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Gruma, ein archaisches Dorf im Apennin. Hier geht kein Mensch von dieser Welt, bevor er nicht eine Nacht lang erzählen und letzte Dinge loswerden kann. Walter, wegen seines pechschwarzen Haars auch Nerì genannt, wird zum neuen Geschichtenabnehmer bestimmt. Wenn es so weit ist, eilt er ans Sterbebett, wo schon ein Stuhl für ihn bereitsteht. Er hört den leisen Worten zu und einem Atem, der langsam verebbt. Für Nerì ist seine Bestimmung Fluch und Segen zugleich. Bald kennt er viele Geheimnisse, und er kennt den Tod – doch wird er fast verrückt ob dieser vielen Stimmen in seinem Kopf. Während man sich in Gruma seit jeher unter der Platane, in la Frans Bar oder vor Sciugars Friseursalon die schöns ten Geschichten erzählt, darf er nichts davon preisgeben, was er am Sterbebett erfährt.Vincenzo Todiscos neuer Roman fängt die magische Atmosphäre einer Kindheit in einem italienischen Bergdorf ein, wo die Tradition des Erzählens in besonderer Weise lebendig ist. Jede Geschichte bringt ein neues Stück der dunklen Vergangenheit zutage, und verstört muss Nerì anhören, welche Spuren der Krieg in Gruma, auch in seiner Familie, hinterlassen hat.
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Seitenzahl: 322
Veröffentlichungsjahr: 2024
Vincenzo Todisco
Roman
Atlantis
Das Leben ist nicht das, was man gelebt hat, sondern das, woran man sich erinnert und wie man sich daran erinnert – um davon zu erzählen.
Gabriel García Márquez
Wenn die klassische Welt untergeht, wenn alle Bauern und alle Handwerker tot sind, wenn es keine Glühwürmchen, keine Bienen, keine Schmetterlinge mehr gibt, wenn die Industrie den Kreislauf der Produktion unaufhaltsam gemacht hat, dann ist unsere Geschichte zu Ende.
Pier Paolo Pasolini
Walter hält den Brief von La Fran in seiner Hand. Er hat ihn drei Mal gelesen. Es ist eine Einladung. La Fran kündigt ihre Hochzeit an.
In Gruma bewege sich schon lange nichts mehr, steht im Brief. La Fran wolle neu beginnen, aber das sei nicht möglich, solange die alte Zia Filina nicht ihre Ruhe finde. Deswegen müsse Walter die Einladung annehmen und sein Versprechen einlösen, seiner Tante vor dem Sterben zuzuhören.
Die Hochzeit finde am dritten November statt, nach dem Fest der Heiligen und der Toten. Walter bliebe also genug Zeit, sich auf den Weg nach Gruma zu machen.
La Frans Handschrift kommt Walter fremd vor. Er senkt den Arm und dreht den Blick zum Fernseher, der von morgens bis spät in der Nacht eingeschaltet ist.
Die Mutter sitzt drüben am Küchentisch und schlürft ihre Suppe. Sie kratzt lautstark die letzten Reste zusammen, als wollte sie nicht glauben, dass der Teller leer ist. Walter erhebt sich schwerfällig vom Sofa, tritt in die Küche und geht an der Mutter vorbei. Sie schaut kopfschüttelnd auf seine schlammverkrusteten Schuhe.
»Hat es Post gegeben?«, fragt sie.
Walter hört weg.
Die Mutter steht auf und geht vor sich hin flüsternd an den Herd, um einen Kräutertee zu kochen. Walter tritt einen Schritt zurück, den Brief von La Fran immer noch in der Hand.
Die Küche ist so niedrig, dass Walter den Kopf einziehen muss. Überall an den Wänden hängen Fotos aus der Zeit seiner Kindheit in Gruma. Tagsüber und auch am Abend sitzt die Mutter stundenlang am Tisch und starrt mit müden Augen im sorgendurchfurchten Gesicht auf die Bilder. Sie mäkelt herum wie eine Betrunkene, dass sich Walter die Ohren zuhalten muss.
»La Fran will heiraten«, sagt Walter doch noch.
»La Fran?«, staunt die Mutter, ohne den Blick von der Wand abzuwenden.
»Es steht im Brief, den wir heute erhalten haben. Es heißt, bring Elvira mit, du bist also auch eingeladen.«
»Sie wartet immer noch auf dich, die alte Hexe«, seufzt die Mutter, »jetzt schaltet sie noch La Fran ein.«
Walter betrachtet den Hinterkopf der Mutter. Er denkt, woran er schon oft gedacht hat, den Hammer zu holen, um ihr von hinten den Kopf einzuschlagen. Einfach die Fotos von der Wand abzunehmen, das würde sie nicht töten. Sie würde nur nicht mehr aufhören zu weinen.
»Im Brief steht auch, dass sich La Fran wünscht, ein von dir geschneidertes Hochzeitskleid zu tragen.«
Die Mutter sucht mit dem Blick das Foto, auf dem La Fran als junge Frau unter der Platane vor der Osteria ihrer Eltern steht.
»Im November? In einem Monat, da ist es kalt in Gruma. Und La Fran ist doch sicher über fünfzig, was will die jetzt noch heiraten?«
Die Nachbarin vom oberen Stock tritt ohne zu klopfen in die Wohnung, weil sie Zucker braucht. Die Mutter empfängt sie gespielt freundlich. Walter reibt sich die Nase mit dem Handrücken, setzt sich, kreuzt die Hände hinter dem Nacken. Er starrt schadenfreudig auf die Nachbarin. Es überkommt ihn die alte Lust nach Totengesichtern.
»Elvira, wie der mich anschaut«, sagt die Frau und weicht Walters Blick aus.
»An manchen Tagen«, beklagt sich Elvira, der Nachbarin zugewandt, »mag ich mich gar nicht erst anziehen. Hier ist es so eng und feucht.«
Walter macht eine brüske Bewegung, um der Nachbarin noch mehr Angst einzujagen.
