gut, jetzt habe ich mehr Adrenalin im Blut. Das brauche ich heute.«

»Steig ein, ich fahre bei deiner Uni vorbei«, fordert ihn Nauras auf. Sein Kindheitsfreund studiert Wirtschaftswissenschaft an einer Privatuniversität außerhalb von Damaskus. Nauras stammt aus einer wohlhabenden Familie und hat ein eigenes Auto. Das gehört eigentlich dem Militär, aber sein Vater verfügt über mehrere Dienstautos, über deren Nutzung er frei bestimmen kann. Er ist einer der wenigen Sunniten, die einen hohen militärischen Rang erreicht haben. Die überwiegende Mehrheit der Militär- und Geheimdienstoffiziere sind Alawiten und kommen aus der Küstenregion wie der Präsident selbst. »Nein, ich muss mit dem Bus fahren, denn heute ist der Tag, ich werde Sanaa auf einen Kaffee einladen oder sie jedenfalls ansprechen, ich weiß es noch nicht genau«, lehnt Tarek das Angebot ab.

»Ich verstehe deine Logik nicht. Du sagst, sie läuft den ganzen Tag bei dir auf der Uni herum, und du willst sie unbedingt im Bus ansprechen?«, fragt ihn Nauras mit hochgezogenen Augenbrauen. »Sanaa ist doch eine privilegierte junge Frau. Sie lässt sich von den Chauffeuren ihres Vaters fahren, du wirst sie im Bus nicht erwischen!«

»Auf der Uni kann ich sie nie alleine sprechen, sie ist immer in Gesellschaft ihrer Freundinnen. Und es gibt einige alawitische Kollegen, die gar nicht davon begeistert wären, wenn ich sie anspreche. Du kennst Saker, den Sohn von Oberst Maher Saleh, dem größten Tier beim Geheimdienst. Er läuft ihr auf der Uni immer hinterher«, erklärt Tarek fast verzweifelt.

»Ja, das verstehe ich«, antwortet Nauras, »mit der Präsidentenverwandtschaft würde ich mich auch nicht anlegen. Sakers Vater ist berüchtigt. Er kann zum Tode Verurteilte vom Galgen befreien und dafür jemand anderen aufhängen lassen. Dann wünsche ich dir viel Glück, mein Freund! Und nicht vergessen, heute Abend spielen wir bei Adnan Karten. Bring deine Shisha mit!« Mit diesen Worten fährt Nauras los.

Tarek geht weiter zur Hauptstraße. Da bemerkt er, dass der Bus langsam vorbeifährt. Er steckt zwei Finger in den Mund und stößt einen schrillen Pfiff aus, um den Busfahrer auf sich aufmerksam zu machen. Der Fahrer bemerkt ihn, gibt ihm ein Zeichen mit der Hand, dass der Bus voll ist und Tarek nur einen halben Sitzplatz haben kann, denn in diesem abgenutzten Minibus kann man nicht aufrecht stehen. Tarek nähert sich und schaut suchend hinein, ob Sanaa drinnen sitzt. Zu seiner Enttäuschung findet er sie nicht. Schnell entscheidet er sich, auf den nächsten Bus zu warten. Er dreht sich um und sucht mit Blicken die Straße ab. Und dann passiert, was heute nicht passieren sollte: ein Auto mit Militärkennzeichen fährt an ihm vorbei. Er kennt dieses Auto nur zu gut. Es ist das von Sanaas Vater, General Tamim Mahmoud. Er blickt kurz hinein und ist enttäuscht: Sanaa sitzt hinten und wird vom Chauffeur ihres Vaters gefahren. Sie halten kurz Augenkontakt. Sie lächelt schüchtern. Ihr Lächeln macht Tarek wahnsinnig. Er kann nicht genau einordnen, was ihn an Sanaa fasziniert … Ihre großen, grünen Augen mit Augenbrauen wie gebogene Schwerter darüber oder ihr magisches Lächeln oder ihre zarte, braune Haut oder ihre langen, dunkelbraunen Haare. Vielleicht ist es auch ihre energiegeladene Ausstrahlung oder einfach alles zusammen.

Aber jetzt ist alles umsonst gewesen, er hat zwei Einladungen, mitzufahren, ausgeschlagen und konnte Sanaa trotzdem nicht ansprechen. Nun muss er auch noch auf den nächsten Bus warten. Er setzt sich auf eine kleine Mauer neben der Straße und holt die Kopfhörer aus der Tasche. Aber zu seinem Glück hält ein Auto neben ihm, es ist Nauras: »Ich habe gesehen, dass sie im Auto sitzt. Ich habe mir gedacht, ich hole dich ab, bevor du hier wie ein einsamer Hund ewig wartest!«

Damaskus, Juni 2010

Die Hauptstraßen sind um diese Zeit verstopft wie beim Jüngsten Gericht. Nauras manövriert das Auto durch die Nebenstraßen von Damaskus, während er gleichzeitig im Handschuhfach die CDs durchwühlt. »Schau bitte auf die Straße, nicht dass du ein Kind umfährst«, weist ihn Tarek zurecht. Er ist äußerst schlecht gelaunt.

