Matura im roten Haus - Diana Hausmann - E-Book

Matura im roten Haus E-Book

Diana Hausmann

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Beschreibung

Als der junge Züricher Phil Ciment nach Mannheim kommt, gibt es dort nur ein Thema: Wann schlägt die berüchtigte Mannheimer Katze wieder zu? Ein Einbrecher, der in Dachwohnungen einsteigt und keinerlei Spuren hinterlässt. Seltsam ist nur, dass die Diebstähle stets in der Nähe von Gebäuden passieren, die zum Verkauf stehen und für die Schweizer Ciment-Werke von Interesse sind. Ein Indiz das Phil verdächtig macht. Um seine Unschuld zu Beweisen, begibt er sich auf die Jagd nach dem wahren Täter. Nur leider sind das nicht die einzigen Ungereimtheiten, denen Phil sich gegenübersieht. Die Begegnungen im roten Haus scheinen ebenso gefährlich zu sein, wie seine nächtlichen Streifzüge über die Dächer der Stadt ... Eine Matura der ganz anderen Art - spannungsgeladen bis zum Schluss!

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Seitenzahl: 397

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Zur Story

Arrogant - oberflächlich – hemmungslos Drei Worte, die Phil Ciment auf den Leib geschrieben sind.

Als Phil von seinem Vater hört, er wolle ihn zum finalen Schliff ins Ausland schicken, ist er begeistert. Immerhin soll der junge Züricher zukünftig an der Spitze der Ciment-Werke den Platz seines Vaters einnehmen. Was Phil allerdings gar nicht versteht, ist, weshalb er zur auferlegten Image-Aufbesserung ausgerechnet in Mannheim landet?

Im roten Haus angekommen trifft Phil auf den 19jährigen Joschua. Eine Zufallsbekanntschaft, die Phil dazu zwingt sein bisher verwöhntes Söhnchen-Dasein abzulegen. Er bietet dem jungen Mannheimer einen Job an, ohne zu ahnen, was er sich damit alles auferlegt. Obendrein verwickelt Phils Arbeit ihn in eine Einbruchserie und dies, obgleich er durch seine Nachbarin Julie ein stichfestes Alibi hat. Da außer Phil aber auch das Unternehmen seines Vaters und somit sein zukünftiges Erbe unter Verdacht gerät, mit den Machenschaften der berüchtigten Mannheimer Katze in Verbindung zu stehen, versucht Phil mit Joschuas Hilfe den Einbrecher zu entlarven. Leider sind das nicht die einzigen Ungereimtheiten, denen Phil sich gegenübersieht.

Die Begegnungen im roten Haus scheinen ebenso gefährlich zu sein, wie seine nächtlichen Streifzüge über die Dächer der Stadt ...

Autor: Diana Hausmann wurde 1972 in der Pfalz geboren. Sie stammt aus Esthal, einem kleinen Ort unweit von Neustadt an der Weinstraße. Seit über zwanzig Jahren lebt sie mit ihrem Mann und dem gemeinsamen Sohn in der Metropol-Region Mannheim.

Inhaltsverzeichnis

PROLOG

Januar 2016

„Bring mir bitte meinen Drink mit und setz dich zu uns!“, schallt es mir entgegen, als ich die Bibliothek betrete.

„Falls nötig nimm eine Kopfschmerztablette“, dringt die nächste Stimme unüberhörbar knurrend zu mir her. „In der nächsten Stunde solltest du vollends aufnahmefähig sein!“ Gut, die Aufforderungen meines Vaters klingen meist weniger gelassen als die von Grandpa. Dabei hat Pa heute tatsächlich recht!

Mein Schädel hämmert, als sei ich ungebremst gegen eine Betonmauer gelaufen. Den letzten Joint vergangene Nacht hätte ich weglassen sollen. Oder den Alkohol, statt in Liter-Flaschen, in üblicher Genussmenge, dazu als Cocktail verdünnt, konsumieren. Noch besser: Ich hätte mir beides verkneifen sollen!

„Carl sagt, er habe deine Begleitung vor einer Stunde nach Hause gefahren“, bemerkt Pa beiläufig, während er sich vom Fenster abwendet und auf die Ledersitzgruppe zuhält, auf der Großvater seinen gewohnten Platz auf dem Sessel eingenommen hat.

Ich übergehe ihre spitzen Andeutungen. Sie sind belanglos. Davon abgesehen erinnere ich mich nicht einmal mehr, mit welcher holden Weiblichkeit ich mich nach der Party noch vergnügt habe. Aber wen interessiert das schon? Mich nicht. Statt mir Gedanken darüber zu machen, hellt sich meine trübe Durchzechte-Nacht-Stimmung gerade wie von selbst auf.

An einem Sonntagnachmittag von Neni, wie ich Grandpa nenne, in die Bibliothek seines am Rande von Zürich gelegenen Landhauses beordert zu werden, dazu im Beisein von Pa, kann nur eins bedeuten: Der Familienrat tagt! Ich liebe diese Zusammenkünfte. Meist sitzen wir bis spät in die Nacht zusammen, genießen ein herrliches Essen und laben uns an Grandpas bestem Whisky. Obendrein kann ich die Resultate des Familienrates, der durch unsere drei Personen auch schon komplett ist, für mich stets als sehr positiv verbuchen. Also schenke ich Neni seinen Starter-Drink ein, köpfe für Dad eine seiner bevorzugten Zigarren und nehme beides mit hinüber zur Chesterfield-Sitzgruppe, die lediglich aus zwei Sesseln, einer Couch und einem kleinen schweren Holztisch besteht. Der Platz auf der Couch obliegt mir – von je her. Immerhin sinke ich meist binnen Kürze etwas entspannter ins Polster als meine beiden alten Herren. Was die zwei wohl diesmal für mich aus ihrer Schatztruhe ausgegraben haben?

Kapitel 1 – Angekommen

Der Nieselregen läuft mir unangenehm kalt übers Gesicht, als ich stöhnend mein Gepäck auf dem Bordstein absetze. Den Gitarrenkoffer bekomme ich gerade noch am Gurt zu fassen, bevor dieser auf dem matschigen Boden landet. Glück gehabt! Ich schnaube erleichtert. Das gute Stück ist mir nahezu heilig! Das Golf-Bag hingegen klatscht in eine Pfütze, wodurch eines meiner Hosenbeine nun bis zur Hüfte bespritzt ist. Mit schmerzendem Rücken schwinge ich mir den Musikkasten wieder über die Schulter, greife nach der triefenden Golftasche und richte mich auf. Ich hebe den Blick nach oben, die Fassade hinauf, und schaue auf ein altes, kräftig rot gestrichenes Sandsteingebäude. Gut möglich, dass das Bauwerk noch aus der Vorkriegszeit stammt. Überhaupt versprüht die ganze Straße einen leicht eingestaubten Charme. Die Alleenstraße ist mit großen Pappeln gesäumt und offenbart ein recht unebenes Kopfsteinpflaster. Im Grunde recht schön. Zumindest wäre der Gedanke recht schön, wenn ich den Aspekt außer Acht lassen könnte, hier die nächsten zwölf Monate verbringen zu müssen.

