Der Gigant - Dana Mattioli - E-Book

Der Gigant E-Book

Dana Mattioli

0,0
19,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Amazon hat uns den Krieg erklärt - und wird unsere Wirtschaft verändern wie kein anderes Unternehmen jemals zuvor

Amazon ist nicht nur zum Monopolisten beim Online-Versandhandel geworden, sondern strebt nach totaler Dominanz auch in vielen anderen wichtigen Märkten (Lebensmittelhandel, Cloud Computing, Advertising, Entertainment, Gaming). Überdies hat Amazon sich viele Drittanbieter, die ihre Produkte über die Plattform verkaufen können, einverleibt und so zerstört. Diese unangefochtene Monopolstellung und der folglich fehlende Wettbewerb wird unsere Wirtschaft in den nächsten Jahren grundlegend verändern – zum Schlechteren.

Dana Mattioli, renommierte und preisgekrönte Investigativreporterin des Wall Street Journal und Pulitzerpreis-Finalistin, deckt in ihrem packend erzählten Buch die rücksichtslosen Strategien des Unternehmens auf, den Markt in nahezu allen Bereichen zu beherrschen, sich Medien und Politik gefügig zu machen und durch brutale Monopolstellung letztlich auch uns Verbrauchern zu schaden.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 716

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Amazon hat uns den Krieg erklärt – und wird unsere Wirtschaft verändern wie kein anderes Unternehmen jemals zuvor

Amazon ist nicht nur zum Monopolisten beim Online-Versandhandel geworden, sondern strebt nach totaler Dominanz auch in vielen anderen wichtigen Märkten (Lebensmittelhandel, Cloud Computing, Advertising, Entertainment, Gaming). Überdies hat Amazon sich viele Drittanbieter, die ihre Produkte über die Plattform verkaufen können, einverleibt und so zerstört. Diese unangefochtene Monopolstellung und der folglich fehlende Wettbewerb wird unsere Wirtschaft in den nächsten Jahren grundlegend verändern – zum Schlechteren.

Dana Mattioli, renommierte und preisgekrönte Investigativreporterin des Wall Street Journal und Pulitzerpreis-Finalistin, deckt in ihrem packend erzählten Buch die rücksichtslosen Strategien des Unternehmens auf, den Markt in nahezu allen Bereichen zu beherrschen, sich Medien und Politik gefügig zu machen und durch brutale Monopolstellung letztlich auch uns Verbrauchern zu schaden.

Dana Mattioli, Absolventin der American University in Washington, D.C., ist preisgekrönte Investigativreporterin des Wall Street Journal in New York, für das sie seit 2006 schreibt. Sie berichtet seit vielen Jahren über die rücksichtslosen Geschäftspraktiken und das Machtmonopol von Amazon. Ihre Arbeit wurde u. a. für den Pulitzerpreis nominiert, mit dem Gerald Loeb Award und dem renommierten WERT Prize des Women’s Economic Roundtable für herausragenden Wirtschaftsjournalismus ausgezeichnet.

»Das ist Investigativjournalismus vom Feinsten.« Publishers Weekly

»Fesselnd und explosiv. Das ist die Unternehmensgeschichte unserer Zeit.«

Christopher Leonhard, Autor von »Kochland«

»Sie werden die kleinen Pappkartons vor Ihrer Haustür nie wieder auf dieselbe Weise anschauen.« Zeke Faux, Autor von »Numbers Go Up«

Besuchen Sie uns auf www.dva.de

Dana Mattioli

Der Gigant

Wie amazon die Wirtschaft im 21. Jahrhundert verändert und wovor wir uns fürchten müssen

Aus dem Englischen von Henning Dedekind, Moritz Langer, Karsten Petersen und Hans-Peter Remmler

DVA

Die Originalausgabe erschien 2024 unter dem Titel The Everything War. Amazon’s Ruthless Quest to Own the World and Remake Corporate Power bei Little Brown and Company, New York.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung des urheberrechtlich geschützten Inhalts dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright © der Originalausgabe 2024 by Dana Mattioli

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2024 by Deutsche Verlags-Anstalt, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Christof Blome, Berlin

Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München

Umschlagabbildung: picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild | Soeren Stache

Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-31574-0V001

www.dva.de

Für meinen Sohn, Beckett Walker, und meine Mutter, Dianne Mattioli, der stärkste Mensch, den ich kenne

Inhalt

Vorbemerkung der Autorin

Prolog   Das Paradoxon

TEIL I   Der Gigant entsteht

Kapitel 1   Was der stationäre Handel nicht kommen sah

Kapitel 2   Wachstum über Gewinn

Kapitel 3   »Die Invasion der Betriebswirte«

Kapitel 4   Die Krake fährt ihre Tentakel aus

Kapitel 5   In Ihrem Wohnzimmer

Kapitel 6   Riskante Investitionen oder Wirtschaftsspionage?

TEILII   Kriegsspiele

Kapitel 7   Steuerschlupflöcher, Machtspiele und die Wette eines Milliardärs auf eine Zeitung

Kapitel 8   Ein neues Narrativ

Kapitel 9   Techlash

Kapitel 10   Blumengießen auf verrotteter Erde

Kapitel 11   Amazon-Proofing

Kapitel 12   Weniger Friktion, mehr Verkäufer, mehr Umsatz (sogar Fälschungen)

Kapitel 13   In der Arena

Kapitel 14   Der Kongress lädt Amazon vor

TEILIII   Showdown

Kapitel 15   Die Welt geht in den Shutdown, und Amazon gewinnt

Kapitel 16   Bezos geht (endlich) nach Washington

Kapitel 17   »Zu viel Toxizität, als dass es sich lohnen würde«

Kapitel 18   Die FTC verklagt Amazon

Epilog

Dank

Abkürzungsverzeichnis

Anmerkungen

Register

Vorbemerkung der Autorin

Das vorliegende Buch ist kein Produkt des Zugangsjournalismus. Zwar erfolgte ein umfassender Faktencheck mit der PR-Abteilung von Amazon, der ich meine Recherchen vorlegte und die ich um Kommentare, die Erläuterung von Zusammenhängen und Korrekturen bat, doch das Unternehmen gab mir im Rahmen meiner Recherchen gerade einmal Gelegenheit für drei Interviews. Bei diesen von der Firma genehmigten Terminen handelte es sich um kurze telefonische Hintergrundgespräche mit leitenden Angestellten, aber nicht mit Angehörigen des engeren Führungskreises, dem S-Team. Jeff Bezos selbst lehnte eine Interviewanfrage ab, ließ mir seine Reaktionen aber durch Unternehmensvertreter übermitteln.

Trotz der mangelnden Kooperationsbereitschaft seitens Amazon habe ich einiges an Aufwand betrieben, um dem Thema auf den Grund zu gehen. So habe ich mit mehr als 600 Personen gesprochen, darunter sowohl aktive und ehemalige Amazon-Mitarbeiter als auch Wettbewerber des Unternehmens, wie CEOs, Verkäufer, Kleinunternehmer, und andere, die direkt oder indirekt von dessen Marktmacht betroffen sind. Ich habe offizielle Interviews und Hintergrundgespräche mit Regierungsvertretern geführt, die den Charakter und die Tragweite der Darstellung mitbestimmten und dazu beitrugen, die aktuellen Herausforderungen aufzuzeigen, mit denen das Unternehmen derzeit in den USA und im Ausland konfrontiert ist. Darüber hinaus sind in dieses Buch Dutzende Stunden an Interviews mit 17 aktiven und ehemaligen S-Team-Mitgliedern von Amazon eingeflossen, die allesamt ohne Wissen des Unternehmens geführt wurden, sowie Interviews mit fünf aktiven und ehemaligen Mitgliedern des Boards.* Zusätzlich zu den Interviews haben mir meine Quellen Hunderte Seiten interner Dokumente, E-Mails, die konzerntypischen Six-Pager, Businesspläne und Strategiememos zur Verfügung gestellt, auf die ich mich in diesem Buch stütze.

Wenn im Buch Passagen nicht durch Zitate oder Quellenangaben belegt sind, beruhen sie auf Insidergesprächen, die größtenteils im Hintergrund stattfanden, weil Amazon seine Mitarbeiter und Partner verbindliche Geheimhaltungsvereinbarungen unterzeichnen lässt, sodass man rechtlich gegen sie vorgehen kann, wenn sie sich öffentlich zu sensiblen Themen äußern.

Angesichts der vielen Branchen, in denen Amazon tätig ist, und der enormen Macht, die das Unternehmen ausübt, wollte ich auch diejenigen in den Blick nehmen, die durch das Unternehmen geschädigt wurden, und habe daher mit zahlreichen Opfern gesprochen. Ihre Berichte und Erfahrungen waren für dieses Buch von entscheidender Bedeutung. Ich bin allen dankbar, die mit mir gesprochen und mir erlaubt haben, ihre Geschichten zu erzählen.

Im Jahr 2019 wurde ich Amazon-Reporterin des Wall Street Journal. Dieser Themenbereich war meine eigene Wahl, nachdem ich zuvor für die Zeitung sechs Jahre lang über Fusionen und Übernahmen berichtet hatte. In dieser Zeit stellten Unternehmen aus unterschiedlichsten Branchen Amazon immer wieder als Angstgegner dar, weshalb einige von ihnen Fusionen anstrebten, um sich vor dem Druck durch Amazon zu schützen. Bei meiner Berichterstattung über den Konzern konzentrierte ich mich daher auf dessen Geschäftspraktiken, und dieses Buch baut in Teilen auf dieser Arbeit auf. Im Laufe der Zeit wurde mir jedoch klar, dass die Geschichte weitaus komplexer und vielschichtiger ist, als sich in einem einzelnen Artikel vermitteln lässt. Der Gigant ist das Ergebnis meiner Bemühungen, diese umfassendere Geschichte zu erzählen.

*Da ein Board of Directors, kurz Board, als Leitungs- und Kontrollgremium eines Unternehmens nicht genau Vorstand und Aufsichtsrat entspricht, wird hier der englische Begriff verwendet, Anmerkung des Übersetzers.