»Jetzt komm schon, lass deinen Frust nicht an mir aus! Außerdem kenne ich die Stadt auswendig wie meinen Namen, ich kann das Auto mit verbundenen Augen durch die Gassen lenken«, behauptet Nauras. Er schiebt eine CD in den Player und spielt ein rhythmisches Lied von Tamer Hosny. Seine Lieder sind derzeit Dauerbrenner. Nauras dreht die Musik ganz laut, grinst wissend und fordert Tarek mit Gesten und Mimik auf, während er laut mitsingt: »Du bist die, die den Burschen in unserer Gasse schlaflose Nächte bereitet.« Bei der nächsten Strophe hebt Tarek die Hände und beginnt, ohne dass sich die ernste Miene in seinem Gesicht ändert, sich mit Nauras zu bewegen und zu singen: »Und du hast aus ihren Herzen ein papierenes Fußkettchen gemacht …«

Die beiden sind Freunde, seit sie denken können.

Nauras hat schon als Kind Autofahren gelernt. Sein Vater war stolz darauf und freute sich, bei seinen Freunden damit angeben zu können. Er nahm Nauras schon als kleines Kind auf den Schoß und ließ ihn lenken. Mit vierzehn nahm Nauras oft abends heimlich den Dienstwagen seines Vaters, um seine Freunde abzuholen und mit ihnen herumzufahren. Da er damals noch recht klein war, sah man ihn im Vorbeifahren kaum hinter dem Lenkrad sitzen. Er brachte auch Tarek das Fahren bei und ließ ihn immer wieder in der Gasse hin- und herfahren. Die Polizei konnte ihnen nichts anhaben, denn sie würde es nie wagen, ein Auto mit militärischem Kennzeichen anzuhalten.

Nauras möchte Tarek wieder zum Lachen bringen und erinnert ihn an eine ganz besonders lustige Begebenheit, die sie gemeinsam erlebt haben, als sie ungefähr fünfzehn Jahre alt waren. Nauras, Tarek und ihr Freund Adnan begannen damals, auch das Auto von Tareks Vater nachts, wenn dieser schlief, »auszuborgen«. Einmal beschlossen sie, auf den Qasiun zu fahren, jenen legendären Berg, auf dem Kain seinen Bruder Abel erschlagen haben soll. Der Qasiun beschützt gleichsam die Stadt, außerdem ist der Blick von oben auf Damaskus atemberaubend. In einer Augustnacht war es so weit, die Stadt schlief noch nicht, viele Nachtschwärmer waren zum Gipfel unterwegs, um dort eines der zahlreichen Lokale an der Panoramastraße zu besuchen, die bis zum Sonnenaufgang geöffnet sind. Oben trafen sich alle Gesellschaftsschichten, es gab einfache Lokale mit Hockern und Shisha, doch je weiter man fuhr, desto nobler wurden die Restaurants. Ganz am Ende der Straße konnte man in einigen Restaurants das Monatsgehalt eines gewöhnlichen Beamten für ein Abendessen ausgeben. Mit einem Polster auf der Sitzfläche, um die unbeleuchtete Straße etwas besser sehen zu können, lenkte Tarek das Auto mühsam den Berg hinauf. Kurz vor der Panoramastraße kamen sie an der berüchtigten Luststraße vorbei. Das war für die jungen Männer wesentlich aufregender als die Aussicht auf Damaskus. Diese Straße auf der anderen Seite des Berges war dafür bekannt, dass Paare, die verbotenen Sex suchten oder sich auch nur ungestört näherkommen wollten, hier im dunklen Auto heimlich ihre Lust ausleben konnten. Als die drei Freunde an den parkenden Fahrzeugen vorbeifuhren, wurden ihre Hälse länger und länger, und mit offenen Mündern und großen Augen schauten sie nach links und rechts. Der Nervenkitzel war groß, doch eigentlich konnten sie nicht viel sehen, denn die meisten Scheiben waren angelaufen oder verdunkelt. Am Ende der Autoschlange jedoch parkte ein Fahrzeug mit offen stehendem Fenster, der Fahrer rauchte entspannt eine Zigarette, neben ihm war aber niemand zu sehen. »Der arme Kerl fährt alleine hinauf«, bemitleidete Adnan ihn. »Du bist der Arme, mein Freund, der hat es am allerbesten«, lachte Tarek ihn aus. Es dauerte nicht lange, bis sie die gut beleuchtete Aussichtsstraße erreichten.