Die Enzian-Wette - Diana Hausmann - E-Book

Die Enzian-Wette E-Book

Diana Hausmann

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Beschreibung

Kleine Alltagswetten, um das Taschengeld aufzubessern, sind im Grunde nichts Schlechtes, oder? Erst recht nicht, wenn sie gut durchdacht und mit einem Minimum an Risiko einhergehen. Doch was passiert, wenn Alkohol, Feierlaune und Prahlerei sich einem solchen Spiel beimischen? Ein Fehler, den Ruven schwer bereut. Nach dem ersten Schock beschließt er, nicht kampflos aufzugeben. Sein Entschluss steht fest. Er wird seine bisherige Schülerträgheit ad acta legen und sich seiner beruflichen Zukunft widmen. Nur ahnt er nicht, dass ausgerechnet eine Wette die Weichen seiner Zukunft in eine unvorsehbare Bahn lenkt.

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Seitenzahl: 302

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Zur Story

Ruven ist achtzehn und hat vor wenigen Tagen sein Abitur hinter sich gebracht. Leider mit einem Notenschnitt, der ihm nicht gerade jede Tür zum Traumjob öffnet. Dennoch lässt er sich auf der Abschlussfeier zu einer Wette hinreißen, die nicht nur seine berufliche Zukunft vorantreibt.

Marc Holgers ist Inhaber der RIM Gruppe in Mannheim, ein großes und erfolgreiches Unternehmen, mit dem Ruf eines hervorragenden Ausbildungsunternehmens. Marc liebt kleine Wettspielchen, die er vorwiegend seinem besten Freund Leonhard, einem mit Stern ausgezeichneten Koch und Restaurantbesitzer auftischt. Während einem ihrer Männerabende, schmieden sie den Plan, sich einer neuen Herausforderung zu stellen – hübsch verpackt in eine Wette. Als Marc den jungen Ruven unter seine Fittiche nimmt, stellt Leonhard ausgerechnet den 17jährigen Jannis in seine Dienste. Dabei ahnt niemand, dass die beiden aufstrebenden Auszubildenden ein fast identisch brüderliches Verhältnis verbindet, wie die beiden Unternehmer zueinander pflegen.

Seit Ruvens Geburt ist seine Mutter Meike die einzige, die er als lebende Angehörige kennt. Wie seltsam ist es da, plötzlich im Haus seiner erst kürzlich verstorbenen Großmutter zu stehen? Dass seine Mum noch weitere Dinge verbirgt, vermutet Ruven durch einige Briefe, die ohne Absender und mit dubiosem Pseudonym an Meike eingehen. Einer davon erwähnt eine Einladung, deren Grundlage ein geheimer Pakt von vor zwanzig Jahren sein soll. Ruven beschließt der Sache auf den Grund zu gehen. Kurz darauf steht er in einem Wirtshaus mit dem Namen ›Enzian-Hütte‹ und verfolgt im Verborgenen, wie bei einer Wette plötzlich sein Name fällt.

Autor:

Diana Hausmann wurde 1972 in der Pfalz geboren. Sie stammt aus Esthal, einem kleinen Ort unweit von Neustadt an der Weinstraße. Seit über zwanzig Jahren lebt sie mit ihrem Mann und dem gemeinsamen Sohn in der Metropol-Region Mannheim.

Inhaltsverzeichnis

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

Kapitel 33

34. Kapitel

35. Kapitel

1. Kapitel

Zwei Wochen ist es nun her, seit ihm der wohl schwerwiegendste Fehler, seines bisherigen Lebens unterlaufen ist, was etwas heißen soll! Immerhin hat er in den letzten Jahren mehr als einmal sehr weit die Klappe aufgerissen und die unmöglichsten Dinge angezapft. Aber so ist er nun einmal: frech, vorlaut und bei den abwegigsten Angelegenheiten stets an vorderster Front. Zumindest beschreiben ihn seine Altersgenossen so, wobei die wenigsten tatsächlich eine Ahnung haben, wie falsch sie damit liegen. Wie auch? Seine nach außen präsentierte Seite ist in der Tat gelegentlich sehr … angeberisch, und vorlaut vielleicht auch. Aber frech? Nein! Frech ist er definitiv nicht. Dennoch muss er sich eingestehen, eine Schwäche zu haben, die ihm diesen leicht extrovertierten Ruf eingebracht hat. Zu Recht natürlich, dazu völlig beabsichtigt. Er wettet! Nicht etwa um alles und jeden – nicht doch! Er wettet extrem bedacht, sehr gezielt und niemals ohne genaueste Analyse und Recherche. Außerdem sind es Kleinigkeiten, belanglose Alltagswetten, die ihm in den letzten zwei bis drei Jahren seine Finanzen nicht unwesentlich aufgestockt haben. Für ihn nicht mehr, als ein beiläufiges Spiel, berechnet und mit überschaubarem Risiko, aber eben doch nur ein Spiel.