»Sag ehrlich«, sagt die Mutter, indem sie sich an die Stuhllehne festklammert, »gehe ich schon sehr krumm?«
»Nein, Elvira«, stottert die Nachbarin, fährt mit ihren Händen durch die Luft und macht sich ohne Zucker fluchtartig wieder davon.
»Wieso tust du das?«, fragt Elvira.
Sie setzt sich wieder vor den leeren Suppenteller. Im Fernsehen beginnt die Tagesschau. Walter beobachtet, wie die knochigen Hände seiner Mutter den Löffel umklammern, sieht, wie sich ein ganzes Leben in ihr Gesicht eingefurcht hat. Elvira schrumpft jeden Tag etwas mehr. Walter erinnert sich, dass sie sich damals in Gruma jeden Morgen nach vorne beugte, die Hände bis zu den Füßen streckte und wie ihre langen, dichten Haare auf den Fußboden fielen.
»Sie will also immer noch, dass du zurückkommst«, murmelt Elvira.
»Es ist nur La Fran, die heiraten will, Zia Filina hat nichts damit zu tun.«
»Und du fällst darauf ein. Es geht nicht um La Fran, es ist sehr wohl deine Tante Filina, sie hat es eingefädelt, glaub mir!«
Dann sagt Elvira mit nach innen verdrehten Augen, sie wisse nicht, wie sie die Kälte des vergangenen Winters überstanden habe. Ob sich Walter erinnern könne, wie oft sie vom Fieber geplagt gewesen sei, wie sie tagelang nichts gegessen habe.
Walter weiß nicht, wohin er seine Beine ausstrecken soll, die für die Wohnung zu lang sind.
Es läutet an der Tür. Es ist Ronny, der Hausbesitzer. Er kommt, um die Miete einzufordern.
»Ihr seid im Rückstand.«
Ronny hat eine Flasche Wein in der Hand. Er öffnet die Flasche, holt drei Gläser und füllt sie. Er sagt, dass dieses Jahr im Garten kaum etwas gewachsen sei, weil der Boden bis im März gefroren war. Dann sagt Elvira, sie finde so viele Sachen nicht mehr. Sie suche sie überall, aber sie finde sie nicht. Sie sagt, dass all das Suchen ihr Kopfschmerzen bereite. In Gruma, damals, habe sie nie Kopfschmerzen gehabt. Nur der Tigerbalsam, den sie auf die Schläfen streiche, verschaffe ihr etwas Linderung, sonst würde sie es manchmal nicht mehr aus dem Bett schaffen. Und sie sei es leid, mit offenen Augen im Dunkeln zu liegen und darauf zu warten, dass die Nacht vorbeigehe.
Ronny unterbricht sie, um zu sagen, der Wein schmecke köstlich. Walter hört halb zu, und halb schaut er aus dem Fenster.
Weder Walter noch Elvira haben bemerkt, dass Ronny die Wohnung wieder verlassen hat. Sie hören, wie er im oberen Stock Akkordeon spielt und so fest mit dem Fuß den Takt schlägt, dass die Decke über ihren Köpfen zittert.
»Vergiss diesen Brief, vergiss deine Tante, für uns gibt es kein Gruma mehr«, sagt Elvira, bevor sie sich vom Stuhl erhebt.
Die Mutter findet nur dank der Tabletten in den Schlaf. Walter steht allein in der Küche. Hinter ihm in der Spüle und auf der Küchenfläche das schmutzige Geschirr, das niemand abwaschen will, vor ihm die Wand mit den Fotos, im Wohnzimmer die Geräusche des Fernsehers.
»Gruma war einmal unser Zuhause, und du warst Grumas Kind«, hat die Mutter vor dem Zubettgehen gesagt.
Walter schlägt mit der Faust gegen die Wand. Er will nicht an Gruma erinnert werden. Die Stimme der Mutter ist immer da, selbst wenn sie schon längst schläft.
Auf dem Tisch der Brief von La Fran und das Brot vom Vortag. Hartes Brot wirft man nicht weg, mahnte Zia Filina. Zia Filina konnte manchmal so herrisch auftreten, dass der Mutter die Tränen aus den Augen rannen. Sie schüttelt den Kopf, wenn sie an die Stimme ihrer Schwester zurückdenkt.
Wenn die Mutter im Nebenzimmer schläft, spürt Walter noch mehr die Fremdheit, die sich zwischen ihnen breitgemacht hat. Sie spielt so oft die Traurige, dass Walter das Gefühl hat, unter einem Schatten zu leben. Er betrachtet die Fotos an der Wand. Links von der Tür ein Bild, da ist er bei Zia Luana auf dem Arm, und eines, da sitzt er mit Zio Fredo auf der Lambretta. Weitere Fotos zeigen Zia Filina bei der Gartenarbeit, eine Kinderschar vor der Schule und immer wieder La Fran, einmal Arm in Arm mit Walter. Und dann rechts und links und oben und unten noch viele andere Schwarz-Weiß-Aufnahmen. Walters Familie, Sciugar mit dem Akkordeon und vor seinem Friseursalon, Don Pietro, ganz Gruma klebt stumm an den Küchenwänden. Die Bilder stammen von Zio Fredo oder vom Merlo, dem selbst ernannten Dorffotografen, die Mutter weiß es nicht mehr so genau. Am Türrahmen hängt ein Passfoto von Walter, da ist er etwa zwanzig, zur Erinnerung, dass er einmal ein hübscher Bursche gewesen sei, sagt die Mutter. Er hatte pechschwarze Haare, deshalb hat ihn seine Familie, allen voran Zia Filina, Nerino oder, noch kürzer, Nerì genannt.