Prolog   Das Paradoxon

Im Januar 2017 veröffentlichte eine 27-jährige Jurastudentin im Yale Law Journal einen Artikel über einen der mächtigsten Konzerne der Welt. Er begann mit einer bemerkenswerten Behauptung:

Amazon ist der Handelsriese des 21. Jahrhunderts. Der Konzern ist nicht nur Einzelhändler, sondern mittlerweile auch Marketingplattform, Vertriebs- und Logistiknetzwerk, Zahlungsdienst, Kreditgeber, Auktionshaus, großer Buchverlag, Fernseh- und Filmproduzent, Modedesigner, Hardwarehersteller und führender Anbieter von Cloud-Speicherplatz. Obwohl Amazon ein atemberaubendes Wachstum verzeichnet, erwirtschaftet das Unternehmen nur geringe Gewinne, da es sich dafür entschieden hat, seine Preise unterhalb der Gestehungskosten zu halten und stattdessen breit zu expandieren. Durch diese Strategie hat es eine zentrale Stellung im Online-Handel erlangt und fungiert nun als grundlegende Infrastruktur für eine Vielzahl anderer Unternehmen, die von ihm abhängig sind. Bestimmte Elemente in der Struktur und im Geschäftsgebaren des Konzerns sind wettbewerbsrechtlich bedenklich – dennoch ist er einer kartellrechtlichen Prüfung bislang entgangen.[1]

Unter dem Titel »Amazon’s Antitrust Paradox« (»Amazons Kartellparadoxon«) argumentierte die Autorin Lina Khan, der E-Commerce-Riese sei so groß und mächtig geworden, dass er sich »in Richtung einer Monopolstellung« bewege. Wie viele Tech-Neulinge war auch Amazon schnell gewachsen, allerdings in einer Größenordnung und mit einer Reichweite, die beispiellos waren.

Innerhalb eines knappen Vierteljahrhunderts hatte sich Amazon von einer Kuriosität über einen fragwürdigen Wachstumswert zu einem der bekanntesten Unternehmen weltweit entwickelt. Doch Khans Manifest ging diese vorherrschende Haltung frontal an. Die Autorin, ein nerdiges Wunderkind, war der Auffassung, dass man entweder die veralteten Antitrust-Gesetze neu fassen oder Unternehmen wie Amazon nach dem Vorbild öffentlicher Versorgungsbetriebe regulieren müsse. Das Kartellrecht – ursprünglich im »Vergoldeten Zeitalter« der USA konzipiert und formuliert, bevor es im 20. Jahrhundert weiterentwickelt wurde – werde einem Unternehmen mit der Allgegenwart, Allwissenheit und Allmacht von Amazon längst nicht mehr gerecht.

Nun erreichen Artikel in juristischen Fachzeitschriften in der Regel nur ein kleines akademisches Publikum. Khans Beitrag jedoch schaffte etwas noch nie Dagewesenes: Er ging viral. Politiker wie die Senatorin von Massachusetts, Elizabeth Warren, verschlangen das 96-seitige Gutachten und betrachteten den E-Commerce-Riesen fortan mit anderen Augen. War es wirklich sinnvoll, dass ein Drittel aller Online-Einkäufe in den Vereinigten Staaten über Amazon getätigt wurden?[2] Missbrauchte Amazon seine Macht, indem es einen der weltweit größten Marktplätze für Online-Verkäufer betrieb und gleichzeitig mit ebendiesen Verkäufern konkurrierte? Lieferte das verworrene Firmengeflecht aus Einzelhandel, Cloud Computing, Werbung, Streaming, Logistik und Lebensmittelhandel – um nur einige zu nennen – dem Unternehmen Daten, die es womöglich in unlauterer Weise bei seinen Geschäftsentscheidungen nutzte?

Lina Khan war nicht zufällig auf die Idee gekommen, sich mit Amazon zu beschäftigen, vielmehr wurde ihr die Gelegenheit dazu geboten. Im Frühjahr 2011 hatte sie ein Vorstellungsgespräch beim Leiter des Open Markets Institute, einer neu gegründeten Denkfabrik in Washington, die sich mit den Gefahren von Konzernbildung und moderner Monopolmacht befasste. Bei Open Markets glaubte man, dass Monopole oder Unternehmen, die ihre Marktmacht dazu nutzen, den Wettbewerb außer Kraft zu setzen, gefährlich für die Demokratie seien und bewirkten, dass die Löhne sinken, Innovationen im Keim erstickt und weniger Arbeitsplätze geschaffen werden. Ziel der Denkfabrik war es, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf diese Probleme zu lenken, um eine breitere Antimonopolbewegung anzustoßen.

Khan hatte gerade ihren Abschluss am Williams College gemacht, wo sie Herausgeberin der Studentenzeitung gewesen war. Sie verfügte über keinerlei einschlägige Vorbildung und hatte sich nicht einmal mit den Themen befasst, die das Institut untersuchte. Dem Gründer von Open Markets, Barry Lynn, machte das nichts aus, in seinen Augen war es sogar ein Pluspunkt. Schließlich konnte er ihr alles Notwendige beibringen. Denn sie hatte etwas, das ihm gefiel: Sie konnte schreiben, und sie war intelligent. Ihr journalistischer Hintergrund war ebenfalls von Vorteil, da es bei der Stelle darum ging, Sachverhalte rund um das Thema Monopolmacht zu recherchieren, zu analysieren und sie in Mainstream-Magazinen und -Zeitungen für ein Massenpublikum aufzubereiten. Lynn bot ihr an, die allererste Mitarbeiterin der Denkfabrik zu werden. Er wollte, dass ihre Artikel die Gefahren der Monopolisierung aufdeckten.

Khans erste Aufgabe bestand darin, die Auswirkungen von Amazon auf die Buchbranche zu ermitteln.

»Wir werden so viel wie möglich über die Geschichte des Buchgeschäfts in Erfahrung bringen, darüber, wie es in den letzten 50 Jahren reguliert wurde, und über das Geschäftsmodell von Amazon«, erklärte Lynn seiner neuen Mitarbeiterin. Er überreichte ihr ein Exemplar des 2000 erschienenen Buches The Business of Books (dt. Verlage ohne Verleger) von André Schiffrin, dem früheren Verlagsleiter von Pantheon Books. Damit begann Khans Schulung im Kartellrecht.

Sie verschlang alles, was ihr in die Finger kam: Rechtsdokumente, Kartellrechtsverfahren, Bücher über das Verlagswesen. Zwei Monate später legte sie ihrem Chef eine 80-seitige Abhandlung vor, in der sie die Geschäftspraktiken von Amazon im Buchhandel und die Geschichte des Buchhandels in den USA seit den 1950er Jahren nachzeichnete.

Als sich Khan in das Kartellrecht einarbeitete, stellte sie fest, dass eine veränderte Rechtsauslegung in den 1970er Jahren drastische Auswirkungen auf die Anwendung von Gesetzen gehabt hatte. Damals gewann die sogenannte Chicagoer Schule an Einfluss, die sich für weniger staatliche Eingriffe aussprach und den Fokus mehr auf die Effektivität legte. Einer ihrer Anhänger, Robert Bork, umriss die Positionen der Strömung 1978 in seinem Buch The Antitrust Paradox. Darin stellte er die Behauptung auf, dass die gängige Anwendung der Antitrust-Gesetze den Wettbewerb behindere, anstatt ihn zu fördern. Das Einzige, woran sich die Auslegung der Antitrust-Gesetze orientieren solle, sei das Wohl der Verbraucher, forderte er.[3]

Borks Buch war ein Wendepunkt im Kartellrecht. Die Gerichte übernahmen zunehmend seine Ansichten, was in den kommenden Jahrzehnten zu tiefgreifenden Veränderungen bei der Rechtsanwendung führte. Infolgedessen war »groß« nicht mehr unbedingt schlecht, und das Geschäftsgebaren von Unternehmen gegenüber der Konkurrenz wurde weniger nach seinen Auswirkungen auf die Konkurrenten beurteilt als vielmehr danach, wie es sich auf Effektivität und Verbraucherpreise auswirkte. Open Markets wollte anhand von Beispielen aus der Praxis und der Opfer von Unternehmen, die ihre Macht gebündelt hatten, aufzeigen, welche Folgen eine laxe Handhabung des Kartellrechts hatte.

In den folgenden drei Jahren tauchte Khan monatelang in verschiedene Branchen ein, von Fluggesellschaften über die Metallindustrie bis hin zur Hühnerzucht, um zu begreifen, wie diese strukturiert waren und wie stark die Konzentration in der amerikanischen Wirtschaft ausgeprägt war. Ihre Erkenntnisse veröffentlichte sie in Beiträgen für Washington Monthly, CNN und andere Medien. Darin beschäftigte sie sich mit Themen wie Deregulierung, Konzernbildung und kartellrechtliche Laissez-faire-Methoden, die Durchschnittsbürgern erheblichen Schaden zufügten, während sie die Großkonzerne begünstigten.

Während ihrer Zeit in der Denkfabrik setzte sich Khan eingehend mit den Geschäftspraktiken von Standard Oil auseinander, dem Monopolunternehmen des Öltitanen John D. Rockefeller, eines der reichsten Amerikaner aller Zeiten. Standard Oil wurde 1870 als Ölraffinerie gegründet und expandierte in der Blütezeit der amerikanischen Wirtschaft im späten 19. Jahrhundert, als Raubkapitalisten fieberhaft Trusts oder Konzerne bildeten und die Macht in so unterschiedlichen Industriezweigen wie dem Eisenbahnbau und der Zuckerproduktion konzentrierten. In den späten 1880er Jahren kontrollierte Standard Oil bereits 90 Prozent der amerikanischen Raffineriekapazitäten.[4]

Im Jahr 1890 verabschiedete der Kongress den Sherman Antitrust Act, um monopolistische Geschäftspraktiken zu unterbinden. Angesichts der wachsenden Marktmacht der Konzerne war die Öffentlichkeit inzwischen misstrauisch geworden. 1911 wurde das Ölkonglomerat schließlich wegen Verstoßes gegen den Sherman Antitrust Act durch den Supreme Court (Oberster Gerichtshof der USA) zerschlagen. Rockefeller wurde beschuldigt, er habe Konkurrenten unter Druck gesetzt, damit sie sich von Standard Oil aufkaufen ließen, Preisdumping betrieben und Absprachen mit Eisenbahngesellschaften getroffen, um niedrigere Tarife zu erwirken. All dies sei geschehen, um die Wettbewerbsfähigkeit seiner Mitbewerber zu schwächen und die Vormachtstellung von Standard Oil weiter zu festigen. Außerdem warf man ihm vor, die Konkurrenz auszuspionieren.[5]

Je mehr Khan über Standard Oil las, desto mehr gelangte sie zu der Erkenntnis, dass es signifikante Ähnlichkeiten zwischen Amazon-Gründer Jeff Bezos und Rockefeller gab. Jedenfalls wiesen die Geschäftspraktiken von Amazon und Standard Oil frappierende Übereinstimmungen auf. Die ruinöse Preisgestaltung war 1911 einer der Schwerpunkte im Fall von Standard Oil gewesen, und wie der Öltitan war auch Amazon dafür bekannt, bestimmte Waren unter dem Selbstkostenpreis anzubieten und damit die Konkurrenz in die Knie zu zwingen. Da Amazon in vielen Bereichen eine große Marktmacht besaß, waren seine Konkurrenten nicht selten auch seine Kunden, was dem Unternehmen erhebliche Druckmittel an die Hand gab.