Ruven ist achtzehn und hat gerade sein Abitur hinter sich gebracht, wobei die Bezeichnung ›Er hat es hinter sich gebracht‹, es recht gut beschreibt. Ein Schnitt von 3,1 mit den Leistungsfächern Mathematik, Deutsch, Englisch, Wirtschaft und Sport. Einerseits bietet diese Zusammenstellung eine recht große Bandbreite zur beruflichen Orientierung, von der Ruven jedoch nicht einmal ein Minimum besitzt. Anderseits ist sein mittelmäßiger Abschluss kein sonderlich guter Start für jegliches Weiterkommen, wie auch immer sich dies darstellen könnte. Ein sehr quälender Aspekt, dem er sich bisher nicht näher hingegeben hat. Seiner Mutter hingegen sträubten sich bei seinem schulischen Ehrgeiz die Haare – ebenfalls zu Recht. Sie weiß genau, dass ihm der Lernstoff grundsätzlich keine Probleme bereitet, vorausgesetzt, er nimmt sich die wenige Zeit, um sich den Stoff zu Gemüte zu führen, was er in den letzten beiden Jahren keineswegs getan hat. Die Tatsache, dass Ruven weder dumm noch schwer von Begriff ist, haben logischerweise auch seine Lehrer, ja sogar er selbst inzwischen begriffen. Er ist faul und desinteressiert, zumindest was den Part Lernen betrifft. Trotz allem hat er es geschafft sich durchzuwinden, auch wenn er für seine nun unmittelbar bevorstehende Zukunft extrem planlos daherkommt. Ja, in der Tat, das Wort ›planlos‹ trifft es auf den Punkt.

Wäre da nicht diese letzte Wette gewesen!

Vor zwei Wochen fanden die mündlichen Prüfungen statt. Hiermit endete für Ruvens Jahrgang das stressige und lästige Abi-Büffeln. – Ergo, das musste gefeiert werden! Die am vergangenen Samstag zelebrierte Abi-Party wurde für die meisten schrill, sehr laut und bedeutend feuchtfröhlicher, als ursprünglich geplant. Eigentlich ist Ruven nicht derjenige, der bei jeder Party sofort die Flasche zum Anstoßen in die Höhe hält. Zwar ist er ein gern gesehener Gast, bei allmöglichen Feiern, trotz allem zählen besinnungslose Saufgelage nicht zu seinen Vorlieben. Bisher kam er noch immer aufrecht und ohne stützende Hilfe, wieder zu Hause an. Ruven glaubt, dass es zwei Punkte gibt, weshalb er bei seinen Altersgenossen in die Sparte ›beliebt‹ und ›gern gesehen‹ fällt. Seitens der Damenwelt reicht ein Blick in den Spiegel. Ruven ist 1,81 Meter groß, hat dunkelblonde kurze Haare, große dunkelbraune Augen und ein verwegenes Strahlemannlächeln, das die weibliche Teenagerwelt allein im Vorbeigehen in Aufregung versetzt. Hinzukommt, dass er leidenschaftlich gerne und mehrfach wöchentlich schwimmt, was seinem Body gewiss nicht schadet. Bei seinen Schulkameraden und Kumpels verhält es sich etwas anders. Ruven ist sich sicher, dass seine Vorzüge hier in seiner ruhigen und verschwiegenen Art liegen. Er erfährt von jedem alles, ob er will oder nicht. Kein Geheimnis bleibt ihm verborgen, wobei er nicht danach fragen muss! Alle wissen, dass er nicht nur ein hervorragender Zuhörer ist, sondern in gleichem Maße die Verschwiegenheit in Person. Und genau hier liegt Ruvens Stärke! Die vielen kleinen Informationen, die wie selbstverständlich in seine Ohren dringen, werden zwar gehütet wie ein Schatz, aber auch genutzt wie ein solcher! Inzwischen ist es Ruvens Hobby, gewisse Kenntnisse zu seinem eigenen Vorteil zu nutzen. Es sind die belanglosen Dinge, die er sich zu eigen macht und als Basis für seine Alltagswetten heranzieht. Anfänglich waren es Spitzfindigkeiten, wie die Kumpelwette: Welches Mädchen hat ein Auge auf welchen Jungen geworfen? Oder: Bei welcher am Wochenende anstehenden Party werden die meisten und beliebtesten People zu finden sein? Aber auch: Welcher Idiot plant nach der Abi-Party den Wagen des verhassten Prof. zu verunstalten? Solche Dinge eben. Dabei wundert es Ruven stets, wie viele Leute es gibt, die sich auf solch bescheuerte Wetten einlassen! Er selbst findet sie kindisch. Und wenn er mit den kleinen Eurobeträgen, um die es meist geht, nicht sein Taschengeld aufbessern könnte, würde er es gewiss auch bleiben lassen.

Tja! Und genau das hätte er Samstag vor einer Woche tun sollen: Die Klappe halten, und es bleiben lassen.

Wahrscheinlich lag es an der befreienden Erkenntnis, den Lernstress vorübergehend aus seinem Gedächtnis streichen zu können. Überdies scheinen ihm die undefinierbar gemixten Alkoholmischungen an diesem Abend besser geschmeckt zu haben als sonst. Zu guter Letzt war es einer zu viel. Denn dieser eine wurde zu seinem Verhängnis, wofür er jetzt den Preis bezahlen muss. Zum ersten Mal hat er selbst seinen Mund sehr voll genommen. Vor aller Augen und Ohren, die zu diesem Zeitpunkt leider nüchterner waren, als er es von seinem Zustand behaupten konnte, hatte er wagemutig und angeberisch behauptet – nein, nicht behauptet – er hatte gewettet(!) noch in diesem Sommer in einem der größten und erfolgreichsten Unternehmen der Metropolregion Rhein-Neckar eine Anstellung zu bekommen, die ihm eine duale Ausbildung an der DHBW, der Dualen Hochschule Baden-Württemberg in Mannheim, ermögliche. Grölendes Gelächter war ausgebrochen. Schließlich wissen sie untereinander über ihre Abschlüsse Bescheid. Leider hatte ihn dies in seinem aufbrausenden Zustand lediglich dazu animiert, dem Ganzen noch eines daraufzusetzen. Insgesamt fünf Firmen hatte er mit Namen genannt, die die Ehre erhalten sollen, ihn als angehenden Studenten aufnehmen zu dürfen. Wobei das Sahnehäubchen wohl der hierfür genannte Wetteinsatz ist. Breit grinsend hatte Ruven angeboten, sich, falls er seine Wette widererwarten verlieren sollte, im kommenden Jahr noch einmal für eine Abi-Prüfung zu entscheiden, um seine Zensuren zu verbessern. Ob und wie dies möglich ist, wusste an diesem Abend keiner, aber das lässt sich schließlich herausfinden.

