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Zwei Schüler, die sich nicht leiden können, Drohbriefe mit Tierkadaver, dazu ein Familienerbe, dessen Blut wahrhaftig Luzifers Lenden entstammt! Noels Vorfreude auf seinen 18. Geburtstag verderben eingehende Drohbriefe mit animalischen Beigaben, die auf eine ablaufende Frist hinweisen. Gemeinsam mit seinen Brüdern und der anfänglich unliebsamen Klassenkameradin Lani, sucht er die Hintergründe für dieses Ultimatum, das in einer Zeit vor seiner Adoption zu finden ist. Sie stoßen auf ein Erbe, das Noel ausgerechnet durch einen Löwen sowie dem Anagramm auf seinen Vornamen zugetragen wird.
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Seitenzahl: 291
Veröffentlichungsjahr: 2020
Zur Story
Auch das noch! Ausgerechnet die oberschlaue Neue aus der Elften, muss Noel neben sich ertragen. Und weil der nervende Abi-Stress nicht ausreicht, stören auch noch Tierkadaver und seltsame Briefe, mit einer angeblich endenden Frist, das Leben auf dem Hof der Menzels.
Erschwerend kommt hinzu, dass Noels Bruder Dominik ausgerechnet Lani, die Neue, darauf ansetzt, in den Tiefen ihrer Vergangenheit zu graben. Doch Lani zeigt sich privat von einer ganz anderen Seite. Sie findet Hinweise in den Akten der adoptieren Menzel-Jungs, die erklären, dass die ablaufende Frist mit Noels 18. Geburtstag, dem 25. Dezember zusammenhängt. Plötzlich scheint das außerschulische Aufeinandertreffen von Noel und Lani einen schwerwiegenden Grund zu haben, für dessen Enthüllung ein Herr mit dem magischen Namen „Sir Luzifer“ einige interessante Details parat hat.
Autor:
Diana Hausmann wurde 1972 in der Pfalz geboren. Sie stammt aus Esthal, einem kleinen Ort unweit von Neustadt an der Weinstraße. Zwei Jahre vorm Millennium zog es sie in die Rhein-Neckar-Metropole Mannheim. Seither lebt sie dort mit ihrem Mann und dem gemeinsamen Sohn.
Donnerstag, 6. November
Freitag, 14. November
Sonntag, 16. November
Freitag, 5. Dezember
Samstag, 6. Dezember
Samstag, 6. Dezember
Sonntag, 7. Dezember
Sonntag, 7. Dezember – Am Abend
Freitag, 12. Dezember
Freitag, 12. Dezember – Früher Abend
Sonntag, 14. Dezember
Dienstag, 16. Dezember
Mittwoch, 17. Dezember
Freitag, 19. Dezember
Samstag, 20. Dezember
Mittwoch, 24. Dezember - am Morgen
Mittwoch, 24. Dezember – später Vormittag
Mittwoch, 24. Dezember – am Nachmittag
Mittwoch, 24. Dezember - kurz nach 18.00 Uhr
Mittwoch, 24. Dezember - 23:52 Uhr
Donnerstag, 25. Dezember – vor Tagesanbruch
Donnerstag, 25. Dezember - zur Mittagszeit
Donnerstag, 25. Dezember – eine Stunde später
Sechs Monate später - Dienstag, 30. Juni
„Rück mir doch nicht so auf die Pelle!“, zischt Lani leise. „Das nächste Mal fängst du dir eine Ohrfeige ein!“ Sie wirft ihrem Banknachbarn einen bösen Blick zu und schiebt ihn mit der Schulter auf seinen Platz zurück. „Kannst du nicht nachts pennen?“
Verdammt! So sehr sich Noel auch bemüht, die ersten beiden Schulstunden sind tagtäglich die reinste Quälerei. Ganz gleich, was er versucht, vor ein oder zwei Uhr in der Nacht wird er nicht müde. Entsprechend mies geht es ihm, wenn ihn morgens um Viertel nach sechs der Wecker aus dem Schlaf reißt.
„Sorry“, nuschelt Noel mit einem unterdrückten Gähnen.
Wieso musste der doofe Klassenprof auch unbedingt jemand neben ihn setzen? Die letzten Monate hatte er sein gelegentliches Wegdösen doch auch unkommentiert geduldet. Erst seit diese Möchtegern-High-Society-Schnepfe wegen angeblicher Hochbegabung eine Klasse übersprungen hat, steht sein Pult immer wieder im Rampenlicht der Lehrerbelegschaft. Lani war Ende des letzten Schuljahres von einem deutschen Internat bei London hierher nach Mannheim auf dieses staatliche Gymnasium gewechselt. Aus welchem Grund sie ausgerechnet hier gelandet ist, weiß Noel nicht, obendrein interessiert es ihn auch nicht. Auf jeden Fall hatte sie binnen weniger Wochen mit ihrem glamourösen Big-City-Äußeren die halbe Mädchenschar des Gymis auf ihrer Seite. Ihh – bäh! Kurz nach den Sommerferien trafen ihre Lehrer dann die Entscheidung, sie sei zu schlau und zu reif für die Elfte, und beförderten sie auf einem Silbertablett in die Abi-Abschlussklasse – direkt neben ihn. Im Gegensatz zu Lani, die in seiner Klasse mit Abstand die Jüngste ist, immerhin noch fünfzehn, gehört Noel zu den Ältesten. Nach einer eingelegten Ehrenrunde steht er nun kurz vor seinem achtzehnten Geburtstag. Genau genommen fehlen noch exakt sieben Wochen bis zu seiner Volljährigkeit, der er ungeduldig entgegenfiebert. Gegenwärtig gehört Noel in Sachen Schulleistung zum Mittelmaß, er geht aber davon aus, dass er sein Abi schon irgendwie packen wird.
