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Nur wenn du die Tür öffnest, kann das Leben dich finden.
An einem Winterabend in Stockholm beobachtet der junge Künstler Elias, wie eine Frau in seinen Wohnkomplex einzieht. Doch nachdem sie ihre Tür geschlossen hat, wird sie nicht mehr gesehen. Ein fehlgeleiteter Brief bietet Elias schließlich die Gelegenheit, mit der Nachbarin Kontakt aufzunehmen. Doch in dem dunklen Apartment rührt sich nichts. Elisabeth will allein sein, und ihre einzige Gesellschaft sind die ungebetenen Geister der Vergangenheit. Elias gibt allerdings nicht so schnell auf und spannt seinen Freund, den älteren Witwer Otto, dazu ein, Elisabeth ins Leben zurückzuholen. Und während der Frühling zum Sommer reift, entspinnt sich zwischen den dreien eine zarte Freundschaft.
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Seitenzahl: 296
Veröffentlichungsjahr: 2022
Zum Buch
An einem Winterabend in Stockholm beobachtet der junge Künstler Elias, wie eine Frau in seinen Wohnkomplex einzieht. Doch nachdem sie ihre Tür geschlossen hat, wird sie nicht mehr gesehen. Ein fehlgeleiteter Brief bietet Elias schließlich die Gelegenheit, mit der Nachbarin Kontakt aufzunehmen. Doch in dem dunklen Apartment rührt sich nichts. Elisabeth will allein sein, und ihre einzige Gesellschaft sind die ungebetenen Geister der Vergangenheit. Elias gibt allerdings nicht so schnell auf und spannt seinen Freund, den älteren Witwer Otto, dazu ein, Elisabeth ins Leben zurückzuholen. Und während der Frühling zum Sommer reift, entspinnt sich zwischen den dreien eine zarte Freundschaft.
Zur Autorin
LINDA OLSSON, geboren in Schweden, studierte Jura und arbeitete im Finanzgeschäft. Sie lebte in Kenia, Singapur, Japan und England und hat sich schließlich mit ihrem Mann in Neuseeland niedergelassen. Mit ihrem Debütroman »Die Dorfhexe« gelang ihr sofort der Sprung auf die internationalen Bestsellerlisten. Heute pendelt die Autorin zwischen Neuseeland und Schweden.
Linda Olsson
DER GESANG DER AMSEL
Roman
Aus dem Englischen von Mechthild Barth
Die englische Ausgabe erschien 2f016 unter dem Titel »The Blackbird Sings at Dusk« bei Penguin Random House New ZealandDie schwedische Ausgabe erschien 2014 unter dem Titel »I skymningen sjunger koltrasten« bei Brombergs Bokförlag, StockholmDer Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Deutsche Erstausgabe Februar 2022
btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
Copyright © 2014 by Linda Olsson
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2022 by btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, München
Covergestaltung: semper smile, München
Covermotiv: © akg-images
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
MK ∙ Herstellung: sc
ISBN 978-3-641-20482-2V001
www.btb-verlag.de
www.facebook.com/btbverlag
Für Thomas, der nie zweifelte
V
I do not know which to prefer,The beauty of inflectionsOr the beauty of innuendoes,The blackbird whistlingOr just after.
Wallace Stevens, Thirteen Ways of Looking at a Blackbird
Der Wind hatte sich vom Quai in Stadsgården erhoben. Als er die steile Felsenküste auf dem Weg nach Süden erreichte, wurde er stärker. Im Gepäck hatte er die ihm eigene trockene, lähmende Kälte, aber auch eine fröstelige Feuchte, die er aus dem schwarzen Wasser unten im Hafenbecken gezogen hatte, wo das Eis gerade erst zu brechen begann. Als der Wind Mosebacke erreicht hatte, gewann er noch einmal an Geschwindigkeit und brauste nun gnadenlos durch die engen Gassen.
Jäh schlugen die Glocken der Katarina-Kirche zwei Uhr. Es klang durchdringend und schrill. Dort draußen gab es nichts, was ihn hätte aufhalten und abschwächen können. Er stürzte von den Glocken und breitete sich über dem Kirchhof mit den trockenen, abgestorbenen Rasenflächen aus, bis er schließlich dort auf die kahlen Bäume traf. Sie standen starr und düster da – unfähig, Widerstand zu leisten.
Es hatte bereits mehrmals an der Tür geklingelt. Irgendwann rollte sie ein Stück Toilettenpapier zusammen und stopfte es in die Klingel. Seitdem hatte sie nichts mehr gehört. Ob es daran lag, dass niemand mehr läutete, oder daran, dass das Papier seinen Zweck erfüllte, wusste sie nicht. Ohne diesen Eingriff hätte sie das Klingeln entweder ertragen müssen, bis derjenige aufgab, der vor der Tür stand, oder sie hätte ihren Besucher bitten müssen, sie in Ruhe zu lassen. Sie glaubte nicht, dass sie dazu in der Lage gewesen wäre. Sie traute ihrer Stimme nicht mehr. Wusste nicht, ob sie überhaupt noch sprachtüchtig war. Mit jedem Tag, der verging, wurde sie unsicherer.