Und dann war da noch die Wirtschaftsspionage: Standard Oil hatte von den Eisenbahn- und Dampfschifffahrtsgesellschaften detaillierte Berichte über die Öllieferungen der Konkurrenz erhalten. Darin fanden sich beispielsweise Angaben zu Menge und Art des Öls sowie die Namen und Adressen der Empfänger. Da der Ölgigant regelmäßig Bahnbeamte und Angestellte konkurrierender Unternehmen bestach, um an Informationen über Lieferungen zu gelangen, und darüber hinaus selbst aktiv spionierte, verfügte er über wertvolle Informationen zum aktuellen Stand der Industrie. Dies ermöglichte es ihm, gezielt in das Geschehen einzugreifen, um der Konkurrenz ein Geschäft abzujagen oder sie durch Drohungen zu behindern.[6]

Sobald diese Berichte vorlagen, schritt der Gigant zur Tat. Erfuhr Standard Oil etwa, dass die Bestellung eines Konkurrenten an einen Kunden unterwegs war, schickte es seine Mitarbeiter zum Kunden und forderte ihn auf, die Lieferung zurückzuweisen. Weigerte sich dieser, drohten die Mitarbeiter von Standard Oil damit, den Verkauf des eigenen Öls an den Händler einzustellen oder einen Preiskampf vom Zaun zu brechen, der ihn vom Markt verdrängen könnte.

Auch Amazon verfügte über einen beispiellosen Zugriff auf Daten – das war sogar integraler Bestandteil des Geschäftsbetriebs und des Firmenwachstums. Verkäufer warfen dem Unternehmen vor, ihre Daten auf Amazon.com zu nutzen, um ihre Artikel zu kopieren und sich so Vorteile im Konkurrenzkampf zu verschaffen. Doch während Standard Oil als Monopol eingestuft wurde, schienen nur wenige die Vormachtstellung von Amazon infrage zu stellen, was Khan seltsam fand.

Drei Jahre nach dem Urteil gegen Standard Oil wurde die Federal Trade Commission gegründet, um unlauteren Wettbewerb zu unterbinden. Mehr als 100 Jahre später waren die Antitrust-Gesetze noch dieselben, aber die veränderte Auslegung der vage formulierten Bestimmungen seit den 1980er Jahren führte dazu, dass Wettbewerbsverhalten danach beurteilt wurde, ob die Verbraucherpreise niedrig blieben. Nach dieser Definition konnte Amazon ungehindert wachsen. Khan machte deutlich, dass die Bork’sche Perversion des Kartellrechts ihr eigenes Paradoxon geschaffen hatte: Antimonopolgesetze verhinderten keine Monopolbildung, sondern bestärkten die Menschen vielmehr darin, sie als gut für die Gesellschaft anzusehen.

Als Khan 2014 allmählich die Parallelen zwischen Standard Oil und Amazon auffielen, hatte Amazon einen Marktwert von rund 140 Milliarden Dollar. Zum Vergleich: Das war mehr als doppelt so viel wie der Marktwert der Ford Motor Company. Im selben Jahr verlor Amazon allerdings 241 Millionen Dollar. Noch auffälliger war allerdings, welchen Wert die Wall Street den mageren Gewinnen des Unternehmens beimaß. Der Aktienpreis war von der Realität abgekoppelt und wies laut dem Finanzdatendienstleister FactSet ein Kurs-Gewinn-Verhältnis von 372 aus, während andere Unternehmen wie Walmart oder Apple mit 16 bzw. 14 gehandelt wurden.[7] Die Kapitalanleger ignorierten die gängigen Finanzkennzahlen, die zur Bewertung eines Unternehmens herangezogen werden, und räumten dem Unternehmen aus Seattle eine Sonderstellung ein, wie sie an der Wall Street ansonsten nicht üblich ist.

In der Harvard Business Review wurde Jeff Bezos 2014 als erfolgreichster CEO der Welt eingestuft, gemessen an der Aktionärsrendite. Der Zeitschrift zufolge hatte er seit dem Börsengang seines Unternehmens eine Gesamtrendite von 15,189 Prozent für die Anleger erwirtschaftet und einen Marktwert von mehr als 140 Milliarden Dollar geschaffen.[8] Seit dem Börsengang 1997 bis zum Jahr 2014 hatte Amazon jedoch nur knapp zwei Milliarden Dollar an kumulierten Erträgen als Gewinn verbucht.

Trotz aller Verluste blieb das Bewertungsparadoxon bestehen, und als Khan weiter nachforschte, fand sie heraus, dass Amazon einen Großteil des modernen E-Commerce kontrollierte – ein Hinweis darauf, wieso ein nur mäßig profitables Unternehmen für Analysten derart wertvoll sein konnte. Dass das Unternehmen den modernen E-Commerce beherrscht, ist in der Tat unstrittig. Zunächst einmal ist die Website von Amazon für Online-Verkäufer die leistungsfähigste Plattform, um Kunden zu erreichen. Das gilt für fast alles: von Socken über Computer bis hin zu Möbeln und Bohreinsätzen. Amazon ist, wie der Journalist Brad Stone es ausdrückte, der »Allesverkäufer«. Nahezu alle, von Buchverlagen bis zu Bekleidungsherstellern, erzielen einen großen Teil ihres Umsatzes damit, dass sie ihre Produkte auf der Website des Unternehmens anbieten.

Darüber hinaus hat Amazon eine Vorreiterrolle bei der Schaffung der technologischen Infrastruktur gespielt, auf die Millionen von Firmen und Regierungsbehörden zurückgreifen. Amazon Web Services (AWS) gehören zu den erfolgreichsten Geschäftsbereichen. Daneben ist Amazon zu einem der größten Logistikunternehmen der USA geworden – sprich: Es hat herausgefunden, wie man effizient und in einem noch nie da gewesenen Tempo Waren versendet, lagert und bewegt. Für die Kunden macht gerade dieser Aspekt Amazon so beliebt: die Zustellung eines Produkts innerhalb weniger Tage nach dem Kauf.

Doch wie Khan feststellte, waren der eigentliche Charakter und das Ausmaß von Amazons Vorherrschaft einzigartig. Vereinfacht ausgedrückt, hatte sich das Unternehmen quasi als modernes Versorgungsunternehmen positioniert, das niemand mehr ignorieren konnte. Eines, ohne das viele Verbraucher nicht mehr leben konnten.

In Telefonaten mit Hedgefonds-Managern erfuhr Khan, dass die Finanziers die Amazon-Aktie bewerteten, als wäre das Unternehmen ein unaufhaltsamer Monopolist, der jeden Sektor beherrschte, in den er vorstieß. Sie waren gerne bereit, über unrentable und wenig rentable Quartale hinwegzusehen, damit das Unternehmen mehr und mehr Marktanteile an sich reißen konnte. Dieses Verhalten widersprach den allgemeinen Gesetzen der Finanzwelt. Normalerweise begeisterten sich Investoren für Unternehmen mit soliden Gewinnen. Dennoch stieg der Kurs der Amazon-Aktie immer weiter. Für sie galten andere Regeln.

Bei Gesprächen mit Drittverkäufern fiel Khan etwas Beunruhigendes auf. Diese Verkäufer waren einer der Hauptgründe dafür, dass Amazon in so großem Maßstab agieren konnte. Aber Amazon verkaufte auf seiner Website auch Waren aus eigener Produktion, die mit den Unternehmen auf der eigenen Plattform konkurrierten. Die Drittverkäufer gaben an, an Amazon gebunden zu sein. Zwar fühlten sie sich oft von dem Unternehmen schlecht behandelt, das ihre Gewinnspannen drückte und sie an teure Dienstleistungen band. Doch sie steckten in einer Zwickmühle: Sie hatten das Gefühl, dass sie keine andere Wahl hatten, als auf der Plattform zu verkaufen, da der Großteil des US-Online-Handels darüber abgewickelt wird. Ihre Gewinne hingen von Amazon ab, und sie konnten nur sehr wenig dagegen tun.

Als Khan ihr Jurastudium begann, hatte sie bereits sechs Monate lang Aufzeichnungen, Interviews und Notizen über das Verhalten von Amazon gesammelt. Während ihrer Zeit in Yale verfasste sie ihre Studie. Im Januar 2017 veröffentlichte die Law Review den aufrüttelnden Text, der die gängigen Ansichten zum Kartellrecht infrage stellte. Khan argumentierte, dass Amazon zu viel Macht angehäuft habe und die derzeitigen Antitrust-Gesetze nicht geeignet seien, diese Macht zu begrenzen. Ihr Aufsatz enthielt auch eine Aufforderung zum Handeln: Man müsse zur ursprünglichen Auslegung der Antitrust-Gesetze zurückkehren, um Amazon und ähnliche Unternehmen besser regulieren zu können – oder man solle Unternehmen wie Amazon eher wie Versorgungsunternehmen behandeln. »Es ist, als hätte Bezos das Wachstum seines Unternehmens am Reißbrett entworfen, indem er auf einer Karte zunächst die Antitrust-Gesetze einzeichnete und dann Routen entwarf, um diese reibungslos zu umgehen. Mit seinem missionarischen Eifer für die Verbraucher hat sich Amazon den Tenor des modernen Kartellrechts zunutze gemacht und ist so einem Monopol immer näher gekommen«, schrieb sie.