Am nächsten Morgen hoffte Ruven, allen seiner Mitschüler möge ebenso der Schädel brummen wie ihm, und dass sein alkoholisiertes Geschwafel niemandem in Erinnerung geblieben sei. Zehn Sekunden später entdeckte er auf seinem Schreibtisch die schriftliche Zusammenfassung der am Abend ausgeheckten Wette. Insgesamt 21 Mitschüler haben den Wisch als Zeugen gegengezeichnet, und in gleichem Zuge dagegengehalten. Die Beträge und Namen, die er dabei vor Augen bekam, versetzten ihm zwangläufig einen Stich in die Magengegend. Die Abrechnung der Wette wurde auf den 1. Januar kommenden Jahres festgelegt, Ruvens 19er Geburtstag. Ihm wurde auferlegt, eine Probezeit von sechs Monaten überstehen zu müssen. Im Gegenzug summiert sich der Wetteinsatz, der ihm zusteht, falls er gewinnt, auf eine Höhe, die ihm locker 14 Tage Tauchurlaub auf den Malediven ermöglicht. Nach erstem Schock war Ruven mit dem Beweisstück seiner vergangenen Sinnesumnachtung zu seiner Mutter in die Küche geschlichen. Er hatte sich ihr gegenüber an den winzigen Kaffeetisch gesetzt und sein Vergehen gebeichtet. Es folgten fünf Sekunden Sprachlosigkeit, dann waren beide in schallendes Gelächter ausgebrochen. Seine Mum sicher aus Schadenfreude, er wohl eher aus ohnmächtiger Verzweiflung. Dennoch hatten sie anschließend ihre gewohnten Kaffeepötte gefüllt und beratschlagt, was nun zu tun sei.

Soviel zu den Tatsachen, die Ruven inzwischen als gegeben hinnimmt. Sein Entschluss steht fest: Er will und wird die Wette gewinnen! Warum auch nicht? Die Sache ist mag sehr heikel sein, aber nicht unmöglich! Also wird er alles daransetzen, als Gewinner seinen 19. Geburtstag zu feiern.

2. Kapitel

»Der Kerl lungert ja immer noch hier herum«, brummt Udo leise.

»Wen meinen Sie?«, erkundigt sich sein Chef vom Rücksitz aus.

»Da!« Mit dem Zeigefinger deutet Udo auf einen Teenager auf der gegenüberliegenden Straßenseite. »Der Bursche stand schon da, als ich heute Morgen gekommen bin. Das war kurz vor halb acht.«

»Vielleicht arbeitet er in einem der Häuser und macht gerade Pause«, kommt es mutmaßend durch die Mittelkonsole nach vorne.

Udo grinst und wirft seinem Chef einen belustigten Blick über den Rückspiegel zu. Seit geschlagenen fünf Minuten stehen sie mit dem Wagen in der Einfahrt und warten, dass der monströse Bagger, der direkt vor dem Firmengebäude die Straße für Erneuerungsarbeiten in Kleinstteile zerlegt, den Weg für eine kurze Zeit freigibt. Eine lästige Angelegenheit, aber leider unumgänglich. Seit Monaten wird der Straßenbelag der halben Mannheimer Oststadt erneuert. Begonnen wurde mit der Augustaanlage, nun sind die Nebenstraßen an der Reihe. Nun ja, es lässt sich nicht ändern. Außerdem ist diese Sanierung längst überfällig, weshalb es der Firmenboss samt seinem Chauffeur gelassen nimmt. Eine Anweisung an alle Mitarbeiter, sich darauf einzustellen und ihre Termine mit entsprechenden Zeitfenstern zu planen, erfolgte schon vor Wochen.

»Was denken Sie, Udo, was könnte der sonst hier tun, außer in einer der umliegenden Firmen zu jobben?«

Udos Grinsen wird breiter. Solche Spielchen seines Chefs kennt er zur Genüge. Seit über zehn Jahren arbeitet er für ihn. Man hatte ihn für den Empfang des Verwaltungssitzes eingestellt, inzwischen zählt er zum Stab des Sicherheitsdienstes. Doch seit der Firmeninhaber, während der Geschäftszeiten, generell auf einen eigenen Fahrdienst zurückgreift, agiert er nur noch für den Boss persönlich. Die beiden mögen sich. Sie haben den gleichen Humor: trocken, spitz und gelegentlich sehr direkt. Bestimmt kennt Udo Kirsch seinen Chef besser, als die meisten in der Firma. Wahrscheinlich weiß er sogar mehr über ihn, als der Großteil dessen Familie. Obgleich dies kein Kunststück ist, da der Rest der Welt seinen Boss wohl zu den verschlossenen und mürrischen Personen zählt, die nichts anderes als ihr Geschäft im Sinn haben. Auch Udo kennt diese Seite an ihm – aber auch die andere.