Die Wohnung war für sie zu einem Kokon geworden, der sie umhüllte. Sie war kein Teil von ihr, aber sie gab ihr Schutz. Die meisten ihrer Besitztümer befanden sich noch in Kartons. Besitztümer. Was für ein seltsames Wort. Es beschrieb so gar nicht die Beziehung, die sie zu diesen Dingen hatte. Sie befanden sich schon lange nicht mehr in ihrem Besitz. Es war ihr egal gewesen, was sie da einpackte; alles war so schrecklich schnell passiert. Jetzt brauchte sie diese Dinge nicht mehr und konnte sich nicht vorstellen, sie jemals aus ihren Kartons herauszuholen.
Geräusche drangen von überallher zu ihr durch. Aus dem Treppenhaus, von der Straße, aus den angrenzenden Wohnungen. Im Stockwerk über ihr wurde ein Stuhl über den Boden gezogen. Schritte. Und was sie am meisten quälte: ferne Stimmen. Leise Geräusche. Lebenszeichen, die wie scharfe Krallen über ihre Haut zu kratzen schienen.
Dann die Kirchenglocken. Das ständige, wiederkehrende Läuten der Kirchenglocken. Diese bedeutungslose Einteilung der Zeit. Es war März. Sie war jetzt seit beinahe zwei Monaten hier. Und heute ist Montag, dachte sie. Oder vielleicht doch schon Dienstag?
Etwas Suppe war noch da. Einige Päckchen Beutelsuppe. Der Kühlschrank und die Speisekammer sahen ansonsten ziemlich leer aus. Das bereitete ihr ein wenig Sorgen. Sie war sich nicht sicher, was sie tun sollte, wenn sie gar nichts mehr hatte. So lange hungern, bis ihr Körper aufgab? Wie lange würde das dauern? Und falls das ihr eigentliches Ziel war, warum beschleunigte sie das Ganze dann nicht und warf das restliche Essen sofort weg? Sie verdrängte den Gedanken. Schob ihn zu den anderen hinter die Tür in ihrem Inneren und warf diese dann zu. Versuchte, sich wieder ganz leer zu machen. Keine Gedanken. Nichts. Mit geschlossenen Augen sehnte sie sich nach einem Zustand völliger Leere. War das zu viel verlangt?
Wenn sie still dalag und sich geduldig gab – ihre Geduld vermochte inzwischen unerwartete Gipfel zu erreichen –, erschien manchmal die Frau in Grün. So wie sie ihr damals in ihren Fieberträumen in der Kindheit erschienen war. Sie stand jedes Mal reglos neben ihrem Klavier, mit ihrem schmalen Rücken, vom Publikum abgewandt. Und immer lautlos. Nie auch nur die geringste Regung. Nur diese unheilvolle, bedeutungsschwangere Stille, voll von erdrückender Hoffnungslosigkeit, die niemals ausgesprochen wurde und dennoch überwältigend war. Einhergehend mit einem Gefühl der Übelkeit, das sich auf ihrer Haut und auf ihrer Zunge ausbreitete. Und sich vollkommen ihrer Kontrolle entzog.
Als diese Visionen – oder wie auch immer man sie nennen mochte – wieder angefangen hatten, dachte sie zuerst, dass es sich um die gleichen wie früher handelte. Sie lag da, döste vor sich hin, die Stirn klebrig feucht, ihr Körper brennend heiß, als ob sie hohes Fieber hätte. Eine ungeheure Übelkeit überkam sie, und dann tauchte die stumme, reglose Gestalt auf, als wäre sie wirklich da. Auf den ersten Blick schien alles sehr friedlich zu sein, und doch erfasste sie ein heftiges Gefühl der Angst und der Verzweiflung.
Sie vermochte sich nicht daran zu erinnern, wann sie die Frau in Grün das erste Mal gesehen hatte. Fast kam es ihr so vor, als hätte sie schon immer existiert, dort in der Dunkelheit jenseits der Wirklichkeit. In ihrer Kindheit war die Furcht so stark gewesen, dass selbst die geringste Andeutung eines Fiebers lähmend auf sie wirkte. Nicht die Gestalt selbst ängstigte sie, sondern die Tatsache, dass nie etwas geschah. Die Frau in Grün tat nichts, sagte nichts. Sie stand reglos da, von ihr abgewandt, gefangen in ihrer düsteren Innenwelt.
Mit den Jahren hörten die Erscheinungen auf, und Elisabeth glaubte, sie hätte sie hinter sich gelassen. Doch jetzt waren sie wieder da, und sie fühlte sich genauso hilflos wie damals als Kind. Es gab keinen Schutz, kein Entkommen. Doch seltsamerweise hatten die Besuche – wie sie die Visionen inzwischen nannte – auch etwas Verführerisches. Allmählich hatte sie begonnen, sich nach ihnen zu sehnen. Sie waren so unheimlich wie früher – vielleicht sogar noch unheimlicher –, aber irgendetwas an ihnen hatte sich verändert. Was genau, war schwer in Worte zu fassen. Hätte sie es erklären müssen, würde sie sagen, dass eine Art Kontakt hergestellt wurde. Eine Art von kommunikationsloser Kommunikation. Fast so, als ob sie beide auf den Beginn von irgendetwas warten würden.
Also legte sie sich auch jetzt mit dem Vorgefühl von etwas Bedeutungsvollem hin. Sie ließ sich von der Dunkelheit umhüllen. Und sie wartete.
Doch auf einmal zerstörte ein Geräusch die Stille, die sie so sorgfältig vorbereitet hatte. In einem einzigen Augenblick löste sich dieses erwartungsvolle Vorgefühl, das sie erfüllt hatte, in Luft auf. Die zum Schweigen gebrachte Klingel klickte mehrmals hintereinander. Ihr Wunsch nach Stille ließ dieses Geräusch nur noch heimtückischer wirken.
