Die Fremde am Meer - Linda Olsson - E-Book
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Die Fremde am Meer E-Book

Linda Olsson

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Beschreibung

Marion Flint lebt allein an der rauen Nordwestküste Neuseelands. Nach einer großen Enttäuschung hat sie sich hierher zurückgezogen, um die schmerzhaften Erinnerungen an die Vergangenheit hinter sich zu lassen. Eines Tages begegnet sie am Strand dem scheuen Jungen Ika. Zwischen den beiden entwickelt sich zaghaft eine Freundschaft. Mehr und mehr wächst ihr der Junge ans Herz. Und sie ist bereit, um ihn zu kämpfen, als sie droht, ihn zu verlieren. Dabei kommt sie auch ihrem eigenbrötlerischen Nachbarn George näher. Am Ende söhnt sich Marion nicht nur mit ihrer Vergangenheit aus – sie findet auch ein neue Liebe.

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Seitenzahl: 304

Veröffentlichungsjahr: 2012

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Linda Olsson

Die Fremde am Meer

Roman

Aus dem Englischen von Almuth Carstens

Marion Flint lebt allein an der rauen Nordwestküste Neuseelands. Nach einer großen Enttäuschung hat sie sich hierher zurückgezogen, um die schmerzhaften Erinnerungen an die Vergangenheit hinter sich zu lassen. Eines Tages begegnet sie am Strand dem scheuen Jungen Ika. Zwischen den beiden entwickelt sich zaghaft eine Freundschaft. Mehr und mehr wächst ihr der Junge ans Herz. Und sie ist bereit, um ihn zu kämpfen, als sie ihn zu verlieren droht. Dabei kommt sie auch ihrem eigenbrötlerischen Nachbarn George näher. Am Ende söhnt sich Marion nicht nur mit ihrer Vergangenheit aus – sie findet auch ein neues Glück.

LINDA OLSSON, geboren in Schweden, studierte Jura und arbeitete im Finanzgeschäft. Nach Stationen in Kenia, Singapur, Japan und England lebt sie heute in Neuseeland. 2003 gewann sie den Kurzgeschichten-Wettbewerb der Sunday Star Times. Mit ihrem Debütroman »Die Dorfhexe« gelang ihr sofort der Sprung auf die internationalen Bestsellerlisten. Ihr dritter Roman »Die Fremde am Meer« war Nummer-1-Bestseller in ihrer Wahlheimat Neuseeland. (www.lindaolsson.net)

LINDA OLSSON bei btbDie Dorfhexe. Roman (73934)Die Nacht trägt deinen Namen. Roman (74334)

Die Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel»The Kindness of Your Nature« bei Penguin New Zealand.

1. Auflage

Deutsche Erstveröffentlichung Oktober 2012, btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, MünchenCopyright © 2011 by Linda OlssonCopyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2012 by btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, MünchenUmschlaggestaltung: semper smile, MünchenUmschlagfoto: © mauritius images / Danita Delimont; © mauritius images / Axel Schmies;© mauritius images / John Warburton-LeeSatz: Uhl + Massopust, AalenMK ∙ Herstellung: BBISBN 978-3-641-08565-0

www.btb-verlag.de

Für meine Mutter

Der Pakt, den wir schlossen, war der übliche Pakt

zwischen Männern & Frauen in jenen Tagen

Ich weiß nicht, wer wir zu sein glaubten, dass wir dachten,

ausgerechnet wir

seien gefeit gegen die Fallstricke des Geschlechts

Glück oder Pech, wir wussten nicht,

wie zahlreich die Fallstricke des Geschlechts waren

und dass auch wir ihnen nicht entgehen würden

Wie alle anderen hielten wir uns für etwas Besonderes

Dein Körper steht mir so deutlich vor Augen

wie eh und je: deutlicher sogar

weil mein Gefühl für ihn klarer ist:

Ich weiß, was er tun und nicht tun konnte

er ist nicht mehr

der Körper eines Gottes

oder irgendeiner Instanz, die Macht über mein Leben hat

Nächstes Jahr wäre es 20 Jahre her gewesen,

und du, der du den Sprung vielleicht geschafft hättest,

das Wagnis, über das wir zu spät sprachen,

bist leider tot

ich lebe es jetzt

nicht als Sprung,

sondern als Abfolge kurzer, erstaunlicher Momente

von denen jeder den nächsten ermöglicht

»From a Survivor« von Adrienne Rich

1

Es war Donnerstag, und ich machte Suppe, eine feste Gewohnheit mittlerweile, griechische Fischsuppe diese Woche. Das Gemüse kochte, und der Dampf schlug sich auf dem Fenster über der Spüle nieder. Die Küche bot einen ungehinderten Blick auf den Strand und das endlose Meer, das in diesem Moment nur eine grau verschwommene Fläche hinter der beschlagenen Scheibe war. Ich hatte die Fische ausgenommen, drei kleine Snapper, und bereitete jetzt die Avgolemono zu, eine Ei-Zitronen-Sauce. Die Früchte sahen schrumpelig aus, aber als ich sie aufschnitt, erfüllte ihr Duft den ganzen Raum. Mir kam es so vor, als ob die Zitronen vom Baum hinter dem Haus intensiver schmeckten und rochen als alle, die ich je irgendwo genossen hatte. Ich schlug das Eiweiß, rührte das Eigelb hinein und fügte dann den Zitronensaft hinzu. Ich hackte die Petersilie, und alles war vorbereitet. Jetzt musste nur noch das Gemüse weich gegart, der Fisch hinzugegeben und in letzter Minute Avgolemono und Petersilie untergehoben werden. Mir blieb also noch Zeit, mich für ein Weilchen draußen auf die Türstufe zu setzen. Ich hatte zwar eine Hängematte und ein paar Rattanstühle auf der Terrasse, doch die nutzte ich selten. Ich zog die Stufe vor.

»Marianne«, sagte ich vor mich hin. »Marianne.«

Neuerdings hatte ich ständig das Bedürfnis, mir den Namen auf der Zunge zergehen zu lassen. Ihm zu lauschen. Ihn mir ins Gedächtnis zu rufen. Er klang nach wie vor fremdartig – als gehörte er nicht richtig zu mir. Oder vielleicht doch, war aber einer anderen Zeit, einem fernen, verschlossenen Raum zugeordnet. Ich hatte mir angewöhnt, ihn mehrmals täglich auszuprobieren. Ich konnte mich nicht recht erinnern, wann ich damit angefangen hatte, doch es war schon eine Weile her. Ich fragte mich, wie das wohl auf andere wirken mochte: eine Frau mittleren Alters, die auf der Türstufe ihres Hauses sitzt und sich immer wieder ihren eigenen Namen vorsagt. Aber es war niemand in der Nähe. Nur Kasper, mein rot-brauner Kater; seine träge blinzelnden grünen Augen blickten, als hätten sie alles gesehen, alles akzeptiert. Er setzte sich neben mich, nahe, doch nicht zu nahe, er blieb in seiner eigenen Sphäre. Wie wir es beide gern haben, dachte ich. Seite an Seite, aber jeder für sich. Wie immer saß er ruhig und geduldig da, während ich meine merkwürdigen Übungen absolvierte. Oder wie auch immer man es nennen wollte.

»Marianne«, wiederholte ich. Es war seltsam zu spüren, wie mein Körper auf den Namen reagierte. Nach all den Jahren.

Er fühlte sich heiß an. Seine Farbe war Rot, und er brannte auf meiner Zunge, bevor er wie eine Flamme aus meinem Mund aufstieg.

Marion dagegen perlte hellblau, fast grau von meinen Lippen. Blass und kühl. Und zerfloss sofort.

Marion.

Marianne.

Ich erhob mich und ging über die Terrasse die Treppe hinunter zum Strand. Das trockene Gras in den Dünen raschelte im leichten Wind. Ich drehte mich um und sah einen Moment lang auf mein Haus. Das kleine Gebäude aus Holzschindeln war ein fester Bestandteil meines Lebens geworden, gehörte zu mir wie mein Körper, und ich betrachtete es selten bewusst. Ich trat ein paar Schritte zurück und schaute es an, wie es da so vor mir stand. Im Haus und davor, überall war Sand. Er störte mich nicht mehr, und ich hatte längst alle Versuche aufgegeben, ihn von den Fußböden fernzuhalten. Ich verbrachte den größten Teil meiner Zeit im Freien, und mir gefiel der Gedanke, dass der Unterschied zwischen Drinnen und Draußen zusehends verschwamm. Es war, als ob sich das Haus mit allem, was es enthielt, langsam zersetzte und irgendwann eins werden würde mit der Erde unter ihm. Inzwischen ging ich barfuß hinein, ohne mir die Füße abzuwischen. Ich hatte lange gebraucht, um dieses Stadium zu erreichen.