Nachdem »Amazon’s Antitrust Paradox« viral gegangen war, änderte sich Khans Leben innerhalb weniger Jahre dramatisch. 2021 wurde sie mit nur 32 Jahren die jüngste Vorsitzende der Federal Trade Commission in der Geschichte der Behörde. Ihr Name tauchte in den »40 unter 40«-Listen auf, und sie schaffte es neben der Sängerin Dua Lipa und der Schauspielerin Florence Pugh in die »TIME100 Next« des Time Magazine, in der »aufstrebende Persönlichkeiten, die die Zukunft prägen«, vorgestellt werden. Die New York Times brachte ein begeistertes Porträt des Wunderkinds, das es mit dem Establishment im Kartellrecht aufnahm.

Khans Ideen verbreiteten sich wie ein Lauffeuer, und sie wurde zu einem der bekanntesten Gesichter der modernen Antitrust-Bewegung. Vor allem aber hatte sie bei Amazon – und speziell bei Amazon – etwas erkannt, das vorher kaum jemand anderem aufgefallen war. Als Vorsitzende der Federal Trade Commission verklagte sie Amazon im Namen ihrer Behörde am 26. September 2023 wegen Aufrechterhaltung eines illegalen Monopols.

Tatsächlich war das Phänomen Amazon kein Zufall. Jeff Bezos tauchte weder aus dem Nichts auf, noch erlangte sein Unternehmen aus Versehen seine Vormachtstellung. Von Anfang an hatte er den richtigen Riecher und wurde von einem unstillbaren Erfolgshunger getrieben. Er schuf ein Unternehmen und eine Unternehmenskultur nach seinem Ebenbild und drillte es auf Erfolg um jeden Preis. Hinter der Devise »Kundenbesessenheit« – dem Leitprinzip des Unternehmens – verbarg sich ein machiavellistisches Streben nach Wachstum. Das bedeutete, dass Amazon seine Größe, seinen Einfluss und seinen branchenübergreifenden Zugang zu Daten nutzte, um die Konkurrenz – ob groß oder klein – zu ersticken.

Um zu verstehen, wie es dazu kam, müssen wir jedoch früher ansetzen und nachvollziehen, wie Bezos’ Killerinstinkt Gestalt annahm und wie sich bei Amazon ein Verhaltensmuster entwickelte, das untrennbar mit Bezos’ Geschäftsgebaren verbunden ist. Dieses Buch enthüllt eine Seite von Amazon und dem Firmenchef, die noch nie zuvor gezeigt wurde: das rücksichtslose Streben, unter Einsatz aller Mittel nicht nur eine einzige Branche, sondern so viele Branchen wie möglich taktisch und strategisch zu beherrschen. Während das Unternehmen seine Tentakel in immer mehr Wirtschaftszweige ausstreckte, bündelte es zugleich seine Macht und erlangte so einen Einfluss, wie ihn moderne Unternehmen nur selten erreichen. Diesen Weg pflasterten die Leichen seiner Konkurrenten. In erster Linie sind Bezos und Amazon von einem Wettbewerbsdenken getrieben, das vor nichts zurückschreckt – wenn sie die Welt erobern, sich bei uns zu Hause und überall sonst einnisten könnten, würden sie es tun. Nur wenn man dies zur Kenntnis nimmt, versteht man Amazon. Dabei lässt sich anhand dieses Unternehmens bestens zeigen, was mit der amerikanischen Wirtschaft und ihrem Geschäftsklima seit den 1990er Jahren bis heute geschehen ist.

TEIL I   Der Gigant entsteht

Kapitel 1   Was der stationäre Handel nicht kommen sah

Es war das Jahr 1994. Die Single »The Sign« von Ace of Base stand an der Spitze der Charts, und die TV-Serie Hör mal, wer da hämmert war die Nummer eins bei den Einschaltquoten. Jedes Wochenende strömten Familien in die örtlichen Einkaufszentren, um unter einem Dach Geburtstagsgeschenke bei KB Toys, eine dazu passende Geschenktüte im Hallmark Store und ein Buch für die Klassenlektüre bei Waldenbooks, einer der größten Buchhandelsketten des Landes, zu kaufen. Auch Teenager fanden sich im Einkaufszentrum zusammen, allerdings aus anderen Gründen. Abgesehen davon, dass sie ihr Babysitting-Geld für Ohrringe von Claire’s und Poster von Spencer Gifts ausgaben, war das Einkaufszentrum eine derart wichtige Kulisse für ihr soziales Leben, dass man ihnen den Spitznamen »mall rats« (Einkaufszentrumsratten) verpasste.

Das erste überdachte Einkaufszentrum in den Vereinigten Staaten wurde 1956 eröffnet. Der Ausbau des Fernstraßennetzes ermöglichte es den Amerikanern, immer weiter von den Stadtzentren weg und in die Vorstädte zu ziehen. Ihnen folgte der Einzelhandel, und Immobilienentwickler errichteten große überdachte Einkaufszentren mit Dutzenden von Geschäften, um die wachsende Bevölkerung zu versorgen.

Anthony Cafaro Jr., Vice President der Cafaro Company, stammt aus einer Familie, die bei der Verbreitung von Einkaufszentren im ganzen Land Pionierarbeit leistete. Sein Großvater gründete 1949 die Cafaro Company, die in den Innenstadtbereichen mehrerer Großstädte des Mittleren Westens Einkaufszentren und Ladenzeilen anlegte. Für die Einkaufszentren gab es eine Formel: Cafaro baute ein Geschäft für einen Lebensmittelhändler und fügte dann weitere Gewerbeflächen für eine Apotheke, ein Schuhgeschäft und eine chemische Reinigung hinzu. Diese Flächen wurden vermietet. Als die amerikanische Mittelschicht in die Vorstädte zog, begann Cafaro dort mit der Errichtung seiner Einkaufszentren.

Auch für diese neuen Einkaufstempel gab es eine Formel. Sie boten One-Stop-Shopping, Parkplätze und Restaurants und wurden von großen Kaufhäusern wie Sears, JCPenney und Macy’s als Ankermieter getragen. Die Kaufhäuser mieteten 100 000 Quadratmeter große Flächen zu Preisen, die unter dem Marktwert lagen. Allerdings lockten sie so viele Besucher in das übrige Einkaufszentrum, in die Gastronomie und in die kleineren Geschäfte, dass die Bauherren ihnen einen erheblichen Nachlass auf die Mieten gewährten. Anthony Cafaro war die dritte Generation der Familie, die im Geschäft mit Einkaufszentren tätig war. Im Alter von zwölf Jahren begann er, in den Sommermonaten für das Unternehmen zu arbeiten, indem er gelbe Parkplatzmarkierungen anbrachte und die Springbrunnen in der Mitte der Anlagen wartete. Er erinnert sich gern an die Zeit, als das Einkaufszentrum ein Treffpunkt für die lokale Bevölkerung war, wo Babys ihre ersten Fotos mit dem Weihnachtsmann machten und wohin Mütter mit ihren Kindern zum Einkaufen für den Schulanfang kamen.

Die 1980er und 1990er Jahre waren die Blütezeit für diesen Teil des Einzelhandels. Anthony Cafaro erinnert sich, dass bei jeder Eröffnung eines neuen Einkaufszentrums die Einzelhändler um die Ladenlokale konkurrierten. »Die Einzelhändler haben sich um einen Platz im Einkaufszentrum regelrecht gerissen«, sagt er. »Es war nicht schwer, diese Geschäfte zu verpachten; die Leute standen Schlange.«

Damals herrschte ein derartiger Boom bei der Eröffnung neuer Einkaufszentren, dass die Immobilienentwickler sich einen erbitterten Wettlauf lieferten, um ihre Claims abzustecken. Ein Vorort konnte in der Regel nur ein einziges großes Einkaufszentrum verkraften. Cafaro erinnert sich, dass sein Großvater ihm Geschichten von Bauträgern erzählte, die den ersten Spatenstich auf ihren Grundstücken machten, ohne sich zuvor überhaupt um Ankermieter gekümmert zu haben – nur um zu verhindern, dass ein anderer Bauträger auf den Markt drängte. »Sie fingen an zu graben, um ihr Revier zu markieren«, sagt er. Nach Angaben des International Council of Shopping Centers stieg die Zahl der Einkaufszentren in Amerika zwischen 1970 und 2000 von 276 auf 1017 an.[1]

Die Einkaufszentren gingen mit den Städten, in denen sie lagen, eine symbiotische Beziehung ein. Sie waren ein wichtiger Arbeitgeber, da ihre Mieter Büroangestellte, Filialleiter und Verkäufer einstellten. Außerdem zahlten sie Verkaufssteuer,* mit der öffentliche Schulen, Straßen und andere Infrastrukturprojekte finanziert wurden.

Im Jahr 1994 florierten nicht nur die Einkaufszentren, sondern ein Großteil des Einzelhandels. Entlang der Hauptstraßen gab es jede Menge kleinerer Spielzeugläden, Boutiquen und Fachgeschäfte, in denen die Anwohner ihren täglichen Bedarf deckten. Zugleich waren die Einkaufsmeilen der Vorstädte in jener Zeit von einer Vielzahl großer Geschäfte geprägt: Circuit City, Borders, Toys“R”Us und Linens ’n Things – die heute alle nicht mehr existieren oder bankrott sind – präsentierten sich mit riesigen Verkaufsflächen.

Tatsächlich war die Größe der Geschäfte nicht weniger atemberaubend als deren schiere Anzahl und Verbreitung. Es war das Zeitalter der Superstores. Ende der 1980er und in den 1990er Jahren gingen die Einzelhandelsketten zu diesem Format über und eröffneten riesige Läden mit Verkaufsflächen von bis zu 4000 Quadratmetern, um eine unbegrenzte Auswahl anbieten zu können. Expansion lautete die Devise, und die größten Einzelhändler des Landes kündigten fast wöchentlich neue, größere Geschäfte an, um näher an ihre Kunden heranzukommen und ihre Umsätze zu steigern.