Dann war es wieder ruhig.
Sie lag da und dachte an den Besucher, der vor ihrer Tür stand.
Kurz darauf hörte sie ein Klopfen. Einmal. Dann, aufdringlicher, ein zweites Mal. Sie ballte die Fäuste und biss die Zähne zusammen, als ob sie sich auf einen Angriff vorbereitete. Denn genau das war es, dieses Eindringen. Sie setzte sich im Bett auf und stützte sich auf ihre Ellbogen. Dann lauschte sie. Hielt den Atem an und wartete.
Ein kratzendes Geräusch. Eine Stimme.
»Hallo? Ist jemand da?« Die Stimme klang nach einem jungen Mann.
Eine Pause.
»Ich habe ein Päckchen für Sie. Es wurde aus Versehen bei mir abgegeben.«
Offenbar erwartete er, dass sie antworten würde.
Wieder hielt sie den Atem an.
»Ich lasse es hier draußen vor der Tür liegen, wenn Ihnen das recht ist. Es passt nämlich leider nicht durch den Briefschlitz.«
Sie wartete.
Das Geräusch der zufallenden Metallklappe.
Hatte er einen Blick ins Innere der Wohnung geworfen? Ihre Dunkelheit gesehen? Falls ja, würde er doch sicher annehmen, dass niemand zu Hause war.
Endlich herrschte wieder Stille und Reglosigkeit. Sie ließ sich auf das Kissen zurücksinken und bemerkte erst jetzt, dass ihr Gesicht schweißüberströmt war.
Da hörte sie, wie der Briefschlitz erneut geöffnet wurde. Wie ein Schlag ins Gesicht.
»Also, auf Wiedersehen.«
Als ob er genau wüsste, dass sie sich dort drinnen versteckte.
Sie vernahm den leisen Widerhall von Schritten auf dem Treppenabsatz, gefolgt vom Zufallen einer Tür.
Erleichtert atmete sie auf und schloss einen Moment lang die Augen. Dann stand sie auf und ging in die Küche hinüber.
Ohne das Licht anzumachen, tastete sie nach einem Glas, von dem sie wusste, dass es auf der Küchentheke stand, und füllte es mit Wasser aus dem Hahn. Sie trank langsam, während sie versuchte, sich zu orientieren und zu erraten, wie spät es war. Was nicht hieß, dass es irgendeinen Unterschied gemacht hätte. Zeit war wie eine Sprache, die man da draußen sprach, in einer anderen Welt – eine Sprache, die sie nur dann zu verstehen versuchte, wenn ihr Leben einen Moment lang mit der Realität außerhalb dieser Wohnung in Kontakt kam.
Im Grunde ging es ihr nur darum, herauszufinden, ob sie ihre Wohnungstür öffnen und das Päckchen hereinholen konnte, ohne zu riskieren, gesehen zu werden. Sie wollte nicht, dass es dort draußen blieb, die Neugier der Nachbarn erregte und ihnen einen Grund gab, mit ihr reden zu wollen. Sie stand am Fenster und blickte hinaus. Es war dunkel, aber nicht länger so dunkel wie im Winter. Der Himmel kam ihr wie eine durchsichtige Haut vor, die über etwas Größeres, Helleres gespannt war.
Die Straße war menschenleer, daher vermutete sie, dass es mitten in der Nacht war. Leise schlich sie zur Wohnungstür, blieb einen Moment lang mit der Hand auf der Klinke stehen und drückte diese dann vorsichtig nach unten. Die Tür ging einen Spaltbreit auf. Das Treppenhaus lag im Dunkeln. Sie bückte sich rasch und hob das Päckchen auf. Es war im Grunde kein Päckchen, sondern nur ein wattierter Umschlag. Aber der Mann hatte recht gehabt: Der Umschlag war zu dick, um durch den Briefschlitz zu passen.
Sie holte mehrmals tief Luft. Sie wollte diesen Kontakt nicht. Sie wollte nicht an die Welt da draußen erinnert werden. Es war bereits schlimm genug, dass auf ihrem Fußabstreifer die ganze normale Post landete, die sie auf dem Küchentisch stapelte und dann versuchte, nicht mehr daran zu denken. Als sie den Umschlag dazulegte, fragte sie sich, warum sie die gesamte Post nicht einfach sofort nach dem Eintreffen in den Müll warf. Warum sammelte sie diese Hinweise auf das Leben da draußen? Sie hatte sowieso nie vor, sie zu öffnen und nachzusehen, was man ihr geschickt hatte.
Doch dieser Umschlag war etwas anderes. Er hatte im Nu das Gefühl in ihr wachgerufen, dem Überbringer verpflichtet zu sein. Diese Sendung hatte eine Beziehung zwischen ihrem unsichtbaren Nachbarn und ihr selbst hergestellt. Sie wollte keine Beziehung, zu niemandem, und es quälte sie, dass sie sich nun zur Dankbarkeit gezwungen sah.