Ich wusste, die meisten Leute würden sagen, das Haus benötige einen Anstrich. Aber ich mochte es, wie es war, blank poliert vom Wind und Salz der See, von einem sanften Grau, das in manchem Licht silbrig schimmerte, und die Schindeln fühlten sich glatt und weich an.

»Direkt am Strand« hatte es in der Broschüre geheißen, damals ein Verkaufsargument. Heute nicht mehr, nahm ich an. Zumindest nicht an dieser Küste mit den welligen und flachen Dünen, kaum höher als die Oberfläche des Meeres. Der Ausblick war natürlich gleich geblieben. Unmöglich zu ignorieren, auch nach all den Jahren. Das unendliche Meer, dessen Farbe und Charakter sich von einem Moment zum nächsten subtil veränderten. Nie dasselbe und doch immer dasselbe. Schon vor Bekanntwerden des Treibhauseffekts und des Schmelzens der Polarkappen waren die Dünen ein bewegliches, unsicheres Fundament für ein Haus gewesen. Oft schluckten Oktoberstürme große Brocken von ihnen und spülten sie hinaus ins Meer. Mich störte diese Unsicherheit nicht. Diese Bedrohtheit meiner Existenz. Jenes unterschwellige Wissen um die langsam steigende Flut, die mein Haus eines Tages forttragen, oder die gigantische Woge, die es mit einem Donnerschlag mit sich reißen würde. Dieses Szenario gefiel mir sogar noch besser. Und ich würde mich ergeben. Ich hatte mir eingeredet, dafür bereit zu sein.

Aber bis zu diesem Tag wollte ich an Ort und Stelle bleiben. Ich ging jeden Morgen am Strand spazieren. Als ich zurückgekehrt war, um mich hier niederzulassen, hatte ich mit diesen Spaziergängen angefangen, um meinem Leben irgendwie Form und Struktur zu geben. Als etwas, an dem ich mich festhalten konnte. Doch aus den ersten zögerlichen, eher pflichtbewussten Anfängen war irgendwann eine feste Gewohnheit geworden, fast Teil meiner Arbeit, wenn man es überhaupt so nennen konnte, denn auf diesen Wanderungen sammelte ich mein Material. Treibholz. Steine und Muscheln. Nüsse und Samen. Federn und Knochen. Alles blank poliert vom Meer und weich in meinen Händen, jedes Stück auf seine Weise. Das Sammeln diente zunächst keinem bestimmten Zweck. Ich ließ einfach meinen Blick schweifen, bis er irgendwo hängen blieb, auf einem Stück Holz etwa, das von der Gischt am Rande der zurückweichenden Brandung angespült wurde, bückte mich und hob es auf. Behielt es in der Hand, während ich weiterlief. Es konnte auch ein Stein sein, stets viel farbenprächtiger, wenn er im nassen Sand lag, als später, wenn er trocken war, der sich aber immer weich anfühlte. Besänftigend. Dann hatte ich begonnen, einen Korb mitzunehmen, und im Laufe der Zeit war das Sammeln zielstrebig geworden. Natürlich hatte es das Wesen meiner Spaziergänge verändert. Es waren eigentlich keine Spaziergänge mehr, sondern Expeditionen. Beutezüge, die viel von meiner Zeit und meinen Gedanken beanspruchten.

Sie nannten mich »die Künstlerin«. Oder »die Ärztin«. Oder einfach »sie« oder »diese Ausländerin«, um deutlich zu machen, dass ich irgendwie nicht zu ihnen gehörte. Für sie hatte ich keinen Namen, nur eine Bezeichnung. Trotzdem waren die Leute freundlich. Mehr oder weniger unvoreingenommen, vielleicht auch bloß gleichgültig. Bis zu einem gewissen Grad konnte man hier einfach sein, was man wollte. Es war, als zöge dieser Ort einen bestimmten Typ Menschen an. Großzügige und aufgeschlossene. Selbstverständlich waren nicht alle so; es gab auch andere. Wie überall. Solche, die lieber nahmen als gaben. Aber im Großen und Ganzen waren die Menschen hier anständig und von Natur aus geneigt, andere in Ruhe zu lassen.