Mit einem Seufzer ziehe ich den Haustürschlüssel aus meiner Jackentasche und stecke ihn ins Schloss. Wenigstens knarrt diese alte Haustür nicht so, wie es das Äußere gerade vermuten lässt. Ein kahler, mit grauen Fliesen gekachelter Flur breitet sich vor mir aus. Eine stumpfe, verschrammte Holztreppe windet sich ein paar Meter weiter hinten in die Höhe. Mit dem Gepäck teils schiebend und teils über der Schulter gehe ich hinein. Während meine Augen sich allmählich an das triste Grau im Inneren gewöhnen, drücke ich die Tür hinter mir zu. Nach oben muss ich, in den vierten Stock. Da meine Übergangsbleibe ein Maisonette-Apartment sein soll, dürfte dies dann wohl die oberste Etage sein. Schließlich offenbarte das alte Bauwerk von außen gerade vier Fensterreihen übereinander, darüber einige Gauben in der Dachschräge. Was zum Teufel tue ich hier? Diese Frage prangt in großen schwarzen Buchstaben vor meinem inneren Auge. Die Offenbarungen meiner alten Herren am vergangenen Sonntag hatten aufregend und vielversprechend begonnen. Das von mir angesprochene Vorhaben, mein Studium zugunsten einer europäischen Sprach- und Umgangsintensivierung – wie ich meine erhoffte Europa-Sightseeing-Tour umschrieben hatte – zu unterbrechen, stieß bei beiden überraschenderweise auf befürwortendes Gehör. Dabei musste ich kein einziges Argument beisteuern, weshalb sich eine solche Rundreise ausschließlich positiv auf meinen anschließenden Examensabschluss auswirken würde.

„Was glotz’n so?“

Ich spüre, wie sich mir die Nackenhaare aufstellen.

„Wie bitte?“, knurre ich zurück, während ich mit verengten Augen zu der pöbelnden Person aufsehe.

Ich bin die Treppe so gedankenversunken hinaufgestiegen, dass mir erst jetzt auffällt, dass ich vor der obersten Stufe stehe. Das asoziale Gelaber, in welchem Slang auch immer vorgebracht, dringt gerade von der hintersten Ecke des Flures zu mir herüber. Als mein Blick das pickelige Milchgesicht erfasst, das wahrscheinlich nicht einmal volljährig ist, muss ich glatt an mich halten, um nicht laut loszulachen. Binnen einer Sekunde wird offensichtlich, was ein Typ der gesellschaftlichen Unterschicht so von sich preisgeben kann: abgetragene Second-Hand-Klamotten, schmieriges Äußeres und ein abstoßend lautes Kaugummikauen. Glücklicherweise ist es mir in den vergangenen Jahren stets gelungen, mich von solcher Gesellschaft fernzuhalten – was ich in Zukunft auch nicht zu ändern gedenke. Ungeachtet dessen, dass der Bursche mich mit abschätzigem Blick mustert, nehme ich die letzte Stufe und halte auf die erste der beiden Wohnungstüren zu, die das oberste Flurstück zugänglich macht.

„Wenn du zu Julie willst, die ist nicht da!“, legt der Kerl erneut los, sobald ich versuche, den Namen auf dem winzigen Klingelschild zu entziffern.

„Wen interessiert das?“, kontere ich genervt.

„Du stehst vor Julies Tür!“, quäkt es weiter, wobei die Stimme zunehmend kehliger klingt. „Die zweite Wohnung steht seit ein paar Wochen leer“, schiebt er unaufgefordert nach, da ich gerade diesen Wohnungseingang ansteuere.

Ich räuspere mich vernehmlich, während ich mich kerzengerade aufrichte und dem Burschen zuwende. Gleichzeitig hoffe ich, dass der Typ nicht ansteckend ist.

„Jetzt nicht mehr!“, bemerke ich von oben herab, stecke den Schlüssel ins Schloss und drehe, bis die Tür klickend aufspringt.

Während ich mein Gepäck in den Wohnungsflur schiebe, liegt meine Aufmerksamkeit noch auf dem Typ hinter mir. Seine Verblüffung ist ihm so offensichtlich ins Gesicht geschrieben, dass ich es erkenne, obgleich ich ihn lediglich aus den Augenwinkeln beobachte. Ein in der Tat erhabenes Gefühl, festzustellen, wie neidisch er mich bestaunt. Fast schon heimisch. Dieses Anschmachten kenne ich von zu Hause zur Genüge. Davon abgesehen lege ich es meist sogar darauf an, zu zeigen, dass ich kein dahergelaufener Jedermann bin. Allerdings weiß ich inzwischen auch, dass gerade dieses Verhalten es ist, weshalb ich …

Schnell schiebe ich den Gedanken beiseite und drücke die Tür hinter mir ins Schloss.

Kapitel 2 – Mitgereiste Alltagslasten

Nach circa zwei Stunden habe ich es geschafft, sowohl meine mitgebrachten als auch die im Voraus angelieferten Habseligkeiten auszupacken und ihnen einen, wie ich hoffe, halbwegs sinnvollen Platz zuzuordnen. Dass sich meine Bleibe auf Zeit als recht schmucke Behausung entpuppen würde, daran hatte ich keine Zweifel. Nicht mit dem Wissen, welche Kriterien in den Augen meiner alten Herren selbst eine kleine und spartanisch ausgestattete Wohnung erfüllen muss. Wahrscheinlich ist das eine Frage des Alters, denn in diesem Punkt sind die zwei eindeutig snobistischer veranlagt als ich. Zufrieden über mein emsiges Treiben schaue ich mich um. Eine circa 120 m2große und von Grund auf renovierte Maisonettewohnung in einem passabel erhaltenen Altbau. Die Einrichtung wurde vollends auf meine Vorlieben abgestimmt, alles kühl und geradlinig in Schwarz und Weiß. Modernste Technik in sämtlichen Bereichen: Internet, TV und HiFi, ebenso die Geräteausstattung in Küche und Bad sowie bei der Sicherheitstechnik. Das Apartment besteht lediglich aus zwei Zimmern. Darüber hinaus verfügt es über ein geräumiges Badezimmer und eine Gästetoilette. Im unteren Bereich befindet sich, ähnlich einem Industrieloft, eine offene Küche samt Wohn- und Arbeitsbereich. Lediglich Bad und Gästetoilette sind räumlich abgetrennt. Über eine metallene Wendeltreppe gelangt man zu einer Galerie, der sich ebenfalls als offener Raum das Schlafzimmer oder besser, mein Bett anschließt. Der obere Part der Wohnung liegt komplett in der Schräge, ist jedoch mit einem annehmbar hohen Kniestock versehen. Dazu sind einige Dachgauben verbaut.

Inzwischen stehe ich im unteren Bereich an einem offenen Fenster und lasse mir genüsslich die letzten Tropfen meiner mitgebrachten Red-Bull-Dose durch die Kehle rinnen.

„Wenn ich jetzt noch ein annähernd passables Café, ein Pub oder ein Restaurant in der Umgebung ausfindig mache, lässt es sich hier durchaus eine Zeit lang leben“, ermuntere ich mich selbst.

Nach einem Blick in den Kühlschrank, der gähnende Leere offenbart, steht mein Entschluss fest: Auf keinen Fall werde ich heute noch die Strapazen eines Lebensmitteleinkaufes auf mich nehmen. Notfalls lasse ich mich von einem Taxi zum nächsten Burger-Laden chauffieren. Gerade als ich beschließe, mich für den abendlichen Genusstempel frisch zu machen, vernehme ich Stimmengemurmel. Überrascht bleibe ich am offenen Fenster stehen, da die Worte sehr nah und gut verständlich bei mir ankommen, obwohl ich mich im vierten Stock befinde. Okay, das ist dann Punkt zwei, den ich auf die Agenda des anstehenden Gesprächs mit dem Hausbesitzer setze: 1. herumlungerndes Gesindel im Flur, 2. ein unzumutbarer Geräuschpegel, der eindeutig von der Nachbarwohnung zu mir dringt. Hier muss ein Machtwort gesprochen werden!