»Jedes Mal, wenn ein Laden eröffnet wurde, beispielsweise ein Bed Bath & Beyond, folgte ein Linens ’n Things«, erinnert sich Peter Schaeffer, der in den 1990er Jahren als Einzelhandelsanalyst tätig war. »Für fast jedes Geschäft gab es ein Duplikat, mit dem es konkurrieren musste. Für die Verbraucher war das großartig.«

»In den 1990er Jahren gingen wir ab wie eine Rakete«, sagt Mickey Drexler, eine Einzelhandelslegende. Wegen seiner Fähigkeit, Trends auszumachen und Kunden zu verstehen, erhielt er den Spitznamen »Kaufmannsfürst«. In den 1990er Jahren war DrexlerCEO des Bekleidungseinzelhändlers Gap Inc. Und gründete 1994 den Unternehmensableger Old Navy, der großen Anklang fand. Old Navy richtete sich an ein preisbewussteres Publikum und ermöglichte der Muttergesellschaft Gap, mehr Umsatz mit neuen Kunden zu erzielen. Später wurde DrexlerCEO von J. Crew. In den 1990er Jahren war Gap wie alle anderen Unternehmen auf Expansion bedacht.

Die Wall Street belohnte das Wachstum der Einzelhandelsunternehmen. »In den 1980er und 1990er Jahren befanden sich die Aktien im Höhenflug«, erinnert sich Richard Baum, damals Einzelhandelsanalyst bei Goldman Sachs. »Es gab immer noch viel Luft für weiteres Wachstum.«

Durch das persönliche Einkaufen entstand in den Städten eine Gemeinschaft. Die Besitzer der Geschäfte in der Hauptstraße kannten ihre Stammkunden beim Namen, sie sponserten lokale Sportmannschaften und Ferienveranstaltungen und beschäftigten Menschen aus dem Ort. Der rege Kundenverkehr und die Einnahmen in diesen Geschäften stärkten die örtlichen Immobilienentwickler und Vermieter. Über die örtlichen Kaufleute floss das Geld wieder in die Städte und Gemeinden zurück, und durch die Verkaufssteuereinnahmen wuchs das Budget für kommunale Projekte und Schulen. Die Beziehung war symbiotisch.

Die Geschichte von Kathy McCauslin-Cadieux ist recht typisch dafür. Im Jahr 1989 öffnete sie die Türen ihrer ersten Boutique in Strasburg, Pennsylvania. Sie zahlte 500 Dollar Miete pro Monat für ein renovierungsbedürftiges historisches Gebäude im Herzen der Stadt. Gemeinsam mit ihrem damaligen Mann flickte sie das Dach und entfernte die Spinnweben. In ihrem Laden verkaufte sie Damenbekleidung und Accessoires. Creative Elegance, wie sie ihn nannte, wurde zu einem Fixpunkt in der kleinen Stadt.

Jeden Tag begrüßte McCauslin-Cadieux ihre Kundinnen auf dieselbe Weise: »Wie kann ich Sie verwöhnen?«, rief sie und rannte oft quer durch die Boutique, um ihre treuen Kundinnen zu umarmen. McCauslin-Cadieux freute sich darauf, ihren »Damen«, wie sie sie nannte, bei der Auswahl von Designer-Blazern, Kleidern und Accessoires zu helfen. »Ich kannte ihre Kleiderschränke besser als sie selbst«, sagt sie. »Ich gab den Frauen, die zu mir kamen, gerne das Gefühl, schön zu sein.«

McCauslin-Cadieux’ Boutique Creative Elegance war so beliebt, dass sie zwei weitere Standorte in Pennsylvania eröffnen konnte. Ihr Erfolg ermöglichte es ihr, zwei Dutzend Frauen zu beschäftigen, und sie erzielte einen Umsatz von mehr als 1,5 Millionen Dollar. So konnte sie dank ihrer treuen Kundschaft und des Publikumsverkehrs in der belebten Hauptgeschäftsstraße ihre finanziellen Ziele übertreffen.

Es waren einfachere Zeiten. Die Kunden hatte nicht überall ihre Handys dabei. Im Jahr 1993 besaßen weniger als 23 Prozent der Amerikaner einen Computer.[2] Die meisten hatten keinen eigenen Internetzugang und auch keine Vorstellung davon, was das Internet bald alles verändern würde. Der Gedanke, dass ein Computer die Kundschaft davon abhalten könnte, bei ihrem örtlichen JCPenney einzukaufen, oder das Erlebnis eines Kindes ersetzen sollte, das mit leuchtenden Augen in einen Toys“R”Us rennt, war in jenen Tagen mehr eine Fantasie als ein plausibles Szenario.

McCauslin-Cadieux ahnte 1994 nicht, dass ein ehemaliger Hedgefonds-Angestellter in Seattle plante, mithilfe von Computern ihr Unternehmen – und den gesamten lokalen Einzelhandel – unter Beschuss zu nehmen.

In jenem Sommer gaben der 30-jährige Jeff Bezos und seine Frau MacKenzie ihre bequemen Jobs an der Wall Street auf und setzten alles auf eine riskante Idee: Das Internet, so glaubten sie, bot eine einzigartige Chance. Sie wollten herausfinden, wie man es kommerziell nutzbar machen konnte.

Beide waren bei D. E. Shaw angestellt, einem quantitativen Hedgefonds, der dafür bekannt war, dass er den Wertpapierhandel durch den Einsatz computergenerierter Modelle für Anlageentscheidungen revolutioniert hatte. Bezos war dort in seinem vierten Jahr und legte einen kometenhaften Aufstieg hin, als ihn sein Chef, der legendäre Investor David Shaw, beauftragte, die Möglichkeiten einer im Entstehen begriffenen Technologie zu erforschen: des Internets. Das Internet war bis dahin einer kleinen Gruppe von Wissenschaftlern und Universitätsangestellten sowie dem stets vorausschauenden David Shaw vorbehalten, der die Technologie bereits in seinem Hedgefonds einsetzte. Viele seiner Mitarbeiter waren keine traditionellen Hedgefondsler, sondern Computerwissenschaftler. Auch Bezos passte in dieses Schema. Er hatte an der Princeton University Informatik und Elektrotechnik studiert und vor seiner Tätigkeit bei Shaw bei einem Telekommunikations-Start-up und bei Bankers Trust gearbeitet.

Shaw war überzeugt, dass das Potenzial des Internets über die kleinen Kreise hinausreichte, in denen es bis dahin genutzt wurde. Er hatte Algorithmen auf den Wertpapierhandel angewandt, um eine bessere Performance als der allgemeine Aktienmarkt zu erzielen, und war damit ein Pionier bei der Nutzung von Rechenleistung für derartige Zwecke. Aber es gab gewiss noch mehr Möglichkeiten. Die Verbreitung des Internets schritt allmählich voran, und in absehbarer Zeit würden auch gewöhnliche Menschen auf die Technologie zurückgreifen. Shaw sagte Bezos und anderen Mitarbeitern, dass sich große Chancen böten, wenn sich das Internet immer mehr durchsetze.

Der Hedgefonds begab sich auf eine Erkundungsmission, um herauszufinden, wie das Internet in alltägliche Prozesse eingreifen könnte. Bezos bekam von Shaw den Auftrag zu prüfen, ob und wie sich Dinge über das Internet verkaufen ließen. Sein Kollege David Siegel sollte die Anwendungsmöglichkeiten des Internets für Finanzdienstleistungen erforschen, und Charles Ardai wurde damit betraut, weitere Einsatzbereiche für die neue Technologie zu suchen. Wenn irgendwo langfristig wirtschaftliches Potenzial zu erkennen wäre, dann wollte D. E. Shaw bei dessen Hebung ganz vorne dabei sein.

Besonders wichtig war ihm das beim Online-Handel. In Gesprächen mit seinen Mitarbeitern malte er ein hypothetisches Szenario aus, in dem die Kunden über das Internet einen Gartenschlauch kauften, ihn sich nach Hause liefern ließen und dann anderen Käufern ein Feedback zu dem Produkt gaben. Nach den Erinnerungen damaliger Mitarbeiter war dies die erste Idee für das, woraus später die Online-Produktbewertungen werden sollten.

Monatelang recherchierte Bezos zu dem Projekt. Die Prognosen für das Wachstum der Internetnutzung waren atemberaubend.[3] Je mehr er sich mit den Möglichkeiten befasste, die sich daraus ergaben, desto mehr begeisterte er sich dafür. Er stieß auf erstaunliche Statistiken über die Zunahme der im Netz übertragenen Bytes. »Alles, was so schnell wächst, wird groß werden, selbst wenn die Ausgangsnutzung winzig war«, sagte er später in einem Interview mit dem Private-Equity-Manager David Rubenstein.[4] »Ich sah mir das an und dachte: ›Ich sollte eine Geschäftsidee für das Internet entwickeln und das Internet um diese Idee herum wachsen lassen.‹« Er beschloss, dass er derjenige sein sollte, der das Internet kommerziell nutzbar machte.

Bezos studierte Unmengen von Versandkatalogen, um zu verstehen, welche Art von Artikeln die Unternehmen auf Lager hatten und an die Kunden verschickten. Bücher schienen ihm am vielversprechendsten. Es gab zu viele Titel, um sie in einem einzigen Katalog unterzubringen, und sie waren klein genug, um sie kostengünstig zu versenden. Von den 20 Produkten, die er recherchiert hatte, boten Bücher die beste Einstiegsmöglichkeit.

Bezos und seine Frau MacKenzie beschlossen, es zu versuchen. Doch zunächst musste er die Nachricht Shaw überbringen.

»Jeff, das ist eine wirklich gute Idee, ich glaube, Sie haben hier eine gute Idee, aber sie wäre besser für jemanden, der nicht schon einen guten Job hat«, sagte ihm dieser während eines zweistündigen Spaziergangs im New Yorker Central Park.[5]

Shaw versuchte, ihn davon abzubringen. Er stellte auch in den Raum, dass D. E. Shaw Bezos Konkurrenz machen könne.[6] Schließlich stammte die Idee ursprünglich von Shaw, und die Nachforschungen, die Bezos angestellt hatte, waren von Shaw finanziert worden.

»Der Grundgedanke war immer, dass jemand als Zwischenhändler einen Gewinn erzielen kann«, sagte Shaw in einem Interview mit der New York Times.[7] »Die Schlüsselfrage war, wer dieser Jemand sein sollte.« Er wollte, dass sein eigenes Unternehmen diese Rolle spielte.