Ich hatte darüber nachgedacht, über das Geben und Nehmen, und war zu der Ansicht gelangt, dass es zwei Sorten Menschen gibt: diejenigen, die produzieren und kreieren, und die, die von der Arbeit anderer leben. Nicht nur in materieller Hinsicht und nicht nur hier, in meinem Umfeld. Hier, wie gesagt, vielleicht weniger als anderswo. Nein, generell und überall. Ich war mir nicht einmal sicher, ob die eine Sorte besser ist als die andere. Womöglich werden beide gleichermaßen gebraucht. Aber seltsamerweise kam es mir vor, als hätten letztere – die Nehmer – irgendwie die Oberhand gewonnen. Es schien inzwischen lohnender zu sein, die Ergebnisse der Arbeit anderer zu verwalten, als sich selbst schöpferisch zu betätigen. Sicher war es nicht immer so gewesen. Ich fragte mich, wann sich das Gleichgewicht verschoben hatte und ob es wieder hergestellt werden würde.

Da war ich also, mit den Füßen im Sand, und versuchte, mir albernerweise einzureden, dass ich eine Außenstehende war oder vielleicht sogar über den Dingen stand. Dass die Welt keinen Einfluss auf mich und mein Leben hatte. Dabei war es unmöglich, sich ihrer Realität zu entziehen. Schon durch meine bloße physische Präsenz war ich ein Teil von ihr. Auch dieser entlegene Ort hier war mit mir durch Gegebenheiten verbunden, auf die ich nicht einwirken konnte. Selbst wenn ich den Rest der Welt komplett ignorierte, war er doch vorhanden und würde mich und meine Umgebung unabhängig von dem, was ich tat oder dachte, immer beeinflussen.

Hinter dem Haus war mein kleiner Garten. Vielleicht ein wenig hochtrabend für den sandigen Flecken, wo ich Tomaten, Salat, Zwiebeln und Kräuter zog. Und wo mein Zitronenbaum wuchs, beeinträchtigt durch den ständigen Wind und doch großzügig seine unansehnlichen Früchte darbietend. Er musste sehr alt sein, älter als das Haus. Älter als ich vermutlich. Sein kurzer, knorriger Stamm war unten dick und wies Narben auf, wo Äste abgesägt worden waren. Neben ihm standen ein Grapefruitbaum und eine Feijoa, doch sie waren erst seit kurzem seine Gefährten. Anfangs hatte ich erwogen, Kartoffeln und Süßkartoffeln anzupflanzen, um dadurch noch autarker zu werden. Aber die Vorstellung, durch die Anforderungen eines richtigen Nutzgartens eingeschränkt zu sein, hatte mir nicht gefallen. So, wie er jetzt war, schadete es kaum, wenn ich mich wochenlang nicht um ihn kümmerte. Die Tomaten mussten natürlich gewässert werden, doch ihre Robustheit hatte mich überrascht, als ich sie einmal für mehrere Tage sich selbst überlassen musste.

Bis auf meinen Garten und meinen Kater hatte ich sehr wenig Gesellschaft. Hin und wieder traf ich Sophie, aber nicht mehr oft. Der Gedanke, der unserer geteilten Stelle als Chirurgin zugrunde lag, war immer der gewesen, dass diejenige von uns, die nicht im Dienst war, auch wirklich frei hatte. Sophie war viel jünger als ich und hatte drei kleine Kinder. Wir hatten uns die Stelle mehrere Jahre lang geteilt, und es hatte gut geklappt. Mir gefiel meine Arbeit, und der soziale Aspekt daran, der Kontakt mit meinen Patienten, war vielleicht ein Ersatz für die privaten Beziehungen, die ich nicht hatte. Doch dann war der Tag gekommen, an dem ich beschloss, mich zurückzuziehen, meiner Kreativität mehr Zeit zu widmen. Wir änderten unser Arrangement, und ich sprang jetzt nur noch gelegentlich als Vertretung ein. Das war immer seltener notwendig. So war mein Leben zwar einsamer, aber auch erfüllter. Ich hatte sehr wenig Umgang mit Menschen, genoss jedoch das Gefühl der Freiheit. Ich hatte mir mein Leben nach meinem Geschmack eingerichtet und genoss das Gefühl, es so bis ans Ende meiner Tage führen zu können. Aber es ist dann doch alles ein bisschen anders gekommen.