Plötzlich mischt sich eine weitere Stimme in das zuvor halbwegs annehmbare Frauen-Singsang. Eine Tonlage, die mich aufhorchen lässt. Das heisere Röcheln höre ich nicht zum ersten Mal. Das muss der Kerl sein, der bei meiner Ankunft auf dem Flur gehockt hat. Soll das etwa bedeuten, dass dieser End-Teenager mein neuer Nachbar ist? Oder einer davon? Eine grauenhafte Vorstellung, mit diesem unkultivierten Kerl Tür an Tür wohnen zu müssen!

Eine halbe Stunde später verlasse ich das Gebäude. Vor der Haustür zögere ich kurz, um mich zu orientieren. Meiner vor wenigen Minuten aufgerufenen Google-Suche zufolge sollten sich in der näheren Umgebung einige Bistros und Restaurants befinden. Ich muss mich lediglich entscheiden, wonach mir der Sinn steht.

Am nächsten Morgen erwache ich mit einem Lächeln im Gesicht. Eine Sekunde später wird es von hämmernden Kopfschmerzen vertrieben. Stöhnend drehe ich mich auf die Seite und kichere gequält bei der Erinnerung an den vergangenen Abend oder genauer an die vergangene Nacht. Bereits beim Essen in einem kleinen, gut besuchten Bistro in der Nähe, hatte sich ein Gespräch mit zwei recht hübschen jungen Damen vom Nachbartisch angebahnt. Dabei stellte sich schnell heraus, dass sie ebenso in Abenteuerlaune waren wie ich. Also zu Hause schlage ich ein solch eindeutiges Angebot selten aus, erst recht nicht, wenn sich mir gleich zwei Schönheiten anbieten. Okay, die letzten Drinks und der seltsame Shit, den die Süßen zum Rauchen dabeihatten, waren nicht ganz das, was ich gewohnt bin. Das war echt mieses Zeug. Wahrscheinlich dröhnt mir deshalb so der Schädel. Außerdem habe ich einen Filmriss. Ich kann mich nämlich beim besten Willen nicht mehr daran erinnern, wie ich nach Hause gekommen bin.

Ruckartig fahre ich hoch und schaue mich hektisch um, was mir den nächsten Stich in die Schläfe beschert.

„Mein lieber Phil, du vergisst deine Prinzipien!“, tadle ich mich selbst, als ich beruhigt feststelle, dass ich allein in meiner Wohnung bin.

Es gibt ein paar Dinge, die ich in den letzten Jahren ausnahmslos berücksichtige. Selbst aufgestellte Regeln, um nicht versehentlich in eine nervige Beziehung zu schlittern:

1) Nimm niemals eine Frau mit zu dir nach Hause!

2) Gebe niemals deine Nummer preis!

3) Eine Frau muss etwas ganz Besonderes sein, damit ich mehr als eine Nacht mit ihr verbringe!

Was soll ich in meinem Alter mit einem Klotz am Bein? Schließlich ist die Welt voller schönen Mädchen, die es wert sind, dass man sich einige Stunden ihrer annimmt, oder etwa nicht? Ich zumindest bin es allemal wert! Warum sonst würde sich das schwache Geschlecht so sehr um den lieben Phil Ciment scharen?

Mit diesem erhabenen Gedanken schwinge ich meine Beine aus dem Bett und halte auf die Wendeltreppe zu, um mir im Bad eine heiße Dusche zu gönnen. Doch kaum berühren meine Füße den Boden dreht sich alles und ich sacke zurück aufs Bett.

„Pa hat recht“, stöhne ich heiser. „Die Raucherei muss aufhören! Unnötige Alltagslasten!“

Beim zweiten Versuch stehe ich etwas langsamer auf und zögere, bevor ich, wie in Watte gepackt, den Weg nach unten in Angriff nehme. Mir ist speiübel. Ich schaffe es gerade noch die Stufen hinunter, bevor ich zu würgen anfange und zur Toilette sprinte. Zum Glück ist heute Sonntag. So kann ich diesen Tag in der Horizontalen verbringen. Morgen jedoch sollte ich fit und aufnahmefähig sein. Die ersten Termine in meinem neuen Arbeitsbereich stehen an und mein Studium darf auch nicht länger pausieren.

Kapitel 3 – Übellaunig

„Weiß Julie, dass du jetzt neben ihr wohnst?“

Wie schon am Samstag, bei meiner Ankunft hier im Haus, reißt mich eine Stimme aus den Gedanken, kurz bevor ich das Flurstück des vierten Stockes erreiche. Als ich aufschaue, runzle ich die Stirn. Da sitzt schon wieder dieser Bursche. Seine Stimme klingt allerdings anders als vor zwei Tagen, irgendwie kindlich, wie die eines kleinen Jungen. Obendrein hockt er zusammengekauert und mit scheu gesenktem Blick in der Ecke, sodass er mich in der Tat an ein Kleinkind erinnert, nur eben größer.

„Wer ist Julie?“, erkundige ich mich genervt. „Und weshalb sitzt du vor meiner Tür?“

Warum gebe ich mich eigentlich mit diesem Kerl ab? Ich muss dringend mit dem Eigner oder dem zuständigen Hausmeister des Gebäudes sprechen. Dieses Herumlungern muss ein Ende haben! Ein Termin, der mir heute noch bevorsteht. Durch die sonntägliche Schieflage meines Magens, musste ich mir gestern nicht überlegen, wo ich etwas Essbares auftreibe. Dafür stand dies heute als zusätzlicher Punkt auf meiner Tagesordnung. Nach einem viel zu langen Aufenthalt in einem Autohaus, um meinen nun endlich zur Verfügung stehenden Wagen abzuholen, vertiefte ich mich zwei weitere Stunden in ein Gespräch mit einem Immobilienmakler. Eine verschwendete Zeit. Der Mann war absolut inkompetent und somit nicht im Geringsten interessant für unser Familienunternehmen. Anschließend quälte ich mich durch diverse Delikatessen- und Getränkeläden. Die Sachen im Internet zu bestellen und liefern zu lassen, hätte eindeutig weniger Zeit in Anspruch genommen. Und meinen ungewöhnlich langsam abflauenden Nachwehen vom Wochenende wäre dies ebenfalls entgegengekommen.

„Da wohnt Julie“, piept es abermals aus der Ecke. „Sie wohnt schon immer da.“

„Ach, tatsächlich!“ Meine Hand sinkt wieder, obgleich ich im Begriff war, meine eigene Wohnungstür aufzusperren. Bepackt mit den Einkäufen stehe ich da und schaue mich langsam zu dem Burschen um.

„Ja“, nickt er bekräftigend und hebt endlich den Kopf. „Aber heute ist sie zu spät. Ich warte schon ganz lange, mindestens eine Stunde!“

Der dünne Kerl benimmt sich nicht nur wie ein Kind, er redet auch so!

„Du hockst seit über einer Stunde auf dem Korridor?“, kommt es entsetzt aus meinem Mund. Es ist Mitte März und im Hausflur ist es wie im Freien – eiskalt. „Wohnst du auch hier?“, frage ich entsetzt. Falls ja, steht meiner neuen Nachbarin ein ernstes Gespräch bevor. Der Typ hat nicht einmal eine Jacke an. Wobei … erneut runzle ich die Stirn. Ganz gleich, wie dieser Kerl heute redet, der sollte doch mindestens siebzehn oder achtzehn Jahre alt sein!

„Joschua?“ Eine Frauenstimme schallt vom Hauseingang zu uns nach oben. „Bist du da?“

Binnen einer Sekunde ist der Junge auf den Beinen, beugt sich über das Treppengeländer und grinst nach unten. Dabei zappelt er auf der Stelle herum.

„Entschuldige bitte, Joschi, es hat sich jemand verspätet, daher kam ich nicht rechtzeitig aus dem Laden.“

Das genügsame „Okay“ des sonderbaren Kerls ist das Letzte, was ich vernehme. Es dringt noch zu mir herüber, als ich die Tür hinter mir schließe. Auf weiteren Small Talk im Flur steht mir augenblicklich nicht der Sinn.