Tagsüber spricht Elvira stundenlang mit den Fotos. Sie erinnert sich, wie sie damals in Gruma alle in der Küche saßen, wie Zia Filina um den langen Tisch kreiste, aus den Augenwinkeln ihre Gäste überwachte und immer wieder die Teller füllte, als wären sie alle kurz vor dem Verhungern. Wie Zia Luana die ganze Zeit aufstand, um nach dem Braten zu sehen, wie sie die Herdklappen öffnete, mit der großen Kelle die Suppe rührte. Alle redeten, aßen und lachten, auch Filina, damals noch, und wie Zio Fredo so hastig aufsprang, wenn ein Gast hereinstürmte, dass sein Stuhl umstürzte, was das allgemeine Gelächter nur noch mehr anheizte. All diese Erinnerungen will die Mutter immer wieder aufkommen lassen. Sie ernährt sich vom Schmerz. Und obwohl Walter sie bittet, damit aufzuhören, weil sonst die Stimmen in seinem Kopf lauter werden, spricht sie weiter und weiter, bis Walter einen Teller gegen die Wand schmettert.
Wie schnell das alles verflogen sei, sagt dann die Mutter sichtlich eingeschüchtert, wie schnell so vieles für alle Zeit vorbei sei.
Morgen früh muss Walter zur Arbeit. Fünfundzwanzig Jahre Fließband in der Schokoladenfabrik. Walter hat jeden Tag gezählt, jede Stunde, in der die Maschinen ihm den Kopf zugedröhnt haben. Wenn er abends nach Hause kommt, ruft Ronny irgendetwas aus dem Fenster. Walter schaut nicht hoch. Die Mutter sitzt in der Küche und starrt auf die Bilder an der Wand.
In der Fabrik hat Walter gelernt, nicht auf seine zitternden Hände zu achten, mit geschlossenen Augen am Fließband zu stehen, damit er nicht dem Anblick seiner Kollegen ausgesetzt ist. Viel zu oft hat er das Bild ihrer vom letzten Atemzug verzerrten Gesichter vor sich gesehen und es sofort ausgemerzt, so wie man mit ein paar Drehbewegungen eine Zigarette ausdrückt. Den Stimmen, die seinen Kopf heiß werden lassen, kann er hingegen nicht ausweichen. Sie brummen wie ein Wespennest zwischen seinen Schläfen.
Walter ist unschlüssig, ob er den Brief von La Fran zerreißen soll. Er möchte die aufkeimende Erinnerung ersticken, aber es ist so still im Haus, dass die Stimmen noch stärker in ihn fahren. Also muss er den Fernseher aufdrehen oder Wasser kochen oder das Ohr an den brummenden Kühlschrank kleben. Aber die Augen, die aus den Fotos herausblicken, lassen ihn nicht los. Sie folgen seinen Bewegungen, bis er sich hinsetzen muss. Er bekommt keine Luft. Er steht auf und öffnet das Fenster. Er geht nach draußen, wo ihn die Nacht erwartet. Sie ist immer da, wie damals in Gruma, mit unzähligen Sternen am Himmel, aber auch stockfinster, stürmisch, kalt und im Sommer oft würzig duftend, mit dem Zirpen der Grillen und dem Taubenflattern unter dem Gebälk des alten Hauses. Sie ist jede Nacht da, die Nacht, bietet aber keine Zuflucht.
Walter geht wieder ins Haus und irrt noch einige Zeit in der Wohnung umher. Der Fernseher flimmert. Walter schaltet ihn nicht aus. Die Mutter behauptet, sie schlafe besser, wenn er läuft.
Das Fenster bleibt geöffnet. Die Kirchturmuhr schlägt zwei. Walter hört, wie Ronny in der oberen Wohnung aufsteht und die Toilette aufsucht. Walter wartet noch eine Weile, bis es wieder ruhig ist. Dann legt er sich ermattet hin. Grumas Getöse lässt in seinem Kopf endlich etwas nach. Er hört, wie im Nebenzimmer die Mutter schnarcht. Er schläft, aber nur kurz, eine Stunde vielleicht. Es brennt in seinem Hirn. Er steigt aus dem Bett und wandert durch die Wohnung. Er tastet sich durch die Dunkelheit bis in die Küche, schaltet das Licht ein und blickt auf den roten Fleck, den der vergossene Wein auf der Tischdecke hinterlassen hat. Er geht durch den Korridor, steckt den Kopf ins Zimmer der Mutter und schaut ihr einen Moment lang beim Schlafen zu.
Dann legt er sich wieder hin. Er wird höchstens noch zwei, drei Stunden schlafen, und beim Aufwachen wird er das übliche flaue Gefühl im Magen spüren.
Er steigt noch einmal aus dem Bett, um das Fenster zu schließen. Er stellt den Fernseher leiser. In vier Wochen ist November. Elvira hat gesagt, sie rieche bereits den Winter.
Walter überkommt das Gefühl, alles um ihn herum würde zerfallen. Da nützt nur noch eins, nachgeben, sich zurückträumen, Grumas Stimmen die Stirn bieten und sich über Schleichwege in der Erinnerung verlaufen, zurück auf die alte Matratze, die auf einem Federrost lag. Eine kleine Bewegung genügte, und das ganze Bett wippte und schaukelte wie ein Boot auf den Wellen, sodass sich das Kind genüsslich in den Schlaf wiegen konnte.
Walter war sieben, als eines Abends Zia Filina ins Haus stürmte und verkündete: »Deine Zeit ist gekommen!«
Sie nahm den Neffen an die Hand und führte ihn zum uralten Gino, der schon seit zwei Tagen im Sterben lag. Eine Woche zuvor hatte der kerngesunde Gino plötzlich über Schmerzen im Rücken geklagt, die bald in beide Beine ausstrahlten und sie taub werden ließen. Die Familie hatte den gelähmten Gino ins Bett getragen, von dem er sich nicht mehr erheben sollte. Er atme schwer und gebe keine Antwort mehr. Der Tod stehe ihm ins Gesicht geschrieben, aber er sei noch nicht bereit. Dieser Schwebezustand ließ halb Gruma den Atem anhalten.
Als Filina an die Tür klopfte, öffnete Ginos Tochter. Filina versicherte ihr, der kleine Walter sei nun neu dafür bestimmt. Man ließ ihn eintreten, Filina musste draußen bleiben.