Bis Noel heute zu Hause eintrifft ist es bereits nach 17:00 Uhr. Seine Mutter hatte ihm gleich nach dem Unterricht einen Arzttermin aufgehalst. Noch am Morgen hatte sie ihm eingebläut, er solle sich bloß unterstehen, den Kontrolltermin ein weiteres Mal sausen zu lassen. Genau dies hatte er nämlich vor knapp zwei Monaten getan, an dem Tag, an dem der eigentliche Check-up seiner rechten Hand hätte stattfinden sollen. Eine lästige Angelegenheit, diese jährliche Untersuchung, der meist zwei Tage Schmerzen vom übermäßigen Daran-Herumdrücken folgen. Und dem Ziehen nach zu urteilen, das er bereits wieder verspürt, steht ihm das auch diesmal bevor.
„Na, was sagt der Doc?“
Noel zuckt erschrocken zusammen, da er gar nicht mitbekommen hat, wie seine Mutter die Treppe heraufgekommen ist, was ungewöhnlich ist. Meist hört er jeden schon aus weiter Entfernung!
„Beweglichkeit zufriedenstellend, Narbengewebe unauffällig, Sport weiterhin auf die bekannten Aktivitäten begrenzt“, gibt Noel genervt Auskunft.
Es sind immer dieselben Worte, die er nun schon seit zwei Jahren hört. Eine Diagnose, die ihm zum Halse heraushängt, da sie ihn seither daran hindert, seiner größten Leidenschaft nachzugehen. Bis zu seinem Unfall, vor etwas mehr als zwei Jahren, war Noel ein begeisterter und für sein Alter recht guter Freeclimber. Wahrscheinlich gibt es im Radius von 200 Kilometern keine Kletterwand, in- wie outdoor, die sie nicht schon in Angriff genommen haben – er und sein Bruder Dominik. Nach dem Unfall hatte Noel seinen Bruder anfänglich noch bei dessen Klettertouren begleitet und gelegentlich traurigen Blickes den Sicherungspart übernommen. Im letzten Jahr war er jedoch immer seltener mitgefahren, was nicht zuletzt daran lag, dass sich Dominik kaum noch Zeit für seinen Sport nahm, oder nehmen wollte. Seine Prioritäten seien gegenwärtig anders gewichtet, so geschwollen hatte er sich zuletzt ausgelassen. Innerlich schüttelt Noel den Kopf über diese bescheuerte Ausrede.
„Hey, lass dich nicht hängen“, versucht seine Mama ihn zu trösten. „Du sagst doch selbst, dass Motorik und Muskelaufbau voranschreiten.“
Beschwichtigend tätschelt sie ihm die Schulter, was prompt Wirkung zeigt. Diese Geste zaubert Noel stets ein Grinsen ins Gesicht, da er es urkomisch findet, dass sich seine Mutter inzwischen nahezu strecken muss, um ihre Hand auf seine Schulter zu legen. Okay – ganz so schlimm ist es nicht. Aber immerhin sieht es lustig aus, wenn sie mit ihren 1,58 Metern seinen nun 1,84 Metern gegenübersteht. Dazu kann sie sich mit ihrer schmächtigen Porzellanfigur, wie er es immer nennt, vollends hinter seiner eigenen Statur verbergen. Man könnte sie in der Tat übersehen, kombinierte sie ihre Erscheinung nicht mit einem zwar ruhigen, aber dennoch Respekt einflößenden Auftreten. Für Noel ist seine Mama einfach genial, zumindest solange sie ihn nicht mit nervenden Terminen und scheußlichem Zusatzlernstoff drangsaliert.
„In einer halben Stunde gibt es Abendessen, außerdem tagt der Familienrat!“, verkündet sie plötzlich und dreht sich lächelnd zur Treppe um.
„Aha!“, stöhnt Noel. „Was gibt’s denn?“, erkundigt er sich noch, während seine Mutter bereits die Stufen hinuntertänzelt.
„Zum Abendessen: Nudelauflauf“, kontert sie kichernd. „Alles Weitere erfährst du in einer halben Stunde.“
„Sind wir vollzählig?“, ruft er ihr abermals laut durchs Treppenhaus hinterher.
Mama Nina zögert auf der untersten Stufe, neigt den Kopf, dann dreht sie sich um und schaut nach oben.
„Nein, Noel“, antwortet sie ruhig. „Heute nicht.“
Sie wartet einen Moment, um ihm Zeit für eine Reaktion zu geben. Diese bleibt jedoch aus. Stattdessen steht er mit hängenden Schultern und einem verdatterten Gesicht auf der obersten Sprosse, kurz darauf läuft er schweigend davon.
„Armer Kerl“, bedauert sie ihn leise. „Hoffentlich legt sich das bald.“
Wenn im Hause Menzel der Familienrat tagt, steht meistens Familienzuwachs oder eine offizielle Verabschiedung an. Dass ein solches Ereignis in dieser eigenwilligen Familie häufiger auf die Tagesordnung kommt, als es in den meisten Familien dieser Gegend der Fall ist, liegt daran, dass nur eine begrenzte Anzahl der Menzel-Kinder auf Dauer vor Ort verbleibt. Die Menzels sind eine von vielen Pflege- und Auffangfamilien der Stadt Mannheim. Das erste Pflegekind kam bereits vor achtzehn Jahren, als vierjähriges Kind. Es blieb ebenso in der Familie wie das zweite, das nur sechs Monate später, als knapp einjähriges Kleinkind dazugestoßen war. Diese beiden Jungs durfte das Ehepaar Menzel adoptieren, was allen folgenden Kindern nicht vergönnt war. Im Falle der ersten beiden Buben sind die leiblichen Eltern den Behörden zwar angeblich bekannt, dennoch verweigerten sie, mit Übergabe der Kinder ans Mannheimer Jugendamt, jeglichen weiteren Kontakt und gaben sie gleichzeitig zur Adoption frei.
Aktuell zählen, außer dem Ehepaar Menzel selbst, drei Jungs und ein Mädchen zur Familie, was durchaus wenig ist. Das Höchstmaß erreichte die Familie vor zwei Jahren. Derzeit saßen für die Dauer von fünf Monaten sieben Kinder am Tisch der Menzels, wobei vier davon keine drei Jahre alt waren und recht schnell in andere Familien zur dauerhaften Obhut vermittelt wurden.