»Wenn er hier irgendwo jobben würde, könnte er nicht seit über zwei Stunden auf der Gasse stehen!«, erwidert Udo und tippt auf seine Armbanduhr. »Wir haben kurz vor zehn, und ich beobachte ihn schon die ganze Zeit.«

»Was tut er wohl da, hm?«, stochert der Chef weiter.

»Nein! Hören Sie auf mit den Spielchen!«, lacht Udo, und sieht sich im Fahrersitz nach hinten um. »Heute wette ich nicht.«

»Schade«, seufzt es im Fond. »Ich hätte Logenkarten für die Adler übrig.«

Udo presst die Lippen zusammen und brummt leise, mit dem Blick wieder durch die Frontscheibe auf die andere Straßenseite gerichtet. Das Angebot ist verlockend. Seit Jahren verfolgt er jedes Spiel der Mannheimer Eishockeymannschaft, auch wenn er selten Zeit für einen Besuch im Stadion hat.

»Er observiert Ihr Unternehmen und plant einen feindlichen Übergriff«, scherzt er verschwörerisch.

»Ach! Und Sie glauben, damit gewinnen Sie Logenkarten für die Adler?« Ein affektiert ablehnendes Zungenschnalzen schallt durch das Wageninnere. »Stammt Ihr Einfall vom gestrigen Tatort im Fernsehen? Oder hat Ihnen Ihre Frau nur schlechte Nachrichten aus der Tageszeitung vorgelesen?«

Abermals fangen beide an zu lachen. Offensichtlich ist der Chef bester Laune, was Udo als guten Start für die Woche verbucht. Sekunden später gibt der Bagger eine Nische zum Passieren frei. Udo startet die Jaguar-Limousine und verlässt das Firmengelände Richtung Heidelberg.

Ruven hat sich die Kopfhörer aufgesetzt und liegt der Länge nach auf seinem Bett. Mit im Nacken verschränkten Händen blickt er zur Decke hoch. Seine Bleibe in der 2-Zimmer-Wohnung, die er sich mit seiner Mutter teilt, liegt im vierten Stock eines Mehrfamilienhauses im Mannheimer Nordosten, im Ortsteil Vogelstang. Sein Reich besteht lediglich aus einer breiten Schlafcouch, einem Schreibtisch sowie einem schmalen Kleiderschrank. Überdies steht ein kleiner Fernseher auf einer alten bunt bemalten Holzkiste. Das ist alles. Mit zwanzig Quadratmetern ist das Zimmer recht geräumig. Allerdings wurde es mittig durch ein als Raumteiler fungierendes Regal in zwei Hälften geteilt. Die andere Seite ist ebenso spartanisch möbliert. Statt des Fernsehers steht hier ein Laptop auf der Holzkiste, wobei die TV- und EDV-Ausstattung hier von beiden Bewohnern genutzt wird. Völlig ausreichend behaupten die Teenager. Sie haben ihre Rückzugsmöglichkeit, falls sie allein sein wollen. Der Rest spielt sich ohnehin in der Küche oder im Wohnzimmer ihrer Behausung ab. Der zweite Bewohner ist Ruvens bester und ältester Freund.

»Hey, Alter, wie war’s heute Morgen?«

Ein neckender Hieb landet auf Ruvens Schulter, gleichzeitig wird sein Kopfhörer weggezogen. Er fährt erschrocken hoch, lässt sich aber gleich wieder zurück aufs Kissen sinken.

»Hallo Jannis«, gähnt Ruven. Während er die Musik auf seinem Smartphone unterbricht, setzt er sich langsam auf.

»Los, erzähl schon!«, treibt ihn sein Freund an. »Gibt es Neuigkeiten?«

»Nein«, knurrt Ruven. Er stütz die Ellenbogen auf die Knie auf und rauft sich mit einer Hand durch die Haare. »Alles beim Alten. Vier schriftliche Bewerbungen laufen, eine steht noch aus. Wenn möglich, will ich die persönlich abgeben. Nur ist das dort nicht so leicht!«

»Haben sie dich abgewimmelt?«, stochert Jannis nach.

»Nicht direkt«, brummt Ruven.

»Hm, schon klar! Dein Favorit. Wieso versuchst du es nicht online, oder vorab telefonisch?«

Jannis und Ruven kennen sich seit dem Kindergarten und pflegen ein Verhältnis wie innig vertraute Brüder. Doch im Gegensatz zu Ruven kämpft Jannis weder um eine Lehrstelle oder besser, einen Studienplatz, noch hat er die obligatorischen Fragezeichen im Sinn, wenn er an seine berufliche Zukunft denkt. Seit Jahren hat Jannis nur ein Ziel: Er will Koch werden! Und dieses Ziel strebt er auf direktem Weg an, um möglichst schnell mit dem ersten Michelin-Stern ausgezeichnet zu werden. Den Ausbildungsplatz hat er bereits in der Tasche. Er startet seine Berufsausbildung nach den Ferien, am 1. September, bei einem namhaften, in Mannheim ansässigen Küchenchef. Außerdem plant er, nach erster Einarbeitung, ein parallel verlaufendes Fernstudium zum Betriebswirt. Den entsprechenden Abi-Abschluss bringt er natürlich mit. Doch auch in Jannis beruflichem Weg gibt es augenblicklich einen sehr großen Gesteinsbrocken, den es zu bezwingen gilt. Dieser Backstein heißt Dr. Thomas Länder, ist Lehrkörper an der Uni in Karlsruhe, dazu sein Vater. Dr. Länder findet es ganz und gar nicht chic, dass sich sein Sohn einer Kochlehre hingibt, statt sich, wie er selbst, einem Uni-Studium zu widmen und eine Promotion anzuhängen. Allerdings fand der gute Herr Länder noch überhaupt gar nichts chic im Leben seines Sohnes. Seit Ruven Jannis kennt, herrscht Krieg ihm Hause Länder. Jannis Mutter war und ist hier ebenfalls keine Hilfe. Sie ist eine Modepuppe aus gut betuchtem Hause, die sich für ihren Sohn nur dann interessiert, wenn sie seinen Kleiderschrank neu ausstaffieren kann. Jannis wohnt offiziell nur wenige Meter entfernt, in einem schönen und großen Einfamilien-Bungalow. Allerdings hat er in den letzten zehn Jahren mehr Zeit in der Wohnung von Ruven und seiner Mutter verbracht, als zu Hause. Er lebt praktisch hier. In der Mietswohnung findet man mindestens ebenso viele Habseligkeiten des noch 17-jährigen Jannis wie von Ruven. Seit Jahren verbringt Jannis bereits die Wochenenden und Ferienzeit hier. Und seit Beginn des letzten Schuljahres ist er selbst unter der Woche überwiegend hier anzutreffen. In einer sehr melancholischen Stunde hatte Jannis seinem Wahlbruder sogar eingestanden, dass er sich Ruven und seiner Mum enger verbunden fühle, als es im Familienverhältnis zu seinen leiblichen Eltern jemals war.