Verärgert tigerte sie zwischen Küche und Wohnzimmer hin und her. Immer wieder nahm sie den Umschlag auf und klopfte damit auf ihre Handfläche. Eigentlich könnte sie ihn einfach wegwerfen. Aber das würde nichts ändern. Ihr Nachbar hatte ihr einen Gefallen getan, wenn auch unerbeten. Sie ließ das Päckchen auf den Küchentisch fallen und kehrte ins Wohnzimmer zurück. Dort öffnete sie eine der vielen, noch nicht ausgepackten Bücherkisten. Sie strich mit den Händen über die oberste Reihe Bücher und nahm ein paar heraus. Seltsamerweise erinnerten sich ihre Hände an das, was ihr Gedächtnis unterdrückte. In dem Moment, als sie ein Buch in Händen hielt, wusste sie, welches es war. Und damit auch, um welche Kiste es sich handelte. Es war nicht die Kiste, nach der sie suchte, weshalb sie zwei weitere öffnete. Da war es. Sie nahm den schmalen Band heraus und stand auf. Ehe sie Zeit hatte, ihre Meinung zu ändern, trat sie in das dunkle Treppenhaus und lief auf Zehenspitzen über den kalten Marmorboden zur Wohnungstür des Nachbarn hinüber.
Auf dem Messingschild an der Tür stand »E. Blom«. Der Fehler war also verständlich. Auf ihrer eigenen Tür stand nur »Blom«. Vielleicht befand sich in dem Poststapel auf ihrem Küchentisch auch etwas für diesen E. Blom? Bislang war sie gar nicht auf die Idee gekommen nachzuschauen, ob die Briefe tatsächlich für sie bestimmt waren.
Sie lehnte das Buch an die Wand neben der Tür. Eigentlich wusste sie nicht so recht, warum sie genau dieses Buch ausgewählt hatte. Der einzige Anhaltspunkt, den sie hatte, war seine junge Stimme. Und die Tatsache, dass er ihre Gegenwart im Inneren der Wohnung gespürt hatte. Sie wusste, dass es so war. Und dass er sich die Mühe gemacht hatte, sich von ihr zu verabschieden. Aus irgendeinem Grund musste sie immer wieder daran denken.
Briefe an einen jungen Dichter. Von Rainer Maria Rilke. Ramponiert und mit Eselsohren. Vermutlich völlig falsch, aber da stand es nun. Ohne eine Dankesnotiz. Vielleicht verstand er gar nicht, wofür es war oder von wem. Im Grunde egal. Ihr war nur wichtig, dass sie damit ihre Verpflichtung ihm gegenüber loswurde. Sie hatte ihre Schuld beglichen, und jetzt war sie wieder frei.
Stille und Frieden kehrten zurück. Sie setzte sich wieder an den Küchentisch. Das Päckchen selbst interessierte sie nicht im Geringsten. Sie legte es auf den Stapel zu den anderen Briefen. Jetzt gab es nur noch eine Sache, die sie erledigen musste, und dann konnte sie endlich in ihre Dunkelheit zurückkehren.
Sie schaltete die kleine Lampe auf dem Fensterbrett an und öffnete das schwarze Tagebuch auf dem Tisch. Nahm den Stift und begann zu schreiben. Eigentlich wusste sie nicht, warum sie das tat. Oder für wen. Früher einmal hatte es ihr Leben klarer gemacht. Das Unverständliche verständlicher. Doch aus irgendeinem Grund fühlte es sich inzwischen völlig bedeutungslos an. Wie ein Ritual ohne Bestimmung. Es gab nichts mehr zu verstehen. Dennoch blieb sie dabei. Kurze Notizen, ein- oder zweimal am Tag.
Als sie damit fertig war, brauchte sie lange, um in ihre Dunkelheit zurückzufinden.
Er entdeckte das Buch am Nachmittag des folgenden Tages. Den Großteil der Nacht hatte er gearbeitet und dann lange geschlafen. Er war gerade auf dem Weg nach draußen. Es war offensichtlich, dass es nicht zufällig dort gelandet und irgendwem aus der Tasche oder der Jacke gefallen war. Nein, man hatte es ordentlich an die Wand gelehnt. Ohne Karte oder sonstige Nachricht, doch er wusste sofort, wer es dort hingestellt hatte.
Sie war ihm am Tag ihres Einzugs aufgefallen. Eine dunkle Gestalt, die eilig über die Straße huschte, wo der matschige Schnee bis an die Knöchel reichte, um den Umzugsmännern den Weg zu zeigen. Obwohl er sie nur dieses eine Mal gesehen hatte, war er sich sicher, dass sie diejenige war, die in der Wohnung ihm gegenüber lebte. Warum, konnte er nicht sagen, er wusste es einfach. Als er sich gebückt und durch ihren Briefschlitz sein törichtes »Also, auf Wiedersehen« gerufen hatte, war er sich wie ein Idiot vorgekommen. Dennoch bedauerte er es nicht. Offensichtlich wollte sie in Ruhe gelassen werden; das kapierte sogar er. Aber vielleicht war doch etwas nicht in Ordnung. Vielleicht lag sie tot in der Wohnung? Nein, das nicht. Dessen war er sich aus irgendeinem Grund auch sicher. Er wusste, dass sie da drinnen war, hinter der verschlossenen Tür, und dass sie ihn gehört hatte. Das Buch vor seiner Wohnung bestätigte nun seine Vermutung.
Ein Buch. Sie hat ihm ein Buch geschenkt. Sie konnte ja nicht ahnen, wie unpassend das war. Wie schwer es für ihn war, selbst den kürzesten aller Texte zu lesen. Trotzdem hob er das Buch auf, drehte es in seinen Händen hin und her und begann zu lesen, was hinten auf dem Umschlag stand. Briefe an einen jungen Dichter. Es wurde immer schlimmer. Falscher hätte sie nicht liegen können. Er legte das Buch achtlos zur Seite und dachte nicht weiter daran.