Knapp vier Stunden später liegt Noel mit dem Kopfhörer auf seinem Bett und starrt im Halbdunkeln zur Decke. Der von seiner Mutter angekündigte Familienrat hatte heute in der Tat etwas Neues zu berichten oder besser zu besprechen. Allerdings handelte es sich um etwas, das Noel im Augenblick eher nachrangig betrifft. Pas Arbeitgeber schickt ihn mal wieder für einen längeren Zeitraum ins Ausland. Dies kam in den vergangenen Jahren schon des Öfteren vor. Thomas Menzel ist als Ingenieur bei einem weltweit agierenden Elektronikkonzern tätig und wird regelmäßig für mehrere Monate am Stück beim Aufbau neuer Standorte in den abgelegensten Teilen dieser Erde eingesetzt. Auf diese Arbeitsweise hat sich inzwischen die ganze Familie eingestellt und die wirklich Leidtragenden sind im Grunde das Menzel-Ehepaar selbst. Noel bewundert, wie seine Eltern miteinander umgehen. Auf ihn erwecken sie meist den Eindruck, als dauere die rosarote Phase der Verliebtheit nun schon vierundzwanzig Jahre an. So lange sind die zwei nämlich ein Paar, was Noel bei der heutigen Scheidungsrate absolut beeindruckend findet. Ihm ist bekannt, dass allein zwei Drittel seiner Klassenkameraden in Scheidungsfamilien überwiegend bei einem Elternteil oder in einer sogenannten Patchworkfamilie leben. Genau genommen trifft dies auch auf ihn zu, wenn man bedenkt, dass er selbst im Alter von einem Jahr von den Menzels adoptiert wurde.
„Das heißt, wir können an Weihnachten den Kamin befeuern, ohne deine Überraschungspakete durch den Schlot zu rauchen?“
So hatte Henry auf die Ankündigung des Treffens am heutigen Abend reagiert. Leider zu Recht, wie alle noch gut vom letzten Jahr in Erinnerung haben. Vergangenes Weihnachten hatte sich beißender Qualm und Gestank im Wohnzimmer ausgebreitet, der binnen Minuten die Feuerwehr anrücken ließ. Noel grinst bei dem Gedanken an die beinahe gelangweilte Tonlage seines kleinen Bruders. Henry ist vierzehn und lebt seit sechs Jahren als Langzeitpflegekind bei den Menzels. Noel mag Henrys ungeschminkte, nach außen oft prahlerisch wirkende Art. Dabei weiß er, dass Henry, mit seiner großen Klappe, nur seine eigene Unsicherheit zu überspielen versucht, zumindest Fremden oder Gleichaltrigen gegenüber.
„Wenn du es so nennen willst“, hatte Papa Thomas schmunzelnd erwidert.
Ansonsten hatten sich die Reaktionen auf die vorübergehende Reduzierung des Familienstamms in Grenzen gehalten. Noel hatte mit der Schulter gezuckt, Henry mal wieder mürrisch gebrummt und das jüngste Familienmitglied weiter seinen Brei abgeschmatzt. Die kleine Kathrin ist erst vierzehn Monate alt und wird bis zum Frühjahr ohnehin nicht mehr hier sein.
Die Menzels leben im kleinsten und ländlichsten Ortsteil Mannheims, wobei die Häuseransammlung wohl eher den Titel „winzig“ verdient. Dennoch gehört der Familie hier ein Anwesen, um dessen Größe und Weitläufigkeit Noel von einigen seiner Kumpels und Schulkameraden beneidet wird, auch wenn sie dies selten offen zugeben. Das Areal ist ein Gehöft, das mehrere Gebäude sowie einen großen Innenhof einschließt. Das Gut, auf dem Ninas Großeltern einst Landwirtschaft betrieben, wurde an die Enkelin weitervererbt, die es seither anderweitig nutzt. Eine der ehemaligen Scheunen, die unmittelbar dem Haupthaus gegenüberliegt, wurde zum Arbeits- und erweiterten Wohntrakt umgebaut. Ninas Büro liegt im Erdgeschoss. Die Zimmer darüber erreicht man über eine breite Treppe, die sich nach beiden Seiten zu einer Galerie öffnet, der sich sechs Räume anschließen: vier Jugendzimmer und zwei Bäder. Außerdem beherbergt die Galerie einen gemütlichen Wohnbereich, der mit einem großen Ecksofa und passenden Sesseln sämtliche Bewohner dieses Gebäudes zum Abhängen einlädt. An manchen Tagen kann Noel sein Glück, ausgerechnet in dieser Familie gelandet zu sein, nicht fassen. Und dies, obgleich er von den Verhältnissen, aus denen er ursprünglich stammt, nur einzelne Bilder und die Erzählungen seines älteren leiblichen Bruders kennt.
„Hey! Pst!“
Das leise Rufen registriert Noel nur vage. Der Tritt gegen sein Schienbein hingegen befördert ihn schmerzhaft in die Realität zurück.
„Aufwachen, du Penner!“
Noel blinzelt und knurrt etwas Unverständliches. Das Englisch-Testblatt erscheint so dicht vor seiner Nase, dass er es sich verkneift, sich lautstark über den Hieb gegen sein Bein zu beschweren. Stattdessen räuspert er sich und kämpft gegen den Drang zu gähnen an. Beiläufig hebt er den Kopf ein Stück an und wirft einen Blick auf die Uhr, die über der Klassenzimmertür hängt. Verdammter Mist! In zehn Minuten ist die Stunde zu Ende. Genauer gesagt, in zehn Minuten ist die Zeit für die Englischklausur zu Ende. Noel würde sich am liebsten selbst ohrfeigen. Wie soll er in der kurzen Zeit noch eine halbwegs anständige Arbeit abliefern? Was nützt es, tagelang den Stoff zu büffeln, wenn er nicht fähig ist, bei einem Test in den ersten beiden Schulstunden die Augen offenzuhalten.