Ginos Tochter führte Walter ins Sterbezimmer und ließ ihn mit ihrem Vater allein. Walter nahm auf einem Stuhl Platz, der für ihn dort bereitstand. Filina hatte ihm beim Herkommen in aller Eile erklärt, er müsse einfach nur Geduld aufbringen und so lange am Bettrand ausharren, bis der alte Gino von sich aus in sich gehen würde. Walter würde sicher merken, wann dieser Moment käme. Er müsse jetzt einspringen, Gruma könne nicht länger warten. Olmo, der schon lange mehr der Flasche als den Sterbenden zugetan war, sei unauffindbar.
Walter saß also im Sterbezimmer und wartete, eine Stunde, zwei, drei. Nach vier Stunden wurden seine Ohren und der Kopf heiß, die Augen röteten sich. Er blieb trotzdem still sitzen, und irgendwann passierte es. Ginos ausgetrocknete Lippen deuteten eine Regung an, die Augenbrauen hoben sich, das bleiche Gesicht färbte sich rosa. Walter rückte näher, weil er nicht verstehen konnte, was der alte Mann sagen wollte.
Zuerst kamen die Worte nur spärlich aus Ginos Mund. Er sprach zögernd, verschluckte Silben und ganze Wörter. Nach einer Weile aber löste sich die Starrheit seiner Zunge. Walter hatte sich an den Bettrand gesetzt und horchte. Als ob sich langsam die Schleusen der Erinnerung öffneten, begann Gino zu erzählen, einmal zaghaft gestikulierend, dann ruhig und gelassen eine Litanei aufsagend. Am Anfang war nicht klar, worauf er hinauswollte, aber dann hob er die Hand und zeigte dem Kind die einzigen zwei Finger, den Daumen und den Zeigefinger, die er an der rechten Hand noch hatte. Es hieß, dass Gino die anderen Finger beim Holzspalten verloren hätte, aber jetzt schüttelte er den Kopf. Es sei so lange her, sagte Gino. Er sei der Dorfälteste, ob Walter das wisse, geboren noch im letzten Jahrhundert, und er habe in seinem Leben so manches erlebt. Aber jetzt gehe es um die verlorenen Finger. Das sei noch vor dem großen Krieg, dem ersten, gewesen. Bei ihnen Zuhause hätte eine Magd gearbeitet, und Gino habe es auf sie abgesehen gehabt, weil sie so schöne Rundungen hatte. Alles an ihr sei rund gewesen, die Brüste, die Hüften, der Hintern, der Mund, die Augen, kugelrunde Augen, und er habe nicht widerstehen können. Immer, wenn sie allein waren, habe er sie angefasst, er habe seine Hände auf die Brüste und auf den Hintern gelegt. Sie sei dabei erstarrt, habe nichts gesagt, außer »Nein, nein, nein …«, immer nur das eine Wort, aber Gino konnte nicht damit aufhören, im Gegenteil, er zog das wehrlose Mädchen an sich, umklammerte es, griff ihm zwischen die Beine. Rosa habe sie geheißen, aber er habe immer Rosina zu ihr gesagt, Rosina rotondina, rundes Röschen. Wenn sie mit zwei Kesseln in der Hand zur Quelle hochstieg, lauerte er ihr auf. Er wartete, bis die Kessel voll waren und Rosina sich an den Abstieg machte. Er sprang im richtigen Moment aus dem Gebüsch hervor und fasste sie überall an. Rosina konnte sich nicht wehren, weil sie in jeder Hand einen mit Wasser gefüllten Kessel trug, sie konnte nur »Nein, nein« rufen. Und einmal sei er ihr mit offener Hose bis in die Scheue nachgeschlichen. Sie habe sich hinter einem alten Holztisch verschanzt, sei dort gestanden, zitternd, mit den Augen flehend. Er sei langsam auf sie zu um den Tisch gegangen, und als er nach ihr greifen wollte, habe sie blitzschnell eine Axt hinter dem Rücken hervorgeholt, und wenn er nicht einen Schritt nach hinten gemacht hätte, hätte es nicht nur die drei Finger erwischt.
Der alte Gino lachte und weinte zugleich, indem er Walter seine verstümmelte Hand entgegenstreckte.
Er unterbrach den alten Mann nicht, als spürte er, damit den Zauber zu brechen, von dem sie im nun worterfüllten Zimmer beide erfasst worden waren. Er unterbrach Gino nicht, als dieser mehrmals Anlauf nahm, um zu beschreiben, wie er seine drei Finger am Boden angestarrt habe, wie Rosina die Axt immer noch auf ihn gerichtet hielt und dann das Blut aus seiner Hand zu fließen begann.
Walter hörte zu. Und je länger es ging, desto unwirklicher kam es ihm vor. Er hatte das Gefühl, der Raum löse sich auf und die Zeit bliebe stehen. Gino hatte mehrmals eine längere Pause einlegen müssen, um seine Geschichte zu Ende zu erzählen. Es war wie eine langsame Entblößung gewesen, bei der der alte Mann jegliche Zurückhaltung abgelegt hatte, denn es gab keine Scham mehr.
Der Greis und das Kind schauten einander in die Augen. Walter erkannte eine große Zufriedenheit in Ginos Blick, als hätte er sich vor dem endgültigen Abschied noch einmal ins Leben zurückversetzt gefühlt. Als er dann schließlich erzählte, wie die Magd die Axt hat fallen lassen und aus der Scheune gerannt sei, deutete sein Mund ein leises Lächeln an. Er holte tief Luft.