Kapitel 4 – Stehen gelassen

Es ist exakt 18.58 Uhr, als ich zum ersten Mal seit meinem Einzug die Klingel meiner Wohnungstür vernehme. Das Treffen mit dem Hausbesitzer habe ich am Morgen erst per E-Mail angeregt. Und um die Dringlichkeit dieses Gesprächs zu unterstreichen, fixierte ich es direkt auf 19.00 Uhr am heutigen Abend.

„Willkommen im roten Haus!“, trällert es mir entgegen, sobald ich die Wohnungstür aufziehe.

„Ähm“, stammle ich verblüfft, „guten Abend!“ Mein Blick senkt sich, da die Person vor meiner Tür ein ganzes Stück kleiner ist als ich. „Sie sind …“

„Julie Tatiz!“, poltert die Dame los und streckt mir auffordernd die Hand zur Begrüßung entgegen, die ich mechanisch erwidere.

„Danke, dass Sie so kurzfristig Zeit hatten“, spule ich eine meiner anerzogenen Höflichkeitsfloskeln herunter.

Die Bemerkung, beim Namen J. Tatiz mit einem Herrn gerechnet zu habe, lasse ich unerwähnt. Frauen reagieren auf einen solchen Fauxpas meist weniger gelassen. Stattdessen bitte ich sie mit auffordernder Geste einzutreten. Den kurzen Moment, in dem sie an mir vorbei in meine Wohnung läuft, nutze ich, um mich zu vergewissern, dass mir meine Wahrnehmung gerade keinen Streich spielt. Für gewöhnlich brauche ich nur Sekunden, um mir einen ersten Eindruck von einer Person zu verschaffen. Meine alten Herren haben mir frühzeitig beigebracht, worauf man achten muss, um einen Menschen grob einzuschätzen, zumindest bei dem, was dieser jemand versucht darzustellen. Bei den wenigsten stimmt das nach außen präsentierte Bild mit dem Wirklichen überein. Meist steckt viel antrainierte Show dahinter. Manchmal, wenn auch selten, ist das Gegenteil der Fall. Mein Vater ist so ein Gegenteil, ebenso mein Grandpa. Die beiden wirken bei einem gesellschaftlichen oder geschäftlichen Aufeinandertreffen oft wie die stille Zweitbesetzung, die den begleitenden Part einnimmt. Kaum einer bedenkt, welche Informationen durch diese passive Art dem Gegenüber zu entlocken sind. Eine Vorgehensweise, die ich inzwischen gleichfalls praktiziere. Im Geschäftlichen natürlich. Privat mag ich es nicht ganz so besonnen. Die Damenwelt in Feierlaune springt mehr auf die extrovertierte Männerseite an. Doch die Erscheinung, die nun in meinem Entree steht, passt in keine meiner bisher geistig angelegten Kategorien. Selbst beim Alter dieser Frau gerät meine Menschenkenntnis ins Wanken.

„Bitte!“ Mit einladender Geste fordere ich sie auf, an meinem Esstisch Platz zu nehmen. „Darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten?“, erkundige ich mich höflich, worauf ich ein smart nickendes „Danke!“ erhalte.

Während Frau Tatiz sich lautlos auf einen Stuhl niederlässt und ich unsere Kaffees zubereite, mustere ich sie verstohlen. Das Äußere dieser Frau erinnert an eine erwachsene Manga-Puppe oder eine flippige Mode- und Hairstylistin, die ihr tatsächliches Alter mit guten Kosmetika geschickt zu verbergen versteht. Seltsam ist nur, dass sie, wenn überhaupt, höchstens die Wimpern etwas getuscht hat. Innerlich runzle ich die Stirn über mein bescheuertes Sinnieren. Wahrscheinlich stört meine Einschätzung lediglich die Tatsache, mit einem seriösen Sakkoträger gerechnet zu haben, statt mit einer zierlichen, flippig gekleideten Frau, deren akkurater Bob in gleichem künstlichem Blutrot schillert wie ihre Augenbrauen.

„Sind Sie die Hausbesitzerin oder als Verwalterin des Eigners eingesetzt?“, erkundige ich mich direkt, während ich mich mit den Kaffees zu ihr an den Tisch begebe. „Ich hoffe, Sie sehen mir diese indiskrete Frage nach, Frau Tatiz. Da die Anmietung dieser Wohnung jedoch nicht von mir selbst vorgenommen wurde, weiß ich leider nicht …“ Ich halte inne, da sie zustimmend nickt.

„Die Bezeichnung Verwalterin trifft es gewiss am ehesten“, erklärt sie ruhig. „Allerdings gilt dies lediglich für sieben der acht Parteien. Ich bin die einzige Eigentümerin, die in ihrer Wohnung lebt. Der Rest des Gebäudes gehört einer größeren Immobilienfirma, in deren Namen ich Neuvermietungen vornehme und mich um die Belange der Bewohner kümmere. Notwendige Instandhaltungen etc. werden ebenfalls von mir koordiniert und entsprechend abgerechnet. Daher bin ich bei aufkommenden Fragen durchaus Ihr Ansprechpartner.“

Hoppla! Die Dame scheint das Gefühl zu haben, sich rechtfertigen zu müssen. Aber warum denn? Meine Brauen ziehen sich ein wenig zusammen, da mir plötzlich etwas einfällt.

„Julie Tatiz?“, frage ich. Hatte dieser komische Bursche nicht von einer Julie gesprochen? „Sind Sie zufällig meine direkte Nachbarin?“

„So ist es!“, strahlt sie plötzlich. „Also scheuen Sie sich nicht, Ihre Gitarre in gut hörbarer Lautstärke zu spielen. Ich liebe Musik jeglicher Art.“

„Wieso glauben Sie, ich würde Gitarre spielen?“

„Joschua hat mir erzählt, dass der junge Herr, der am Samstag neben mir eingezogen ist, einen Gitarrenkoffer bei sich gehabt hätte. Es sei ein schwarzer Glattleder-Koffer mit den geprägten Initialen PC gewesen. Dazu habe er einen Golfbag, einen silbernen Aktenkoffer-Trolley und einen ebenfalls großen silbernen Metallkoffer bei sich gehabt.“

Frau Tatiz lächelt verschmitzt, als sie ihre Aufzählung beendet. Davon abgesehen sitzt sie unverändert akkurat und mit vornehm im Schoß gefalteten Händen auf ihrem Stuhl. Ein Verhalten, das, wie ich finde, so gar nicht zu ihrer flippigen Erscheinung passt.

„Joschua?“ Fragend schaue ich sie an.

„Joschua!“, wiederholt sie unbeeindruckt. „Der junge Mann, der auf dem Flur vor Ihrer Tür saß, als Sie hier angekommen sind.“

„Ist er Ihr Sohn?“ Die Überlegung, ich könnte zu indiskret sein, wische ich beiseite. Schließlich bin ich doch derjenige, der hier scheinbar von einem Stalker verfolgt wird.

„Joschua ist weder mein Sohn, noch lebt er bei mir“, erklärt Frau Tatiz unverändert ruhig. „Dennoch ist er fast täglich in meiner Wohnung anzutreffen. Sagen wir mal …“, nachdenklich hebt sie den Blick. „Joschua weiß, dass er bei mir jederzeit willkommen ist, und dieses Wissen verleiht ihm so etwas wie Sicherheit.“

„Sicherheit wovor?“, hake ich nach.

Julie Tatiz neigt schmunzelnd den Kopf und schweigt.

„Was ist mit dem Jungen?“, bohre ich weiter.

Gerade als ich verdeutlichend anbringen will, dass es mich doch wohl etwas angeht, mit wem ich die nächsten Monate Tür an Tür lebe, erhebt sie sich.