Doch als er abends zurückkam, nahm er es wieder in die Hand. Wie immer, wenn er zu lesen versuchte, holte er seinen Zeichenblock, die Stifte, Pinsel und Farbe. Andere lasen gern zum Zeitvertreib – etwas, was er noch nie verstanden hatte. Für ihn bedeutete Lesen Schwerstarbeit, eine Anstrengung, der er aus dem Weg ging. Mit dem Vorgang waren Dinge verbunden, an die er nicht mehr denken wollte. Erinnerungen aus der Schulzeit. Allein das Wort – Legastheniker. Seine Mutter. Der ganze Scheiß, mit dem er nichts mehr zu tun haben wollte.
Die Buchstaben zu entziffern und sie zu Worten zusammenzubringen war eine Qual. Die klaren schwarzen Zeichen auf der Seite quetschten sich in seinen Kopf, ohne Zusammenhang oder Ordnung. Und dort tanzten sie hin und her und schienen sich über ihn lustig zu machen, weil er sie nicht zu durchdringen vermochte.
Die Tatsache, dass in seinen Regalen Bücher standen, bedeutete nichts. Sie waren bloße Relikte aus der Vergangenheit. War es ihm einmal gelungen, ein Buch durchzuackern, öffnete er es kein zweites Mal. Stattdessen drangen die Worte in die Stapel von Papier und in die Blöcke ein, die ein Regal nach dem anderen in seinem Wohnzimmer und im Flur füllten. Auf diesen Zeichenblöcken verwandelten sich die Texte in Gestalten, die er deuten konnte. Jedes Wort, jeder Satz, den er erfolgreich entschlüsselt hatte, befand sich in seinen Bildern.
Am Anfang, als sie sich frisch kennenlernten, hatte Otto ihm auch immer Bücher geschenkt. Er hatte ein Buch nach dem anderen aus seinen übervollen Regalen geholt und es Elias in die Hand gedrückt. »Das musst du lesen.« Oder: »Ehrlich? Das hast du noch nicht gelesen?« Es dauerte eine Weile, bis er Otto gestehen konnte, dass er die meisten nicht zu Ende lesen würde. Dicke Klassiker von fünfhundert oder sechshundert Seiten. Eine winzige Schrift auf vergilbtem Papier. Ab diesem Moment erzählte Otto ihm, was in den Büchern stand. Er las sie ihm nicht vor, sondern erzählte die Geschichten aus dem Gedächtnis. Er hielt dieses Vorgehen offensichtlich für rücksichtsvoll und dachte, dass Elias auf diese Weise nicht an seine Leseschwäche erinnert würde, wenn es um Geschichten und nicht um Texte ging. Er hatte recht – es fühlte sich besser an. Für sie beide. Elias wusste nicht, wie genau Ottos Versionen den Originalen entsprachen, aber das war letztlich unwichtig.
Hier saß er also und kämpfte sich durch das schmale Bändchen. Wort für Wort. Draußen vor dem Fenster brauste der Wind, und die Scheiben klirrten. Doch Elias achtete nicht darauf. Er war völlig versunken. Im Schein des Lichts seiner Schreibtischlampe zeichnete er ein Bild nach dem anderen. Sein fast fertiggestelltes Projekt hatte er beiseitegeschoben. Es musste warten.
Insgesamt brauchte er eine Woche.
In der Zwischenzeit hatte er fast den ganzen Block gefüllt. Und er konnte Rilkes Briefe an einen jungen Dichter mehr oder weniger auswendig.
Als er mit dem Buch durch war, fertigte er noch eine weitere, eigenständige Zeichnung an. Als er diese nun vor sich hochhielt, konnte er den passenden Text fast Wort für Wort wiedergeben:
Dieses vor allem: Fragen Sie sich in der stillsten Stunde Ihrer Nacht: muss ich schreiben? Graben Sie in sich nach einer tiefen Antwort. Und wenn diese zustimmend lauten sollte, wenn Sie mit einem starken und einfachen »Ich muss« dieser ernsten Frage begegnen dürfen, dann bauen Sie Ihr Leben nach dieser Notwendigkeit; Ihr Leben bis hinein in seine gleichgültigste und geringste Stunde muss ein Zeichen und Zeugnis werden diesem Drange.
Er betrachtete das Bild und bemerkte erst jetzt, dass er das Wort »schreiben« durch »zeichnen« ersetzt hatte. Und auf diese Frage hatte er eine eindeutige Antwort.
An den unteren Rand des Blattes schrieb er:
»Ja, ich muss.«
Er faltete die Zeichnung in der Mitte und schob sie in das Buch an jene Stelle, wo sich der dazugehörige Text befand.
Es war spät. Oder früh – je nachdem, wie man es betrachtete. Er zog Jacke und Stiefel an und nahm das Buch. Dann ging er ins Treppenhaus hinaus. Einen Moment lang blieb er vor ihrer Tür stehen. Kein Geräusch, nur Stille. Er beugte sich herab und lehnte das Buch ebenso an die Wand, wie er es vorgefunden hatte. Diesmal jedoch neben ihre Tür.
Draußen war es stockdunkel. Er kauerte sich in die tiefe Nische vor der Eingangstür des Hauses, zog den Reißverschluss seiner Jacke hoch und setzte sich die Wollmütze auf den Kopf. Dann schlüpfte er in die Handschuhe. Er blickte in den dunklen Himmel hinauf. Sein Atem hing wie weißer Rauch in der kalten Luft und löste sich rasch über seinem Kopf auf.