»Nein, nein«, sagte er, »das hat mich nicht kleingekriegt, was sind schon drei Finger weniger.«
Gino hatte trotz der Verstümmelung sein Leben lang den Beruf des Bodenlegers ausgeübt. In Gruma war er dafür angesehen, dass er den unebenen Platz vor der Kirche und um die große Platane herum neu gepflastert hatte. Er zeigte Walter, wie er mit der verstümmelten Hand die Steine aus dem Korb holte. Den verbliebenen Daumen und den Zeigfinger benutzte er wie eine Zange, um die Steine festzuhalten. Er setzte sie mit Richtschnur und Hammer in den Sand, alles Handarbeit, und auf Knien. So konnte er ständig seine verstümmelte Hand anschauen und an Rosina denken. Wenn einmal ein Stein nicht passte, suchte er in den Körben so lange, bis er den richtigen fand, Kante an Kante habe es sein müssen. Er füllte Loch um Loch, bis die ganze Piazza eben war und kein Stein mehr locker.
»Mit diesen beiden Fingern habe ich alles gemacht«, sagte er und streckte sie Walter entgegen, als müsste er ein letztes Mal einen Stein in die Zange nehmen.
Dann war es vollbracht. Es folgte ein lang gezogenes Seufzen, Gino fielen die Augen zu, danach war es still.
Walter hatte die Feuerprobe bestanden, und Filina fühlte sich darin bestätigt, als Erste in ihrem Nerì den neuen Geschichtenabnehmer erkannt zu haben. Also packte sie den Neffen und machte sich auf, Olmo zu suchen, damit er seinem Nachfolger das Zepter übergeben konnte.
Sie fanden den Alten unter einem Baum liegend, zitternd, barfuß, mit hochgekrempelten Hosenbeinen und völlig durchnässt vom nächtlichen Regen. Er hatte sich einmal mehr in einer der vielen Osterien von San Giorgio volllaufen lassen und den Heimweg nicht mehr gefunden. Zia Filina merkte sofort, dass es nicht gut um Olmo stand. Sie sagte zu Walter, er müsse ihr jetzt helfen. Sie versuchten, Olmo unter den Armen zu fassen und ihn hochzuheben. Er war zu schwer. Zia Filina redete auf ihn ein, »dass du mir ja nicht stirbst, bevor du ihm das Geschichtenabnehmen beigebracht hast«.
Olmo antwortete nicht und schien mehr als nur zu schlafen. Filina wischte ihm mit ihrem Taschentuch, das sie immer im Ärmel trug, die Stirn und den Mund ab und schüttelte ihn vorsichtig. Als Olmo immer noch keine Regung zeigte, sagte sie zu Walter: »Du bleibst hier und passt auf ihn auf!«
Sie eilte nach Hause – schnell konnte Filina damals noch rennen! –, holte eine Flasche Wein, ein Glas Essig, ein Glas Honig, befahl ihrer Schwester Luana, eine warme Suppe zu kochen, und eilte zu Olmo zurück, der immer noch reglos dalag. Walter hatte sich auf den Boden gesetzt und spielte mit ein paar Steinen. Zia Filina träufelte Olmo den Wein über die Lippen, strich sich etwas Honig auf den Finger und schob ihn in Olmos Mund, dann nahm sie wieder das Taschentuch, tunkte dessen Ende in den Essig und fuhr damit über Olmos Stirn. Endlich gab er ein Lebenszeichen von sich, indem er die Augen öffnete und Filina entgeistert anstarrte. Sie richtete ihn auf, lehnte ihn an den Baum. Er atmete schwer. Der nächtliche Rausch hatte ihm arg zugesetzt.
Im noch schwachen Sonnenlicht der dünnen, flirrenden Morgenluft sah Olmo tatsächlich wie eine Ulme aus. Seine Haut war rau und grob, wie eine mit sich kreuzenden Rippen durchfurchte Rinde.
»Kannst du aufstehen?«, fragte Filina den alten Mann, der aber seufzend den Kopf schüttelte.
»Das ist Walter, Nerì, mein Neffe«, sagte sie und zeigte auf Walter, »er ist der Nächste, du musst es ihm beibringen, hörst du!«
Olmo nickte.
»Du bist dir sicher?«, fragte er.
»Ja, ja, ganz sicher«, antwortete Filina hastig.
Sie ließ Olmo einen Schluck Wein nehmen und gab ihm ein bisschen Honig auf die Zunge.
»Er soll näher kommen, ich sehe ihn nicht«, stöhnte er.
Zuerst kam aber Luana mit der Suppe. Filina nahm sie ihr ab und löffelte Olmo etwas davon in den Mund. Er aß, trank immer wieder einen Schluck Wein, bis es ihm etwas besser ging.
Filina zog Walter näher und sagte:
»So, das ist Walter, du bringst ihm jetzt das Geschichtenabnehmen bei, es ist deine Pflicht!«
»Ich weiß«, stöhnte Olmo.
»Er hat es ein erstes Mal gemacht, er war beim alten Gino, aber er muss noch lernen, er ist der Nächste, du kannst nicht mehr«, sagte Filina.
Olmo nickte. Sein Gesicht hatte etwas Farbe angenommen. Er atmete immer noch schwer. In der Zwischenzeit war es warm geworden, unter dem Baum blieb es kühl.
»Du musst jetzt gehen«, sagte Olmo zu Filina, »das Kind soll sich zu mir setzen.«
Walter gehorchte. Olmo richtete sich noch etwas weiter auf und drückte den Rücken fest gegen den Baumstamm. Der Schmerz entriss ihm eine Grimasse. Er wollte sprechen, seine linke Hand deutete vage in die eine, seine rechte in die andere Richtung. Filina, die noch immer dastand, bückte sich zu ihm und verabreichte ihm einen letzten Löffel Suppe.
»Es geht, es geht«, sagte Olmo mit einer etwas kräftigeren Stimme, »du musst jetzt gehen, wir machen das schon.«
Filina zögerte noch einen Moment, aber dann ließ sie die beiden allein.
Olmo begann schleppend zu sprechen:
»Nerì«, stotterte er, »du hast wirklich pechschwarze Haare, und was bist du nur für ein schmächtiger Kerl. Zeig dich. Ja, ja, du bist es, ich kann es spüren. Du bist der Nächste.«
Neunundzwanzig lange Jahre habe er das Geschichtenabnehmen inne, sagte Olmo. Er war sichtlich gerührt, seinen Nachfolger neben sich zu haben. Er erklärte ihm, den Sterbenden die Geschichte abzunehmen, sei in erster Linie eine Geduldsprobe, Walter habe das bei Gino sicher schon erfahren.