„Shit!“, zischt er, beißt die Zähne zusammen und versucht, bestmöglich Schadensbegrenzung zu betreiben.
Als Noel sich Sekunden nach dem Klingelton erhebt, um sein halb ausgefülltes Testblatt abzugeben, knurrt er ein widerwilliges „Danke!“
Lani packt gerade ihre Unterlagen in den Rucksack. Sie hat ihre Arbeit bereits fünf Minuten zuvor beendet.
„Vielleicht solltest du es mal mit einem starken Kaffee probieren“, kommentiert sie Noels zerknitterten Gesichtsausdruck, als er zu seinem Platz zurückkehrt und ebenfalls seine Sachen zusammennimmt.
Er schenkt ihr ein kurzes, unverkennbar aufgesetztes Grinsen, dann hievt er seine Tasche über die Schulter und verlässt den Schulsaal. In der Pause steht er mit einigen Klassenkameraden zusammen, denen sein wiederholtes Wegnicken auch nicht entgangen ist.
„Du solltest deinem schicken Fifi den Befehl erteilen, dir alle fünf Minuten liebreizend ins Ohr zu säuseln“, stichelt Vicki mit einem Kopfrucken den Flur entlang. „Vielleicht hält dich das ja wach.“
Vickis Stichelei zielt eindeutig auf seine Banknachbarin Lani ab. Im Gegensatz zu den schwärmenden Mädels der unteren Klassenstufe, in der Lani zu Beginn des Schuljahres ihrem Jahrgang entsprechend eingestuft worden war, trifft sie in der jetzigen Zwölften nicht sonderlich auf liebreizenden Zuspruch. Speziell die Damenwelt der Gymi-Abschlussstufe bringt ihr überwiegend Feindseligkeit entgegen, was so viel bedeutet, dass der Klassenneuzugang vorwiegend als Einzelgängerin ihr tägliches Schulpensum bestreitet.
Noels Blick liegt einen Moment lang auf seiner einige Meter entfernt stehenden Banknachbarin. Sie hat ihn heute zum wiederholten Mal aufgerüttelt und somit seinen völligen Untergang bei der Englisch-Klausur verhindert. Wahrscheinlich sollte er allein aus diesem Grund ein paar Worte mehr als das brummende „Moin“ am Morgen und das davonwehende „Tschau“ am Nachmittag mit ihr wechseln. Wenn sie sich nur nicht immer so komisch benehmen würde! Sobald sie etwas anfasst oder einen Stift in die Hand nimmt, sieht es stets aus, als hätte sie Angst, sich mit einer ansteckenden Krankheit zu infizieren. Dazu bewegt sie sich ziemlich steif und guckt permanent eingeschüchtert zu Boden. Wer will denn mit so einer schon etwas zu tun haben? Wenigstens riecht sie nicht so penetrant nach billigem Parfum wie der Rest seiner Mitschülerinnen. Statt beißend süßem Kunstblumenaroma weht ihm von ihrer Bankseite lediglich ein angenehm frischer Duschduft in die Nase.
Noel verzieht das Gesicht und schüttelt den Kopf über sein bescheuertes Grübeln. Ihm kann es doch egal sein. Die verbleibenden Monate in diesem Schulbunker wird er auch noch überstehen. Er hat sich vorgenommen, sich in den Weihnachtsferien so viel Lernstoff einzuverleiben, wie er irgendwie aufnehmen kann. Obwohl er nicht vorhat, sich nach dem Gymnasium einer Akademikerlaufbahn zu widmen, so will er seinen Abschluss mit einem halbwegs anständigen Schnitt erreichen. Alles Weitere blendet er gegenwärtig ebenso aus wie das unnötige Geschwätz seiner Klassenkameraden.
„Du zockst zu lange!“ Dominik lehnt hämisch grinsend an seinem Wagen, als Noel nach der letzten Stunde schlürfenden Schrittes aus dem Schulgebäude kommt.
„Ich werde meinem Bruder ausrichten, dass er ab sofort seinen Mitspieler entbehren muss!“, kontert Noel gehässig. Er läuft geradewegs auf Dominik zu und schlägt fest in dessen auffordernde Hand ein. „Wieso bist du hier?“, erkundigt er sich und sieht seinem älteren Bruder durchdringend in die Augen.
„Nur so“, tut der es schulterzuckend ab. „Habe heute keine Vorlesung, da dachte ich …“
„… du könntest mich abholen und anschließend bei Mama den Kühlschrank plündern“, nimmt Noel ihm die Antwort ab, da ihm klar ist, dass Dominiks Gestotter ein Ausweichmanöver ist.
„Ähm … nicht ganz“, stammelt Dominik weiter, was Noel noch hellhöriger macht. „Also, ich habe gestern mit Mama telefoniert, wegen meines Zimmers …“
Noel neigt den Kopf und beäugt Dominik kritisch. Doch ihr Gespräch wird unterbrochen, da weitere Schüler, die außer Noel auch seinen Bruder kennen, sich im Vorbeigehen mit ein paar kumpelhaften Zwischenrufen und Schulterklopfen einmischen. Während Dominik sich mit aufgesetztem Lächeln einem raschen Wortwechsel hingibt, linst Noel über dessen Schulter, durch die Seitenscheibe, ins Innere von Dominiks altem Mini Cooper. Er wartet, bis sein Bruder die Unterhaltung beendet hat, dann lugt er erneut ins Innere des Kleinwagens, diesmal auffällig, damit es Dominik auf keinen Fall entgeht. Außerdem tippt er ihm mit spitzem Zeigefinger an die Schulter, um dann in den beengten Fond des kleinen Wagens zu deuten.