„Dies, Herr Ciment, dürfen Sie selbst herausfinden.“ Zielstrebig steuert sie die Wohnungstür an, hält aber, als sie direkt davorsteht, kurz inne und schaut sich noch einmal zu mir um. „Gerade Ihnen dürften gewisse Details nicht unbekannt sein, oder?“ Mit einem Wink auf meine Hände seufzt sie leise, dann schaut sie beiseite. „Einen schönen Abend, Herr Ciment. Sollten Sie Fragen zu unserer Hausgemeinschaft haben, wissen Sie, wo Sie mich finden!“

Eine Sekunde später starre ich mit offenem Mund auf die geschlossene Wohnungstür. Hat sie mich tatsächlich stehen gelassen?

Ich benötige einen Augenblick, bis mein Gehirn diese Unverschämtheit verkraftet hat. So eine Frechheit werde ich mit Sicherheit nicht auf mir sitzen lassen! Eilig hechte ich zur Tür und reiße sie auf, dabei schnappe ich bereits nach Luft. So schnell wird meine Nachbarin wohl kaum in ihrer Behausung verschwunden sein. Also wird diese Person meinen Zorn nun auf dem Flur zu spüren bekommen. Doch in dem Augenblick, als ich mit einem Fuß vor meiner Wohnung stehe, stockt mir der Atem. Meine Rage verpufft schneller, als ich begreifen kann, was meine Augen gerade erfasst haben.

„Keine Sorge“, murmelt es leise. „Das wird wieder. Ist nur ein Kratzer.“

Meine Nachbarin steht mit dem Rücken zu mir, leicht nach vorne gebeugt. Neugierig nähere ich mich ihr und neige den Kopf, um zu sehen, auf wen oder was sie so beruhigend einredet. In diesem Moment blicken mir zwei rotgeränderte Augen entgegen.

„Wie es scheint, haben Sie das Klopfen an Ihrer Tür nicht gehört“, vernehme ich erneut die Stimme von Julie Tatiz, diesmal ruhig, aber mit strengem Unterton. Langsam richtet sie sich auf und wendet sich mir zu. „Ich hingegen schon!“ Mit zusammengepressten Lippen deutet sie auf den neben sich auf dem Boden kauernden Joschua. „Wenn es Ihnen genehm ist“, tönt sie affektiert, „können wir unser Gespräch in meiner Wohnung fortführen. Dann kann ich mich nebenbei um Joschuas Schrammen kümmern.“

Das Gesicht und die rechte Hand des Jungen offenbaren einige Kratz- und Schürfwunden. Alles in allem keine schweren oder stark blutenden Verletzungen. Dennoch ist seiner Mimik anzusehen, dass die Schrammen wohl ziemlich brennen.

„Gestürzt?“, erkundige ich mich, während der Kerl sich stöhnend auf die Füße kämpft.

„Ha!“ Julie Tatiz lacht auf, während sie ihre Wohnungstür öffnet. „Gestürzt!“, wiederholt sie spöttisch, gleichzeitig scheucht sie uns in ihre Wohnung hinein. „So kann man es natürlich auch bezeichnen!“

Wie selbstverständlich folge ich dem Jungen in das Apartment und sinke ihm gegenüber auf eine Couch. Es scheint ihm nichts auszumachen, dass ich ihn unentwegt mustere. Dabei fällt mir erst nach einer Weile auf, dass er mich ebenfalls eingehend studiert. Wir starren uns an wie zwei Hunde, die sich noch nicht einig darüber sind, wem dieses Territorium künftig zur Verteidigung zusteht – feindselig und neugierig zugleich.

„Jos vorlautes Mundwerk, nehme ich an“, meint Frau Tatiz beiläufig, worauf der Typ leise brummt.

Frau Tatiz ist nach unserem Eintreten kurz in einem Nebenzimmer verschwunden. Nun platziert sie sich mit einem kleinen Beutel in der Hand direkt zwischen uns. Lautlos sinkt sie auf den halbhohen Beistelltisch aus Glas, mit dem Rücken zu mir, und seufzt leise. Vorsichtig greift sie dem jungen Kerl ans Kinn, hebt es an und begutachtet seine Schrammen genauer. Dabei kommt ein entrüstetes Schnalzen über ihre Lippen. Anschließend öffnet sie die an einen Kulturbeutel erinnernde Tasche und bringt einige Erste-Hilfe-Utensilien zum Vorschein. Ohne den Blick von dem Jungen abzuwenden, sinke ich ins Polster zurück, schlage ein Bein über das andere und verfolge, wie dieser bei seiner Erstversorgung gelegentlich zuckt oder kurz die Luft anhält. Wahrscheinlich brennt das Säubern und Verbinden wie die Hölle.

„Wer ist Jo?“

Wenn ich diesem Szenario schon beiwohnen muss, will ich wenigstens etwas mehr über die näheren Umstände des Vorfalls erfahren. Wer weiß, in welcher Gegend ich hier gelandet bin? Vielleicht ist man nach Anbruch der Dunkelheit auf der Straße nicht mehr sicher! Seltsam ist aber, dass meine Frage dem unruhigen Umherblinzeln des Burschen ein Ende setzt. Dafür weiten sich seine Pupillen, als er mich nun direkt anschaut. Gleichzeitig hebt sich die linke Hand meiner Nachbarin. Sie dreht sich nicht zu mir um, doch ihr Zeigefinger deutet auf ihren Patienten.

„Jo steht also für Joschua“, kombiniere ich, was beide jedoch mit einem kategorischen Kopfschütteln verneinen. „Aber … ich dachte …“

„Denken ist hier der schlechteste Ansatz“, erklärt Frau Tatiz. Mit einem sanften Schultertätscheln nickt sie dem Jungen zu, packt Tinktur und Pflaster wieder zusammen und erhebt sich vom Tisch. „Setzt euch an die Theke“, weist sie uns an. „Ich bin gleich bei euch und mache Kaffee.“

„Wie alt bist du?“, frage ich den Kerl ungeniert, während wir uns ebenfalls von den Polstern erheben und einige Meter hinter uns auf die Theke der offenen Wohnküche zusteuern.

Erst jetzt fällt mir auf, dass die Wohnung nahezu den gleichen Schnitt hat wie meine eigene nebenan. Sie ist lediglich spiegelverkehrt und erkennbar länger bewohnt. Kein Wunder! Schließlich wurde meine Behausung vor meinem Einzug im Auftrag meiner alten Herren von Grund auf renoviert und neu eingerichtet.

„Neunzehn“, brummt der Typ.

Statt sich neben mich auf einen der Barhocker niederzulassen, läuft er hinter die Theke und macht sich wie selbstverständlich an der Kaffeemaschine zu schaffen.

„Und wie heißt du?“, hake ich unbeirrt nach, da ich zuvor wohl falsch gelegen habe. Vielleicht gibt es ja mehrere von dieser Sorte: Zwillinge, Brüder oder so!

„Joschua.“ Mit einem Kaffeepad in der Hand schaut er sich zu mir um, während ich verwirrt die Stirn runzle. „Und du?“

Ich brauche einen Augenblick, bis mir die Gegenfrage bewusst wird.

„Ähm … Phil und … ich bin dreiundzwanzig“, gebe ich staksend Auskunft.

„Und die liebe Julie ist fünfundvierzig!“, ertönt es nun aus einer anderen Ecke. Sie kommt näher und nimmt lächelnd auf dem Barhocker neben mir Platz. „Womit ich vorschlage, auf die Förmlichkeiten zu verzichten.“

Während wir einige Sekunden schweigend dasitzen und an unseren Kaffeetassen nippen, entgeht mir nicht, dass Joschua mich immer wieder mit gesenktem Kopf beäugt.

