Der gewaltsame Lehrer - Dieter Langewiesche - E-Book

Der gewaltsame Lehrer E-Book

Dieter Langewiesche

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Beschreibung

Europas Kriege haben die Welt verändert. Kriege erzwangen seine Vorherrschaft in der Welt, Kriege beendeten sie. Kriege waren die Geburtshelfer von Nationen und Nationalstaaten, Kriege verhalfen Revolutionen zum Erfolg. Warum die Menschen immer wieder auf Krieg und Gewalt setzten, um ihre Ziele zu erreichen, davon handelt das Buch des renommierten Historikers Dieter Langewiesche.

Dass der Krieg eine historische Gestaltungskraft ersten Ranges ist, gehört zu den unbequemsten Wahrheiten der Geschichte. Und sie ist weiterhin aktuell. Nicht nur gibt es immer noch Kriege auf der Welt, selbst "humanitäre Interventionen" oder der Kampf gegen den Terror kommen ohne kriegerische Einsätze nicht aus. Warum aber greifen Menschen und Staaten überhaupt zum Mittel des Krieges? Wie haben Kriege Wandel ermöglicht oder verhindert? War der Krieg im europäischen Laboratorium der Staats- und Gesellschaftsordnungen sogar unverzichtbar? Der Tübinger Historiker Dieter Langewiesche beschäftigt sich seit vielen Jahren intensiv mit diesen Fragen und legt nun eine grundlegende Analyse vor, in der es nicht um Pulverdampf und Schlachtenlärm geht, sondern um den Ort des Krieges in der Geschichte der Moderne.

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Dieter Langewiesche

Der gewaltsame Lehrer

Europas Kriege in der Moderne

C.H.Beck

Historische Bibliothek der GERDA HENKEL STIFTUNG

Die Historische Bibliothek der Gerda Henkel Stiftung wurde gemeinsam mit dem Verlag C.H.Beck gegründet. Ihr Ziel ist es, ausgewiesenen Wissenschaftlern die Möglichkeit zu geben, grundlegende Erkenntnisse aus dem Bereich der Historischen Geisteswissenschaften einer interessierten Öffentlichkeit näherzubringen. Die Stiftung unterstreicht damit ihr Anliegen, herausragende geisteswissenschaftliche Forschungsleistungen zu fördern – in diesem Fall in Form eines Buches, das höchsten Ansprüchen genügt und eine große Leserschaft findet.

Bereits erschienen:

Hermann Parzinger: Die frühen Völker Eurasiens

Roderich Ptak: Die maritime Seidenstraße

Hugh Barr Nisbet: Lessing

Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt

Werner Busch: Das unklassische Bild

Bernd Stöver: Zuflucht DDR

Christian Marek: Geschichte Kleinasiens in der Antike

Jörg Fisch: Das Selbstbestimmungsrecht der Völker

Willibald Sauerländer: Der katholische Rubens

Manfred Hildermeier: Geschichte Russlands

Stefan M. Maul: Die Wahrsagekunst im Alten Orient

Friedrich Lenger: Metropolen der Moderne

Heinz Halm: Kalifen und Assassinen

David Nirenberg: Anti-Judaismus

Wolfgang Reinhard: Die Unterwerfung der Welt

Werner Plumpe: Carl Duisberg

Jörg Rüpke: Pantheon

Manfred Hildermeier: Geschichte der Sowjetunion 1917–1991

Bernd Roeck: Der Morgen der Welt

Hartmut Leppin: Die frühen Christen

Frank Rexroth, Fröhliche Scholastik

Zum Buch

Europas Kriege haben die Welt verändert. Kriege erzwangen die Vorherrschaft Europas in der Welt, Kriege beendeten sie. Kriege waren die Geburtshelfer von Nationen und Nationalstaaten, Kriege verhalfen Revolutionen zum Erfolg. Warum die Menschen immer wieder auf Krieg und Gewalt setzten, um ihre Ziele zu erreichen, davon handelt das Buch des renommierten Historikers Dieter Langewiesche.

Dass der Krieg eine historische Gestaltungskraft ersten Ranges ist, gehört zu den unbequemsten Wahrheiten der Geschichte. Doch sie ist weiterhin aktuell. Nicht nur gibt es immer noch Kriege auf der Welt, selbst «humanitäre Interventionen» oder der Kampf gegen den Terror kommen ohne kriegerische Einsätze nicht aus. Warum aber greifen Menschen und Staaten überhaupt zum Mittel des Krieges? Wie haben Kriege Wandel ermöglicht oder verhindert? War der Krieg im europäischen Laboratorium der Staats- und Gesellschaftsordnungen sogar unverzichtbar? Der Tübinger Historiker Dieter Langewiesche beschäftigt sich seit vielen Jahren intensiv mit diesen Fragen und legt nun eine grundlegende Analyse vor, in der es nicht um Pulverdampf und Schlachtenlärm geht, sondern um den Ort des Krieges in der Geschichte der Moderne.

Über den Autor

Dieter Langewiesche war bis zu seiner Emeritierung Professor für mittlere und neuere Geschichte an der Universität Tübingen. 1996 erhielt er den Leibniz-Preis. Bei C.H.Beck sind zuletzt die Bände «Nation, Nationalismus, Nationalstaat» (2000) und «Reich, Nation, Föderation» (2008) erschienen.

Inhalt

Vorwort

I. EINFÜHRUNG: OHNE KRIEG KEIN FORTSCHRITT – KONTINUITÄT IM DENKEN UND HANDELN

1. Immanuel Kant: Zur Notwendigkeit des Krieges in der Philosophie des Friedens

2. Fragen an die Geschichte

3. Nation und Nationalstaat: Fortschritt als Kriegsgeschöpf

4. Revolution: Krieg durchbricht Fortschrittsblockaden

5. «Humanitäre Intervention» – Die Rückkehr des Krieges als Fortschrittskraft im Denken und Handeln der Gegenwart

II. EUROPAS WELTKRIEGE GESTALTEN DIE GLOBALE ORDNUNG (18.–20. JAHRHUNDERT)

1. Europas Kriege in der Welt: 18. Jahrhundert

a. Gewinner und Verlierer unter den «Oceanokraten»

b. Kriegsräume, Kriegsparteien, Formen des Krieges, Kriegsziele

c. Die Weltkriege des späten 18. Jahrhunderts – Wahrnehmungen und Wirkungen

2. Die napoleonische Ära: Kampf gegen eine kontinentaleuropäische Hegemonialmacht

a. Formen des Krieges und Motive der Kriegsparteien

b. Imperium – nicht Nationalstaat, Staatenkrieg – nicht Nationalkrieg

c. Was bedeutet Volkskrieg?

d. Zur Überzeugungskraft der Nationalmythologien

3. Das Jahrhundert Europas 1815–1913

a. Das Europa des Wiener Kongresses – Selbstbeschränkung und globale Expansion

Paradoxien der Wiener Neuordnung Europas

Nationalisierung und Entstehung von Nationalstaaten – die Hauptherausforderung Kongreß-Europas und das erfolgreiche Krisenmanagement

b. Politik Kongreß-Europas: Bellizismus außerhalb Europas – Vermeidung des großen Krieges in Europa

4. Der Ort des Ersten Weltkriegs in der Geschichte der Kriege

a. Was macht den Großen Krieg groß?

b. Was war neu am Ersten Weltkrieg in der Geschichte des Krieges?

Totaler Krieg?

Eurozentrische Perspektivenverengung – europäischer Sonderweg des Krieges

c. Der Weg aus dem Ersten Weltkrieg – eine neue Erfahrung

5. Der Zweite Weltkrieg und seine Folgen

a. Absurdität als Sinnstiftung?

b. Europas national-ethnische Mischräume werden vereinheitlicht –staatliche Neuordnung durch «ethnische Säuberung»

Irredenta und Imperium – zwei Wege des territorialen und des rassistischen Revisionismus

c. Kriegserfahrung als Wille zur Neugestaltung Europas – ein europäischer Sonderweg?

6. «Krieg gegen Terror» – eine neue Form von globalem Krieg?

III. OHNE KRIEG KEINE ERFOLGREICHE REVOLUTION

1. Revolutionsmodelle: friedliche Revolution – Verfassungs- und Nationalrevolution – bolschewistische Revolution

2. Nationale Verfassungsrevolutionen – der Krieg im europäisch-nordamerikanischen Revolutionsmodell

a. Die englischen Revolutionen des 17. Jahrhunderts – Bürgerkrieg, Staatenkrieg, Anfänge des Empires

b. Krieg und Revolution im späten 18. Jahrhundert – Frankreich und Nordamerika

Nordamerikanischer Unabhängigkeitskrieg: Revolutions- und Bürgerkrieg, Staatsbildungs- und Kolonialkrieg

Französische Revolution – Zeitenwende durch Gewalt und Krieg

Menschheitsgeschichtlicher Fortschritt durch Gewalt –in zeitgenössischen Stimmen und Rückblicken

Gewalt und Krieg – wer, wann, wie, warum?

Ländliche Revolutionsbewegungen, städtische journées révolutionnaires, Krieg in der Vendée

Terror, Bürgerkrieg, Staatenkrieg – Formung der französischen Nation

c. 1848/49: Europäischer Krieg, begrenzter Krieg und Kriegvermeidung im Handlungsarsenal von Revolution und Gegenrevolution

3. Internationale Voraussetzungen für erfolgreiche Nationalrevolutionen im 19. Jahrhundert

4. Erster Weltkrieg – Kriegsniederlage, Revolution und Bürgerkrieg gestalten die Zukunft:Rußland, Deutschland, Türkei

a. Vorläufer – Pariser Commune 1871, Russische Revolution 1905

b. Rußland 1917–1921 – milde Verfassungsrevolution, radikale Bürgerkriegsrevolution

c. Deutschland 1918–1923 – begrenzte Revolutionsgewalt, gescheiterte Bürgerkriege, demokratische Reform-Revolution

d. Vom Osmanischen Reich zur Türkei –Militärputsche, Verfassungs- und Kulturrevolution, Kriege

IV. OHNE KRIEG KEIN NATIONALSTAAT UND KEINE NATION

1. Idee Nation – warum ist sie so erfolgreich?

Nation als Ressourcengemeinschaft

2. Krieg in der Entstehung europäischer Nationalstaaten – historische Muster

a. Glückliches Nordeuropa – Nationalstaat durch Sezession ohne Krieg

b. Entstehung neuer Nationalstaaten – vier Verlaufstypen

c. Milder Vereinigungskrieg – Schweiz

d. Belgien und Polen – Frankreich und Rußland entscheiden Sezessionskriege

e. Griechenlands Staatsgründung und die Orientalische Frage – Revolution, Bürgerkrieg, Staatenkrieg, humanitäre Intervention und ethnoreligiöse Entmischung

f. Italien und Deutschland – Vereinigungs- und Trennungskrieg, Eroberungs- und Unabhängigkeitskrieg

g. Kriegsraum «europäische Türkei» als Zukunftslaboratorium

V. OHNE KRIEG KEIN KOLONIALREICH UND KEINE DEKOLONISATION

1. Die «guten Despoten» aus Europa – John Stuart Mill und Alexis de Tocqueville

2. Entwicklungsmuster

3. Kriege in kolonialen Räumen

a. Charles Edward Callwell  – «der Clausewitz der kolonialen Kriegskunst»

b. Typen von Kolonien – Arten des Krieges

4. Kolonialkriege in Afrika – ein deutscher Sonderweg des Genozids?

a. Das vorkoloniale Afrika – ein Kontinent des Krieges

b. Deutsche Kolonialkriege in Afrika – die Qual der Perspektiven

Die Ereignisse

Deutungen und wovon sie abhängen

Befragung der Kolonialstatistik

Waren die Kriege kolonialpolitischer Nachzügler gewaltsamer?