Olmo legte eine etwas längere Pause ein, um die nächsten Sätze im Kopf zu ordnen:
»Du bist von nun an ein Geschichtenabnehmer, ein Zuhörer, zuhören ist wie stilles Atmen, wie …«
Olmo konnte nicht weitersprechen. Zia Filina stand plötzlich wieder da. Sie bückte sich zu Olmo. Er hob die Hand, um sie wegzuschicken.
»Du bist noch nicht fertig«, rüttelte sie an ihm, »komm, ich helfe dir.«
Sie setzte sich neben den alten Mann, richtete seinen Kopf etwas auf.
»Zehn Tage … neun Nächte und zehn Tage, das war meine längste Geschichtenabnahme …«, stöhnte Olmo und hob den Zeigfinger, weil ihm die Worte nicht mehr kamen.
Zia Filina zog das Taschentuch aus ihrem Ärmel, benetzte eine Ecke mit Essig und Speichel und tippte damit auf Olmos Schläfe. Dann wandte sie sich zu Walter. Olmo habe ihr einmal gesagt, die Erzählung der Sterbenden könne so etwas wie eine Beichte sein, manchmal ein Geständnis oder einfach eine Erinnerung, umsonst sei es nie. Viele Sterbende suchten ihr Leben lang nach den Worten, die ihnen plötzlich wie von selbst über die Lippen kämen, und den meisten würde die Geschichtenabnahme große Zufriedenheit schenken.
»Das ist doch so, Olmo?«
Olmo nickte. Er hatte sich etwas ausruhen können. Seine Lippen hatten sich blaugrau gefärbt.
»Und du bist derjenige, der ihnen diesen Trost schenkt«, flüsterte er.
Olmo bewegte den Kopf hin und her, er hob die Hand, wedelte in der Luft, um Zia Filina dazu zu bewegen, sich wieder zu entfernen. Zia Filina gehorchte wider Willen. Sie stand auf und ging ein paar Schritte fort.
»Wenn du nicht gehst, sage ich nichts mehr!«, warnte sie Olmo.
Zia Filina verschwand. Olmo schloss die Augen. Er wisse ja nicht, wie es für Walter bei Gino gewesen sei, machte er weiter, aber vielleicht habe er gemerkt, dass der Glückszustand so weit gehen könne, dass der Sterbende, kurz bevor er die Augen endgültig schließt, dem Tod ins Gesicht lache.
Walter nickte. Olmo stöhnte: »Siehst du.«
Das sei ja schließlich das Besondere an der ganzen Sache, fuhr Olmo nach einer langen Pause fort, in Gruma habe der Tod nie das letzte Wort.
»Das klingt jetzt für dich alles etwas fremd, ich weiß, aber du musst ihnen dein Ohr schenken, jeden Satz, jedes Wort aufsaugen und in deinem kleinen Schädel lange mit dir herumtragen, denn …«
Olmo musste schon wieder innehalten, nach Luft ringen. Mit der gleichen Handbewegung, mit der er Zia Filina weggeschickt hatte, bedeutete er jetzt Walter, er solle ganz nah an seinen Mund kommen. Walter rückte näher. Sein Ohr berührte Olmos Lippen. Walter werde es von selbst merken, flüsterte er, die Sterbenden, denen er die Geschichte abnehmen wird, lebten noch lange in ihm weiter.
»Auch in deinem Herzen, in deinem Bauch, überall dort, wo Platz ist. Und in deinem Kopf wird es lauter. Gib mir noch einen Schluck Wein«, unterbrach sich Olmo.
Walter nahm die Flasche und gab ihm einen Schluck. Es floss ihm etwas Suppe, vermischt mit Kautabaksaft und Wein, aus den Mundwinkeln. Walter reichte ihm das Taschentuch. Olmo wischte sich die Lippen und hustete. Walter müsse aufpassen, nahm sich Olmo wieder zusammen, aber die Geschichtenabnahme verlaufe nicht immer reibungslos. Die Sterbenden schauten nach innen, dort könne es auch dunkel sein, und spätestens dann merkten sie, dass die Zeit nicht immer alle Wunden heilt.
»Wenn es lange dauert, spürst du ein Brennen in den Händen«, hauchte Olmo, »weil du dich an die Bettlehne klammerst, und selbst wenn es warm im Zimmer ist, wird dein Gesicht weiß vor Anstrengung. Du musst dir auf die Lippen beißen, atme tief ein und schlag dir mit einer Hand an den Hinterkopf, damit er abkühlt.«
Es folgte eine ganz lange Pause. Walter spürte, wie Olmos Atem in sein Ohr drang.
»Merkst du dir das auch alles?«
Walter nickte.
Ganze Tage und Nächte könne es dauern, bis alles gesagt sei. Und Walter müsse eines verstehen, und er müsse sich auch daran gewöhnen, Geschichtenabnehmer spürten und hörten mehr als andere, das könne er ihm jetzt nicht alles genau erklären, Walter werde es mit der Zeit ganz von selbst merken.
Olmos Kopf kippte zur Seite. Walter richtete ihn wieder auf. Es war Mittag geworden. Die Sonne knallte. Schweißperlen rannen über Olmos Gesicht. Er war fiebrig. Nach einer Weile öffnete er die Augen wieder und deutete dem Kind an, es solle seine Hosenbeine noch etwas weiter hochkrempeln, bis zu den Knien. Walter fasste den hellgrauen Flanellstoff und zog ihn nach oben. Olmos Beine kamen zum Vorschein. Sie waren dürr wie Äste. Er verlangte nach einem weiteren Schluck Wein. Dann war die Flasche leer.
Olmo holte zwei, drei Mal tief Luft. Walter umklammerte seinen Kopf, als wäre er ein Ball, und drückte ihn an sein Ohr.