Mein nächster Nachbar war ein Farmer auf dem Hügel jenseits der Straße. George Brendel. Ich wusste nicht viel über ihn, doch mir war immer klar gewesen, dass er wie ich nicht von hier stammte. Er sprach mit einem leichten Akzent, der nur manchmal offenkundig wurde. Er besaß ein Grundstück von nicht unbeträchtlicher Größe, auf dem er aber außer einer Herde Schafe keine Tiere hielt. Genau wie George und ich stachen sie hervor – sie passten irgendwie nicht ganz in diese Umgebung. Erstens gehörten Schafe eigentlich nicht in diesen Teil des Landes. Und zweitens waren sie klein und hatten schwarze Beine. Solche Schafe hatte ich zuvor nur einmal gesehen – auf der Ostseeinsel Gotland. Es war mir ein Rätsel, woher Georges Herde kam. Sie graste unter seinen Olivenbäumen – eine weitere Eigentümlichkeit, denn niemand sonst baute in dieser Gegend Oliven an. Wie ihr Besitzer hatten die Schafe ihr Recht, hier zu leben, erst allmählich erworben, nicht als echte Einheimische, aber als tolerierte Außenseiter.

Georges Unzulänglichkeiten als Farmer schienen hauptsächlich einen Grund zu haben: Er war wohlhabend. Ich hatte keine Ahnung, worauf diese Meinung zurückzuführen war, doch sie war allgemein verbreitet: George Brendel war als Farmer unfähig, weil er Geld hatte. Er lebte schon wesentlich länger hier als ich und hatte sich im Laufe der Zeit Respekt erworben, zwar nicht als Landwirt, aber als Mensch. Er war in der Lokalpolitik aktiv und Mitglied des Gemeinderats.

Ich war zwar schon auf seiner Farm gewesen, doch nie in seinem Haus. Ich glaubte nicht, dass er eine Familie hatte, aber eigentlich wusste ich nicht viel über sein Privatleben. Er sagte mehrmals, er bewundere meine Kunst, und wenn er etwas kaufte, bezahlte er dafür mit Fleisch, Olivenöl oder Gefälligkeiten. Immer zu großzügig. Ich betrachtete es als Mildtätigkeit. Vielleicht war es aber auch etwas ganz anderes, das ich lieber nicht analysieren wollte. Als wir uns nach und nach ein wenig besser kennen gelernt hatten, blieb er manchmal nach einem Besuch bei mir auf der Türstufe stehen, als wollte er noch etwas sagen. Seltsamerweise störte mich das nicht, aber ich ermutigte ihn auch nicht dazu. Ich bat ihn nie ins Haus. Es hatte eine Zeit gegeben, in der ich nicht imstande gewesen wäre, seine Gaben anzunehmen. Und ich ihm das Verweilen ganz sicher nicht erlaubt hätte. Aber inzwischen war ich dankbar für seine Aufmerksamkeiten, materielle wie sonstige. Es kam vor, dass ich seinen Blick für einen ganz kurzen Moment festhielt. Doch nie folgte eine offene Reaktion. Er ergriff keine Initiative, machte keinen Schritt auf mich zu. Bis auf das unsichere Stehenbleiben auf meiner Schwelle.

Es gab noch andere Nachbarn, die mir Fisch oder eine Languste schenkten. Manchmal sogar Austern und Jakobsmuscheln. Ich vermutete, dass sie mich bemitleideten und glaubten, ich könne mich nicht allein durchschlagen. Wahrscheinlich hatten sie Recht. Viele Jahre lang war mein Haus nur ein Ort gewesen, wo ich nach der Arbeit schlief. Und eine Gedenkstätte für meinen Schmerz, der nicht vergehen wollte. Die Jahre waren ineinander verschwommen. Erst seit ich vorzeitig in den Ruhestand getreten war und mehr Zeit in meine Kunst investierte, hatte ich hier richtig zu wohnen begonnen. Trotzdem war ich immer noch nicht eine von ihnen – ein Mensch, der Zugehörigkeit beanspruchen konnte. Für sie war ich nach wie vor ein Gast. Jemand, um den sie sich kümmern mussten.

Und das stellte beide Seiten zufrieden.

2

Seit einiger Zeit erfüllte mich ein wachsendes Gefühl der Dringlichkeit. Es war nicht plötzlich gekommen, sondern langsam und mit so winzigen Schritten, dass ich es anfangs gar nicht bemerkt hatte. Eines Tages jedoch wurde ich mir meiner Unruhe bewusst, des starken Bedürfnisses, Ordnung in mein Leben zu bringen. Nicht um anderer Menschen, sondern nur um meiner selbst willen. Warum, verstand ich eigentlich nicht. Mein Leben war seit Jahren dasselbe, und ich erwartete auch jetzt keine drastischen Veränderungen. Es war nichts geschehen, was dieses Gefühl der Dringlichkeit hätte erklären können.