Kolonialismus, Kolonialkrieg und Genozid

Antikoloniale Kriege als Ursprung der Nation? Afrikanische Perspektiven

VI. RÜCKBLICK UND AUSBLICK

1. Das europäische 19. Jahrhundert – Versuch einer globalen Ortsbestimmung mit dem Wissen des 20. Jahrhunderts

2. Europa als nationalpolitisches Laboratoriumin der Gegenwart: Die Europäische Union als Ende des Europas der Kriege?

Dank

Literaturverzeichnis

Anmerkungen

I. Einführung Ohne Krieg kein Fortschritt – Kontinuität im Denken und Handeln

II. Europas Weltkriege gestalten die globale Ordnung (18.–20. Jahrhundert)

III. Ohne Krieg keine erfolgreiche Revolution

IV. Ohne Krieg kein Nationalstaat und keine Nation

V. Ohne Krieg kein Kolonialreich und keine Dekolonisation

VI. Rückblick und Ausblick

Bildnachweis

Register der Personen, Orte, Länder, Regionen, Staaten

Vorwort

Kriege ordnen den Blick auf die Geschichte. Kriege ziehen sich durch die Mythen der Völker, Kriege stehen am Beginn von Staaten und Nationen, bezeichnen Wendepunkte ihrer Geschichte. Von Kriegen gingen große Wirkungen aus, deshalb formen sie Geschichtsbilder. Im Klassischen Griechenland hatte man Krieg und Freiheit, äußere wie innere, verbunden gesehen. Spätere Zeiten ebenso. Anthropologen spüren ihm als Grundelement in der Geschichte der Menschheit nach, Philosophen und Soziologen würdigen ihn als kulturelle Triebkraft. Solche Fragen nimmt dieses Buch auf, wenn es auf Europas Kriege in der Moderne blickt. Kriege in Europa und Kriege in anderen Kontinenten auf den Spuren europäischer Staaten.

Es geht nicht um die Ereignisgeschichte der vielen Kriege, die europäische Staaten geführt haben. Wenngleich selbstverständlich auch Ereignisse und Abläufe dargestellt werden müssen. Doch um sie geht es nicht in erster Linie. Die Idee, die sich durch das Buch zieht, die Auswahl der Kriege und die Fragen bestimmt, die an sie gerichtet werden, ist schlicht – Warum haben Menschen immer wieder Krieg für unverzichtbar gehalten, um ihre Ziele zu erreichen? Bis heute, bis in unsere unmittelbare Gegenwart. Im Krieg wird getötet, gequält, geraubt, verwüstet, und dennoch werden immer wieder Kriege begonnen, um hehre Ziele anzustreben. Mit Revolutionen wollen Menschen Freiheit und ein besseres Leben erzwingen. Doch ohne Krieg keine erfolgreiche Revolution. Nationen und Nationalstaaten galten und gelten weiterhin als Garanten für staatsbürgerliche Selbstbestimmung und fairen Zugang zu den Ressourcen, die eine Gesellschaft erzeugt. Doch Nationen und Nationalstaaten sind in Kriegen entstanden und haben sich in Kriegen behauptet. Ohne Krieg keine Nation, ohne Krieg kein Nationalstaat. Kriege haben im 19. Jahrhundert die Europäisierung der Welt, Europas globale Dominanz ermöglicht, Kriege haben sie im 20. Jahrhundert beendet. Ohne Krieg kein Kolonialreich, ohne Krieg keine Dekolonisierung. Und heute: Ächtung des Krieges durch die Vereinten Nationen außer zur Selbstverteidigung, doch Krieg als letztes Mittel «humanitärer Intervention», um Menschheitsverbrechen zu verhindern oder zu beenden. Oder – Krieg gegen den Terrorismus. Die Geschichte des Krieges als Mittel zum Zweck, der für gut gehalten wird, geht weiter. Auch der Krieg, um den eigenen Staat zu erzwingen. Wenn er erfolgreich ist, werden aus Terroristen angesehene Staatsgründer.

Krieg als Gestaltungskraft, so läßt sich die Idee charakterisieren, die sich durch dieses Buch zieht und es strukturiert. Der Obertitel, Thukydides’ Peloponnesischem Krieg entnommen, spricht den Gestaltungswillen an, und die Gewalt, die von ihm ausgeht. Zunächst wird zum Einstieg in das weite Themenfeld erläutert, in welchen Bereichen die Vorstellung «Ohne Krieg kein Fortschritt» wirksam geworden ist. Dann wird dargestellt, wie Europas Kriege die globale Ordnung seit der Mitte des 18. Jahrhunderts gestaltet haben. Den größten Raum nehmen die Kapitel ein, welche die Bedeutung des Krieges für Revolutionen, für die Entstehung und Entwicklung von Nationen und Nationalstaaten, von Kolonialreichen und deren Bekämpfung untersuchen. Welche Art von Kriegen wo vorherrschten, ist eine durchgehende Frage. So wird ein Sonderweg des gehegten Krieges sichtbar – in Europa. Außerhalb führten auch die Europäer andere Kriege. Sie nannten sie savage wars, wilde, unzivilisierte Kriege, doch es waren auch ihre Kriege.

Krieg als Gestaltungskraft in der Geschichte ist ein brisantes Thema, in etlichen Bereichen hoch kontaminiert mit gegensätzlichen Wertungen und mit Verdächtigungen. Das Buch bezieht Stellung, maßt sich aber nicht an zu richten. Es beabsichtigt keine Gouvernanten-Historie, die zu wissen wähnt, wie die Altvorderen hätten handeln sollen, um den guten Weg in die Zukunft zu finden. Gefragt wird, wie Menschen damals das Geschehen wahrgenommen haben, warum sie meinten, Krieg führen zu müssen und welche Art von Krieg. Hat er ihre Einstellungen, ihr Handeln, ihren Weg in die Zukunft verändert? Darum geht es in diesem Buch.

Tübingen, Januar 2018

Dieter Langewiesche

I. EINFÜHRUNG: OHNE KRIEG KEIN FORTSCHRITT – KONTINUITÄT IM DENKEN UND HANDELN

1. Immanuel Kant: Zur Notwendigkeit des Krieges in der Philosophie des Friedens

Wer den Krieg aus der Politik verbannen will, tut gut daran, sich bei dem Philosophen Immanuel Kant Rat zu holen. Wie müssen Staaten im Innern und in den Beziehungen zueinander geordnet sein, um friedensfähig zu werden? Darüber hat Kant in der kriegsmächtigen Zeit der Französischen Revolution und Napoleons nachgedacht; bis heute unüberholt. Den Krieg sah er als den «Zerstörer alles Guten», die stärkste Barriere, die es zu überwinden gilt, um sich an «die ewige Norm für alle bürgerliche Verfassung», die republikanische, anzunähern. Nur sie sei nicht «kriegssüchtig»; sie anzustreben bestimmte Kant als die moralische Pflicht der Menschheit.[1]

Um dieses «Fortschreiten zum Besseren» in Gang zu setzen, könne allerdings Änderungsgewalt notwendig sein. In «wilden Kämpfen» werde die ideale Verfassung zwar nicht erreicht, doch den «Krieg von innen und außen», also Bürgerkrieg und Staatenkrieg, erkannte auch Kant als ein Mittel an, Fortschrittsblockaden auf dem Weg in eine bessere Zukunft zu durchbrechen. Dieses Notrecht zur Gewalt in der Gestalt von Krieg und Revolution wollte er jedoch möglichst eng begrenzen. Den Angriffskrieg, für Kant der Inbegriff amoralischer Gewalt, schloß er strikt aus. Andere Kriegsgründe hingegen konnte er sich um des Fortschritts willen durchaus vorstellen. Sein realistisches Bild vom Menschen setzte zwar auf dessen Fähigkeit, das moralische Ziel der Menschheitsgeschichte – Kant bestimmte es als eine republikanische Weltgesellschaft ohne Krieg – zu erkennen, doch es werde immer nur die «Annäherung zu dieser Idee» möglich sein. Mehr lasse die Natur des Menschen nicht zu: «aus so krummem Holze, […] woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts gerades gezimmert werden».[2]

Die «ungesellige Geselligkeit der Menschen» macht sie, so Kant, bereit zum Krieg, doch ohne ihre «Begierde zum Haben» und «zum Herrschen» würden auch «alle vortrefflichen Naturanlagen in der Menschheit ewig unentwickelt schlummern». In Kants Anthropologie wird also der «Zwietracht», einschließlich des Krieges, ein Ort zugewiesen, an dem Gutes und Schlechtes aufeinander angewiesen sind. So hatte es schon, mehr als zweitausend Jahre zuvor, der Philosoph Heraklit gesehen: «Der Krieg ist aller Dinge Vater, aller Dinge König.» Und «alles Leben entsteht durch Streit und Notwendigkeit.»[3]

Ohne Krieg kein Fortschritt. So ungeschminkt hätte es Kant nicht formuliert. Doch seine Geschichtsphilosophie, die einen «Völkerbund» des ewigen Friedens entwirft, kommt ohne den Krieg als Fortschrittskraft auf dem Weg zu diesem hehren Ziel nicht aus. Auf der gegenwärtigen Kulturstufe galt auch ihm, dem großen Philosophen des Friedens, «der Krieg als ein unentbehrliches Mittel», das menschliche Geschlecht voranzubringen; «und nur nach einer (Gott weiß wann) vollendeten Kultur würde ein immerwährender Friede für uns heilsam und auch durch jene allein möglich sein.»[4]

Wie die Menschen aus Katastrophen lernen, so auch die Staaten. Kant hoffte auf den Völkerbund der Zukunft, der zwischen den Staaten ermöglicht, was innerhalb eines Staates Pflicht ist: An die Stelle individueller Gewalt tritt das gesetzmäßige Handeln. Doch den Weg dahin, sein Ende ist für den Menschen unabsehbar, begleitet der Krieg als blutiger Lehrmeister: durch «Verwüstungen» zu der Einsicht, nur das Gesetz könne aus dem «Zustande der Wilden», der im Krieg immer wieder aufs neue auflebt, in einen «weltbürgerlichen Zustand der öffentlichen Staatssicherheit» führen. Den letzten Schritt zum ewigen Frieden zwischen den Staaten sah Kant in der weltweiten föderativen «Staatenverbindung». Nicht ungefährlich, dieser ersehnte Weltfrieden, meinte er, denn die «Kräfte der Menschheit» könnten «einschlafen». Und zudem ein fernes Ziel – «Gott weiß wann» zu erreichen, also außerhalb jeder realistischen Planung, nur geschichtsphilosophisch als moralische Pflicht zu erkennen. Die «Gebrechlichkeit der menschlichen Natur» läßt in Kants Anthropologie den Weg zum Ziel werden. Als moralische Aufgabe der Menschheitsgeschichte jedem einzelnen vorgegeben, führt er über die Staaten der jeweiligen Gegenwart in die Staatenvielheit einer künftigen Weltföderation. Irgendwann, vielleicht.