„Soll ich …?“, richtet er sich irgendwann fragend an Julie.

„Das wäre sicher hilfreich“, erklärt sie schulterzuckend. Sachte stellt sie ihre Tasse auf der Theke ab und dreht mir den Kopf zu. „Vielleicht sogar für euch beide!“

Was soll denn diese Bemerkung schon wieder? Verwirrt schaue ich zwischen den beiden hin und her. Sie starren mich an, als sei ich ein Ausstellungsgegenstand, über dessen Gefallen noch nicht entschieden wurde.

„Vorgestern“, beginnt Joschua nun und zeigt zur Wohnungstür, „da hast du Joschi auch schon getroffen.“ Seine Stimme ist leiser geworden und er wirkt eingeschüchtert. „Und Jo“, redet er weiter, ohne mein verdutzt bellendes „Hä?“ zu beachten. „Also Jo ist immer dann da, wenn ich …“ Er zögert und schluckt verlegen.

„Jo zeigt sich immer dann, wenn Joschua sich bedrängt fühlt“, geht Julie unterstützend dazwischen. „Wobei Jos vorlaute Klappe die Situation oft noch verschlimmert.“

„Hast du das auch manchmal?“, piepst Joschua heiser.

Irgendwie wirkt der Junge scheu und neugierig zugleich. Er blinzelt unter seinen Ponyfransen hervor, wendet seinen Blick aber rasch zur Seite, wenn er sich beobachtet fühlt.

„Was soll ich haben?“, reagiere ich verwirrt. „Und was meint ihr mit Joschi und Jo und …“ Keuchend springe ich auf und gehe einen Schritt auf Abstand.

„Nein, Joschua“, richtet Julie sich an den Burschen, ohne auf meine aufbrausende Reaktion einzugehen. „Wahrscheinlich raucht er nur gelegentlich was oder genehmigt sich ab und an eine Pille.“

„Was?“, kreische ich. „Das ist doch eine Unverschämtheit!“

Meine verzerrte Stimme ist so laut, dass sie durch den kompletten Raum hallt. Sind die beiden denn noch bei Trost? Ich koche vor Wut! Dazu bin ich so perplex, dass nicht mehr als ein fassungsloses Japsen aus meinem Mund kommt.

„Nein, wir sind weder verrückt, noch ist es unsere Absicht dich zu beleidigen“, spricht Julie ruhig weiter.

Einzig ihre unverändert sanfte Miene und ihre bittende Hand, mit der sie neben sich auf den freien Hocker tippt, halten mich davon ab, unverzüglich aus der Wohnung zu stürmen.

„Aber halte du uns im Gegenzug nicht für so blind, die kleinen Anzeichen deiner mehr als gelegentlichen Partyfreuden falsch zu deuten.“ Mein erneut empörtes Japsen wehrt sie mit besänftigend erhobener Hand ab. „Wir sind viel zu erfahren, als dass wir es übersehen könnten.“

Verdammte Scheiße, keuche ich in Gedanken. In was bin ich da nur hineingeraten? Wenn das publik wird, verbringe ich die nächsten zwölf Monate in einer Entzugsanstalt, statt hier die letzte Prüfung für Dads Nachfolge zu absolvieren.

„Bitte höre mir die nächsten Minuten einfach zu“, richtet sich nun Julie behutsam an mich. „Anschließend verstehst du sicher, was hier so seltsam anders läuft als in den meisten Häusern.“

Ich brauche einen Moment, bis ich mich dazu durchringen kann, ihrer Bitte nachzukommen. Also nehme ich wieder an der Theke Platz und halte dem verdattert dreinschauenden Joschua meine Tasse zum Auffüllen hin. Zögernd greift er danach und dreht sich zur Arbeitsplatte um.

„Joschua“, beginnt Julie mit einem Fingerzeig auf seinen Rücken, „hat recht früh begonnen, Shit zu rauchen. Auf härtere Drogen ist er allerdings nie umgestiegen.“

„Das hätte ich nie gemacht!“, wirft Joschua entschieden ein.

„Die kleinen Pillen, die bei der ein oder anderen Party so selbstverständlich verteilt wurden, hat er dann aber doch einmal geschluckt.“ Julie zögert und wirft ihrem Gegenüber einen traurigen Blick zu. „Das Zeug war mit irgendwelchen chemischen Mitteln gestreckt“, erklärt sie seufzend. „Seither ist Joschua nicht mehr derselbe.“

„An den Abend erinnere ich mich nicht“, lässt sich Joschua kleinlaut vernehmen. „Aber das verdammte Zeug hat ganz viel kaputt gemacht.“ Mit dem Zeigefinger macht er eine kreisende Bewegung an seiner Schläfe. „An manchen Tagen hängt mein Gehirn in einer anderen Zeit fest.“

„Joschi?“, ächze ich entsetzt. Sein kindliches Verhalten vom letzten Wochenende fällt mir wieder ein.

Joschua nickt. „Joschi war ich einmal, mit neun oder zehn.“

„Und wer ist Jo?“

„Jo ist die angeberische, prahlende Seite von Joschua“, erklärt Julie. „Das Gift hat eine Art Persönlichkeitsspaltung hervorgerufen, die recht unkontrolliert auftritt, was für Joschua ein alltägliches Leben zunichtemacht.“

„Klingt nach Borderline-Syndrom“, höre ich mich selbst reden.

Warum gehe ich überhaupt auf dieses alberne Geschwätz ein? Wahrscheinlich ist die Hälfte davon weit übertrieben oder das ist ein bescheuertes Märchen, um die permanente Anwesenheit des Kerls zu rechtfertigen.

„Möglich“, brummt Julie, wobei sie unschlüssig den Kopf wiegt. „Ein paar sehr häufig auftretende Merkmale von Borderline treffen auf Joschua allerdings nicht zu.“

„Die da wären?“ Inzwischen tue ich mein Bestes, nicht gelangweilt zu klingen. Was allerdings nur daran liegt, dass ich weiterhin zweifle, ob die beiden glaubwürdig sind.

„Ich selbst, also Joschua“, zur Verdeutlichung tippt sich der dünne Kerl auf die Brust, „bin immer da! Auch wenn Joschi oder Jo, über das permanente Gezanke in meinem Schädel hinaus, mal wieder stärker sind als ich. In so einem Fall kriege ich das zwar komplett mit, kann aber nichts dagegen unternehmen, dass sie mir ihren Willen aufzwingen.“

„Joschua sagt, er hört die Stimmen unentwegt“, führt Julie weiter aus. „Doch im Gegensatz zur angeblich extremen Angst vor Einsamkeit, Zurückweisung oder Alleinsein, wie bei Borderline, ist Joschua happy über jede Sekunde, die er still und ungestört verbringen kann.“

„Aus dem Grund bin ich auch dauernd hier!“, gesteht Joschua nun sehr leise. „Ich wohne mit vier kleinen Geschwistern und meiner Mutter in einer 3-Zimmer-Wohnung. Da ist Ruhe ein Fremdwort.“

Eine seltsam wirkende Stille tritt ein. Joschua sieht aus, als hocke er teilnahmslos auf der Straße und warte auf den nächsten Bus. Julie hält ihre Kaffeetasse mit beiden Händen und starrt gedankenversunken Löcher in den Raum. Und ich …

„Könnte ich bitte erfahren, weshalb ihr mir das alles erzählt?“

Wie von selbst kommt mir die Frage über die Lippen. Leider klingt meine Stimme dabei nach dem arroganten Söhnchen, die ich sonst für nervende People zum Abwimmeln auf einer Party parat halte. Eigentlich mag ich diese prahlerische Seite von mir nicht. Trotzdem habe ich in letzter Zeit immer häufiger darauf zurückgegriffen. Ein Verhalten, das mein Pa stets an mir bemängelt hat.