»Meinst du, ich hätte nicht schon jede erdenkliche Standardbewerbung ausprobiert?«, stöhnt Ruven. »Aber mit meinem Notenschnitt falle ich schon bei der Erstprüfung aus dem Raster. Zwei hübsch formulierte Absagezeilen, tschau – das war’s dann.«

»Dann peile doch die anderen Firmen vorrangig an«, schlägt Jannis vor.

»Mann, ich hab in den letzten Tagen sämtliche Möglichkeiten ausgelotet, die bei den fünf Firmen zur Verfügung stehen. Ich hab mir viereckige Augen gelesen, und das im Internet zu findende Material fast schon auswendig gelernt!« Ruven erhebt sich plötzlich und läuft unruhig im Zimmer umher. »Ich kann dir keinen speziellen Grund nennen«, redet er sich nahezu in Rage. »Aber ich will genau dort hin! Wenn ich in dem Unternehmen mein BA-Studium absolvieren kann, stehen mir alle Türen offen!«

»Und wie viele Hundert versuchen den gleichen Arbeitgeber zu bekommen?«

Jannis typische Art seinen Freund zu erden: ernüchternd, sehr direkt und ausnahmslos ehrlich.

»Keine Ahnung«, schnaubt Ruven und plumpst neben Jannis auf die Bettcouch zurück. Sie sitzen Schulter an Schulter und beäugen sich aus den Augenwinkeln heraus. »Nein!«, blökt Ruven schließlich. »Ich habe noch nicht aufgegeben!«

Jannis nickt zufrieden, dann hält er Ruven die Hand zum High Five entgegen.

Am folgenden Montagabend hat Ruven es schwarz auf weiß. Von jedem der fünf Unternehmen, die er favorisiert, hat er eine Absage erhalten. Bla, bla, bla … wurde sich intern für einen Mitbewerber entschieden. Oder: Die Vergabe entsprechender Stellen erfolgte schon vor Monaten. Er dürfe es jedoch gerne im nächsten Jahr erneut versuchen. Aber auch: dass das Unternehmen einen allgemein höher angesetzten Schnitt voraussetze. So in der Art. – Alles in allem sehr niederschmetternd.

»Erspart mir eure Kommentare!«, knurrt Ruven deprimiert.

Er sitzt gemeinsam mit Jannis, dessen aktueller Liebelei Tina und seiner Mutter Meike in der Küche. Außerdem hat sich Elis vor einigen Minuten zu ihnen gesellt. Die 74-jährige, rüstige Rentnerin lebt in der Nachbarwohnung. Sie ist seit einer Ewigkeit Witwe und für Ruven und Jannis so etwas wie die Ersatzoma. Angeblich habe sie keine eigene Familie mehr.

»Dann erspar du uns deinen mitleidigen Gesichtsausdruck!«, kontert seine Mum.

Ruven presst die Lippen zusammen und nickt. Er weiß genau, dass er es mit etwas mehr Lerneifer zu einem bedeutend besseren Abschluss gebracht hätte. Und außer seiner Mutter hatten selbst Elis und Jannis auf ihn eingeredet, mehr Fleiß an den Tag zu legen.

»Und wenn du dir vorerst einen Job suchst, und dich parallel fürs nächste Jahr bewirbst?«, wirft Elis ein. »Ein bisschen Erfahrung und Hände schmutzig machen hat noch niemandem geschadet!«

»Dann kannst du deinen Abschluss ebenfalls aufbessern«, pflichtet Jannis bei.

»Darauf wird es wohl hinauslaufen«, murmelt Ruven. Er faltet die vor ihnen auf dem Tisch ausgebreiteten Absageschreiben zusammen, steht auf und verschwindet lautlos in seinem Zimmer.

»Ich glaube, ohne diese Wette würde es ihm gar nicht so zusetzen«, mutmaßt Jannis.

»Dann sollte ich eurem Saufgelage wohl dankbar sein«, bemerkt Meike spitz. »Vielleicht steckt er beim zweiten Anlauf die Nase etwas mehr in die Bücher.«

Sie hocken sich allesamt verdattert am Küchentisch gegenüber. Einerseits tut ihnen Ruven leid. Andererseits hat er sich seine Situation selbst zuzuschreiben. Obendrein hat er die Chance, seine Ausgangslage für die kommende Saison bedeutend verbessern zu können. Er muss es nur einsehen, sich aus seinem selbstbedauernden Loch erheben und das Beste daraus machen.