Kant dachte nicht zentralistisch: nicht Weltstaat als Zwingherr zum Frieden auf dem «Kirchhofe der Freiheit»[5], sondern globaler Völkerbund autonomer Staaten; nicht auf Expansion angelegter Machtstaat, der Frieden mit Gewalt erzwingt, sondern friedenswilliger republikanischer Volksstaat. So nannte er einen Staat, der ungeachtet der Regierungsform die gesetzgebende von der vollziehenden Gewalt trennt. Den Nationalstaat als machtvolle Zentralisierungs- und imperiale Expansionsmaschine, wie er sich im 19. Jahrhundert durchsetzte, hatte Kant nicht vor Augen. Sein Ideal war auch nicht die ethnisch homogene Nation im eigenen Staat. Eine Nation – Ein Nationalstaat, dieses Leitbild, das die weitere Entwicklung prägen sollte, machte er sich nicht zu eigen. Er verstand zwar Nation als ethnisch-kulturelle Abstammungsgemeinschaft. Doch auf ihr wollte er den Staat der Zukunft nicht aufgebaut sehen, sondern auf dem Volk, das er als die Rechtsgemeinschaft der Staatsbürger bestimmte, die nur jenen Gesetzen gehorchen, die sie sich in ihren repräsentativen Organen selber gegeben haben.[6] Dieser Rechtsgehorsam sei am wirksamsten, wenn der Staat nicht zu groß ist. In seinen geschichtsphilosophischen Erörterungen warb Kant für den räumlich begrenzten Volksstaat. Einen «Völkerstaat», der mehrere Völker zusammenzwingt, konnte er sich nur als einen Staat des Krieges vorstellen.[7]

Sein republikanischer Idealstaat ließ sich durchaus als Nationalstaat entwerfen. Doch was seit dem 19. Jahrhundert zur Normalität werden sollte, hatte Kant nicht vorausgedacht: ohne Krieg kein Nationalstaat – Sezessionskrieg oder Vereinigungskrieg, nicht selten beides. Kant ordnete den Krieg trotz der Erfahrung mit der Französischen Revolution weiterhin ausschließlich dem monarchischen «Staatseigentümer» und seiner Regierung zu. Die «Staatsgenossen» hingegen, das Volk oder die Nation als Fürsprecher von Krieg waren in seiner Geschichtsphilosophie nicht eingeplant. Ist der Untertan zum Staatsbürger und damit auch zum «Staatsbürger in Waffen» geworden, so werde er den Krieg nur im äußersten Notfall beschließen. Auch den Nationalstaat als imperialistischen Machtstaat hatte Kant nicht vorausgesehen. Doch den Krieg als Fortschrittsmotor zum Wohle der Gesellschaft anzuerkennen, darin stimmte er überein mit den Liberalen des 19. Jahrhunderts, die sich gerne auf ihn beriefen. So auch Karl von Rotteck 1840 im «Staats-Lexikon», dem Grundbuch des deutschen Frühliberalismus:

«Die Erfüllung des Wunsches nach einem allgemeinen und ewigen Frieden ist jedoch kaum zu erwarten, und wenn sie je Statt fände, so würde es wahrscheinlich auf Unkosten noch höherer Güter geschehen, als diejenigen sind, deren Verlust der Krieg uns aussetzt. Der Preis dafür oder das Mittel seiner Herstellung möchte nämlich die Errichtung eines Weltreiches […] sein, folglich der Untergang aller Freiheit der Völker, wie der Einzelnen […]. Schon dadurch, daß er solches äußerste Unheil verhütet, erscheint der Krieg als unermeßlich wohlthätig. Er setzt nämlich voraus und erhält die Selbständigkeit der einzelnen Nationen, und nährt in ihnen die Kraft und den Muth, die sie solcher Selbständigkeit werth macht. Und trotz aller Leiden und Schrecknisse, trotz aller Grausamkeiten, Rechtsverachtungen, Verwüstungen und Verwilderungen, die er nach sich zieht, ist gleichwohl der Krieg die Quelle manches Guten und Heilsamen. […]

Der Krieg ruft alle menschlichen Kräfte zur Thätigkeit auf, setzt alle Leidenschaften in Bewegung und eröffnet allen Tugenden wie allen Talenten die weiteste Sphäre der Ausübung. Ohne Krieg, d.h. eingewiegt in allzu langen Frieden, würden die Völker erlahmen, in Feigheit, Knechtssinn und schnöden Sinnengenuß versinken, so wie das stehende Wasser faul wird […]. Jedenfalls ist der Kriegsmuth die unentbehrlichste Schutzwehr für Freiheit und Recht, und die Kriegskunst das Product wie das Bollwerk der Civilisation.»[8]

Karl von Rotteck, einer der prominentesten deutschen Liberalen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, sprach aus, wovon die meisten überzeugt waren, vor allem wer mit den politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen unzufrieden war, Reformer und erst recht Revolutionäre. Sie zögerten nicht, den Krieg in ihr Handlungsarsenal zur Verbesserung der Welt aufzunehmen. Mit der Radikalität des Veränderungswillens stieg (und steigt auch weiterhin) die Gewaltbereitschaft. Doch auch wer die Welt bewahren wollte, wie sie ist, setzte auf Krieg.

Krieg, um zu reformieren oder Reformen zu verhindern, Krieg als politisches Handlungsinstrument auf der Linken wie auf der Rechten – wie ist diese Bereitschaft aller zum Krieg zu erklären? Warum haben die bitteren Gewalterfahrungen im Europa der Französischen Revolution und Napoleons und dann in der Zeit der Weltkriege des 20. Jahrhunderts nicht zu einer Ächtung des Krieges im Denken der Menschen und im staatlichen Handeln geführt?

Kant hatte darauf gehofft. Seine Rechtfertigung der Revolution als gewaltigen Fortschrittssprung, der sich in der Menschengeschichte nicht mehr «vergißt», weil er «eine Anlage und ein Vermögen der menschlichen Natur zum Besseren aufgedeckt hat»[9], trennte er sorgfältig von der Gewalt, die sie durchdrang und auslöste. Er suchte der Erfahrung einer gewaltimprägnierten Revolutionsrepublik eine nach Gewaltfreiheit strebende Erwartung einzustiften. So folgte er seinem geschichtsphilosophischen Ziel, «den verborgenen Naturplan, der die Menschheit auf die Bahnen eines unbegrenzten Fortschritts zu drängen schien, in einen bewußten Plan der vernunftbegabten Menschen zu überführen».[10] Zu ihrem Handeln gehörte und gehört weiterhin der Krieg. Warum?

2. Fragen an die Geschichte

Warum glaubten und glauben weiterhin Regierungen und auch die Staatengemeinschaft der Vereinten Nationen, nicht auf den Krieg als ultima ratio verzichten zu können? Warum setzen auf ihn Menschen, die die Welt verbessern wollen? Diese Frage richtet dieses Buch an die letzten drei Jahrhunderte. Vorrangig mit Blick auf Nation und Nationalstaat. Denn sie entwickelten sich seit dem 18. Jahrhundert zu den wirkungsmächtigsten Leitbildern, mit denen Menschen kollektiv ihre Zukunft zu gestalten hofften. Im 19. Jahrhundert wurden sie zu mächtigen Akteuren. Und sie sind es weiterhin.

Woran maßen die Menschen politisch-gesellschaftlichen Fortschritt? Welche Aufgaben kamen dem Krieg in diesem Fortschrittsprozeß zu? Es waren vor allem drei Bereiche, in denen Menschen als nationale Kollektive Fortschritt, wie sie ihn verstanden, erfuhren:

Nation als Ordnungsidee – das demokratische Fortschrittsversprechen schlechthin und Legitimitätsgrundlage für die nationalstaatliche Neuordnung Europas; und auch der beiden Amerikas, Teilen Asiens und Afrikas.

Revolution als Instrument, um politische Fortschrittsblockaden mit Gewalt zu durchbrechen.

Expansion in fremde Räume: die Menschheit verbessern, «Uplifting Mankind» (Theodore Roosevelt 1899), und zugleich die nationalen «Schürfrechte für die Zukunft» bei der «Aufteilung der Welt» abstecken, wie der britische Außenminister die imperialistische Europäisierung der Welt im ausgehenden 19. Jahrhundert anschaulich in ein machtpolitisches Bild gefaßt hat.[11]

In allen drei Bereichen kam dem Krieg eine Schlüsselrolle zu: ohne Krieg kein Nationalstaat, ohne Krieg keine erfolgreiche Revolution, ohne Krieg kein Erfolg im globalen Wettbewerb. Aus dieser Erfahrung erklärt sich das Ja des 19. Jahrhunderts zum Krieg als politischem Handlungsinstrument. Es blieb jedoch nicht auf dieses fortschrittssichere Säkulum begrenzt. Die Kriege des 20. Jahrhunderts wurden ebenfalls aus dem Glauben, auf der Seite des Fortschritts zu stehen, gerechtfertigt. Jede Form von Staatsbildung blieb weiterhin auf Gewalt angewiesen. Deshalb verlief auch die Dekolonisierung als eine Kette von Gewalt und Krieg. Der eigene unabhängige Staat war ein Fortschrittsziel, für das Krieg und andere Formen von Gewalt als legitim galten – wie zuvor in Europa, in Latein- und Nordamerika. Krieg sollte Fortschritt erzwingen, indem er Blockaden durchbricht und Menschen auf ein gemeinsames Ziel vereint. In der Gegenwart schließlich, der mit der UNO eine Annäherung an Kants «Völkerbund» gelungen ist, scheint die Hoffnung auf den Krieg als Fortschrittskraft vollends zurückgekehrt und zum Handlungsinstrument einer Weltinnenpolitik geworden zu sein.