Im Sommer 1994 kündigte Bezos seinen Job bei D. E. Shaw und wagte den Schritt in die Selbstständigkeit. Shaw zeigte sich großzügig. »Niemand ahnte damals, wie großzügig er tatsächlich war«, sagt ein ehemaliger Angestellter, der während Bezos’ Zeit bei D. E. Shaw ebenfalls dort arbeitete. Shaws Geschäftssinn bestätigte sich in allen Bereichen. Denn auch die beiden anderen Ideen, die er angestoßen hatte, erwiesen sich als erfolgreich, doch in diesen Fällen profitierte D. E. Shaw davon: Aus dem Projekt, an dem Ardai arbeitete, wurde der E-Mail-Dienst Juno, der an die Börse ging und später mit NetZero fusionierte; Siegels Projekt, einen Online-Brokerage-Dienst, verkaufte Shaw an das Bankhaus Merrill Lynch. Shaw war klug und hatte ein gutes Gespür. Auch wenn er es zu diesem Zeitpunkt noch nicht wusste, sollte die Tatsache, dass er Bezos gehen ließ, den weiteren Weg der amerikanischen Wirtschaft verändern.

Nachdem das frisch vermählte Paar gekündigt hatte, ließ es sein bequemes Leben in Manhattan hinter sich. Die beiden räumten ihre Wohnung an der Upper West Side, verzichteten auf das gemeinsame Jahreseinkommen von fast einer Million Dollar (hauptsächlich Jeffs Gehalt) und setzten alles auf eine Idee, die keineswegs eine sichere Sache war. In der Anfangsphase finanzierte sich Bezos selbst, gestützt auf eine Erstinvestition von 100 000 Dollar aus den Ersparnissen seiner Eltern (die später auf 245 000 Dollar aufgestockt wurde). Er warnte sie, dass sie ihr Geld mit einer 70-prozentigen Wahrscheinlichkeit verlieren würden.[8] Das Ganze war ein Risiko.

Zuerst flog das Paar nach Texas, um einen alten Chevy Blazer abzuholen, dann fuhr es ohne bestimmtes Ziel im Blick nach Westen. Während MacKenzie am Steuer saß, tippte Bezos auf seinem Laptop die erste Version seines 30-seitigen Geschäftsplans und grenzte den Standort ihres neuen Hauses auf Portland in Oregon oder Seattle im Bundesstaat Washington ein.[9]

Bezos ging von Anfang an geschickt vor. Dabei kam ihm sein Wall-Street-Denken zugute: Er suchte nicht nur nach einer Stadt, in der er genügend geeignetes Personal für sein Start-up finden würde, sondern wollte auch das staatliche System für sich nutzen. In der hart umkämpften Welt der Hedgefonds sind die Mitarbeiter ständig auf der Suche nach sogenannten Arbitragen, und Bezos war da nicht anders. Sein neues Unternehmen würde über eine Reihe von Vorteilen gegenüber physischen Einzelhändlern verfügen. Einer der wichtigsten war die steuerliche Behandlung: Die Einwohnerzahl des Bundesstaates Washington war relativ klein, und aufgrund der damaligen Anwendung der Steuergesetze konnte Bezos Bücher steuerfrei an Kunden im ganzen Land versenden, während lediglich die Kunden am Firmensitz Verkaufssteuer zahlen mussten. Außerdem gab es dort reichlich technisches Personal, das bei Microsoft arbeitete, und der Standort lag in der Nähe eines großen Buchvertriebs. Sie fuhren nach Seattle.

Wenn man bedenkt, wie Einzelhandel und Einkaufskultur damals aussahen, standen die Chancen für Bezos und sein Start-up schlecht. Zudem war das Internet so etwas wie der Wilde Westen: Es brauchte furchtlose Pioniere, die klug genug waren, sich darin zurechtzufinden, und, was noch wichtiger war, damit Geld zu verdienen.

Bis 1994 hatten sich nur drei Prozent der Amerikaner jemals im World Wide Web angemeldet, doch Bezos gründete ein ganzes Unternehmen auf der Überzeugung, dass sie bald in Scharen dorthin strömen würden.[10] Die Mehrheit der Amerikaner besaß nicht einmal einen Computer. Diejenigen, die einen hatten, mussten sich erst langsam an den Umgang mit dem Internet gewöhnen und brauchten außerdem ein Einwahlmodem. Auf keinen Fall trauten sie den Geräten so weit, dass sie ihre Kreditkartennummern ins Nichts schickten, um Waren zu kaufen, die sie auch im Einkaufszentrum bekommen konnten. Für die meisten Durchschnittsamerikaner war schon die Begrifflichkeit rund um die neue Technologie verwirrend. Die Zeitungen sprachen vom »Information Superhighway« oder »I-Way« und definierten das Internet als »globales Computernetzwerk«. Obwohl die Akzeptanz rasch zunahm, hatten die Amerikaner immer noch mit einer sehr steilen Lernkurve zu kämpfen.

In einem Porträt des Wall Street Journal über Bezos aus dem Jahr 1996 hieß es, der elektronische Handel sei »eine der schwierigsten Geschäftsideen der Neuzeit: Einzelhandel über das Internet«.[11] Doch davon ließ sich Bezos nicht einschüchtern. Seit seiner Kindheit war er ein begeisterter Tüftler. Und er erreichte trotz bescheidener Anfänge viel von dem, was er sich vornahm.

Geboren wurde er 1964 als Sohn von Jacklyn Gise, einer 17-jährigen Highschool-Schülerin, und dem 19-jährigen Ted Jorgensen in Albuquerque, New Mexico. Bezos wuchs zwar ohne seinen leiblichen Vater auf, doch sein Großvater mütterlicherseits übte bleibenden Einfluss auf ihn aus und trug dazu bei, den Menschen zu formen, der er später wurde. Als Jeff vier Jahre alt war, heiratete seine Mutter einen erfolgreichen kubanischen Einwanderer, der ihn adoptierte und dessen Nachnamen er später annahm.

Bezos lernte durch praktisches Tun. Er wurde nach der Montessori-Pädagogik erzogen und zeigte von den ersten Kindheitsjahren an eine gewisse Frühreife. Bis in seine Adoleszenz hinein erfand er ständig etwas. Zum Beispiel konstruierte er einen automatischen Torschließer aus mit Zement gefüllten Autoreifen. Oder er baute eine Vorrichtung aus Backformen, um seinen Geschwistern eine Falle zu stellen.[12] Diese Neigungen waren schon früh ausgeprägt. Bereits als Kleinkind habe er mit einem Schraubenzieher sein Kinderbett zerlegt, erzählte seine Mutter später, was sie in ihrer Vermutung bestärkt habe, dass er irgendwie anders veranlagt sei.[13]

Mit derselben Beharrlichkeit, die er beim Erfinden an den Tag legte, ging er auch an seine Bildung heran und schloss die Miami Palmetto Senior High School in Florida als Jahrgangsbester ab. An der Princeton University absolvierte er sein Studium mit »summa cum laude«.

Die Fähigkeit, Probleme zu lösen, und seine Selbstständigkeit waren Bezos immer wichtig gewesen. Als sich der 30-Jährige in seinem bescheidenen Haus im Ranchstil einrichtete und mit der Planung des neuen Unternehmens begann, erschien die Frage, wie man Kunden 1994 dazu bringen könnte, online einzukaufen, als eines der größten und spannendsten Probleme, die es zu lösen galt.

Bezos begann so, wie es dem Stereotyp des Technologieunternehmers entspricht. Er arbeitete zunächst in seiner Garage, in seinem Fall in der Stadt Bellevue, nur eine kurze Autofahrt von Seattle entfernt, und stellte Mitarbeiter für seinen Online-Buchhandel ein.

Anfangs nannte er das Unternehmen »Cadabra«, eine Abkürzung für das Zauberwort »Abrakadabra«, um die Magie zu vermitteln, die am Werk zu sein schien, wenn ein im Internet bestelltes Buch plötzlich bei jemandem vor der Haustür lag. Doch »Cadabra« klang zu sehr nach »Kadaver«, also gründete Bezos das Unternehmen Anfang 1995 unter dem Namen Amazon. Diesen fand er deshalb reizvoll, weil es einer der größten Flüsse der Welt war und somit Größe vermittelte. Ein zusätzlicher Bonus: Die Tatsache, dass der Name mit A begann, sorgte dafür, dass er in sämtlichen Verzeichnissen und Listen ganz vorne zu finden war.[14]

Nach wie vor war der Erfolg des Unternehmens alles andere als gewiss. Nick Hanauer, der aus Seattle stammte und für das Kissen- und Bettdeckenunternehmen seiner Familie arbeitete, hatte Bezos in dessen Anfangszeit bei D. E. Shaw kennengelernt. Bezos war damals mit Anne Dinning zusammen, einer Mitarbeiterin von D. E. Shaw, die mit Hanauer befreundet war. (Dinning wurde später in das Executive Committee von D. E. Shaw berufen und ist heute eine der einflussreichsten Frauen an der Wall Street.) Hanauer und Bezos blieben auch nach der Trennung von Dinning und Bezos in Kontakt und freuten sich gemeinsam über die Möglichkeiten, die das aufkommende Internet bieten könnte. »Er und ich hatten beide, aus unterschiedlichen Gründen, ein unglaublich frühes Interesse am E-Commerce«, erinnert sich Hanauer.