Es dauerte noch Stunden bis zum Sonnenaufgang. Das war seine Zeit. Schnellen Schrittes lief er über den Kirchplatz und bog dann rechts in Richtung Mosebacke ein. Unterwegs begegnete er niemandem.
Sie stand in der dunklen Küche und hatte gerade ein Glas Wasser zum Mund geführt, als sie draußen im Treppenhaus Schritte vernahm. Für einen nach Hause kommenden Nachbarn war es zu spät, für den Zeitungsausträger noch zu früh. Außerdem hatte sie nicht gehört, wie die Haustür geöffnet wurde. Die Schritte hielten einen Moment lang vor ihrer Wohnungstür an, und dann war es wieder still. Auf Zehenspitzen lief sie in die Diele. Stand er etwa mitten in der Nacht draußen vor ihrer Tür? Die Vorstellung war ihr unangenehm. Sie fand sie sogar beängstigend. Elisabeth hielt den Atem an und lauschte.
Ein leises Geräusch. Sie war sich nicht sicher, was es war – kein Rascheln und auch kein dumpfer Schlag. Nur ein unbedeutender kleiner Laut, der irgendwie anzudeuten schien, dass die Person auf der anderen Seite der Tür etwas plante. Hatte er vor, wieder ihren Briefschlitz zu öffnen? Instinktiv wich sie ein paar Schritte zurück und erstarrte. Jetzt war sie in Alarmbereitschaft. Doch es wurde weder an ihrer Tür geläutet noch klapperte der Briefschlitz. Nichts. Welcher normale Mensch würde auch mitten in der Nacht bei einem Nachbarn klingeln, den er gar nicht kannte? Es sei denn, es handelte sich um einen Notfall. Doch die vorsichtigen, langsamen Schritte wiesen auf keinen Notfall hin. Sie lauschte. Wieder vernahm sie Schritte, die jetzt über den Treppenabsatz liefen und die kurze Treppe hinabgingen. Dann das Geräusch, als die Haustür geöffnet wurde und wieder zufiel.
Hastig ging sie ins Schlafzimmer, das Wasserglas noch immer in der Hand, und schaute vorsichtig hinunter auf die Straße.
Es dauerte einen Moment, ehe sie ihn sah. Er musste noch ein Weilchen in der Tür gestanden haben. Doch jetzt war er in ihrem Blickfeld. Hoch aufgeschossen, mit ausladenden, schnellen Schritten. In einer Lederjacke und mit einer Strickmütze. Es wäre ihr schwergefallen, ihn näher zu beschreiben. Dennoch wirkte er in gewisser Weise seltsam vertraut. Sie schüttelte den Kopf. Was für ein törichter Gedanke. Immerhin konnte sie jetzt der Stimme, die sie zuvor gehört hatte, eine Gestalt zuordnen. E. Blom. Wofür stand wohl das E? Für Erik? Das war der einzige Name, der ihr einfiel, wenn sie an seine Altersgruppe dachte. Heutzutage wurde niemand mehr Evald, Einar oder Evert genannt. Oder vielleicht doch? Es war schon lange her, dass sie einen Grund gehabt hätte, über schwedische Männernamen nachzudenken. Oder überhaupt über Namen.
Sie stellte das Wasserglas ab und kehrte zur Wohnungstür zurück. Es war wieder alles still, als sie vorsichtig einen Spaltbreit die Tür öffnete. Das Treppenhaus wurde nur von dem Licht über der Eingangstür zum Gebäude erleuchtet. Doch auch im Halbdunkeln sah sie es sofort. Das Buch. Da war es, an die Wand gelehnt, so wie sie es auf der anderen Seite des Treppenabsatzes zurückgelassen hatte. Sie schnaubte verärgert. Hatte er ihre Geste des Dankes etwa zurückgewiesen? Nachdem er eine Woche lang darüber nachgedacht hatte? Sie war sich sicher gewesen, die Dinge wären jetzt wieder ins Gleichgewicht gebracht. Dass sie ihm nichts mehr schuldete.
Sie hob das Buch auf. Ein zusammengefaltetes Blatt Papier fiel heraus. Sie erwischte es gerade noch in der Luft und kehrte damit in ihre Wohnung zurück, wo sie leise die Tür hinter sich schloss.
Sie setzte sich an den Küchentisch. Zögernd streckte sie die Hand aus und schaltete die Lampe auf dem Fensterbrett ein. Das plötzliche Licht ließ sie zusammenzucken. Sie kniff einen Moment lang die Augen zu, und als sie sie wieder aufschlug, fiel ihr Blick unwillkürlich auf den Stapel ungeöffneter Post. Genervt schob sie ihn beiseite und legte das Buch und das Blatt Papier auf den Tisch vor sich. Langsam faltete sie das Papier auseinander.
Sie hatte keine Ahnung, was sie erwartete. Vielleicht eine Art von Notiz. Eine Erklärung, warum er das Buch zurückgab. Vielleicht sogar ein Dankeschön. Aber es war keins von beidem, sondern eine Zeichnung – eine Tuschezeichnung in Schwarzweiß. Sie konnte nicht erkennen, was das Bild darstellte. Es waren gegenständliche Formen, die sich zu einer Art einheitlichem Ganzen zusammengruppierten. Ein Muster, bei dem jedes Detail wunderbar ausgearbeitet und einzigartig wirkte.