In Gruma sei kein Greis von dieser Welt gegangen, flüsterte Olmo, bevor er nicht erzählend dem Tod die Stirn geboten hätte.
»Sie merken es von selbst, wenn es so weit ist, sie sagen, ich bin bereit, und dann kommt jemand von der Familie und holt dich. Es kann auch mitten in der Nacht sein, oder wenn du am Essen bist, wenn du auf dem Klo sitzt, wenn du später bei einer Frau liegst. Wenn man dich holt, musst du alles liegen lassen. Es ist eine Bürde, Segen und Bürde zugleich, kannst du das verstehen?«
Olmo wartete nicht auf Walters Antwort.
In Gruma gebe es kein einsames Sterben, und der Tod überfalle die alten Menschen nur ganz selten hinterrücks.
»Aber merk dir, deiner Familie darfst du die Geschichte nicht abnehmen, das geht nicht!«
Olmos Zunge war schlaff, sein Kopf schwer, aber plötzlich durchfuhr ein Schauder seinen Körper, wie ein elektrischer Schlag, als würde er sich selbst noch einmal wach rütteln wollen. Seine Stimme wurde etwas kräftiger. Walter hielt weiter seinen Kopf.
»Und damit es klappt, musst du immer schweigen, keine Frage, keine Antwort, nichts, du sollst ihnen ja die Worte nicht in den Mund legen, sondern sie aus ihnen herauskommen lassen, hast du kapiert!«
Olmo schloss die Augen, zog schmerzgepeinigt die Beine hoch, löste den Kopf aus Walters Händen und stützte das Kinn auf die Knie. Das erlaubte ihm, den Nacken zu entspannen. Er öffnete das linke Auge und sah schräg zu Walter hoch. Er legte eine weitere Pause ein, die mehr als eine Minute dauerte, holte tief Luft, als müsste er für eine nächste, alles entscheidende Strecke Anlauf nehmen, und sagte:
»Jetzt kommt das Wichtigste, das musst du dir in deine kleine Birne einbrennen: Nichts von all dem, was im Sterbezimmer passiert, darf jemals nach außen gelangen. Verstehst du? Du sollst nur zuhören, nie etwas sagen, nichts aufschreiben, die Stimmen bleiben da drin«, und er tippte mit dem Zeigfinger auf Walters Stirn. Dann schloss er die Augen und sprach wieder ganz leise. Er wirkte jetzt plötzlich schwerelos.
»Die Stimmen bleiben da drin, hast du kapiert!«, wiederholte er, »und du wirst sehen, sie sind jedes Mal anders, manche scharf wie Dolche, andere tönen sanft und weich, weil eine angenehme Tiefe ihren Klang wärmt, die einen sind kühl und klar, andere fahren dir direkt in den Bauch, aber alle bleiben dann in deinem Kopf und lassen dich nicht mehr in Ruhe. Dafür bist du nicht allein, allein sein ist schrecklich.«
Olmo konnte nicht mehr, er lag nun da, erschöpft, zitternd wie ein geprügeltes Tier. Er versuchte trotzdem, sich noch einmal aufzurichten, verzichtete aber gleich wieder darauf, schloss die Augen, sein Kopf neigte sich zur Seite, und er kippte um.
Walter rührte ihn nicht an. Er betrachtete den regungslosen Körper. Es wurde still unter dem Baum, und Walter hörte auf einmal Ginos Stimme in seinem Kopf. Er lachte. Es war, als kitzelte ihn etwas im Innern.
Die zweite Stimme, die sich in Walters Kopf einnistete, war die von Olimpia Baccini. Die alte Frau lag im Sterben. Ihre Töchter hatten es tagelang nicht wahrhaben wollen, aber Olimpia selbst hatte nach Walter verlangt. Die beiden Töchter holten ihn direkt von zu Hause ab. Während die eine ihn an die Hand nahm, schickte die andere einen Verwandten nach San Giorgio, um der Schreinerei mitzuteilen, man könne mit dem Sarg loslegen. War die Geschichtenabnahme einmal eingeläutet, konnte man sicher sein. Man musste den fertiggestellten Sarg manchmal ein bisschen warten lassen, aber keine Geschichtenabnahme hatte das Ende mehr als Olmos berühmte neun Nächte und zehn Tage hinausgezögert.
Als Walter ins Zimmer trat, schlief Olimpia. Er nahm auf dem bereitgestellten Schemel Platz und wartete. Nach mehr als einer Stunde öffnete Olimpia ihr rechtes Auge. Sie winkte Walter zu, er solle näher treten. Sie packte seinen Arm.
Bei Olimpia ging es um all die lieben Menschen, die sie in ihrem Leben verloren hatte. Im Angesicht des Todes sprach sie über den Tod, zuerst über den ihrer Mutter, die im Wochenbett gestorben war. Sie habe sie nur von einem Foto gekannt, ihre Mammina. Sie zog mit der freien Hand das Foto unter dem Kissen hervor und zeigte es Walter. Darauf war eine hagere und knochige Frau mit einem strengen Blick zu sehen. Olimpia küsste das vergilbte Foto und schob es wieder unter das Kissen. Dann ihr Vater, fuhr sie fort, der bei der Arbeit von einem Gerüst gefallen war und sich das Genick gebrochen hatte, dann ihr älterer Bruder, der im Krieg umgekommen war, ihre Freundin Giuditta, an einer Lungenentzündung gestorben, ihr Cousin Cristoforo, den eine Geschlechtskrankheit dahingerafft hatte, ihre arme kleine Nichte Firmina, die im Teich ertrunken war. Je mehr Verstorbene sie aufzählte, desto fester drückte sie Walters Arm. Walter musste sich mit der anderen Hand an der Bettlehne festklammern, so wie Olmo es ihm gesagt hatte, um von Olimpias Redeschwall nicht fortgeschwemmt zu werden. Er hatte in Gedanken versucht, die Verstorbenen mitzuzählen, bis er nicht mehr nachkam.