Er bat darum, in Amazon investieren zu dürfen, und wurde mit 45 000 Dollar einer der ersten Geldgeber. »Das war buchstäblich jeder Dollar, den ich übrig hatte«, erinnert sich Hanauer. Dass er mit so viel Enthusiasmus in Amazon investierte und Bezos’ Vision für das Geschäftsmodell von Amazon verstand, war nicht selbstverständlich. Bei Treffen mit anderen potenziellen Investoren lautete die häufigste Frage, die Bezos gestellt wurde: »Was ist das Internet?« Hanauers Vater und sein Bruder verzichteten in der ersten Runde auf eine Investition in Amazon. »Mein Vater sagte: ›Warum sollte ich jemals einen Online-Buchladen besuchen, wenn ich so gerne in physische Buchläden gehe?‹«, erinnert sich Hanauer. »›Das macht mir viel Freude. Warum sollte jemand online einkaufen wollen, wo doch das Einkaufen so viel Spaß macht?‹«

Tom Alberg, ein in Seattle ansässiger Technologiemanager und Mitbegründer der Risikokapitalfirma Madrona Venture Group, war einer der ersten Gesprächspartner von Bezos. Er war von ihm und seinem Geschäftsplan beeindruckt, brauchte aber Bedenkzeit, um abzuwägen, ob er investieren wollte. Im August 1995 teilte er Bezos mit, dass er sich erst dann beteiligen wolle, wenn der Unternehmer den Rest der von ihm angestrebten einen Million Dollar aufgebracht habe. Bezos benötigte 60 Meetings, von denen die meisten erfolglos blieben, bis er die Summe zusammenhatte. Die meisten Geldgeber engagierten sich mit jeweils lediglich 50 000 Dollar.[15] (Nur wenige Jahre später sollte der von Bezos mit ausgelöste Internethype dazu führen, dass Unternehmer mit einem simplen Telefonanruf Schecks über zehn Millionen Dollar einheimsten; die Investoren überschütteten die Internet-Unternehmer mit mehr Geld, als diese überhaupt gebrauchen konnten.) Im November rief Bezos Alberg an, um ihm mitzuteilen, dass er eine Million Dollar an Zusagen habe, und Alberg überwies ihm seine 50 000 Dollar.[16] Später war Alberg zwei Jahrzehnte lang Mitglied des Amazon-Boards und wurde ein enger Vertrauter des Konzernchefs.

Charles Katz, Partner der Anwaltskanzlei Perkins CoieLLP in Seattle, lernte Bezos kennen, als er noch in der Garage arbeitete. Als er dort eintraf, saß Bezos hinter einem Schreibtisch, der aus einer auf vier Holzstücke gelegten Tür bestand – eine billige Alternative zum Kauf eines richtigen Möbelstücks. Bezos brauchte einen Unternehmensanwalt und erläuterte Katz seinen Geschäftsplan. Katz war beeindruckt von der Energie und dem Fleiß des jungen Unternehmers. Obwohl seine Idee für den Anwalt weit hergeholt klang, wirkte Bezos zuversichtlich.

»Ich weiß noch, dass Jeff zu mir sagte: ›Wissen Sie, hier geht es nicht um Bücher‹«, erinnert sich Katz. Bücher seien für den Anfang die einfachste Produktkategorie, »aber wir werden definitiv in anderen Bereichen tätig werden«.

*Die Verkaufssteuer wird nur bei einem Verkauf innerhalb desselben US-Bundesstaates nach dem dort geltenden Steuersatz erhoben; wird die Ware in einen anderen Bundesstaat geliefert, fällt keine Verkaufssteuer an. Und anders als die Umsatz- oder Mehrwertsteuer in Europa wird die Verkaufssteuer in den USA erst beim Kauf auf den Ladenpreis aufgeschlagen, Anmerkung des Übersetzers.

Kapitel 2   Wachstum über Gewinn

Jeden Morgen betraten die Amazon-Mitarbeiter ein schäbiges Büro in Seattle mit fleckigen Teppichen. Es lag im selben Block wie eine Heroinnadel-Tauschstelle. Die damaligen Angestellten berichten, dass sie bis in den Abend hinein arbeiteten. Wenn sie dann das Büro verließen, sahen sie, wie Kriminelle auf das Heck eines Polizeiautos gedrückt und gefilzt wurden.

Die Büroräume waren derart beengt, dass sogar die Küche, in der die Belegschaft ihr Mittagessen aufwärmte und Tee kochte, als Arbeitsplatz diente. Ein Kollege arbeitete in einer Besenkammer, und mehrere andere stellten ihre Schreibtische in den Fluren auf.

Für viele der ersten Amazon-Mitarbeiter waren die Atmosphäre und die 70-Stunden-Woche jedoch akzeptabel. Sie bildeten eine fröhliche Gruppe von Außenseitern, die glaubten, dass sie die Welt veränderten.

Shel Kaphan, der erste Angestellte von Amazon und verantwortlich für die Entwicklung der ursprünglichen Technologie hinter Amazon.com, kam von Kaleida, einem Joint Venture zwischen Apple und IBM. Er konnte zwar keinen klassischen Lebenslauf vorweisen – er hatte zehn Jahre gebraucht, um das College abzuschließen, zwischendurch allerdings auch bei einem MIT-Ableger gearbeitet –, aber er war auf jeden Fall ein hervorragender Entwickler. Kaphan fing bei Amazon an, als das Unternehmen noch aus der Garage von Bezos heraus operierte, zusammen mit einem britischen Programmierer namens Paul Davis, der 1994 nach einer Tätigkeit an der University of Washington zum Unternehmen kam.

Viele aus der ursprünglichen Belegschaft stammten aus der Gegend von Seattle, die Bands wie Nirvana und Pearl Jam hervorgebracht hatte. Daher war Grunge in den frühen 1990er Jahren die tonangebende Strömung. Flanellhemden, zerrissene Jeans und Piercings gehörten zum guten Ton.

Die ersten Mitarbeiter von Amazon pflegten einen eher unkonventionellen Lebensstil. Manche waren regelrechte Hippies, die sich für Musik und Kunst interessierten. Viele hatten in Universität und Wissenschaft gearbeitet. Einer war in der Forschung zum Klimawandel tätig gewesen. Ein anderer besaß einen Abschluss in kreativem Schreiben. Wieder ein anderer war Schreiner gewesen, bevor er eine leitende Position im Lager von Amazon erhielt. In den Nächten, in denen sie nicht bis in die Morgenstunden arbeiteten, besuchten viele das Crocodile, Seattles berühmten Rock-Nachtclub, in dem Bands wie R.E.M. auftraten.

Viele Mitarbeiter der ersten Stunde einte das gemeinsame Ziel, das Lesen zu demokratisieren. So dachte auch Jonathan Kochmer: »Leute wie ich sagten: ›Oh, ist das Internet nicht großartig für die Bildung? Man wird damit wunderbar jedes Buch für jeden auf der Welt verfügbar machen können.‹ Viele von uns frühen Amazonianern hatten überhaupt keine finanziellen Motive.« Er räumte jedoch ein, dass Bezos »absolut sicher war, dass sich damit enorm viel Geld verdienen ließ«.

Am 16. Juli 1995 ging Amazon.com an den Start. Die Website war nicht besonders hübsch anzuschauen. Sie war grau und blau, mit vielen klobigen Hyperlinks und seltsamen Schriftarten. Sie warb damit, »eine Million Titel zu konstant niedrigen Preisen« anbieten zu können.

Anfangs setzte man auf eine ziemlich plumpe Strategie. Amazon listete Titel von zwei der größten Buchhändler der USA auf: Ingram und Baker & Taylor. Wenn Kunden einen der dort angebotenen Titel bestellten, orderte Amazon ihn beim Händler, verpackte das Buch dann im eigenen Lager neu und lieferte es an den Kunden. Mit dieser sogenannten Asset-light-Strategie konnte das Start-up sein Konzept testen, ohne tonnenweise teure Lagerbestände zu halten. Die einzigen Artikel, die Amazon ständig auf Lager hatte, waren Bestseller, die stark nachgefragt wurden. Am Ende eines Arbeitstags kamen Bezos, MacKenzie und andere leitende Angestellte oft ins Lager, um den Mitarbeitern dabei zu helfen, die Bestellungen des Tages abzuarbeiten und sie zum Postamt zu bringen.

Durch den Wegfall der Gemeinkosten für Geschäfte und Ladenpersonal war Amazon in der Lage, seine Bücher zu niedrigeren Preisen anzubieten als physische Buchläden. Und Bezos’ Bauchgefühl in Bezug auf den Online-Handel erwies sich als goldrichtig. Die Entwicklung übertraf seine kühnsten Träume. Bereits in der ersten Woche nach dem Start verzeichnete Amazon einen Umsatz von 12 438 Dollar,[1] bis Ende 1995 waren es bereits 511 000 Dollar. »In den ersten Tagen hatten wir drei Szenarien: Low Case, Medium Case und High Case«, erinnert sich Hanauer, der fünf Jahre lang als Berater des Amazon-Boards fungierte. »Innerhalb weniger Monate nach dem Start waren wir über das High-Case-Szenario hinaus. Egal, wie ehrgeizig die Prognosen in unserer Planung und unseren Verkaufsunterlagen waren, wir lagen weit darüber.«

Ein Umstand, den das Unternehmen in seinem ersten Businessplan unterschätzt hatte, war die Zahl der eingehenden Telefonanrufe. Der E-Commerce steckte ja noch in den Kinderschuhen, und die Menschen hatten sich noch nicht daran gewöhnt, ihre Kreditkartennummern in den Computer einzugeben und darauf zu vertrauen, dass die Ware wenige Tage später bei ihnen eintreffen würde. Der Anwalt Todd Tarbert, der an der Gründung von Amazon beteiligt war und das Unternehmen in den ersten Jahren beriet, erinnert sich, dass die Kunden am Ende des Online-Einkaufs den Kundendienst anriefen und sagten: »Ich sehe, dass ich meine Kreditkartennummer angeben soll. Das ist mir nicht geheuer. Kann ich sie Ihnen am Telefon durchgeben?« Wenn man ihnen erklärt hatte, wie sie ihre Kreditkartendaten eingeben mussten, riefen sie den Kundendienst zurück, um zu überprüfen, ob ihre Bestellung eingegangen war. Es folgten weitere Anrufe von Kunden, die wissen wollten, wann die Bestellung denn nun einträfe.

Die ersten Mitarbeiter von Amazon kümmerten sich um das Unternehmen wie um ein schutzbedürftiges Kleinkind. Nach langen Arbeitstagen loggten sie sich nachts ein, um die Website zu überprüfen und sicherzustellen, dass sie voll funktionsfähig war. Wenn sie ein Problem entdeckten, fuhren sie mitten in der Nacht ins Büro, um es zu beheben. Ein ehemaliger Mitarbeiter sagte, die ersten Jahre nach dem Start der Website seien für ihn gewesen, als hätte er sich mit den Fingernägeln an der Bordwand eines Raketenschiffs festgehalten.