Doch was genau dieses Gebilde sein sollte – falls das überhaupt beabsichtigt war –, konnte sie beim besten Willen nicht erkennen. Am unteren Rand des Blattes stand etwas geschrieben. »Ja, ich muss.« Nur das. Wieder schnaubte sie und ließ das Papier auf den Tisch sinken. Was bedeutete das? Es ergab keinen Sinn. Als eine Art Lesezeichen? Etwas, das gar nicht für sie bestimmt war?
Sie zog das Buch zu sich heran. Es öffnete sich auf der Seite, die offenbar zuletzt gelesen worden war. Sie beugte sich vor und begann ebenfalls zu lesen. Die Passage erkannte sie sofort, sie hatte sie bereits viele Male gelesen. Sie hatte sie als Schülerin sogar in ihr Notizbuch übertragen.
Dieses vor allem: Fragen Sie sich in der stillsten Stunde Ihrer Nacht …
Er hatte nicht nur das Buch gelesen, sondern seinen Inhalt offenbar geradezu aufgesogen. Anscheinend wollte er sie das wissen lassen. Auf diese Weise versuchte er wohl, sich bei ihr zu bedanken.
Sie stand auf. Ihr fiel das Atmen schwer, während sie das Glas erneut am Wasserhahn füllte und dann langsam daraus trank.
Bescheuert, dachte sie. Lächerlich und absurd. Warum habe ich das verdammte Ding mit in die Wohnung genommen?
Sie schloss die Augen und trank einen weiteren Schluck Wasser.
Jetzt stehe ich wieder in seiner Schuld! Verdammte Zeichnung! Verdammtes Buch! Sie packte beides und schleuderte es durch die Küche.
Dennoch gelang es ihr nicht, die Tränen zurückzuhalten.
Am besten arbeitete er abends und nachts. Doch seitdem er mit dem neuen Projekt begonnen hatte, wachte er immer öfter früh auf und setzte sich sofort an den Zeichentisch. Es war lange her, seitdem er sich das letzte Mal so gefühlt hatte. Die Geschichte und die Bilder flossen nur so aus ihm heraus. Soweit er sich erinnern konnte, war das bei seinem ersten Buch ebenso gewesen, auch wenn er damals noch nicht gewusst hatte, was er eigentlich genau tat. Damals war es vor allem eine Frage des Überlebens gewesen. Er hatte gezeichnet, um noch etwas länger am Leben zu bleiben. Um zu versuchen, nicht allzu sehr nachzudenken.
Er war nicht einmal im Entferntesten auf die Idee gekommen, dass dabei ein Buch entstehen könnte. Doch es entstand ein Buch. Und dann noch eines. Schließlich wurde es sein Beruf. Was Mutter »Elias’ Hobby« und Gunnar »verdammtes Gekritzel« nannte, hatte sich tatsächlich in einen Job verwandelt, der Miete und Essen bezahlte. Und noch ein paar Dinge mehr.
Er hatte der neuen Datei auf dem Computer einen Titel gegeben. Die Amsel. Nicht dass sie gesungen hätte. Das nicht. Bisher hatte er nicht einen einzigen Laut von ihr vernommen. Eigentlich hatte er sie noch kaum gesehen. Nur einmal war ihm ihre dunkle Gestalt in dem schweren Mantel und einer Wintermütze auf dem Kopf aufgefallen. Die Bilder, die er nun zeichnete, hatten nichts damit zu tun, wer sie vielleicht wirklich war. Es waren seine Fantasien über seine unsichtbare Nachbarin. Er saß da und erschuf tagein, tagaus eine Geschichte über eine Frau, der er nie begegnet war.
Er hatte sie in einen Vogel verwandelt, was ziemlich seltsam war, wenn man es genau bedachte. Aber er hatte nicht vor, auch nur eine Sekunde darüber nachzudenken. Er wollte in dieser Stimmung bleiben. Dieses aufregende Gefühl bewahren. Denn so fühlte es sich an: Sein Beruf war wieder aufregend geworden. Als er einen Stift zur Hand genommen und angefangen hatte, Skizzen anzufertigen, hatte er nicht die leiseste Ahnung gehabt, was dabei herauskommen würde. Dennoch hatte er keinen Moment gezögert, und sobald die jeweiligen Zeichnungen fertig waren, schienen sie ihm perfekt gelungen zu sein.
Er hatte keine Ahnung, was er hinsichtlich des Textes tun sollte. Ursprünglich war er davon ausgegangen, dass wie immer Maja die Worte für ihn niederschreiben würde. Es war ein schwerer Schlag gewesen, als sie diesmal ablehnte. Ihr eigener Roman war endlich von einem Verlag angenommen worden, und jetzt war sie damit beschäftigt, ihrem Text noch den letzten Schliff zu verleihen. Ihm blieb nichts anderes übrig, als ihr zu gratulieren und sich für sie zu freuen.
Er musste also eine andere Person finden, hatte aber überhaupt keine Idee, wo er mit der Suche beginnen sollte. Maja verstand immer genau, was er wollte. Oft sah sie nur einmal eine Zeichnung und fand sofort die richtigen Worte, als ob sie genauso dachte wie er. Sie kannte ihn in- und auswendig. Seit ihrem ersten gemeinsamen Schultag hatten sie zusammen Geschichten erfunden. Sie hatte die Worte, er die Bilder. Bei ihnen führte nicht einer den anderen. Sie waren beide in gleichem Maße unentbehrlich.