Deshalb gehört ein kurzer Blick (5.) auf die sogenannte «humanitäre Intervention» zu der Einführungsskizze, die den Rahmen absteckt, in dem die Symbiose von Fortschritt, verkörpert in der Idee Nation, und Krieg historisch nachgezeichnet wird. Im Mittelpunkt steht Europa. Doch auf den Expansionsspuren europäischer Mächte soll auch betrachtet werden, wie diese Symbiose in außereuropäische Räume getragen, dort aufgenommen und in eigenständige Politik umgesetzt wurde.

Die meisten Bereiche, welche die Einleitung in einem ersten Zugriff umreißt, werden in einem eigenen Kapitel detaillierter betrachtet.

3. Nation und Nationalstaat: Fortschritt als Kriegsgeschöpf

Die Ordnungsidee Nation entwickelte sich seit dem späten 18. Jahrhundert zu einer umfassenden Fortschrittsverheißung. Als zukunftsoffene Ressourcengemeinschaft zeigt sie sich bis in die Gegenwart immer wieder fähig, neue Fortschrittserwartungen aufzunehmen.[12] Sie bestimmt, was als Fortschritt gilt, und sie verspricht, die Teilhaberechte daran zu demokratisieren. Doch damit ist von Beginn an jene Kriegsbereitschaft verbunden, ohne die auch in der Geschichtsphilosophie des Aufklärers Immanuel Kant das «Fortschreiten zum Besseren» nicht zu haben ist.

In der Gegenwart sind es die «ethnischen Säuberungen», die keinen Zweifel daran lassen, wie eng immer noch Gewalt und nationaler Autonomieanspruch verwoben sind. Man hat sie als die «dunkle Seite» des nationalen Fortschrittswillens in den Mittelpunkt gerückt.[13] Mit ihnen wird die Abgrenzung, auf die jede Gruppe für den eigenen Zusammenhalt angewiesen ist, extrem radikalisiert.

Nur wenn nach außen Grenzen gezogen werden, lassen sich nach innen Teilhaberechte demokratisieren. Hier gelingt mit dem Nationalstaat etwas, das sich bis heute als konkurrenzlos attraktiv erwiesen hat. Er erhebt die Idee Nation zum obersten Legitimitätsquell für die staatlich-gesellschaftliche Ordnung und auch für den Willen, sie zu verändern. Der Nationalstaat als eindeutig umgrenzter Raum ermöglicht die Zukunftsoffenheit des Gleichheitsversprechens innerhalb der Ressourcengemeinschaft Nation: Sicherheit und Macht, Recht und Politik, Kultur und Soziales, Geschlecht und schließlich Umwelt. Weiteres kann künftig hinzukommen.

Die Nation fungiert als ein Gleichheitsvehikel, das sich immer weitere Anwendungsbereiche sucht, offen für neue Entwicklungen in der Gesellschaft und somit prinzipiell unabgeschlossen, doch nach außen stets begrenzt und auch im Innern bereit, Gruppen als nationsfremd aufzuspüren und an den Pranger zu stellen. Das nationale Assimilationsgebot, unter das alle gestellt werden, zeigt eine weite Skala an Intoleranz. Im Krieg erreicht sie den Extrempunkt. Im Krieg entfaltet die Nation jedoch auch am stärksten eine Vorstellung von sich selbst. Sie beansprucht, als kollektiver Akteur zu handeln. Wer sich entzieht, gilt als illoyal im Augenblick existentieller Bewährung. Im Alltag hingegen ist die nationale Zugehörigkeit nicht mehr als eine soziale Rolle unter vielen, zwischen denen der einzelne je nach Situation zu wechseln gelernt hat. Im Krieg jedoch tritt sie an die Spitze der Rollenhierarchie und verlangt bedingungslose Unterordnung. Im Krieg verwandelt sich die Nation in eine Gemeinschaft auf Leben und Tod. Toleranz ist ihr dann fremd. Die Wertegemeinschaft Nation wird im Krieg zur Kampf- und Opfergemeinschaft. Ernest Renan, der französische Religionswissenschaftler, hat dies 1882 in seiner Rede «Was ist eine Nation?» eindringlich beschrieben.[14] Seine Rede wurde bereits damals berühmt, und sie blieb es bis heute.

Der Nationalstaat als Fortschrittsraum, der denen, die ihm zugehören, gleiche Zugangschancen zu den kollektiv erwirtschafteten Ressourcen verspricht, blickt auf eine lange Geschichte von Gewalt zurück. Sie hat Ernest Renan, der die Staatsbürgernation bildhaft ein tägliches Plebiszit («plébiscite de tous les jours») nannte, als unvermeidbar diagnostiziert, wenn der Prozeß der kulturellen Homogenisierung und staatlichen Zentralisierung gelingen soll. So hob er die Zentralisierungskriege, die den französischen Staat über Jahrhunderte hinweg formten, positiv ab von einem Gewaltdefizit, das es der Habsburgermonarchie verwehrt habe, die vielen Völker, die in ihr lebten, zu einer einheitlichen Nation zusammenzuzwingen. Der Nationalstaat als Zentralisierungsmaschine zieht sich als roter Faden durch dieses Buch.

Die Entstehung von Staaten ging überall in Europa der Nationsbildung voran, auch wenn die nationalen Gründungsmythen das Gegenteil behaupten.[15] Sie verankern die Geschichte der eigenen Nation im Dunkel der Geschichte als verpflichtendes Erbe für die Gegenwart. Im immer noch geläufigen Sprachbild vom nationalen «Erwachen» lebt die Vorstellung fort, die Nation sei ewig, der Staat nur eine wandelbare Hülle. Letzteres trifft zu, doch das gilt ebenso für die Nation. Nationen entstehen und vergehen; wie Staaten. Eine Geschichte fehlgeschlagener Versuche, Nationen und Nationalstaaten zu erschaffen, würde eine lange Liste ergeben. Auf ihr stünden die Preußen ebenso wie die Buren, die Bayern wie die Zulu oder als Nation ohne Nationalstaat die Schotten und Katalanen. Auch hier gilt: Der Krieg erschafft und zerstört. Ob die Zukunft manchen von ihnen doch noch den Weg zum eigenen Staat ebnet, ist offen. Zu hoffen ist, daß er im Gegensatz zu den Staatsbildungen der Vergangenheit friedlich zu verwirklichen sein wird.

Wie die Entstehung einer Nation und ihres Nationalstaates konkret verlief, hing vor allem davon ab, ob ein bestehender Staat in einen nationalen umgeformt werden konnte oder ob für den neuen Nationalstaat auch ein neues staatliches Gehäuse geschaffen werden mußte. Mit Gewalt war beides verbunden. Doch sie unterschied sich. Wo ein lang etablierter Staat revolutionär nationalisiert wurde, wie in Frankreich, richtete sich die Gewalt vornehmlich nach innen. Zum Bürgerkrieg trat jedoch der Staatenkrieg hinzu, mit dem das monarchische Europa die Republikanisierung Frankreichs rückgängig zu machen suchte. Vergeblich. Frankreichs Expansion zu einem kontinentaleuropäischen Imperium unter seinem erfolgreichsten General Napoleon, der sich dank seines Kriegserfolges zum Kaiser erhöhen konnte, wurde jedoch verhindert. Auch dazu war Krieg notwendig.

Frankreichs Scheitern legte die Grundlage für eine erstaunliche Erfolgsgeschichte. Der Kampf der Monarchen gegen ein Kontinentaleuropa unter französischer Hegemonie, wie es Napoleon in einer Kette von Kriegen erzwingen wollte, wurde im Rückblick zur nationalpolitischen Tat verklärt. Die Fürsten erschienen als nationale Bollwerke gegen ein Frankreich, das die staatliche Gestalt Europas ohne Rücksicht auf seine Nationen neu zu ordnen suchte. Auf dieser Grundlage gelang es den europäischen Fürsten im 19. Jahrhundert, zum Bundesgenossen ihrer Nationen zu werden. Für die fürstlichen Staatsoberhäupter war es ein Überlebensbündnis, für Nationen ohne Staat schuf es die einzige Möglichkeit, zur Staatsnation zu werden. Ohne monarchisches Haupt kein neuer Nationalstaat – eine eiserne Regel, der sich alle Nationen fügten. Nur die republikanischen Schweizer Kantone konnten sich ihr entziehen, als sie sich 1848 zu einem Bundesstaat zusammenschlossen. Auch dies erforderte Krieg.

In beiden Amerikas stand die Entstehung von Nationalstaaten anders als in Europa von vornherein im Zeichen der Republik. Dort führten die nationalstaatlichen Sezessionen von den europäischen Kolonialmächten – allesamt Monarchien – durchweg in die Republik. Mit wenigen Ausnahmen. In Kanada und Neuseeland gelang der lange Weg in die nationale Selbständigkeit ohne Sezessionskrieg, und die britische Monarchie wurde im 20. Jahrhundert zur Grundlage des staatenbündischen Commonwealth of Nations.[16]

Die Monarchie erfüllte also eine wichtige Aufgabe in der Geschichte der Nationalstaaten. Deshalb wird ihre Rolle und auch ihr Bedeutungsverlust seit dem Ersten Weltkrieg als eine Linie in der Symbiose von Nation und Krieg in allen Kapiteln betrachtet.

Staatlich unbehauste Nationen, die auf mehrere Staaten verteilt lebten, waren, wenn sie sich vereinen wollten, zur Sezession oder zur Union von Staaten gezwungen. Beides verlangte Krieg. Nicht selten verwoben mit Revolution und ihrer spezifischen Form von Gewalt. Die friedliche Trennung Norwegens von Schweden 1905 ist eine sehr seltene Ausnahme. Alle anderen Nationalstaaten des 19. Jahrhunderts – und auch die allermeisten des 20. – entstanden aus Sezessions- und Unionskriegen. In der Habsburgermonarchie, in Italien und Deutschland, auch im Osmanischen Reich verbanden sich beide.

Nur die Schweiz und Japan konnten sich mit kurzen und milden Einigungskriegen begnügen. Das Staatsterritorium mußte nicht verändert, alte Institutionen konnten nationalisiert werden. Das erleichterte es 1848, die Schweiz in einen föderativen Bundesstaat mit starker kantonaler Eigenständigkeit umzuformen, während die Meiji-Renovation seit 1868 tief in die Staats- und auch die Gesellschaftsstruktur eingriff, um aus dem Japan der Tokugawa-Zeit, eher eine Föderation aus autonomen Gebieten, in wenigen Jahren einen zentralisierten Nationalstaat mit kaiserlichem Haupt zu schaffen. Indem der Tenno sich dieser staatlichen Neuschöpfung zur Verfügung stellte, nahm er denen, die sich widersetzten, die Chance, ihren Widerstand durch Berufung auf die Geschichte zu legitimieren. Dies war generell eine der wichtigsten Aufgaben der Institution Monarchie auf den gewaltreichen Wegen in den Nationalstaat: Als Verkörperung der Vergangenheit umhüllte die Monarchie das Neue mit dem Mantel der Geschichte. Sie legitimierte das Zerstörungswerk, aus dem der Nationalstaat hervorging.