Dann ermattete Olimpia und ließ Walters Arm los. Von der Hitze im Raum gepeinigt, wischte er sich mit der Hand über die Augen, zog die Schuhe aus, ging barfuß ein paar Schritte im Zimmer umher, stieß sich bei dem spärlichen Licht den Zeh am Bettpfosten und setzte sich wieder zu Olimpia. Nach so vielen Toten waren jetzt beide wie betrunken. Auch deswegen hielt Walter die Augen geschlossen. Olimpia hatte eine lange Pause eingelegt, als müsste das, was folgen sollte, zuerst trittfest werden. Als sie endlich neu ansetzte – jetzt war ihr Schwager an der Reihe, der mit dem Oberkörper unter die Motorsäge geraten war –, hörte Walter, wie die anderen Kinder von Gruma draußen den Ball gegen die Mauer schossen und durch den Garten tobten. Im Haus hingegen war es still. Olimpia hatte vielleicht um die dreißig Verstorbene aufgezählt, als sie plötzlich innehielt und Walter direkt in die Augen schaute.
»Nur einem habe ich den Tod gewünscht. Meinem Mann, du kennst ihn, Dorio. Das Blaue vom Himmel hat er mir am Anfang versprochen, aber dann nur Osteria und Herumlungern, Herumlungern und Osteria. Fünf Kinder hat er mir beschert und mich Tag und Nacht schuften lassen, elender Nichtsnutz. Tausendmal habe ich mir seinen Tod herbeigesehnt, aber er hat alles überlebt, das gelbe Fieber, den Töffunfall, und als er in den großen Teich gefallen ist, hat man ihn wieder herausgefischt. Er ist vom Apfelbaum da draußen gestürzt und hat sich nur den Kopf aufgeschrammt, alles hat er weggesteckt, dieser Halunke, um mir das Leben schwer zu machen, und jetzt wird er mich noch überleben.«
Olimpia hielt einen kurzen Moment inne, holte noch einmal tief Luft, bekam aber nicht genug, hechelte und gab zu verstehen, dass sie nichts mehr hören und sehen konnte. Kein verständliches Wort kam mehr aus ihrem Mund. Kurz vor Mitternacht war es vollbracht. Olimpia atmete nicht mehr.
Walter blieb noch eine Weile neben der Toten sitzen, löste seine Hand aus ihrer Starre, nahm seine Schuhe, kroch zitternd aus dem dunklen Zimmer und tastete sich die Wände entlang bis ans Ende des Korridors. Dort hatte Olimpias Familie die ganze Zeit gewartet, die beiden Töchter zuvorderst. Sie empfingen Walter, indem sie sich alle mehrmals verbeugten. Die Töchter eilten ins Sterbezimmer. Man hörte sie weinen. Die anderen führten Walter in die Küche. Die Familie musste den Geschichtenabnehmer verpflegen, so war es üblich.
Flüstern und leises Gehen waren die Voraussetzung für ein Gelingen der Geschichtenabnahme. In der Küche sprachen nun aber plötzlich alle laut und deutlich, lachten sogar, alle gleichzeitig. Nur Dorio, Olimpias Mann, das Gesicht von einem grau melierten Bart verdeckt, saß stumm in einer Ecke. Er wirkte verloren und hielt den Blick gesenkt. Die anderen beachteten ihn nicht. Nun waren auch die beiden Töchter in der Küche. Alle fielen einander in die Arme, umarmten den kleinen Walter ein ums andere Mal, riefen sich Erinnerungen an die Verstorbene zu und öffneten die Fenster, damit endlich frische Luft ins Haus wehen konnte. Einige Verwandte verbeugten sich ein zweites und drittes Mal. In der Küche wimmelte es nur so von geschäftigen Frauen, in der Zwischenzeit waren auch noch die Nachbarinnen gekommen. Die einen kochten, redeten durcheinander, die anderen zogen den Tisch aus, breiteten ein rot-weiß kariertes Tuch darüber und verteilten Teller, Gläser und Besteck. Es waren auch Kinder zugegen, die laut Reime aufsagten und um den Tisch hüpften. Sie zeigten auf Walter und klatschten in die Hände. Er stand da, mehr dösend als wach, und ließ alles über sich ergehen.
Dorio schaute ihn beschämt aus seiner Ecke an, und Walter schaute zurück. Der Blickkontakt zwischen den beiden wurde unterbrochen, als das Essen auf den Tisch kam. Die Männer griffen zu, die Frauen sorgten dafür, dass Walter reichlich zu essen und zu trinken bekam. Auch während der Mahlzeit wollte das Gelächter nicht nachlassen, als hätte man die tote Olimpia, die im dunklen Zimmer ausgestreckt auf dem Bett lag, bereits vergessen. Dem war aber nicht so. Man redete über sie, man verabschiedete sich essend und trinkend von ihr. Walter staunte, wie, nachdem er Olimpia über ihren Mann fluchen gehört hatte, sie in der Erinnerung der Verwandten als eine herzensgute Ehefrau, Mutter und Großmutter beschrieben wurde. Olmo hatte ihm gesagt, er würde bemerken, wie aus der wahren Geschichte, die er nach der Abnahme in sich trug, die Verbliebenen eine andere machten, das sei der heikelste Moment. Dann erst recht nichts sagen! Deshalb erwiderte Walter Dorios suchenden Blick nicht mehr und schaute nur noch auf seinen Teller.
Nachdem die Familie ihn satt gefüttert hatte, wurde er auf die Straße entlassen, wo ihn die beiden Tanten Luana und Filina in Empfang nahmen. Sie legten ihrem Nerì eine Decke um die Schultern und führten ihn nach Hause.
Zia Filina war fortan noch ruheloser. Sie wusste von der Bürde, die das Geschichtenabnehmen bedeutete, und sie fühlte sich für ihren Nerì verantwortlich. Sie hatte seine Bestimmung im Traum gesehen – Zia Filina träumte viel, manchmal sogar im Wachzustand. Sie glaubte, sich nun einiges erklären zu können, angefangen bei Walters Geburt.