Doch es gab nichts, was er jetzt an dieser Situation ändern könnte. Wenn daraus ein Buch werden sollte, musste eine andere Person die Worte dazu schreiben, aber momentan waren die Bilder noch ausreichend. Er hatte keine Lust, sich über zukünftige Fragen den Kopf zu zerbrechen.
Als er hörte, wie Otto auf den Boden über ihm schlug, blickte er ein wenig überrascht auf. Der ganze Tag war bereits vorbei, und nun war es Zeit zum Abendessen. Widerstrebend legte Elias seinen Stift beiseite und stand auf. Den Blick hielt er noch auf die unfertige Zeichnung gerichtet. In seinem Kopf vermochte er die ganze Geschichte vor sich zu sehen. Er fühlte die Frustration in sich hochsteigen. Er hatte die Geschichte komponiert, doch er war nicht dazu in der Lage, sie selbst aufzuschreiben. Beinahe war es so, als ob er in seinem Kopf Musik hörte, eine wunderschöne Musik, ohne eine Note singen oder ein Instrument spielen zu können. Eingesperrt in seinem Kopf war die Geschichte wertlos. Im Grunde existierte sie so gar nicht.
Er riss sich von seinem Schreibtisch los und ging ins Badezimmer, wo er sich auszog. Dann stellte er sich unter die Dusche, schloss die Augen und ließ das Wasser über sein Gesicht strömen. In gewisser Weise passte es, dass er nur die Hälfte der Fähigkeiten besaß, die zum Erzählen einer Geschichte nötig waren. Er war in jeder Hinsicht nur halb. Sein ganzes verdammtes Leben war ein halbes Leben. Er mochte vielleicht dasitzen und seine verdammten Zeichnungen anfertigen und seinen verdammten eigenen Geschichten lauschen. Aber was für eine Art Leben war das, wenn man es genau betrachtete?
Er drehte den Wasserhahn zu, trocknete sich ab und zog sich wieder an.
Dann ging er zu Otto nach oben.
Jedes Mal, wenn Otto sich daran erinnerte, dass er hier länger als sonst irgendwo gewohnt hatte, war er überrascht. In diesem Mai wurden es bereits fünfzehn Jahre.
Nach Evas Tod war er drei Jahre lang in dem Reihenhaus in Västertorp geblieben. Wenn er daran zurückdachte, erstaunte es ihn, dass er nicht viel früher gepackt hatte und ausgezogen war. Er hatte sich dort nie wohlgefühlt. Es nie als sein Zuhause betrachtet. Das Haus war eine Art Gehäuse gewesen, in dem Eva sich eingerichtet hatte. In dessen Inneren hatte sie ihre eigene Welt erschaffen, und er hatte sich stets wie ein Möbelstück gefühlt, das zwar toleriert wurde, aber nie richtig dazupasste.
Es gab etwas in Evas Vergangenheit, was sie nicht erzählen wollte. Etwas, worüber sie niemals sprach. Doch Otto verstand instinktiv, wie sehr sie sich darum bemühte, die Vergangenheit zu verdrängen. Sie wollte sich körperlich von ihr distanzieren, ihr so weit wie möglich entkommen, und dieses hässliche kleine Haus schien ihr ein Gefühl von Sicherheit zu geben. Auch er hatte manchmal den Eindruck, dass sie sich am Ende der Welt befanden. Das letzte Haus in einer Reihe gleich aussehender Reihenhäuser, die neben einem kleinen Wald standen. Manchmal kam es ihm so vor, als ob ihr Haus von den anderen wegwollte, als ob es versuchte, sich zu befreien und im Wald zu verschwinden.
Das Haus war tatsächlich hässlich gewesen. Das war sein erster Gedanke, als er es sah, und in den Jahren, in denen sie dort lebten, änderte sich seine Meinung nicht. Eine beige, quadratische Schachtel, die an einer Seite an eine identisch aussehende beige Schachtel anschloss. Einen großen Garten gab es nicht, nur einen kleinen Fleck hinter dem Haus, der von einer großen Fichte überschattet wurde, die ihre sauren Nadeln auf den mickrigen Rasen warf. Das hatte auch seine Vorteile, denn er musste den Rasen nie mähen. Das Gras blieb am Leben, wurde aber nicht länger. Weder er noch Eva interessierten sich für den Garten. Manchmal fragte er sich, ob es den Nachbarn gefallen hätte, wenn sie sich mehr Mühe gegeben hätten. Wenn sie Tulpen und Krokusse gepflanzt, die Hecke geschnitten hätten. Wenn sie sich so wie die anderen Nachbarn benommen hätten.
Doch sie blieben für sich und lernten ihre Nachbarn nie richtig kennen. Höchstens tauschten sie ein paar Grüße über die dürftige Hecke hinweg aus. In den ersten Jahren waren die Nachbarn ein Paar in ähnlichem Alter wie sie gewesen. Sie unterhielten sich gelegentlich mit ihnen, doch eine Freundschaft war nie daraus entstanden. Eva hatte es nicht gewollt. Was er gewollt hätte, wurde nie in Betracht gezogen.
Dann zog eine jüngere Familie mit Kindern ein, und der Kontakt wurde noch sporadischer. Damals hatte Otto den Mangel an Sozialkontakten nicht wirklich vermisst. Doch heutzutage fragte er sich, ob nicht auch eine andere Art von Leben möglich gewesen wäre.
Nach Evas Tod wurde ihm klar, dass das Haus für eine Person zu groß war. Aber es war günstig, und er verspürte keinen großen Ansporn, etwas an seiner Situation zu verändern. So verging die Zeit.