3. Kapitel

»Es geht um einen Ausbildungsplatz«, erklärt Udo aus heiterem Himmel.

»Um … was? Von was reden Sie denn?«

»Der Bursche, der letzte Woche so lange auf der anderen Straßenseite herumlungerte«, frischt Udo die Erinnerung seines Chefs auf. »Am Mittwoch, vor unserer Abfahrt zu Ihrem Reha-Training.«

Marc Holgers zögert, während er die Utensilien für seinen nächsten Termin zusammennimmt und blickt zu seinem Chauffeur auf.

»Das ist ein Scherz, oder?« Mit den Papieren und seiner Aktentasche läuft Holgers auf Udo zu, der abwartend im Türrahmen steht. »Wenn er tatsächlich an einer Ausbildung in unserer Firma interessiert ist, sollte er wissen, wie das Bewerbungsprozedere vonstattengeht. Ansonsten fällt er durchs Raster, bevor er die Türklinke berührt hat.«

Udo Kirsch tritt beiseite, um seinem Chef den Vortritt zu lassen. Sein Boss hat gerade einen sehr herablassenden Ton angeschlagen, der ihm verdeutlicht, dass er augenblicklich nicht zu Scherzen aufgelegt ist. Also lässt er das Thema auf sich beruhen und schluckt weitere Kommentare hinunter.

Nach einer zweistündigen Sitzung sinkt Herr Holgers leise stöhnend auf den Rücksitz der silbernen Jaguar-Limousine. Sein Chauffeur schließt die Tür, umrundet den Wagen und nimmt hinter dem Steuer Platz. Während Udo den Motor startet, wirft er wie gewohnt einen Blick in den Rückspiegel. Wenn hierauf ein Nicken erfolgt, geht die Fahrt in die Firma zurück. Heute passiert einige Sekunden lang gar nichts. Der Boss sitzt gedankenversunken im Fond und starrt ins Leere.

»Herr Holgers?« Udo Kirsch räuspert sich. »Ins Büro zurück?«, erkundigt er sich mit einer Andeutung auf die Uhr.

Es ist Montagabend, Viertel vor sieben. Die nächsten Sekunden verstreichen, ohne eine Reaktion. Dann sieht sein Chef ruckartig auf und schüttelt entschieden den Kopf.

»Nein!«, bestimmt er. »Zu Leonhard, ins Restaurant.«

»Ähm … Herr Holgers, es ist Montag!«, wundert sich Udo. »Das Restaurant ist zu!«

»Ja, natürlich ist heute zu«, brummt es von hinten. »Dennoch. Ich weiß, dass Leonhard da ist.«

Udo Kirsch nickt und fädelt sich in den Verkehr ein.

Die Strecke von einer der Außenstellen des Unternehmens, in der heute eine nervenaufreibende und vor allem unnötige Vorstandsbesprechung abgehalten wurde, nimmt bei normalen Straßenverhältnissen knapp zwanzig Minuten in Anspruch. Sie müssen von Weinheim in die Mannheimer Innenstadt. Während der ersten Minuten herrscht Schweigen im Wagen. Zwei Mal ertönt der Piepton von Marc Holgers Smartphone. Beide Male drückt er den Anruf weg. Scheint ein sehr unangenehmer Tag gewesen zu sein, vermutet Udo. Im Normalfall ist sein Chef für die Belange seiner Angestellten immer erreichbar, solange es sich mit dem gegenwärtigen Zeitpunkt und Termin vereinbaren lässt. Es sei denn …

»Kümmere dich selbst um deine Probleme«, knurrt es leise.

… die liebe Familie. Offensichtlich liegt Udo mit seiner Vermutung richtig. Für seine Ex-Frau, sowie den Rest der angeheirateten Familie, ist der Boss nur in Ausnahmefällen zu sprechen.

»Haben Sie noch Interesse an den Karten?«

Udo Kirsch blinzelt überrascht in den Rückspiegel. Die laut schallende Frage gilt eindeutig ihm, reißt ihn aber völlig unvorbereitet aus seinen Gedanken.

»Ich verstehe nicht! Karten?«, stakst er.

»Ja! Die Karten für das Adler-Spiel!«

»Nun, äh … ich wäre nicht abgeneigt«, nuschelt Udo verlegen.

»Okay! Hier die Voraussetzungen«, äußert Holgers bestimmend: »Ich teile Ihnen meine eigene These mit. Dann geben Sie mir Ihr Wissen bekannt. Aber vergessen Sie nicht, Ihre Wissensquelle gleich mit anzuführen. Schließlich zählen nur die Fakten. Wenn ich mit meiner Annahme richtig liege, bringen Sie meine Ex-Frau am Samstag zu Ihrem Konzert und fahren sie anschließend dahin, wo sie hin will. Und zwar OHNE mich. Das Gefiedel darf sie sich allein anhören. Sollte ich wider Erwarten verlieren«, seine Stimme wird zuckersüß, sogar amüsiert, »stehen Ihnen für das nächste Eishockey-Heimspiel vier Karten in unserer Loge zur Verfügung. Wie gehabt, das komplette Programm, mit VIP-Parkplatz, Catering etc. pp. Sie wissen, das ist das Auftaktspiel der neuen Saison!«

»Eine recht einseitige Angelegenheit, finden Sie nicht?«, kontert Kirsch.