„Pennst du seit Neuestem in deiner Karre?“, sagt er bissig. „Hat dich deine liebe Mausi rausgeschmissen oder biste selbst dahintergekommen, dass ihr Gehirn im Ausschnitt vergraben ist?“
Noel kann nicht verbergen, dass er über Dominiks plötzlichen Auszug von Zuhause, der mehr oder weniger in einer Nacht- und Nebel-Aktion erfolgt war, noch immer enttäuscht ist. Bis vor wenigen Monaten waren die beiden ein Herz und eine Seele, hatten alles miteinander besprochen, bevor etwas entschieden wurde. Aber als Noel an einem Freitagabend plötzlich in dem halb leergeräumten Zimmer seines Bruders stand und von seiner Mutter erfahren musste, Dominik habe seine Zelte in der Wohnung seiner neuen Freundin aufgeschlagen, hatte er das Gefühl, als sei er gegen eine Wand gelaufen. Obendrein meldete Dominik sich in den folgenden Wochen kaum. Selbst das gemeinsame Training ließ er permanent ausfallen. Somit hatte sich der Kontakt zwischen den Brüdern in den letzten Wochen auf ihre Onlinespiele beschränkt, die meist mitten in der Nacht stattfanden und Noel nie Gelegenheit für eine Aussprache lieferten.
„Ich habe Mama angerufen, weil ich wissen wollte, ob ich mein altes Zimmer wiederhaben kann“, brummt Dominik kleinlaut. Allmählich legt sich sein verlegenes Rumdrucksen und er sieht seinem Bruder, der sich absichtlich steif vor ihm aufgebaut hat, direkt in die Augen. „Sie meinte, es sei unverändert und dass ich jederzeit wieder heimkommen könne – vorausgesetzt …“ Dominik zögert erneut, da er auf eine Reaktion von Noel wartet.
„Vorausgesetzt?“, knurrt Noel, da ihm Dominiks Erklärung inzwischen zu lange dauert.
„Vorausgesetzt“, wiederholt Dominik und beugt sich bis auf wenige Zentimeter zu seinem Bruder vor, „du rückst den Schlüssel zum Aufschließen heraus!“
Einen kurzen Augenblick starren sich die Brüder grimmig an, dann zucken ihre Mundwinkel und beide lachen los.
„Wo ist der Rest?“ Sobald die beiden im Wagen sitzen, deutet Noel auf Dominiks Habseligkeiten auf der Rückbank.
„Kein Rest“, erklärt Dominik, bemerkt aber, dass Noels Aufmerksamkeit gerade von einer Person abgelenkt wird, die eiligen Schrittes auf einen Wagen zusteuert, der am gegenüberliegenden Straßenrand geparkt ist. Dominik folgt Noels Blick und erkennt ein schmächtiges Mädchen mit streng zurückgebundenen Haaren. Sobald sie sich dem Fahrzeug nähert, geht die Fahrertür auf und ein Mann in schwarzem Anzug, Hemd und Krawatte steigt aus, der ihr die hintere Tür zum Einsteigen aufhält.
„Schicker Wagen“, honoriert Dominik die schwarze Mercedes-Limousine. „Kennst du die?“
Noel nickt, ohne den Blick abzuwenden. „Meine aufgezwungene Banknachbarin“, murmelt er, während sich die S-Klasse in den Verkehr einfädelt und davonfährt.
„Wirkt ein bisschen steif, die Kleine“, grinst Dominik und ahmt den etwas ungelenken Gang der zierlichen Person mit einem Kopfwackeln nach.
„Von mir aus kann sie einen Stock verschluckt haben“, murmelt Noel und winkt ab. „Solange sie mich nicht vollquatscht“, in Gedanken schiebt er ein ‚und während der Klausuren wachhält‘ ein, „kann sie bleiben, wo sie ist.“
Als die Brüder in den Hof der Menzels einbiegen, springt ihnen sofort der Geschäftswagen ihres Vaters ins Auge, eine silberne BMW-Limousine mit dem ortsfremden Kennzeichen seines Arbeitgebers. Noel runzelt die Stirn und auch Dominik stutzt, als er seinen Mini daneben parkt.
„Komische Uhrzeit, findest du nicht?“, bemerkt Noel, während er aussteigt.
Thomas Menzels Wagen an einem Werktag vor 18:00 Uhr zu Hause vorzufinden kann im Grunde nur bedeuten, dass er entweder krank ist, was in den vergangenen zehn Jahren nicht einmal vorgekommen ist, oder dass er sich für längere Zeit geschäftlich im Ausland aufhält. Zwar steht eine solche Reise mal wieder kurz bevor, die Abreise soll jedoch erst in ein paar Tagen erfolgen.
„Vielleicht hat er einen halben Tag Urlaub!“, mutmaßt Dominik, worauf beide lachend die Köpfe schütteln. Bei Papa Menzel gibt es keine halben Sachen, auch nicht in der Freizeit.
Da auf dem Hof gerade niemand zu entdecken ist, dazu Mama Menzels Familienkutsche fehlt, entscheiden die Jungs, sich vorerst in ihre eigenen Räume zurückzuziehen. Bepackt mit Dominiks Kleidertüten, einer großen Sporttasche und Noels Schulrucksack, halten sie direkten Weges auf die alte Scheune zu.
„Oh, perfekt! Ihr kommt gerade richtig“, hallt ihnen die Stimme ihres Vaters entgegen, sobald sie den großen Eingangsraum betreten haben.
Überrascht sehen sich die Jungs um und entdecken Thomas Menzel auf der Galerie, vor den Türen ihrer Zimmer. Dazu ist er nicht allein! Er unterhält sich angeregt mit einem Mann, der mehrfach nickt, dann selbst ein paar Worte murmelt. Hiernach kommen beide die breite Treppe herunter. Herr Menzel begleitet seinen Gast zur Tür und verabschiedet ihn mit einem Handschlag.
„Ich bin froh, euch allein anzutreffen“, richtet sich Thomas nun an seine Söhne, wobei er sich leicht nervös die Hände reibt, als er auf sie zugeht. „Als Nina gestern Abend erwähnte, dass du Noel abholst und mit hierherkommst“, wendet er sich Dominik zu, „wollte ich die Gelegenheit nutzen, eine wichtige Angelegenheit mit euch zu besprechen.“
Mit einer auffordernden Geste bittet er die Jungs, auf der Sitzgruppe in Ninas Büro Platz zu nehmen. Noel wirft seinem Bruder einen fragenden Blick zu, während sich ihr Vater räuspernd ihnen gegenüber hinsetzt.