Der Umbau der überkommenen staatlichen Gestalt Europas in einen Kontinent von Nationalstaaten ließ sich nur durch Staatszerstörung erreichen. Dazu war die liberale Öffentlichkeit, die nach Fortschrittswegen ohne Revolution suchte, ebenso bereit wie die Marxisten, die im Nationalstaat eine geschichtsnotwendige Etappe in einem revolutionären Fortschrittsprozeß sahen. Schließlich konnten sich zunehmend auch die Konservativen mit der Nation und dem Nationalstaat als Fortschrittsbürgen abfinden, da die neuen Nationalstaaten zwar im Namen der Volkssouveränität geschaffen wurden, im 19. Jahrhundert jedoch bis auf die republikanische Schweiz alle ein monarchisches Oberhaupt erhielten. Die Monarchie versöhnte die Konservativen mit dem Bruch mit der Vergangenheit in Gestalt des Nationalstaates.

Das Jahrhundert der Nationalmonarchien endete mit dem Ersten Weltkrieg. Allerdings nur für die Verlierer. Die Sieger ermöglichten in Europa eine weitere Welle an Nationalstaatsgründungen, die erneut auf Staatszerstörung aufbauten. Auch dieser Neubau durch Zerstörung des Alten wurde im Namen des Fortschritts legitimiert. Präsident Woodrow Wilsons «Programm für den Weltfrieden» vom 8. Januar 1918 in Gestalt der Vierzehn Punkte verhieß als Zukunftsvision eine national-demokratische Selbstbestimmung, welche die Auflösung der Habsburgermonarchie und des Osmanischen Reiches verlangte.[17] Wie zuvor entstanden auch jetzt die Nationalstaaten, in denen die Nationen ein stabiles Fortschrittsgehäuse zu erhalten hofften, als Kriegsgeschöpfe.

Selbst dieser Krieg, dessen Vernichtungsgewalt sich allen Erfahrungen der Zeitgenossen entzog, vermochte die Symbiose von Krieg und Nationalstaatsgründung als Fortschrittswerk nicht aufzulösen. Dies gelang in Europa erst dem Zweiten Weltkrieg. Doch selbst dieser Krieg mit seinen unvorstellbaren Opferzahlen und dem Genozid an den europäischen Juden, den er ermöglicht hatte, selbst dieser Krieg hat nicht von sich aus die Verbindung von Staatsgründung und kriegerischer Gewalt gelöst. Es waren die beiden Supermächte, die Europas Staaten in zwei Ordnungssysteme einhegten, die sich zwar feindlich gegenüberstanden, ihre Gegensätze aber zu einem Kalten Krieg mäßigten. Außerhalb Europas gelang ihnen das nicht. Staatsbildung, nun meist mit Dekolonisierung verbunden, blieb dort weiterhin auf Gewalt angewiesen. Davon berichtet das Kapitel V.

4. Revolution: Krieg durchbricht Fortschrittsblockaden

Keine siegreiche Revolution ohne Krieg – von dieser blutigen Geschichtsregel sind erst die friedlichen Revolutionen der europäischen Gegenwart im Gefolge der Auflösung der Sowjetunion abgewichen. Bis dahin galt: Nur eine Revolution, die sich im Innern und nach außen fähig zeigt zum erfolgreichen Krieg, kann sich behaupten.

Die Nationalrevolutionen des 19. Jahrhunderts – Revolutionen, die einen neuen Nationalstaat erzwingen wollten – mußten von vornherein auf Krieg setzen, denn sie waren darauf angewiesen, aus multinationalen Imperien Nationalstaaten herauszusprengen oder mehrere Staaten zu einem einzigen Nationalstaat zu vereinen. Nicht selten verband sich beides, Sezession und Integration. Ohne Krieg bestand keine Chance, dieses Ziel zu erreichen. Deshalb stieg mit der Entschiedenheit des Willens zur Revolution die Bereitschaft zum Krieg. Revolution und Krieg bildeten zwei Seiten eines Prozesses. Daß es ein Fortschrittsprozeß war, stand für die Revolutionäre außer Zweifel. Sie setzten auf den Krieg als Schwungrad der Revolution.

Diese Erfahrung stand den Europäern seit der Französischen Revolution vor Augen, und 1848/49 verfestigte sie sich. Als die junge französische Republik, im Februar 1848 revolutionär erzwungen, gegen den Willen der entschiedenen Revolutionäre ablehnte, die Revolution über die Grenzen Frankreichs zu tragen, fiel damit eine doppelte Entscheidung.[18] Im Innern fiel sie zugunsten einer «bürgerlichen Republik», die den gemäßigten Weg begrenzter parlamentarisch legalisierter Reformen einschlug; nach außen gegen die polnische Nationalrevolution, die auf sich allein gestellt ohne militärische Hilfe wie schon 1830 nicht in der Lage war, gegen die Teilungsmächte Rußland, Habsburgermonarchie und Preußen den eigenen Staat zu erkämpfen.

Die Fortschrittskraft Revolution ist auf den Krieg als Weggefährten angewiesen. Das hatten Karl Marx und Friedrich Engels früh erkannt und ihre politischen Forderungen 1848/49 darauf ausgerichtet. Ohne einen Krieg gegen das mächtigste antirevolutionäre Bollwerk in Europa, das zarische Rußland, ließen sich die Revolutionen im Bereich des Deutschen Bundes, der Habsburgermonarchie und Italiens nicht gewinnen. Davon zeigten sich Marx und Engels überzeugt. Nur ein Krieg gegen Rußland könne «das ganze europäische Gleichgewicht in Frage stellen» und damit der Revolution den notwendigen Raum schaffen. Diese Einschätzung war realitätsgerecht. Ihre Hoffnung auf einen gemeinsamen Revolutionskrieg gegen Rußland, mit dem die revolutionierten Nationen ihre territorialen Rivalitäten lösen und den Sieg der Revolution in Europa sichern würden, blieb hingegen eine Illusion.

Durch Krieg die Revolution «auf demokratische Bahnen» zwingen – diese Hoffnung von Marx und Engels ging nicht auf, weil die liberal-demokratischen Revolutionäre Europas mehrheitlich keinen europäischen Krieg riskieren wollten, von dem sie eine unkalkulierbare Radikalisierung der Revolution befürchten mußten.[19] Bereit und fähig zum Krieg zeigte sich nur die Internationale der Gegenrevolution. Deshalb siegte sie. Und weil sie Kriege damals ausschließlich gegen die Revolution führte, ohne Staatsgrenzen und die vorrevolutionäre Machtbalance zwischen den Staaten verändern zu wollen, entwickelte sich daraus kein europäischer Staatenkrieg.

Eine kriegsfähige Internationale der Revolutionäre als Widerpart zur kriegsmächtigen Internationale der Gegenrevolution entstand nicht. Die Reformer, denen 1848 die Revolution den Weg in die Regierungen ermöglicht hatte, verfügten nicht über den Zugriff auf die Armee – so in Preußen und Österreich –, oder sie setzten die Armee ein, um die Revolution im eigenen Staat zu begrenzen. Das war in Frankreich der Fall. Allein die ungarische Revolution hatte sich eine kampffähige Armee aufgebaut, um die Nationalrevolution gegen die Habsburgermonarchie und ihre kroatischen Helfer im ungarischen Königreich zum Sieg zu führen. Diese Honved-Armee erwies sich den kaiserlichen Truppen gewachsen, nicht jedoch den zahlenmäßig weit überlegenen russischen, mit denen der Zar dem habsburgischen Kaiser zu Hilfe kam.

Nur die Habsburgermonarchie stand 1848/49 vor dem Problem, in Ungarn und in Italien mit Revolutionen konfrontiert zu sein, die über ein reguläres Militär geboten. Als Habsburg siegte, waren die europäischen Nationalrevolutionen gescheitert. Entscheidend war die russische Waffenhilfe. Die Niederlage der Ungarn ermöglichte es dem habsburgischen Militär, die italienische Nationalrevolution vollends niederzuschlagen, deren Fähigkeit, die Sezession von Habsburg zu erzwingen, an das Militär des Königs von Piemont-Sardinien gebunden blieb.

Fortschritt durch Revolution konnte auf Krieg nicht verzichten. Diese Erfahrung des 19. Jahrhunderts übernahmen Revolutionäre des 20., als sie die marxistische Revolutionstheorie den veränderten Bedingungen anpaßten, indem sie sie globalisierten. Während Clausewitz mit seiner Lehre vom Krieg als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln den gehegten Staatenkrieg vor Augen hatte, der in der frühen Neuzeit als ein europäischer Sonderweg des Krieges entstanden war, übertrug Lenin diese Lehre auf das Zeitalter des Imperialismus, als er Nationalkriege, Bürgerkriege und antikapitalistische Kriege sozialistischer Staaten zu Werkzeugen des Fortschritts erklärte.[20]

Lenin zielte auf globale Entwicklungen, die er jedoch aus europäischer Erfahrung beurteilte. Mao Zedong und Che Guevara hingegen wurden zu Theoretikern des Guerillakrieges, um den Revolutionsbewegungen in China und Lateinamerika auf die dortigen Verhältnisse abgestimmte Handlungsanleitungen zu schreiben.[21] Der Guerillakrieg als nationalpolitisches Revolutionsinstrument der militärisch Mindermächtigen – diese Erfolgserfahrung, die China und Kuba verband, durchdrang im 20. Jahrhundert das Fortschrittsdenken auch in der sogenannten Dritten Welt bzw. des Globalen Südens, wie man heute zu sagen pflegt.

Der Krieg treibt die Revolution voran und ermöglicht mit seinem Erfolg ihren Sieg. Doch auch ein verlorener Krieg kann Raum für Revolution schaffen. Diese Erfahrung machte Europa erstmals 1870/71, als die Kriegsniederlage Frankreichs zunächst zum Sturz des kapitulationsbereiten französischen Kaisers und dann zum Aufstand der Commune gegen die Republik führte, als diese sich schließlich doch bereit zeigte, den Sieg der deutschen Armeen anzuerkennen. Frankreich wurde dank dieses verlorenen Krieges dauerhaft zur Republik. Auch der Zusammenhang von verlorenem Krieg und antikolonialen Aufständen wurde damals in Algerien schon erprobt.[22] Was 1871 in Frankreich sichtbar geworden war, bestätigte ein halbes Jahrhundert später die Revolutionswelle, in welche der Erste Weltkrieg für die besiegten Staaten mündete: Die Kriegsniederlage delegitimiert die staatliche und die gesellschaftliche Ordnung und kann Revolution hervortreiben. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat die globale Dominanz der USA und der Sowjetunion diese Möglichkeit, einen revolutionären Weg aus dem Krieg zu suchen, von vornherein blockiert.