»Einseitig? – Inwiefern?«

»Insofern, dass ich Ihnen heute den eigentlichen Grund schon genannte habe!« Damit erinnert Udo seinen Chef an die kurze Erwähnung in dessen Büro.

»Das mit der Bewerbung meinen Sie?«

Der Chauffeur blickt rasch in den Rückspiegel und nickt.

»Vergessen Sie diese Erwähnung«, wiegelt Herr Holgers ab. »Ich will es schon genauer wissen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie nicht mehr, als dieses ohnehin nahe liegende Bruchstück in petto haben.« Fragend neigt er den Kopf und Udo nickt erneut. »Nun denn!« Marc Holgers faltet die Hände im Schoß und grinst. »Er hat seine Bewerbungsunterlagen eingereicht, wurde zum Test und Gespräch eingeladen und war so herausragend, dass er seine Zusage noch am selben Tag samt Vertrag erhielt. In der Zwischenzeit hat er sich im Freien die Füße vertreten.«

Augenblicklich herrscht Stille im Wagen. Als sie an einer rotenAmpel zum Stehen kommt, dreht Udo sich mit großen Augen und sehr langsam zu seinem Chef um.

»Vorschlag meinerseits: Sie vergessen die Wette und schenken mir die Karten, einfach so!« Er starrt Holgers abwartend an, dann schüttelt er entrüstet den Kopf. »Also entweder war Ihr Tag heute extrem übel, oder es ist Jahre her, seit Sie der Personalabteilung in Ihrem Unternehmen zuletzt einen Besuch abgestattet haben. – Ich tippe auf Ersteres.« Damit dreht er sich zurück und widmet sich wieder dem Verkehr.

Udo Kirsch kennt den geschäftlichen Part seines Chefs inzwischen recht gut. Er weiß, dass es in diesem großen Unternehmen, samt seiner Tochterfirmen, keinen Zweig gibt, dessen Vorgehensweise dem Firmeninhaber nicht geläufig ist. Und dies, obgleich er die eigentliche Leitung an mehrere Geschäftsführer abgegeben hat. Zwar besitzt der Chef weiterhin ein sehr durchgreifendes Mitspracherecht, dennoch agiert er seit einigen Jahren fast nur noch intern, in beaufsichtigender Position. Selbst die öffentliche Präsenz hat er überwiegend auf andere Schultern verteilt.

Ein undefinierbares Gemurmel ist zu vernehmen, dann ein Schnauben.

»Hätte doch sein können!«, rechtfertigt sich der Boss.

»Nein!« Udo schüttelt belustigt den Kopf. »Seit wann werden denn in unserem Gebäude Bewerbungsgespräche abgehalten? Wer hätte das denn tun sollen? Oder besser, in welcher Abteilung hätte er sich vorstellen sollen?«

Holgers brummt etwas Unverständliches. Sein Chauffeur hat natürlich recht. Das Verwaltungsgebäude in der Mannheimer Innenstadt beherbergt lediglich den Führungsstab, die Rechtsabteilung sowie die zugehörigen Sekretariate. Überdies einige Konferenzräume, die für spezielle Kundengespräche sowie interne Meetings der leitenden Personen des Unternehmens dienen. Für die eigentliche Verwaltung, samt Personalabteilung und einige Tochtergesellschaften, wurde bereits vor über zehn Jahren aus Platzgründen ein Neubau in einem Gewerbegebiet im Mannheimer Süden errichtet. Den repräsentativen Firmensitz in dem alten Gemäuer will der Inhaber dennoch nicht aufgeben.

»Dann eben doch der feindliche Übergriff, nur extrem schlecht getarnt.«

»Himmel!«, lacht Udo. »Was ist heute passiert, dass Sie sich mit solch miserablen Argumenten zu einer Wette hinreißen lassen?«

»Erzählen Sie das bloß keinem!«, lamentiert Holgers. »Sonst behaupten alle, der Alte sei verrückt geworden.«

Udo verzieht das Gesicht, wohlbedacht, dass es seinem Insassen nicht entgeht. Er mag es nicht, wenn sich sein Chef selbst »der Alte« nennt. Marc Holgers zählt mit seinen 46 Jahren gewiss nicht in diese Kategorie. Im Gegenteil! Wenn nichts Unvorhergesehenes passiert, wird er sicher noch sehr lange zu den führenden Unternehmern dieser Region gehören. Genau genommen ist Udo stolz, gerade für diesen erfolgreichen Mann tätig zu sein, ganz gleich welche mürrischen und bissigen Eigenarten man ihm nachsagt.

An ihrem Zielort angekommen, parkt Udo den Wagen auf einem der reservierten Stellplätze des Restaurants ›CE SOIR‹, unmittelbar neben einem schwarzen Range Rover mit Werbeaufdruck der Lokalität. Es ist das Fahrzeug des Restaurantbesitzers und Chefkoch Leonhard Rush. Der gebürtige Luxemburger ist ein langjähriger Freund Marc Holgers, daher ist er mehrfach in der Woche hier und geht im Restaurant ein und aus wie die Angestellten.

»In Ordnung«, brummt Holgers, macht jedoch keine Anstalten auszusteigen. »Vergessen wir die Wette, die Karten gehören Ihnen. Würden Sie mich nun trotzdem an Ihrem Wissen teilhaben lassen?«

»Natürlich!« Udo Kirsch schmunzelt, als er sich im Sitz zu seinem Chef umdreht. »Im Grunde ist es Zufall, dass ich es erfahren habe«, beginnt er und räuspert sich. »Als wir letzten Mittwoch nach Ihrem Termin in Heidelberg wieder in der Firma ankamen, lag am Empfang eine Bewerbermappe. Frau Frosch blätterte darin, so erhielt ich einen Blick auf das Deckblatt …«

»Die Fakten reichen mir«, unterbricht Holgers seinen Chauffeur ungeduldig.