„Ich habe eine Bitte an euch“, beginnt er zögernd. „Allerdings benötige ich danach eure umgehende Antwort, daher – nun, es ist sehr wichtig – für mich“, verdeutlicht er unruhig.
Noel wird flau im Magen. Er kann sich nicht erinnern, seinen Vater schon einmal so fahrig erlebt zu haben. Binnen Sekunden rauschen ihm die schlimmsten Dinge durch den Sinn. Ob etwas passiert ist? Aber mit wem? Vielleicht geht er ja gar nicht auf Geschäftsreise, sondern zieht aus? Entsetzt wandert sein Blick von seinem Pa zu Dominik und zurück. Noel ist sich sicher, dass seinem Bruder das Gestammel ihres Vaters ebenso unerklärlich ist. Dennoch sitzt er ruhig da und mustert ihn mit kritischem Blick.
„Worum geht’s?“, fordert Dominik seinen Vater zum Weiterreden auf.
„Nun, in erster Linie geht es um die Zeit, in der ich in Asien sein werde.“
Noel atmet erleichtert auf. Ein Auszug samt Scheidungskrieg scheint also nicht bevorzustehen.
“Worum geht es genau?“, bohrt Dominik nach.
„Ihr sollt auf Nina achten und sie bei ihrer Arbeit etwas …“
„Haust du für immer ab?“, poltert Noel dazwischen. Er ist aufgesprungen und keucht vor Aufregung.
„Nein, tut er nicht“, brummt Dominik auffällig gelassen. Ohne den Blick von seinem Vater abzuwenden drückt er Noel auf seinen Platz zurück.
„Nein, Noel“, schnaubt Thomas und schüttelt matt lächelnd den Kopf. „Keine Sorge, außer auf diese nicht mehr geplante Geschäftsreise gehe ich nirgends hin.“
„Was meinst du damit?“, hakt Noel nun kleinlauter nach.
Seufzend erhebt sich Thomas und beginnt unter den wachen Blicken seiner Söhne im Raum umherzuwandern.
„Den Einsatz in Asien hätte eigentlich ein anderer Kollege übernehmen sollen. Bereits vor einem halben Jahr habe ich meine Verfügbarkeit für solche Aufenthalte auf ein Minimum, genauer gesagt auf reine Kurzeinsätze von höchstens ein bis zwei Wochen, beschränkt. Dieses Gesuch wurde meinerseits sowohl schriftlich als auch persönlich an entsprechender Stelle im Konzern vorgetragen“, berichtet er sachlich, wodurch er allmählich ruhiger wird. „Meinem Wunsch wurde entsprochen und ich erhielt umgehend eine Zusage. Ich habe euch oft genug und viel zu lange allein gelassen, ebenso eure Mutter.“ Verlegen lächelnd sieht er sich zu seinen Jungs um, als bitte er nachträglich um ihr Verständnis.
„Du hast uns nie hängen lassen“, versichert Dominik rasch.
„Dass es nun doch zu diesem Arbeitseinsatz in Asien kommt, liegt daran, dass der dafür vorgesehene Kollege ein in der Tat schwieriges Unterfangen innerhalb seiner Familie hat“, redet Thomas Menzel weiter. „Er kam dieses Frühjahr erst von einem mehrjährigen Auslandsaufenthalt zurück, der ebenfalls seitens des Konzerns erfolgte. Leider weigerte sich seine Frau, die er vor Ort kennenlernte, hierher umzuziehen. Dafür bestand sie aber darauf, dass ihr gemeinsames Kind ihn nach Deutschland begleitet, da es vor Ort ohnehin vorwiegend deutsch erzogen wurde und auf eine deutsche Schule ging. Wie auch immer“, winkt Thomas ab. „Da das Kind minderjährig ist und kein Erziehungsberechtigter verfügbar zu sein scheint, wurde mein Kollege von dem Auftrag abgezogen. Und in dieser kurzen Zeit war niemand mit den nötigen Kenntnissen in diesem Bereich abkömmlich. Ich kenne Friedrich, wir haben gemeinsam unser Studium bestritten. Er wäre für diesen Auftrag perfekt gewesen.“
Erneut winkt er ab und kommt zurück zur Polstergruppe, auf der seine Söhne sitzen.
„Ich schweife ab“, sagt er müde und sinkt zurück auf einen der Sessel. „Um endlich auf den Punkt zu kommen, ich habe ein Angebot für euch und gleichzeitig bitte ich euch um Hilfe!“
Noch einmal unterbricht er sich und atmet tief durch. „Eure Mama und ich haben entschieden, dass, sobald unsere Kathrin zu ihren Dauerpflegeeltern kommt, unser Bereitschaftselterndienst endet. Somit wird nur noch Henry bei uns bleiben. Ihr wisst selbst, wie schwer es jedes Mal ist, wenn nach kurzer oder auch längerer Betreuungszeit der Abschied bevorsteht. Nina schafft das nicht mehr, und ich auch nicht. Davon abgesehen hat sich das kleine Nebengeschäft eurer Mutter inzwischen derart herumgesprochen, dass sie bereits Anfragen ablehnen muss, um Doppelbuchungen zu vermeiden. Somit nun mein Angebot und meine Bitte: Dominik, da du dich wieder häuslich bei uns einrichtest“, neckt er seinen ältesten Adoptivsohn, „biete ich euch dies hier als reine Jungs-WG an.“ Thomas‘ Zeigefinger schnellt belehrend in die Höhe, da ihm die plötzlich strahlenden Augen seiner Jungs nicht entgehen. „Natürlich sind diverse Auflagen damit verbunden, die in jeder anderen Wohngemeinschaft ebenfalls auf euch zukommen würden.“
„Raus mit der Sprache!“, fordert Noel grinsend.