Die historische Verbindung von Revolution und Krieg ist also eine zweifache: Die Revolution braucht den siegreichen Krieg; ein verlorener Krieg kann zur Revolution führen. Wer auf Revolution als Fortschrittskraft setzt oder sie zumindest als letztes Mittel akzeptiert, um Fortschrittsblockaden zu sprengen, muß den Krieg wollen. Das wußte man im Europa des 19. Jahrhunderts. Es war einer der Gründe, warum der Krieg als Fortschrittsmotor galt. Nicht jeder Krieg, aber doch der Krieg, der dem Fortschritt auf die Sprünge zu helfen versprach. Kapitel III erzählt davon.

5. «Humanitäre Intervention» – Die Rückkehr des Krieges als Fortschrittskraft im Denken und Handeln der Gegenwart

Das moderne Völkerrecht ging zwar von der Lehre des gerechten Kriegs (bellum iustum) aus, doch es konzentrierte sich zunehmend auf Rechtsregeln im Krieg (ius in bello), während es mit Blick auf das Recht zum Kriege (ius ad bellum) bis zum Ersten Weltkrieg indifferent wurde.[23] Mit der Ausbildung frühneuzeitlicher Staaten, die sich gegenseitig als souverän anerkannten, mußte die Idee des gerechten Krieges in Europa machtpolitisch abdanken, denn der souveräne Staat zeichnete sich durch das Recht zum Krieg aus. Er errang das Gewaltmonopol im Staatsinnern wie nach außen. Krieg gehörte zum staatlichen Handeln oder wie es Carl von Clausewitz, der berühmteste Kriegstheoretiker der Moderne, formulierte: der Krieg – «ein politischer Akt», «eine Fortsetzung des politischen Verkehrs, eine Durchführung desselben mit anderen Mitteln».[24]

Nach den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts wurde zunächst mit dem Völkerbund (1920), dann mit der UNO (1945) der Versuch unternommen, das Recht des Staates zum Krieg an feste Verfahrensregeln zu binden und schließlich jegliche Gewalt in den internationalen Beziehungen zu verbieten. Die Durchsetzung dieses Gebots an alle Staaten, auf Krieg grundsätzlich zu verzichten, wird man zwar nicht zu den Erfolgsgeschichten rechnen dürfen, doch hinsichtlich der Konfliktbegrenzung und der Friedenssicherung nach einem Krieg hat die UNO durchaus einiges erreicht. Dennoch ist in den letzten Jahrzehnten auch in den westlichen Gesellschaften eine neue Wertschätzung des Krieges zu erkennen, sofern er zu einem ‹guten Zweck› geführt wird. Wenn ein Staat oder eine andere kriegführende Gruppe zu massiv gegen völkerrechtliche Regeln im Krieg verstößt, kann es zu dem kommen, was man «humanitäre Intervention» nennt – zum legitimen Krieg gegen den illegitimen, oder in der Sprache der Geschichte: zum gerechten Krieg, um den entarteten Krieg, geführt wider alle Regeln des ius in bello, zu stoppen und seine Folgen zu mildern.

«Humanitäre Interventionen» gab es vereinzelt zwar auch im 19. Jahrhundert[25], doch in der Gegenwart hat die Bereitschaft dazu ein Ausmaß erreicht, daß man von der Wiederkehr der Idee des gerechten Krieges sprechen kann. Nun aber in säkularisierter Gestalt: der Krieg zur Wahrung der Menschenrechte oder zur Abwehr einer Gefahr, die der Menschheit drohe, wenn eine Diktatur fähig wird, Massenvernichtungswaffen herzustellen und einzusetzen.

Um solche Kriege zur Verhinderung von Menschheitsverbrechen zu legitimieren, werden die global gültigen Menschenrechte, aber auch nationale Geschichtserfahrungen aufgerufen. So haben Politiker und Medien auf die Erfahrung des Zweiten Weltkriegs zurückgegriffen, als die deutsche Bevölkerung von der Notwendigkeit, deutsche Soldaten im Krieg gegen Serbien einzusetzen, überzeugt werden sollte. Auschwitz als Inbegriff des Bösen wurde beschworen. ‹Nie wieder› hieß jetzt nicht mehr ‹nie wieder deutsche Beteiligung an einem Krieg›, sondern ‹nie wieder Völkermord durch Krieg›. Im Krieg gegen den Völkermord und für die Menschenrechte zeigt sich eine säkularisierte Form der Idee des bellum iustum. Ihre religiösen Züge sind nicht zu übersehen, sei es verhüllt in Kriegsbegründungen, die vom Kampf gegen die Achse des Bösen sprechen, sei es unverhüllt in allen Arten des Jihad. Die Zeit der gerechten Kriege ist also auch im säkular sich verstehenden Westen zurückgekehrt.[26] Darüber berichtet der Abschnitt «Krieg gegen den Terror» im Kapitel II über Europas Kriege in der Welt.

II. EUROPAS WELTKRIEGE GESTALTEN DIE GLOBALE ORDNUNG (18.–20. JAHRHUNDERT)

1. Europas Kriege in der Welt: 18. Jahrhundert

Seit europäische Staaten imperial über Europa hinaus expandierten und zu Kolonialmächten wurden, bestand die Gefahr, daß sie ihre Machtkonflikte militärisch ebenfalls global austragen würden. Konflikte innerhalb Europas konnten auf die Kolonien übergreifen und umgekehrt konnten Kolonialkonflikte zu Kriegen in Europa werden. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entlud sich dieses Konfliktpotential in einer Vielzahl von Kriegen, die europäische Staaten weltweit gegeneinander führten. Der Krieg begleitete die europäischen Staaten zwar von Beginn an auf ihren kolonialen Eroberungszügen. Doch nun wurden regionale Kriege, die Europäer weltweit austrugen, zunehmend als Einheit im Kampf um Macht und Territorien gesehen. Das europäische Theatrum Belli weitete sich zum globalen. Dies zu erkennen, brauchte Zeit. Das wird in diesem Kapitel am Siebenjährigen Krieg nachvollzogen. Ihn so zu nennen kam erst relativ spät auf, und nicht in allen Regionen des globalen Kriegstheaters wurde es gebräuchlich. Der neue Name faßt die vielen einzelnen Kriege zu einer Einheit zusammen und zugleich suggeriert er eine europäische Dominanz, die es in dem Kriegsgeschehen keineswegs überall gegeben hatte.

In einem unterscheiden sich diese Kriege Europas in der Welt markant von den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts: Damals führten europäische Staaten im Kampf um imperiale Machtpositionen zwar weltweit gegeneinander Kriege, doch sie hoben in den kolonialen Räumen keine Truppen aus, um sie auf den europäischen Kriegsschauplätzen einzusetzen. Im 18. Jahrhundert schlossen europäische und nichteuropäische Mächte Kriegsallianzen mit- und gegeneinander, und Europäer stellten für ihre Kolonialkriege Truppen mit Soldaten aus den kolonialen Räumen auf. Doch erst im 20. Jahrhundert wurden Soldaten aus Kolonien oder aus Staaten, die früher Kolonien gewesen waren, in großer Zahl in Europa in den Krieg geschickt. Jetzt erst wurden aus Europas Kriegen in der Welt Weltkriege. Sie wurden von europäischen Staaten ausgelöst, aber nicht mehr von ihnen entschieden. Europäische Staaten besaßen weiterhin die Fähigkeit, die Welt in Kriege zu stürzen, doch mit ihnen beschleunigten sie den Verfall der globalen Hegemonie, die Europa mit seinen Kriegen in der Welt im 18. Jahrhundert angebahnt und im 19. Jahrhundert erreicht hatte. Europas Kriege in der Welt stehen am Beginn europäischer Weltdominanz, Europas Weltkriege an ihrem Ende.

a. Gewinner und Verlierer unter den «Oceanokraten»

Um 1800 zeichnete sich eine neue machtpolitische Ordnung in der Welt ab, hervorgegangen aus einer Kette von Kriegen, in denen Spanien, Portugal und die Niederlande zu europäischen Regionalmächten abstiegen. Wenngleich sie dies noch bis ins 20. Jahrhundert abzuwehren suchten, indem sie die verbliebenen Kolonien verteidigten, verlorene erneut zu erobern suchten und neue erwarben. Dieser Widerstand gegen den Abstieg aus der Liga der Weltmächte erforderte erneut Kriege. Frankreich schied ebenfalls aus dem Kreis der Oceanokraten aus, wie Zeitgenossen damals die machtpolitischen global players genannt haben.[1] Allerdings war Frankreichs Machtverlust nicht dauerhaft. Unter Napoleon wurde es erneut zum Eroberungsstaat und expandierte über alle bisherigen Grenzen hinaus. Doch staatliche Macht reichte selbst unter einem genialen Kriegsherrn nur so weit wie ihre militärischen Möglichkeiten. Napoleon überspannte sie. Seine Weltpolitik scheiterte in Europa. Ein kontinentaleuropäisches Imperium unter französischer Hegemonie zu errichten, mißlang nach einer Kette grandioser militärischer Erfolge. Als Feldherr aufgestiegen, ging er als Feldherr unter, weil ihm jegliches Maß für das politisch Mögliche fehlte. Doch seine Kriege, mit denen er Staaten zerstörte und erschuf, und die Bündnisse, die er einging, veränderten die staatliche Ordnung Europas dauerhaft. Was diese Kriegsära auszeichnete und warum aus der Erfahrung mit ihr ein neues Friedensmanagement hervorgehen konnte, das ein volles Jahrhundert lang einen erneuten großen Krieg in Europa verhinderte und damit die Grundlage für eine europäische Vorherrschaft in der Welt schuf, wird in den folgenden Abschnitten erörtert. Zu dieser globalen Dominanz Europas gehörte seit den 1830er Jahren auch der Aufbau eines zweiten französischen Kolonialimperiums, das erst nach der Mitte des 20. Jahrhunderts in einer Kette von Kriegen endete. Kein Kolonialerwerb ohne Krieg, keine Überwindung von Kolonialherrschaft ohne Krieg. Dem ist das fünfte Kapitel gewidmet.

Die großen Gewinner der globalen Machtverschiebungen seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts – jüngst erschienene Weltgeschichten sprechen von der ersten globalen Krise und einer von ihr ausgelösten imperialen Neuordnung[2] – waren vor allem Großbritannien und auch Rußland. Daß die Vereinigten Staaten von Nordamerika ebenfalls zu den Aufsteigern gehörten und mit ihnen eine weitere Weltmacht heranwuchs, ist selbst in der europäischen Provinz nicht lange verborgen geblieben. Als 1818 in einer thüringischen Tageszeitung (Oppositions-Blatt oder Weimarische Zeitung) eine umfangreiche Artikelserie zu den europäischen Staaten und zur Weltpolitik erschien, rechneten die Beiträge über England (22.–28. April) die USA bereits der globalen «Oceanocratie» der Zukunft zu: ein «furchtbar schnell emporwachsender Nachfolger» Frankreichs, des «gefallenen Nebenbuhlers» Großbritanniens. Die aufsteigende Großmacht werde bald den «bedrängten Brüdern» im Süden zu Hilfe kommen müssen, um beide Amerikas gegen die «Feinde der Freiheit» zu sichern. Gemeint waren Großbritannien, Spanien und Frankreich.