Zwei Stunden später liege ich im Bett und starre zur Decke hoch. In meinem Kopf dreht sich alles, obgleich ich heute keinen Schluck Alkohol angerührt habe. Selbst geraucht habe ich nichts! Stattdessen mache ich mir unentwegt Gedanken über das Gespräch in der Nachbarwohnung. Die Antwort auf meine Frage, weshalb sie mir den ganzen Mist eigentlich vor die Füße kippen, war simpel, aber ernüchternd.

„In erster Linie wollten wir vermeiden, dass du sofort die Polizei rufst, wenn Joschua mal wieder zum Abschalten aufs Dach steigt“, hatte Julie völlig gelassen geantwortet. „Dahin zieht er sich nämlich zurück, wenn das Gezerre in seinem Kopf zu heftig wird. Zum anderen kann es nicht schaden, wenn man einem Genuss-Junkie vor Augen führt, was passieren kann, wenn der Shit auch wirklich Shit ist!“

In gleicher Sekunde sah ich mich zwei spitzen Zeigefingern gegenüber. Julie deutete auf meine leicht zitternden Hände, Joschua direkt auf meine Augen.

Völlig aufgeputscht stehe ich wieder auf. Zum Glück gibt es etwas, bei dem ich meine Gedanken wieder in ruhigere Gefilde lenken kann. Beim Golf! Also hole ich einen meiner Schläger aus dem Bag, platziere mein Mini-Green auf den Boden und beginne mit sachten Bewegungen einen Ball nach dem anderen abzuschlagen. Jetzt kann ich in Ruhe und mit etwas Abstand über die Vorkommnisse des heutigen Abends nachdenken. Wenn das Ganze nicht so grotesk klingen würde, wäre ich gewillt zu glauben, meine alten Herren hätten dieses Theater eingefädelt. Immerhin war es mir in den letzten Wochen nicht mehr ganz so gut gelungen, meine Party-Nachwehen vollends zu verbergen. Doch das ist augenblicklich egal. Natürlich habe ich verstanden worauf Pa mit seinem eindringlichen Gerede über Reifeprüfung, wichtige Grundlagen und skandalfreies Image abgezielt hat. Aber warum ausgerechnet ein solches Nest? Wenn es schon Deutschland sein muss, hätten es Berlin, Hamburg oder München doch auch getan! Warum ausgerechnet Mannheim?

Frustriert lege ich den Schläger beiseite. Irgendwie funktioniert das heute nicht. Stattdessen werde ich versuchen, mein Grübeln für etwas Produktives zu nutzen und mich auf die diese Woche angesetzten Geschäftstermine vorzubereiten. Damit bekäme dieser vergeudete Abend wenigstens noch einen Sinn. Drei Vororttermine konnte ich für die kommenden Tage vereinbaren, alle am Nachmittag. Sind die Objekte für uns interessant, wird direkt über den Preis verhandelt. Somit bleibt mir an den Vormittagen genügend Zeit zum Lernen.

Offiziell pausiert mein Studium gegenwärtig, um den Auslandsaufenthalt hier einzuschieben. Dennoch setzte Pa voraus, dass ich mit Hilfe von Fernlehrgängen die zuvor verbummelte Zeit aufhole. Darüber hinaus empfehle er mir, weitere von extern mögliche Kurse neben der praktischen Arbeit zu absolvieren.

Kapitel 6 – Männersorgen

„Was um alles in der Welt ist passiert, dass du es auf dich nimmst, mich in meinem Büro aufzusuchen?“ Thomas kann sich ein Grinsen nicht verkneifen, weshalb er es vermeidet, von seinen Papieren aufzusehen. „Ist deine Villa abgebrannt?“

„Lass die Scherze!“, wehrt Casper die spitze Bemerkung seines Sohnes ab.

Als Thomas die Besorgnis in der Stimme seines Vaters bemerkt, hält er in seiner Arbeit inne. Seine Brauen ziehen sich zusammen und langsam hebt er den Blick. Den ältesten Herrn Ciment in seinen einstigen Firmenräumen anzutreffen, ist inzwischen zu einer Seltenheit geworden. Zwar hat er die Geschäfte noch einige Jahre nach der Firmenübergabe an ihn mit ihm gemeinsam geführt, doch das liegt Jahre zurück. Mit Heranwachsen des einzigen Enkels hat er sich immer mehr der Aufgabe des verwöhnenden Opas gewidmet und das von ihm gegründete Unternehmen vertrauensvoll in Thomas Hände übergeben. Jeder von ihnen hat davon profitiert. Casper hat durch den kleinen Phil das nachholen können, was er, wie er sagte, durch den Firmenaufbau bei seinem eigenen Sohn verpasst hat. Er war Opa, Oma und Elternersatz in einem und damit lange Zeit der wichtigste Mensch an Phils Seite. Ein Umstand, der Thomas oft ein schlechtes Gewissen beschert hat. Gleichzeitig ermöglichte es ihm zu expandieren und aus dem einst mittelständischen Familienunternehmen ein heute europaweit agierendes Imperium zu erschaffen.

„Du bist doch nicht ohne Grund hier“, bemerkt Thomas, während er seinen Vater kritisch mustert.

Casper streift langsamen Schrittes und mit den Händen in den Hosentaschen im Büro umher. Dabei wirkt er, als sei er ganz zufällig in der Gegend gewesen und warte nun, bis sein Sohn Zeit für ein gemeinsames Mittagessen hat. Ein Unding, wenn man bedenkt, dass es Donnerstagnachmittag kurz nach 17.00 Uhr ist.

„Hast du …“, beginnt Casper zögernd, „in den letzten Tagen etwas von Phil gehört?“ Erwartungsvoll dreht er sich zu seinem Sohn um.

„Natürlich habe ich das!“ Inzwischen steht Thomas neben seinem Schreibtisch. Er hat die Arme vor der Brust verschränkt und erwidert Caspers Blick mit geneigtem Kopf. „Vor etwa einer Stunde. Er hat mir die Zusammenfassung seiner Termine geschickt“, verdeutlichend zeigt er auf den Monitor.

„Nein!“, wehrt Casper entschieden ab, „ich meine, ob du mit ihm gesprochen hast. Telefoniert – oder das mit Bild!“ Auch er verweist auf den Computerbildschirm, da ihm die seltsame Bezeichnung für diese modernen Computer-Kamera-Gespräche nicht einfällt.

Thomas schüttelt den Kopf, ohne seinen Vater aus den Augen zu lassen. Dass der liebe Großvater sich stets um den Enkel sorgt, wenn dieser mehr als nur ein paar Tage weg ist, weiß er natürlich. Dies trifft auf beide zu, auch wenn keiner es offen zugeben würde. Allerdings ist Phil kein kleines Kind mehr. Überdies hat es der jüngste Ciment schon früh verstanden, seinen alten Herren zu zeigen, wie vorzüglich ihre Erziehung und Nenis Wahlspruch von Tucholsky „Erfahrungen vererben sich nicht, jeder muss sie allein machen!“ bei ihm gefruchtet haben. Zumindest in Sachen Erfahrungen-Sammeln hat der liebe Phil bisher nichts ausgelassen. Es ist alles zu verzeichnen, was ein Bursche in seinem Alter mit den nötigen Mitteln bewerkstelligen kann: von Saufgelagen über geschrottete Fahrzeuge nach einem privaten Rennen bis hin zur kurzfristigen Inhaftierung wegen Drogenbesitz oder Alkohol am Steuer. Im Gegensatz dazu stand und steht Phils Auftreten innerhalb der kleinen Familie sowie im Zuge der Einbindung in ihr Unternehmen. Hier zeigt sich absolut nichts von dem arroganten Gehabe, das er im Kreise seiner Freunde an den Tag legt.