„Du wirst uns sicher nicht dazu verpflichten, die alte Bauernwirtschaft wieder in Betrieb zu nehmen“, neckt Dominik mit gleicher Euphorie.
Die Anspielung auf Papa Thomas‘ handwerkliches Geschick, landwirtschaftliche und häusliche Arbeiten betreffend, zeigt unverzüglich Wirkung, denn alle drei lachen lauthals los. Seit die Menzel-Eltern ein Paar sind, herrscht eine strikte Trennung der familiären Tätigkeiten. Thomas nimmt sich jedem filigranen, technischen und zu planenden Detail an. Ebenso fällt ihm die komplette Kinderversorgung spielerisch leicht. Sobald es jedoch darum geht, den sprichwörtlichen Nagel in die Wand zu schlagen, greift Nina ein, bevor die Ambulanz anrollen muss. Seltsamerweise trennen diese Fähigkeiten auch die beiden Brüder, obgleich dies hier nicht ganz so gravierend ausgeprägt ist wie bei ihren Adoptiveltern. Dominik ist ein Theoretiker und Denker, dem schon zu Schulzeiten ein rasches Überfliegen des Lernstoffes genügte, um sämtliche Klausuren mit beneidenswerten Ergebnissen zu absolvieren. Ähnlich bestreitet er nun auch sein Jurastudium. Noel hingegen bewerkstelligt den Schulstoff nicht ganz so locker. Hinzu kommt, dass er bisher nur eine vage Vorstellung von dem hat, was nach Abi-Abschluss auf seinem gewünschten Richtungsplan stehen soll. Seine Mutter behauptet jedoch, er sei der ideale Kandidat, um in ihre kreativen und organisatorischen Fußstapfen zu treten. Was gewiss nicht das Schlechteste wäre, wenn man bedenkt, dass ihr anfängliches Hobby sich inzwischen zu einem gut florierenden Unternehmen gemausert hat.
„Mein Anliegen ist simpel“, beginnt Thomas, sobald sie sich wieder ernster gegenübersitzen. „Der komplette obere Bereich“, verdeutlichend zeigt er zur Galerie hinauf, „steht euch zukünftig als abgeschlossene Wohnung zur Verfügung. Herr Preis, der eben noch hier war, ist Architekt. Er würde sich darum kümmern, dass eines der Badezimmer binnen Kürze zu einer Küche umgebaut wird. Ninas Büro“, sein Zeigefinger kreist über den unteren Teil der alten Scheune, in dem sie sich gerade aufhalten, „käme ins Haupthaus hinüber. Somit bestünde eure Behausung aus vier großen Zimmern sowie Bad und Küche auf der Galerie, dazu käme der riesige offene Wohnraum hier unten.“ Thomas geniest die strahlenden Gesichter seiner Jungs, die er für sein Vorhaben längst gewonnen hat. „Alles in allem also schlappe 163 m2für euch allein!“ Er zögert und neigt leicht den Kopf.
Während Noel bereits begeistert die Arme hochreißt, reagiert Dominik wie erwartet besonnener, obgleich auch er breit grinst. Ihm ist anzusehen, dass er in Gedanken rechnet und den Haken an der Sache sucht.
„Lass ihn zu Ende reden!“, bremst Dominik seinen jüngeren Bruder. „Mit Mama ist doch alles in Ordnung, oder?“, richtet er sich nun mit besorgter Miene an seinen Vater. Noel verstummt schlagartig, da ihm Dominiks Frage beinahe die Luft abschnürt.
„Natürlich!“, versichert Thomas eilig. „Wie gesagt, meine Bitte an euch dient allein meiner eigenen Beruhigung. Ich will nicht, dass Nina die kommenden Monate den Kraftakt, den kompletten Hof samt Familie und Unternehmen unter einen Hut zu bringen, im Alleingang bewerkstelligen muss.“
„Und wie genau stellst du dir unsere Hilfe oder die zu erfüllenden Pflichten für unsere Männer-Bleibe vor?“, stochert Dominik weiter.
„Was dich betrifft …“ Der Hausherr wendet sich nun direkt an seinen Ältesten. „Von Aktionen, wie deinen spontanen Einfall, dich sang- und klanglos zu deiner gerade aktuellen Liebelei zu verabschieden, solltest du vorerst absehen! Das Gleiche gilt für permanent wechselnde Übernachtungsgäste, die du statt auf die Gästecouch lieber in dein Bett einlädst.“
Thomas‘ plötzlich scharfer Ton verdeutlicht, dass die gerade abgehakte Liaison und die Art und Weise, wie Dominik seine Sachen gepackt hatte, nicht nur Noel sauer aufgestoßen waren. Der Rüffel scheint angekommen zu sein, denn Dominik stimmt mit einem reumütigen Nicken zu.