Die britische Position in der Welt beurteilte die Zeitung wegen schwerer innerer Strukturmängel als brüchig. Sie zeigte sich gut informiert, als sie innenpolitisch «drei Grundübel» anführte: eine «verderbte Repräsentation, eine unermeßliche Schuldenlast und ein außerordentliches Mißverhältniß zwischen den Besitzern von Eigenthum und Besitzlosen». Auch die weltpolitische Situation Großbritanniens schätzte die Zeitung aus der deutschen Machtprovinz realistisch ein: «Englands Wohlstand, ja sein ganzes politisches Dasein» sei «bei seiner excentrischen Stellung an dem nordwestlichen Rande Europas wesentlich auf Suprematie im Welthandel und die damit verknüpfte Meeresherrschaft begründet». Die Prognose über die künftige Entwicklung der beiden globalen Hauptmächte ging jedoch in die Irre. Großbritannien müsse auf Grund seiner Interessen eine «merkantile Universalmonarchie» anstreben. Das war nicht gänzlich falsch, wenn man die Prognose auf den Vorrang in der Weltwirtschaft bezieht, den Großbritannien im 19. Jahrhundert erreichen sollte. Mit Blick auf Rußland ging die Vorhersage jedoch in die Irre. Die vom russischen Zaren gestiftete Heilige Allianz trage die Möglichkeit zu einer «wahren Magna Charta für Europas Völker» in sich, «aus welcher sie alle jene Rechte in Anspruch nehmen können, die aus der christlichen Gleichheit aller Menschen vor Gott fließen.» (28. Mai 1818) Das hatten die Schöpfer der Heiligen Allianz nicht vorgesehen, und dazu kam es nicht.

Wie die globale Lage am Ende des Siebenjährigen Krieges (1756–1763) in der britischen Führungsschicht eingeschätzt wurde, läßt die Parlamentsdebatte vom Dezember 1762 über die bevorstehenden Friedensverträge erkennen. William Pitt (der Ältere), ein Jahr zuvor aus der Regierung ausgeschieden, weil sich das Kabinett damals noch einer Kriegserklärung an Spanien verweigert hatte, suchte das Unterhaus davon zu überzeugen, die Regierungsvereinbarungen für den Frieden von Paris (Februar 1763) als zu milde für Frankreich und zu wenig gewinnbringend für Großbritannien abzulehnen.[3] Dieser Friede würde «alle Ruhmestaten des Krieges» verspielen, statt sie in politischen Gewinn zu verwandeln. Pitt, ein glänzender Redner, sprach über drei Stunden. Doch weder seine Argumente noch die inszenatorische Kraft seines Auftritts vermochten die Stimmung im Parlament zu wenden. Gestützt von Freunden, weil ihn eine Krankheit geschwächt hatte, sprach Pitt «unter Einsatz seines Lebens», wie die Parliamentary History of England festhielt. Dennoch stimmten die Abgeordneten mit großer Mehrheit dem Pariser Vertrag zu, mit dem der Siebenjährige Krieg als Weltkrieg endete. Als kontinentaleuropäischen Krieg beschloß ihn wenige Tage später der Frieden von Hubertusburg. Über beide «Kriegstheater», das europäische und das koloniale, wurde in London debattiert.[4]

In dieser dramatischen Parlamentsdebatte über den Weltkrieg Europas und den bevorstehenden Friedensschluss fiel William Pitts berühmter, vielzitierter Ausspruch, Amerika sei in Deutschland erobert worden (America had been conquered in Germany). Er entwarf das Panorama einer künftigen Weltordnung auf der Grundlage einer dauerhaften machtpolitischen Blockbildung in Europa: Großbritannien und Preußen vereint gegen Frankreich und die Habsburgermonarchie. Die diplomatische Revolution, wie man diese Bündniskonstellation genannt hat, habe das «Gleichgewicht der Mächte in Europa gänzlich verändert». Um die britische Vorherrschaft in der Welt zu sichern und auszubauen, müsse Frankreich als See- und Handelsmacht ausgeschaltet werden. Der Schlüssel dazu liege in Kontinentaleuropa. «Der deutsche Krieg hat die Franzosen gehindert, ihren Kolonien in Amerika, Asien und Afrika zu Hilfe zu kommen.» Das habe den Krieg für Großbritannien trotz der an Preußen und andere europäische Staaten gezahlten Subsidien verbilligt. Die französischen Armeen in Übersee und nicht auf dem europäischen Kontinent zu bekämpfen, wäre Großbritannien teurer gekommen. Pitts Äußerung, Großbritannien habe Nordamerika in Deutschland militärisch erkämpft, diente also dazu, für ein beständiges machtpolitisches Engagement Großbritanniens auf dem europäischen Kontinent zu werben. Dafür fuhr er schwere Moralgeschütze auf. Er sprach von «unseren protestantischen Alliierten», und den preußischen König nannte er gar «den edelmütigsten Alliierten», den Großbritannien je an seiner Seite gehabt habe. Ausgerechnet ihn mit leeren Händen in den Frieden gehen zu lassen, sei «Verrat».

William Pitt sah in einem milden Frieden den künftigen Krieg angelegt, weil der Feind zu wenig Gebiete außerhalb Europas verliere und Großbritannien seinen Kriegserfolg ungenügend in Territorialgewinne ummünze. Als global gefährlichen Feind hatte er ausschließlich Frankreich vor Augen. Spanien und die Niederlande seien als eigenständige Machtkonkurrenten ausgeschaltet und nur noch bedrohlich, falls sie Frankreich Schiffe zur Verfügung stellten. Großbritanniens Stellung in der Welt erfordere es deshalb, Frankreich möglichst auf Europa zu begrenzen und dort Preußen zu unterstützen, um es als Gegengewicht zu Frankreich und zur Habsburgermonarchie stark zu machen. Von Rußland, ein machtpolitischer Aufsteiger, wie Pitt erkannte, gehe keine Gefahr für Großbritannien aus. Denn Rußland bewege sich in einem eigenen «orbit» «außerhalb aller anderen Systeme». Es entscheide sich von Fall zu Fall je nach Interessenlage und stehe damit jenseits der möglichen pro- und antibritischen Bündnisse.

William Pitt verlangte einen globalen Sieg-Frieden Großbritanniens. Dessen Position in der Welt dauerhaft zu stärken, war auch das Ziel der britischen Regierung und der Parlamentsmehrheit, die ihrer Politik zustimmte. Um Großbritannien militärisch und wirtschaftlich zukunftsfest zu machen, gelte es jetzt, den «langen, blutigen und teuren Krieg» endlich zu beenden und den Staatshaushalt zu konsolidieren. Vor allem aber werde mit dem Friedensvertrag das wichtigste britische Kriegsziel erreicht: Frankreich scheide aus Nordamerika bis auf wenige Stützpunkte aus: zwei Fischerinseln, in denen keine Befestigungen angelegt werden durften, und Fischereirechte. Selbst dadurch wähnte Pitt die «maritime Stärke und die künftige Macht Großbritanniens» gefährdet. Die Regierung und die Mehrheit der Abgeordneten beider Kammern hingegen hielten dieses Zugeständnis für unbedeutend, denn mit dem Ende des nordamerikanischen Neufrankreichs stehe der Kontinent der Durchdringung durch die britischen Kolonisten offen. Alles andere sei nebensächlich.

Während Pitt den globalen Kriegsraum als Einheit betrachtete, überall die territorialen Kriegsgewinne im Friedensvertrag sichern und Frankreich auf dem europäischen Kontinent bündnispolitisch zähmen wollte, bestanden seine Kontrahenten auf der vorrangigen Bedeutung Nordamerikas für die Zukunft Großbritanniens. Dort sei alles auf Wachstum angelegt, und die Verbindung mit diesem Kontinent werde Defizite im Handel mit «jedem anderen Teil der Welt» ausgleichen.

So unterschiedlich beide Seiten im Londoner Parlament die Folgen der zwei Friedensschlüsse beurteilten, so einig waren sie in ihrem Ziel, Großbritanniens Position in der Welt als «große, mächtige und kriegsbereite Nation» (a great, powerful and warlike nation) zu behaupten und auszubauen. Auf der Fähigkeit zum Krieg beruhe Großbritanniens Zukunft. Daran hegten beide Seiten am Ende eines Weltkrieges, in dem wohl eine Million Menschen getötet worden sind, davon mehr als die Hälfte in Europa, keinerlei Zweifel.

b. Kriegsräume, Kriegsparteien, Formen des Krieges, Kriegsziele

Der Siebenjährige Krieg war ein Weltkrieg Europas. Ausgetragen wurde er dort, wo europäische Staaten als Machtkonkurrenten aufeinanderstießen: auf dem europäischen Kontinent und in außereuropäischen Gebieten, die man als Teil des eigenen staatlichen Imperiums oder als Einflußsphären für sich beanspruchte. In Nordamerika und in Indien, in der Karibik und an der Westküste Afrikas kämpften jedoch nicht nur Großbritannien, Frankreich und Spanien gegeneinander. In den außereuropäischen Räumen trafen sie auf indigene Staaten, die dort existierten oder im Entstehen waren, und auf nicht-staatliche Machtgruppen unterschiedlicher Art. Sie alle verfochten eigenständige Ziele, gingen wechselnde Koalitionen ein, konkurrierten untereinander, verbündeten sich mit oder kämpften gegen europäische Machtorganisationen, die in Gestalt der englischen und der französischen Ostindien-Kompanien quasi-staatlich auftraten, über eigenes Militär verfügten, einheimische Verbündete anwarben und direkt oder indirekt Herrschaft ausübten. Es waren komplexe Staatsbildungsprozesse, auf welche die europäischen Mächte trafen, in die sie eingriffen und die sie auch auslösten oder vorantrieben. Wie überall verliefen diese Prozesse gewaltsam. Keine Staatsbildung ohne Krieg. Im Kapitel IV wird das für Europa eingehend betrachtet.