Und doch war etwas anders. Ich selbst hatte mich verändert, denn um mich herum war alles gleich geblieben. Vielleicht handelte es sich bloß um eine natürliche Konsequenz des Alterns, des zunehmenden Bewusstseins der Endlichkeit meiner Existenz. Und das war ein unerbittlicher, unausweichlicher Prozess, dem ich mich nicht entziehen konnte. Nicht, dass ich das gewollt hätte. Im Gegenteil, ich begrüßte ihn sogar mit einer Art Vorfreude.

Wenn ich sage, um mich herum wäre alles gleich geblieben, so stimmt das nicht ganz, denn es gab da diesen Jungen, Ika. Er war in mein Leben getreten, und ich wusste nicht genau, was ich davon halten sollte. Wie es mich beeinflussen würde. Mich schon beeinflusst hatte. Wir sahen uns einmal in der Woche, und ich musste mir eingestehen, dass ich angefangen hatte, mich auf die Donnerstage zu freuen.

Auch der Ort, an dem ich lebte, erschien mir irgendwie verändert. Vielleicht hatte meine Rastlosigkeit damit zu tun. In der Wahrnehmung meiner selbst und meiner Umgebung hatte sich ein Wandel vollzogen. Ich hatte plötzlich eine Orientierung. Eine Perspektive, die mir vorher gefehlt hatte. Zum ersten Mal in meinem Leben begann ich, mich in einem Kontext zu sehen. Und seltsamerweise hatte ich den Eindruck, dass auch andere mich anders sahen. Nicht in einem realen Sinne – es gab sehr wenige Menschen in meinem Leben –, sondern eher so, dass ich mir möglicher Beziehungen bewusst wurde. Es kam mir vor, als hätte ich bisher nur in geschlossenen Räumen existiert. Bis jetzt hatte es keine Ausblicke gegeben – von drinnen nach draußen oder von draußen nach drinnen. Aber nun schien es, als wäre eine Wand weggerissen worden. Es überraschte mich, dass ich mich nicht ungeschützt fühlte. Und nicht nur das, es erfüllte mich sogar eine unerklärliche Vorfreude. Dieses Aufgehen von Türen und Fallen von Barrieren signalisierte etwas Positives. Vielleicht hoffte ich, dass es mir helfen würde, die Ereignisse in meinem Leben endlich zu ordnen, dass ich sie als Teile eines Ganzen sehen konnte. Es war schwer zu verstehen, warum ich das plötzlich so wichtig fand, wo mir doch zuvor die Möglichkeit, hinter jedem Abschnitt meines Lebens die Tür zu schließen, stets unerlässlich erschienen war.

Ich wusste, dass sich das alles als vergebliche Mühe erweisen konnte. Ich bin mir nicht sicher, ob sich überhaupt Ordnung in das Leben eines Menschen bringen lässt. Das Leben ist irrational und unlogisch, und das müssen wir akzeptieren und versuchen, uns damit zu arrangieren. Aber vielleicht ist es notwendig, dass wir danach trachten, unsere eigene Geschichte zu verstehen, sie als ein zusammenhängendes Ganzes zu begreifen.

Unser Leben hat seine eigene Chronologie. Ein Ereignis führt zum anderen. Eine Tat hat ein Ergebnis, das zur Grundlage für unser nächstes Handeln wird. So gesehen, schaffen wir uns immer eine Art Kausalität. Ich bin mir nicht sicher, ob sie eine Illusion ist, aber ich weiß, dass sie hilfreich sein kann.

Jetzt wünschte ich sie mir.

Allerdings schien es sehr viele Handlungsstränge zu geben. Sehr viele Personen, die in den Dramen, die mein Leben ausmachten, unabhängig voneinander agierten. Und sie alle schienen sich gegenseitig auf eine Weise zu beeinflussen, die unmöglich voll zu erfassen war.