„Ansonsten übernehmt ihr sämtliche Aufgaben, die auf dem Hof über Winter anfallen“, legt Thomas seine Bedingungen fest. „Ihr sorgt dafür, dass alles tipptopp ist. Nina kümmert sich um das Haupthaus sowie um die angesetzten Veranstaltungen, die sich in der Vorweihnachtszeit natürlich lückenlos aneinanderreihen. Der Innenhof und die beiden Ausstellungsscheunen sind kaum einen Tag unbelegt. Daher muss permanent alles technisch überprüft und die Zufahrt samt Innenhof nach den Vorgaben eurer Mutter gereinigt werden. Dabei ist es mir egal, ob ihr die Arbeiten selbst erledigt oder sie erbringen lasst. Als erweiternde Gegenleistung, zur freien Kost und Logis on top sozusagen, stellt euch Nina einen gewissen Betrag zur Verfügung, mit dem ihr für die zu erledigenden Tätigkeiten auskommen müsst. Wie hoch die Summe ist, spreche ich noch mit ihr ab. Ich bin mir sicher, ihr werdet dabei nicht schlecht abschneiden.“
Thomas unterbricht sich, um seinen Söhnen ein paar Sekunden zum Nachdenken zu geben, bevor er seine abschließenden Eckpunkte bekannt gibt. Dabei entgeht ihm das nun kritische Gesicht seines Jüngsten nicht. „Du, Noel“, setzt er daher etwas eindringlicher nach, „musst entscheiden, wie viel Zeit dir für deinen Job bleibt! Denn ebenso wenig wie Dominiks Studium darf der Schulstoff darunter leiden!“
Thomas‘ Blick schweift über die Mienen seiner Jungs, deren Freude über die erste Bude gerade gedämpft wurde. Eine Tatsache, mit der er gerechnet hat. Sein Angebot ist unbestritten verlockend, die damit verbundene Arbeit allerdings kein Zuckerschlecken. Es dauert einige Sekunden lang, dann ist Dominik es, der wieder zu schmunzeln anfängt und zustimmend nickt. Noels Bedenken sind größer. Die Aussicht darauf, womöglich seinen gemochten Freizeitjob aufzugeben, mit dem er sowohl sein Taschengeld aufgebessert als auch versucht hat, seiner sportlichen Leidenschaft weiter nachzugehen, behagt ihm gar nicht. Anderseits müsste es sich doch einrichten lassen, seine knapp bemessene Freizeit in der kleinen Sporthalle, dem bevorstehenden Zeitpensum anzupassen. Noel legt die Stirn in Falten und brummt leise, dann nickt auch er.
„Noch Fragen oder Einwände?“, will Papa Menzel wissen, indessen er sich über die abwägenden Mienen seiner Jungs amüsiert.
„Wieso eine Küche?“, grummelt Noel. Sein nachdenklicher Blick hebt sich langsam zu seinem Vater, dann wandert er weiter zu Dominik. „Wenn doch Kost und Logis inbegriffen sind!“
Dominik lacht bereits und auch Thomas kann sich bei dieser Bemerkung ein Lächeln nicht verkneifen, worauf Noel nur noch verdatterter aus der Wäsche guckt.
„Glaub mir, Kleiner“, foppt Dominik seinen Bruder, „auch du wirst noch froh sein, wenn du allein oder vielleicht auch nicht ganz allein, vom Bett aus an den Frühstückstisch kriechen kannst, ohne lästige Fragen zu beantworten!“
„Oder um die gelegentlich nachts auftretenden Hungergelüste zu stillen“, fügt Thomas unschuldig hinzu, „ohne zuvor den Hof überqueren zu müssen.“
Noel zieht seinem Nebenmann eine Grimasse und verdreht beleidigt die Augen. „Gibt es eine Option auf zwei Küchen?“, richtet er sich zwar an Papa Menzel, sein spottender Zeigefinger verweist aber unverkennbar auf Dominik. „Ich bin mir nicht sicher, ob ich seinen ungeschminkten Nichtganzalleinen auf nüchternem Magen begegnen will.“ Dominiks Seitenhieb weicht er hämisch quiekend aus.
Nina steht auf der Aussichtsplattform des Airports Frankfurt am Main. Betrübt schaut sie den Maschinen beim Starten und Landen zu. Seit über zwanzig Minuten weht ihr ein kalter Wind kräftig um die Ohren und ihre dünne Weste trägt wenig dazu bei, die Kälte ausreichend abzuhalten. Thomas‘ Maschine nach Asien ist vor einer viertel Stunde gestartet. Dennoch schafft sie es heute nicht, sich loszureißen und den Heimweg anzutreten. Die Abschiede von ihrem Mann sind ihr noch nie leichtgefallen, zumal es sich jedes Mal um mehrere Monate handelte. Und als sie begriff, dass sich der Trennungsschmerz und die Sehnsucht nach Thomas auch nach Tagen nicht mehr in ein annehmbares Maß regulierten, mit dem sich die Zeit ohne ihn durchstehen ließ, hatten sie gemeinsam beschlossen, diesen Auslandseinsätzen ein Ende zu bereiten. Thomas hatte sich sogar bereit erklärt, notfalls den Arbeitgeber zu wechseln, falls das jetzige Unternehmen weiterhin auf diese Vororttätigkeit bestand, was zum Glück jedoch nicht erforderlich gewesen war. Dass es nun doch zu einer erneuten Trennung gekommen ist, trifft Nina umso härter. Sie hatte sich vorgenommen, ihren Mann mit einem Lächeln zu verabschieden. Sie wollte ihm zeigen, dass er sich um sie und den Rest der Familie keine Sorgen zu machen braucht. So oft schon hatten sie diese Art zeitliche Trennung überwunden und dieses hoffentlich letzte Mal würden sie auch noch schaffen.
Nina zieht ein neues Taschentuch aus ihrer Handtasche und wischt sich schniefend die Tränen weg. Sie hatte ihr Vorhaben nicht umsetzen können. Mit der letzten Umarmung vorm Check-in-Schalter waren sämtliche Dämme gebrochen und die Flutwelle der Gefühle hatte sie überrollt. Doch alles melancholische Geheule bringt nichts. Sie wird sich zusammenreißen, durchatmen, sich mit erhobenem Kopf zum Wagen begeben und nach Hause fahren. Immerhin hat sie ihre eigenen Aufgaben und Pflichten zu erfüllen, auf die sie sich in den bevorstehenden Wochen noch mehr wird konzentrieren müssen. Vielleicht lenkt es sie ja diesmal ab, die Hoffnung stirbt ja bekanntlich zuletzt.
Eine Stunde später steht sie, noch mit Handtasche und Autoschlüsseln in den Händen, auf dem Gutshof neben ihrem Wagen. Noel hat ihre Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Die Ohren vollends unter den Hörmuscheln seines wuchtigen Kopfhörers verborgen, stapft er leise summend zwischen der Wohnscheune und dem Haupthaus hin und her. Dabei schleift er voller Eifer Stück für Stück die Einrichtungsutensilien ihres Büros an ihren neuen Standort. Noel ist so sehr in sein Tun vertieft, dass er ihr Eintreffen gar nicht registriert hat, was ihr somit ermöglicht, ihn in Ruhe zu beobachten.