„Denkst du, er ist sauer?“, regt Casper sich schließlich. „Weil wir ihn …“

„Ja, das denke ich“, gesteht Thomas schlicht. Mit einer einladenden Geste bietet er seinem Vater den Sessel vor seinem Schreibtisch an und nimmt selbst in seinem Drehstuhl dahinter Platz. „Präziser gesagt denke ich es nicht nur, ich weiß es! Immerhin kann ich mich noch gut an meine eigene Reaktion erinnern, als du mir einen ähnlichen Auslandsaufenthalt auferlegt hast.“

Sie schweigen einen Moment lang und beim Gedanken an diese Zeit huscht ein Lächeln über ihr Gesicht.

„Bei dir hat er sich auch nicht gemeldet?“, hakt Thomas dennoch verwundert nach. Er brummt nachdenklich, als sein Vater matt den Kopf schüttelt. „Damit hätte ich allerdings nicht gerechnet.“

Für gewöhnlich vergehen keine zwei Tage, bis Phil sich bei seinem Großvater meldet. Auch wenn es oft nur ein paar rasch gewechselte Worte sind, dieses kleine Lebenszeichen gehört für Phil schon immer zum Alltäglichen.

Bevor die beiden in die nächste trübsinnige Stille verfallen, richtet Thomas sich in seinem Stuhl auf und greift zum Telefonhörer.

„Ich habe ohnehin einige Fragen an ihn“, murmelt er beiläufig. Nach dem Auswählen einer Kurzwahl betätigt er den Freisprecher, dann sinkt er in seinen Sessel zurück. Mit aufgestützten Armen und vor den Lippen gespitzten Fingern betrachtet er seinen Vater, während sie stumm dem Freizeichen lauschen.

„Gib mir fünf Minuten!“, dringt es plötzlich keuchend aus dem Lautsprecher. Dann knackt es und der Anruf ist beendet.

Thomas sieht, wie sein Vater nach Luft schnappt, dabei hat er die Augen weit aufgerissen.

„Schau auf die Zeit!“, tut Thomas es absichtlich lapidar ab. „Mal sehen, ob die Uhren in Deutschland genauso ticken wie bei uns in der Schweiz.“

Er erhebt sich und läuft auf einen kleinen Beistelltisch in einer Ecke des Büros zu, auf dem Getränke, Tassen und Gläser angerichtet sind. Dabei ertappt er sich, dass er selbst immer wieder einen Blick auf die Ziffern seiner Armbanduhr wirft, während er seinem Vater Tee und für sich Kaffee einschenkt. Betont langsam kehrt er an seinen Schreibtisch zurück. Sie benehmen sich wirklich kindisch. Als ob Phil noch einen Aufpasser bräuchte!

„Welche Art Projekte soll Phil für dich finden?“, will Casper wissen.

„Ich habe ihm völlig freie Hand gelassen“, erklärt Thomas. „Es muss in unser Metier passen und darf einen gewissen Rahmen nicht überschreiten. Mehr Vorgaben gab es nicht!“

Casper runzelt die Stirn, doch bevor er weiter nachfragen kann, ertönt der Klingelton eines extern eingehenden Telefongesprächs.

Kapitel 7 – Lautlose Störfelder

Während ich die letzten Stufen zum obersten Stock hinaufsteige, jongliere ich meine geschäftlichen Unterlagen, meinen Tablet-PC sowie eine Bäckertüte in einer Hand, um mit der zweiten den Rückruf auf meinem Smartphone zu aktivieren. Der Schlüsselbund steckt zwischen meinen Zähnen, was ein halbwegs verständliches Gespräch eigentlich unmöglich macht. Aber was soll’s! Schließlich versuche ich nicht gerade einen Kunden zu erreichen. Oben angekommen höre ich gerade das Piepen der zustande gekommenen Leitung, als ich spüre, wie mir das iPad samt Papieren und meinem für morgen vorgesehenen Frühstück aus den Fingern gleiten. Reflexartig schnappe ich danach, wodurch auch der Rest meiner Habseligkeiten laut scheppernd auf den Fliesen landet. Ich vernehme gerade noch die Stimme meines Vaters. Keine Sekunde später glaube ich, das spinnennetzähnliche Zerspringen beider Displays in ohrenbetäubender Lautstärke zu hören, was natürlich nicht stimmt. Zumindest das was ich vernehme trifft wohl eher auf den dumpfen Aufprall zu, statt ich das reißende Glas tatsächlich höre. Doch meine grauen Zellen fügen dem, was meine Augen verfolgen, ein absolut grauenhaftes Geräusch bei. Als ob die beschissene Realität nicht ausreichen würde.

„Eh merde!“, fluche ich los. „Quel foutu merdier!“ Mit einem kräftigen Tritt mache ich meinem Frust Luft. Die Bäckertüte prallt voller Wucht gegen die Wand, wodurch sie zerplatzt und die darin befindlichen Croissants sich in Kleinstkrümel über den ganzen Flur verteilen. Selbst durchs Treppenhaus, in die darunter liegenden Stockwerke, ergießt sich der Teilchenregen. „So eine Scheiße!“ Knurrend lasse ich den Kopf in den Nacken fallen. Ein weiteres frustriertes Schimpfen folgt, dann atme ich tief durch, um mich zu beruhigen. „Merde!“, bezeichne ich es noch einmal leise, dann senke ich den Blick und …

„Josch...“ Erschrocken weiche ich einen Schritt zurück. „Äh ... was tust du hier?“

Mit ausgestrecktem Arm hält er mir sein Smartphone direkt unter die Nase. Dabei blinzelt er immer wieder verlegen zur Seite.

„Joschi?“, erkundige ich mich zur Sicherheit noch einmal leiser. Dankbar stelle ich fest, dass er sachte mit dem Kopf schüttelt.

„Hier, kannst mit meinem telefonieren“, murmelt er kleinlaut.

Mechanisch nehme ich sein Handy entgegen, ohne etwas gegen mein entgeistertes Starren unternehmen zu können. Während Joschua sich umdreht und mit unruhigen Fingern die Bescherung auf dem Fliesenboden betrachtet, schaffe ich ein raunendes „Danke!“

„Was ist passiert?“, schallt es mir ins Ohr, noch bevor das erste Freizeichen ertönt.

„Entschuldige Pa“, beginne ich und hoffe, ruhiger zu klingen, als ich es tatsächlich bin. „Ich muss dich schon wieder vertrösten. Aber meine kompletten technischen Gerätschaften haben sich gerade in die ewigen Jagdgründe verabschiedet, was sowohl meinen Studienstoff als auch die Details der diese Woche besichtigten Objekte betrifft. Ich kann nur beten, dass ich in dieser Stadt heute noch einen Laden ausfindig mache, der mir zumindest die Daten retten und auf ein neues Gerät überspielen kann.“

„Du selbst bist in Ordnung?“

„Wenn man von dem jetzt ungenießbaren Frühstück für morgen einmal absieht“, versuche ich, seine hörbare Sorge zu beschwichtigen. Verwundert schaue ich auf das fremde Smartphone. Bereits zum zweiten Mal, seitdem ich telefoniere, nehme ich ein einzelnes Piepen wahr.

„Schau zu, dass du einen Ersatz für deine Sachen bekommst“, fordert Pa mich auf. „Ich bin noch verabredet. Ab zehn heute Abend bin ich wieder erreichbar.“

„Geht klar“, brumme ich brav.

„Schade um das Essen“, vernehme ich nun die Stimme einer Person, die sich bei Pa im Büro befinden muss.

„Danke!“, grinse ich über Opa Caspers treffenden Einwurf. „Richte ihm bitte aus, dass ich mich melde“, bitte ich meinen Vater und lege erleichtert auf.