Ich wusste damals bereits, dass es keine absoluten Gewissheiten gibt. Früher hatte ich geglaubt, die Naturwissenschaften böten sie, lieferten Gesetzmäßigkeiten, die unverrückbar seien. Deshalb hatte ich in der Schule auch die naturwissenschaftlichen Fächer am liebsten gehabt und später Medizin studiert. Ich glaubte, sie würde mir eine Welt der absoluten Wahrheiten eröffnen. Doch je tiefer ich in sie eintauchte, desto weniger absolut erschienen sie mir. Auch hier gab es Widersprüchlichkeiten. Neue Forschungen machten alte Befunde obsolet. Und hinter jeder Antwort und Erklärung stand immer wieder die nächste offene Frage. Es war, als beackerte ich ein Terrain, das allmählich vertraut wurde, aber mit einem ständig wachsenden Bewusstsein für eine weitere unbekannte oder nicht erkennbare Realität jenseits davon. Jeder Schritt führte mich tiefer ins Unbekannte. Und das Unbekannte wuchs, während das, was ich wusste, zu schrumpfen schien.

Ich lebte seit fast fünfzehn Jahren in diesem kleinen, entlegenen Ort. Überwiegend allein, was mich überhaupt nicht störte. Es war ein selbst gewählter Zustand. Doch die Isolation verstärkte meine Unsicherheit, glaube ich, und mein Leben hatte etwas leicht Surreales bekommen. Ich stellte fest, dass ich mir wünschte, Ereignisse, Erinnerungen bekräftigen zu können. Ich fing an, mich nach einer Bestätigung dafür zu sehnen, dass mein Gedächtnis intakt war.

Ich hatte meine Erinnerungen gehegt und sehr darauf geachtet, sie nicht zu verschleiern oder zu verändern. So waren sie bewahrt, aber nicht der Reihe nach geordnet. Ich wusste genau, wo sich jede einzelne befand und was sie enthielt, doch die Erinnerungen existierten in einer Art Vakuum, jede für sich getrennt von den anderen. Ich kann nicht erklären, warum es sich so anfühlte. Es war, als schleppte ich ein unsortiertes Bündel mit mir, präsent nur als konstante Last.

Ich dachte, wenn ich jede einzeln hervorholen und in die richtige Reihenfolge bringen könnte, würde die Last womöglich leichter. Die schmerzlichen Erinnerungen würden vielleicht erträglicher, wenn ich ihnen ein Davor und ein Danach zuordnen könnte. Ich glaube, ich hoffte auf Verstehen. Und auf Vergebung vielleicht. Nicht von anderen, sondern von mir selbst, damit ich mich endlich mit einer gewissen Milde betrachten konnte. Nicht mit Liebe – die erwartete ich bestimmt nicht. Nicht mit Mitleid, keinesfalls. Mit Empathie vielleicht. Für das kleine Mädchen, das ich einst gewesen war. Für die junge Frau. Und für die ältere Frau, die ich geworden war.

Ich glaube, ich hoffte auf ein Verschmelzen der Erinnerungen zu einem fassbaren Ganzen.

Das auch mich zu einem ganzen Menschen machen würde.

3

Es war ein Donnerstag. Ich hoffte, Ika würde kommen. Sicher war ich nicht, aber einigermaßen zuversichtlich. Er wurde älter; unsere erste Begegnung lag fast ein Jahr zurück. Damals hatte ich ihn auf etwa sechs Jahre geschätzt. Er hatte noch seine Milchzähne gehabt. Irgendwie stolperten wir unten am Strand übereinander. Besser gesagt, stolperte ich dort über ihn. Wo auch sonst? Der Strand ist der Ort, an dem sich unser Leben abspielt, ob als Tragödie oder Komödie. Ich fand ihn mit dem Gesicht nach unten im Sand liegend; seine Füße berührten den Saum des Wassers. Es war nicht so, dass er vom Meer angespült worden wäre. Nein, ich erkannte seine Fußabdrücke im Sand und wusste, dass er sich absichtlich so hingelegt hatte. Seine Arme waren ausgebreitet und seine Hände in die Erde gegraben. Er sah aus wie ein gestrandeter Seestern, aber für den Bruchteil einer Sekunde hatte ich die Vision, der schmale kleine Körper sei der eines Gekreuzigten. Immer wieder plätscherte das Meer an seine Füße. Er rührte sich nicht, obwohl ich sicher war, dass er meine Anwesenheit spürte. Es war vollkommen klar, dass er lebte. Er war einfach nicht fähig, sich totzustellen, falls es das war, was er wollte. Also blieb ich einfach stehen und wartete.

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