Kriege in dieser globalen Dimension konnten nicht nach den Regeln geführt werden, die sich in den Staatenkriegen Europas herausgebildet hatten. Die Besonderheiten des Kolonialkrieges sind Thema eines späteren Kapitels (V). Hier sei nur festgehalten, daß auf den Schauplätzen des Siebenjährigen Krieges und der sich anschließenden Kriege alle Formen des Krieges angewendet wurden – vom Schlachtenduell zwischen staatlichen Truppen bis zu dem, was man heute den asymmetrischen Krieg nennt. An ihm sind staatliche und nicht-staatliche Verbände beteiligt, und er trennt generell nicht zwischen Kombattanten und Zivilbevölkerung. Dieser «neue Krieg», wie man ihn auch bezeichnet, ist historisch gesehen aber der alte Krieg.[5] Der gehegte Krieg, der die Zivilbevölkerung möglichst verschont, ist als ein europäischer Sonderweg des Krieges in der frühen Neuzeit entstanden. Im 19. Jahrhundert nach der napoleonischen Ära kam er seinem Ideal – Krieg zwischen Kriegern, Krieg zwischen staatlichen Armeen – am nächsten, im 20. Jahrhundert wurde es auch in Europa aufgegeben. Außerhalb Europas gab es diesen gehegten Krieg nicht. Auch nicht auf Seiten der europäischen Mächte, wenn sie dort Kriege führten.

Der Kabinettskrieg, den der Monarch und seine Regierung beschlossen, steuerten und beendeten, war nur eine Variante im Siebenjährigen Krieg. Sie dominierte im europäischen Kriegsraum, doch auch hier konnte der Kabinettskrieg nicht gänzlich zum gehegten Krieg als Kampf zwischen Armeen unter möglichster Schonung der Zivilbevölkerung gezügelt werden. Zwei Voraussetzungen mußten für diese Form des Krieges erfüllt sein: Die Armeen werden (zumindest überwiegend) aus der Heimat, vom eigenen Staat versorgt, und die Kriegsgegner kämpfen um Land und Leute. Der Kampf um Menschen mäßigte die Kriegsgewalt. Wenn der Angreifer darauf zielte, sich die umstrittenen Territorien mitsamt der Bevölkerung und ihrer Wirtschaftskraft einzuverleiben, ging es für die Menschen, die dort lebten, um einen Herrschaftswechsel. Von Unterjochung, Vertreibung oder gar Vernichtung waren sie nicht bedroht, denn sie gehörten zu den Ressourcen, die der Eroberer sich einverleiben und ausbauen wollte, um die eigene Machtposition dauerhaft zu stärken.

Daß auch diese Kriege zwischen Gegnern, die sich als kulturell ebenbürtig anerkannten, die Zivilbevölkerung schwer belasteten, hatte viele Gründe. Viel hing vom Problem der Truppenversorgung und der Kriegsfinanzierung ab. Die Logistik war im Vergleich zu früheren Kriegen zwar erheblich verbessert worden, doch die alte Regel der Krieg soll den Krieg ernähren hatte ihre Bedeutung auch in Europa nicht verloren. So wurde z.B. Sachsen schon zu Beginn des Krieges, solange es von preußischen Truppen besetzt war, ökonomisch systematisch ausgebeutet. Allein im Jahr 1758 mußten die Landstände 3,7 Millionen Taler aufbringen. Mit der Dauer des Krieges und der Erschöpfung staatlicher Ressourcen nahm die Selbstversorgung der Truppen zu, das «Fouragieren» konnte sich zu regelrechten kollektiven Raubzügen steigern. Ob die Truppen Verbündete oder Feinde waren, spielte kaum eine Rolle. Um sich zu ernähren und kampffähig zu halten, nahmen sie sich, was sie für notwendig hielten. Dazu gehörten auch die gegnerischen Soldaten, wenn man ihrer habhaft wurde. Als Kriegsgefangene mußten sie nicht selten in der Armee des Feindes weiterkämpfen, in besetzten Gebieten wurden Menschen zwangsrekrutiert. In Sachsen tat das die preußische Armee, aber auch die österreichische und die des Reiches. Wo die Versorgungswege zu lang waren, wie bei den russischen Armeen, ließ sich die Selbstversorgung im fremden Land von vornherein nicht vermeiden und bedrückte die Bevölkerung schwer.

Am wenigsten diszipliniert verhielten sich unbesoldete Verbände, Freischärler, Partisanen und alle, die im «Kleinen Krieg» abseits der staatlichen Heere aktiv waren. Im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert waren zwar alle Staaten bemüht, ihr Gewaltmonopol, ihre militärische Organisationshoheit und ihre Befehlsgewalt auch im Krieg durchzusetzen, doch andererseits schätzten sie die Wirkungsmöglichkeiten kleiner Verbände, die unabhängig und vor allem auch unbesoldet kämpften.[6] In der Kriegsphase bis 1815 kam es dort, wo der Staat zusammenbrach, wie in Spanien, zum Guerillakrieg. Er wurde zum Inbegriff des enthegten, irregulären Krieges, in dem alle Seiten nicht mehr zwischen Kombattanten und Zivilisten unterschieden.

Die Zivilbevölkerung litt überall schwer unter der Belagerung und Bombardierung von Städten. So im Siebenjährigen Krieg in Dresden, das vom preußischen Heer belagert und besetzt wurde, oder in Zittau, das weitgehend abbrannte. Vor allem Brandbomben verheerten belagerte Städte. Daß sie nach der Einnahme geplündert wurden, gehörte auch in Europa weiterhin zur Kriegsrealität. Sie suchten dem durch Zahlung von Kontributionen zu entgehen. Leipzig hatte an Preußen enorme Gelder zu zahlen, Berlin ebenfalls, als es sich 1757 und 1760 erst österreichischen und dann russischen und österreichischen Truppen ergab. Im zweiten Fall hatten die Bürger 1,75 Millionen Taler aufzubringen, zu denen weitere Kosten hinzukamen. Bürger verdienten jedoch auch am Krieg und selbst an den Besetzungen durch gegnerische Truppen und an Kontributionen, die sie gewinnbringend finanzierten.[7]

Abb. 1  | Preußische Truppen bombardieren Dresden 1760 (mit Flugbahn der Kanonenkugeln), Kupferstich nach 1760, Künstler unbekannt.

Wenn während des Siebenjährigen Krieges im europäischen Kriegsraum Zeitgenossen von Grausamkeiten und Kriegsgreuel sprachen, konnten sie sowohl die betroffenen Zivilisten wie auch Soldaten vor Augen haben. Soldaten waren Täter und Opfer. Kanonenkugeln zerfetzten ihre Körper, Musketenkugeln wirkten wie Dum-Dum-Geschosse, Bajonettangriffe hinterließen schreckliche Wunden und verstümmelte Leichen. «Grausamkeitsgefechte» nannte dies ein Soldat in einem Brief. Die «Welt» habe «dergleichen noch nie gesehen», meinte man.[8] Auch auf den europäischen Schlachtfeldern und in ihrem Umfeld kam es weiterhin zu Massakern an den Unterlegenen und auch an wehrlosen Zivilisten. Kulturelle Distanz trug dazu bei. Vor allem den «Hilfsvölkern» der russischen Armee traute man jede Grausamkeit zu, aber auch über Franzosen wußten preußische Soldaten Fehlverhalten zu erzählen. Berichte dramatisierten, was man gehört hatte und zu wissen meinte, zumal es eigene Erwartungen, die sich an kollektiven Vorurteilen ausrichteten, bestätigte. So hielt ein preußischer Offizier 1758 fest: «Der halb nackte Kosak putzte sich mit den Umhängen der Altäre; ihre Diener wurden gemordet; der Säugling starb in den Armen seiner geschändeten Mutter, und der fast todt geprügelte Greis dankte Gott, wenn eine wohltätige Lanze ihm den Gnadenstoß gab.» Im selben Jahr notierte der «Vorleser» Friedrichs II., Henri Alexandre de Catt, in seinem Tagebuch, die Russen hätten in der Neumark ein Schloß «ausgeraubt und den Verwalter ermordet; im Gehölz fand man über hundert Frauen. Was für ein Krieg!»[9]

Was an diesen beiden Erzählungen Realität war und was Hörensagen, dem man glaubte, weil es dem Bild entsprach, das man sich vom unzivilisierten russischen Soldaten, vor allem vom Kosaken machte, muß offen bleiben. Doch daß unbewaffnete Zivilisten nicht geschont wurden, ist unzweifelhaft; allerdings auch, daß dies damals bereits als moralisch unerlaubt galt.[10] Zedlers Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschafften und Künste durchmusterte 1735 im Artikel «Feindseligkeit im Kriege» (Band 9, S. 452–454) alle «Zwangs-Mittel», die man im Krieg gegeneinander anzuwenden pflegte. Grundsätzlich sei alles erlaubt, was zweckmäßig ist, um den Feind zu zwingen aufzugeben. «Die unbewehrten Bürger aber auch zu töden, wäre eine Grausamkeit, und ist genug, sie in solchen Zustand zu setzen, daß sie ihrem Landes-Herrn keine Gaben geben können, womit der Krieg könnte fortgesetzet werden. Noch grausamer aber und auch unerlaubter wäre es, Weiber, Kinder, alte verlebte, krancke und gebrechliche Personen, welche keinem von beyden werden nutzen noch schaden können, umzubringen.» Generell gelte, je eindringender und gewaltsamer die Mittel, «desto behutsamer ist damit umzugehen». Ein preußischer Offizier empfand es im Siebenjährigen Krieg als Verwüstungsgreuel, als die eigenen Truppen Wohnhäuser abrissen, um sich Holz zu beschaffen.[11]

Was in Europa als Verhaltensnorm angestrebt, aber immer wieder selbst im Kabinettskrieg verfehlt wurde, hat man auf Imperialkriege außerhalb Europas gar nicht erst übertragen. Das hatte viele Gründe. Sie werden im Kapitel V eingehender erörtert. Ein Grund war, daß die Kriege in der globalen Peripherie sich der Kontrolle durch die Machtzentren in Europa entzogen. Sie war schon allein deshalb unmöglich, weil die Nachrichten viel zu lange unterwegs waren. Daß ihre Streitkräfte in der Karibik gesiegt und nach Havanna im Oktober 1762 auch Manila erobert hatten, erfuhr man in London erst nach Abschluß des Pariser Präliminarfriedens Ende November. Der Gouverneur von Manila hatte seinerseits erst erfahren, daß sich Spanien und Großbritannien im Krieg befanden, als eine britische Flotte vor seiner Stadt auflief. Er mußte wie viele andere lokale Befehlshaber weit über das unmittelbar militärisch Notwendige hinaus eigenständig handeln. Das war im globalen Kriegsraum unverzichtbar. Die langen Kommunikationswege erzwangen es. Noch im britisch-nordamerikanischen Krieg von 1812–1814, der definitiv die Unabhängigkeit der USA sicherte, kam es am 8. Januar 1815 zu einer Schlacht, obwohl der Frieden in Gent bereits am 24. Dezember des Vorjahres unterzeichnet worden war. Die Kommandeure beider Seiten hatten es noch nicht erfahren. Der Krieg endete erst, als die Nachricht die lange Seereise hinter sich gebracht hatte.