Es waren alle Hände voll zu tun, und jeder musste ein Alleskönner sein, um mitzuhalten. Bezos war ständig präsent und arbeitete mit seinen Angestellten zusammen. Eine Zeit lang herrschte eine kollegiale Atmosphäre: Beim Firmenpicknick saß Bezos sogar über einem Tauchbottich, während die Mitarbeiter mit Ballwürfen auf eine Zielscheibe versuchten, ihn zu versenken.

Bezos schien jedoch nicht dieselben langfristigen Ziele zu haben wie die Leute, die er zur Erprobung seiner Geschäftsidee eingestellt hatte, und selbst das Gefühl einer kollegialen Atmosphäre sollte sich bald als flüchtig erweisen. Eines Nachmittags unterhielten sich Kaphan und eine Handvoll anderer Mitarbeiter in den Büroräumen von Amazon mit Bezos, als dieser das Wort ergriff. »Das Problem mit euch ist, dass ihr keinen Killerinstinkt habt«, sagte er spöttisch. Die Äußerung war ein klarer Bruch mit der idealistischen Mentalität eines Großteils der damaligen Belegschaft und lieferte einen Einblick in die wahren Bestrebungen des ehemaligen Wall-Street-Managers. (Amazon bestritt, dass Bezos dies gesagt hat.)

Als Bezos beispielsweise nach einem Domain-Namen für sein Unternehmen suchte, ließ er zuerst Relentless.com registrieren (eine Website, die noch immer Amazon gehört und die zu Amazon.com weiterleitet), bevor er sich für »Amazon« entschied. Journalist Brad Stone zufolge wiesen Freunde Bezos darauf hin, dass »relentless« (»unermüdlich«, aber auch »unerbittlich« oder »unbarmherzig«) einen etwas finsteren Beiklang habe.[2] Als Namen für sein Unternehmen verwarf Bezos »Relentless« daher, aber der Drang, um jeden Preis zu gewinnen, lag in seiner Natur und war von Anfang an offensichtlich.

»Wir hatten definitiv keine Killermentalität«, sagt Davis, der zweite Angestellte von Amazon, über sich und einige andere Angehörige der ersten Angestelltengeneration, die an eine Mission glaubten. Davis war ebenfalls noch in Garagenzeiten zum Unternehmen gekommen und programmierte zusammen mit Kaphan dessen Website. Sowohl er als auch Kaphan hätten eine etwas idealistische Vorstellung von dem Unternehmen gehabt, für das sie arbeiteten, und davon, wie es seinen Kunden dienen sollte.

In den ersten Tagen nach dem Start der Website gingen zahlreiche E-Mails von Kunden aus dem ganzen Land ein, die sich bei Amazon bedankten. »Es ist großartig, dass Sie das machen, denn der Weg zum Buchladen ist für mich eine 200 Meilen lange Fahrt«, schrieben die Leute. Solche Mails las Davis sehr gerne.

Als die Plattform anlief und rasant Fahrt aufnahm, warf dies bei einigen der ersten Amazon-Mitarbeiter grundlegende Fragen auf. Innerhalb eines Monats gingen Bestellungen aus allen Bundesstaaten ein, und Davis nahm Bezos zur Seite.[3] Der Engländer war ein großer Büchernarr und besuchte in Seattle gern eine beliebte unabhängige Buchhandlung namens Elliott Bay, die seit 1973 eine Institution in der Stadt war.

»Was passiert, wenn das, was wir hier machen, zur Schließung von Elliott Bay führt?«, fragte er Bezos.

»Ich liebe Elliott Bay«, antwortete Bezos. »Läden wie Elliott Bay könnten wir niemals dichtmachen.« Davis erinnerte sich später, es sei schwer zu sagen, ob Bezos damals aufrichtig gewesen sei. Er vermute aber, Bezos habe geglaubt, was er sagte. »Ich denke, dass der Erfolg des Unternehmens ihn in gewisser Weise selbst überrascht hat.« (Dass es Elliott Bay immer noch gibt, ist ein Beweis dafür, wie sehr die Buchhandlung in Seattle geschätzt wird.)

Tatsächlich war Bezos vor dem Start skeptisch gewesen, ob die Kunden überhaupt kommen würden. »Wir hatten für den Anfang sehr geringe Erwartungen und dachten, dass es sehr lange dauern würde, bis sich die Verbrauchergewohnheiten an den Online-Einkauf anpassen würden«, sagte er.[4] Die bekanntesten Vergleichsobjekte für das, was Bezos langfristig erreichen wollte – den Leuten die Möglichkeit zu geben, alles von zu Hause aus zu kaufen, ohne sich vom Sofa erheben zu müssen –, waren der Sears-Katalog oder das Home Shopping Network. eBay ging 1995 an den Start, aber hier bestand das gesamte Geschäft aus Verkäufen von Mensch zu Mensch und ähnelte eher einem Online-Flohmarkt.

Davis verließ 1996 schließlich die Firma: »Einer der Hauptgründe für meinen Weggang war, dass ich bereits nach einem Jahr spürte, welche Unternehmenskultur Jeff aufbauen wollte. Wir konnten nur erfolgreich sein, wenn wir zugleich unglaublich schlau und rücksichtslos waren.« (Amazon bestreitet, dass die Kultur rücksichtslos ist.)

Im selben Jahr kam Scott Lipsky zu Amazon und wurde dort Vice President für Geschäftserweiterung. Er verbrachte viel Zeit mit Bezos, oft gingen die beiden gemeinsam zum Mittagessen, wo sie über die Arbeit und ihr Privatleben sprachen. Lipsky bezeichnete sich als Empath, also als jemand, der in der Lage ist, die Gefühle anderer Menschen zu lesen. Er erinnert sich, dass Bezos von dieser Fähigkeit äußerst fasziniert war.

»Jeff wusste, dass er selbst nicht empathisch war«, sagte Lipsky. »Er war ein visionärer und sehr zielstrebiger Firmenchef. Dabei hatte ich stets den Eindruck, ihn beschäftigte der Gedanke, dass es Menschen gab, die über die Fähigkeit verfügten, andere Menschen auf einer grundsätzlichen Ebene zu verstehen.«

Auch Hanauer sah Anzeichen für Bezos’ mangelndes Einfühlungsvermögen. Das Arbeitsklima in dem Start-up war nach wie vor extrem hektisch. Wenn man durch die Zentrale ging, erblickte man häufig Schlafsäcke, die unter die Schreibtische der Mitarbeiter gestopft waren. Kochmer erinnert sich an eine Phase, in der er das Büro einen ganzen Monat lang nicht verließ. Er schlief unter seinem Schreibtisch. Kay Dangaard, eine der ersten Pressesprecherinnen von Amazon, sagte, das ganze Gebäude sei ein einziges Gewusel gewesen, und die Programmierer hätten oft die Nacht dort verbracht: »Der Geruch war entsetzlich.«

Bei einem frühen Offsite-Meeting des Unternehmens erklärten die Mitarbeiter, dass sie ständig bis in den frühen Morgen arbeiteten und oft unter ihren Schreibtischen schliefen, um die Arbeitslast zu bewältigen. Wie sich Hanauer erinnert, beklagten sie sich unter anderem darüber, dass das Unternehmen nicht einmal die Kosten für eine Pizza übernehme, die um Mitternacht als Stärkung ins Büro geliefert werde. Bezos hörte sich die Beschwerden an, wies sie aber zurück. Ja, Bezos hatte eine Kultur der extremen Sparsamkeit eingeführt und beschlossen, Geld nur für Dinge auszugeben, die den Kunden zugutekamen. Doch diese Art von Pfennigfuchserei steckte hier nicht dahinter, sondern etwas anderes. »›Du hast Hunger, du bezahlst‹ – darum ging es«, sagte Hanauer, was zeigte, wie wenig Verständnis Bezos für ihre Situation hatte. »Ich war verblüfft und alle anderen auch.«

Dieser Mangel an Einfühlungsvermögen hielt jahrelang an und äußerte sich darin, dass Bezos Angestellte, die nach seinem Dafürhalten unvorbereitet oder der Aufgabe nicht gewachsen waren, in Meetings zurechtwies. »In der ersten Phase von Amazon betrachtete er das nicht als Abkanzelung«, sagte ein Mitglied des S-Teams. »Es ist für den Betroffenen in gewisser Weise sogar schlimmer, weil er denkt: ›Ich wurde gerade öffentlich als Vollidiot hingestellt.‹« Doch für Bezos ging es nur ums Geschäft. »Ich glaube nicht, dass Jeff jemals das Gefühl hatte, gemein zu jemandem zu sein. Er hatte einfach eine sehr niedrige Toleranzschwelle gegenüber Dummheit.«

Bezos’ Ehrgeiz sollte sich schon bald in großem Stil offenbaren. 1996 schossen die Verkaufszahlen von Amazon geradezu explosionsartig in die Höhe. Hatte das Unternehmen das Jahr mit etwa einem Dutzend Mitarbeiter begonnen, so stockte es bis zum Jahresende auf 150 auf, um die Bestellungen bearbeiten zu können.[5]

Da der Umsatz von Amazon raketengleich in die Höhe schoss, konnte Bezos zu seiner Begeisterung das Unternehmen an die Börse bringen. Das würde eine Finanzspritze für die eigenen Expansionspläne bringen und Bezos helfen, seinen Vorsprung vor den Buchhändlern zu halten – bei gleichzeitiger Steigerung der Aufmerksamkeit für die Unternehmenswebsite. Barnes & Noble, der größte Buchhandelskonzern der USA, bereitete gerade eine eigene Website für den Online-Verkauf von Büchern vor, und die Wall Street sah keinen Grund, warum andere Buchhändler wie Borders nicht nachziehen sollten. Ein Börsengang würde außerdem Mittel verfügbar machen, um bei anderen Produktkategorien als Büchern den Markt auf ähnliche Weise aufzumischen.

Amazon beauftragte Berater wie die Investmentbank Deutsche Morgan Grenfell und die Anwaltskanzleien Perkins CoieLLP und Wilson Sonsini Goodrich & Rosati damit, den Börsengang vorzubereiten. Die Berater gruben sich im Silicon Valley ein, um den Emissionsprospekt von Amazon zu erstellen. »Wir haben rund um die Uhr daran gearbeitet«, erinnert sich Charles Katz, der bei Perkins Coie der federführende Anwalt für den Börsengang von Amazon war. Bezos leitete die gesamte Angelegenheit penibel und prüfte jedes Detail des Prospekts.