»Es waren die Bewerbungsunterlagen des jungen Mannes, der am Mittwoch auf der anderen Straßenseite stand.«

»Dann hat er sich schlecht informiert!«

»Nein, hat er nicht«, entgegnet Udo Kirsch. »Ich habe aus Neugier nachgefragt: Der Junge ist hartnäckig!«

»Im Grunde nichts Schlechtes«, kommentiert Holgers dazwischen.

»Der Bursche hat das komplette Prozedere bei der Personalabteilung durchlaufen«, redet Udo weiter. »Bewerbung, Einladung zum Test, sogar zum anschließenden Gespräch bat man ihn. Dennoch fiel er der Anzahl an Bewerbern zum Opfer.«

»Warum?«, will der Boss wissen.

»Laut Personalabteilung habe er im Test überdurchschnittlich gut abgeschnitten, aber die schulischen Voraussetzungen hätten ihn aus der Endauswahl katapultiert. Scheinbar setzt die RIM Gruppe einen gewissen Notenschnitt voraus.« Kirsch zuckt unwissend mit der Schulter, dann neigt er abwartend den Kopf.

»Natürlich haben wir Rahmenbedingungen, die erfüllt sein müssen. Alleine schon, um ein erstes Auswahlkriterium und gewisse Standards zu haben«, rechtfertigt Holgers die Vorgehensweise in seinem Unternehmen. Dabei hat er mit deren Handhabung schon lange nichts mehr zu tun.

»Wenn Sie mich fragen, sind zwei Punkte trotzdem seltsam«, wirft Udo ein, und sein Boss hebt erwartungsvoll die Augenbrauen. »Warum wurde er trotz des angeblich schlechten Notendurchschnitts eingeladen? Und warum fällt er durchs Raster, wenn der Test doch angeblich so perfekt lief?«

»Gute Frage«, murmelt Holgers nachdenklich. Einige Sekunden sitzt er reglos da, dann hebt er ruckartig den Kopf, öffnet die Fondtür und steigt aus. Sein Fahrer spritzt ebenfalls aus dem Wagen, doch sobald beide neben dem Fahrzeug stehen, winkt Holgers ab. »Feierabend, Kirsch! Ich komme anderweitig nach Hause.«

»Wann soll ich Sie morgen abholen?«

»Gar nicht«, lehnt der Boss ab. »Ich fahre selbst in die Firma. Einen schönen Abend, Udo.« Sein Chauffeur nickt und Holgers verschwindet im Hintereingang des CE SOIR.

Als Marc die Restaurantküche betritt, läuft sein Freund mit dem Telefonhörer am Ohr zwischen den einzelnen Kochreihen umher. Marc schiebt lautlos die Tür hinter sich zu und bleibt abwartend dahinter stehen. Verwundert verfolgt er, dass Leonhard gelegentlich den Kopf schüttelt, sich mit der freien Hand durch die Haare rauft und dabei nicht mehr, als einige Male leise »Hm« und »Aber …« murmelt. Scheinbar ist sein Gesprächspartner derart im Redefluss, dass er selbst nicht zu Wort kommt. Ein seltsames Schauspiel, findet Marc. Ansonsten ist sein Freund nicht so wortkarg. Leonhard und er kennen sich über 25 Jahre. Ihr Aufeinandertreffen ergab sich derzeit inmitten einer laut feiernden Menge, beim Après-Ski in einer Hütte bei Seefeld. Seither pflegen sie ihre Freundschaft sehr eng. Sie kennen sich in- und auswendig, wissen, wie der andere denkt und tickt. Damals hatte Leonhard in einem elitären Hotel in Seefeld als Koch gearbeitet und bevor er sein Restaurant in Mannheim eröffnete, waren Marc und er regelmäßig hin- und hergependelt.

»Ärger?«, erkundigt sich Marc, sobald sein Freund leise seufzend den Hörer sinken lässt.

»So würde ich es nicht nennen«, entgegnet Leonhard. Leise pustend stößt er den Atem aus, dann fordert er Marc mit einer Handbewegung auf ihm zu folgen. »Rot oder Weiß?« Während er hinter die Theke läuft, schiebt Marc sich ihm gegenüber auf einen Barhocker.

»Das kommt darauf an, was besser zum Essen passt!«, kontert Marc.

Leonhard schmunzelt, während er eine Flasche Rotwein aus dem Regal zieht. Schweigend harren sie aus, bis die Flasche entkorkt, die Gläser befüllt und der erste Schluck genüsslich die Kehle hinuntergeronnen ist. Anschließend verständigen sie sich mit einem knappen Nicken. Eine vollends ausreichende Kommunikation für die beiden. Jeder verschwindet in einer anderen Ecke der Küche und des Restaurants. Ein Tisch wird eingedeckt, frisches Baguette aufgeschnitten, diverse Häppchen auf einem großen Schieferbrett angerichtet und Wein nachgegossen. Kurz darauf sitzen sich die beiden im Restaurant gegenüber und genießen ihre kleinen Köstlichkeiten.

»Weihst du mich ein?« Marc deutet mit dem Kinn zum Telefon, das seit Beendigung des Gespräches auf der Bar-Theke liegt.

Leonhard brummt zustimmend und schluckt den letzten Bissen hinunter.

»Man lernt nie aus!«, philosophiert er kopfschüttelnd. »Ich habe es noch nie erlebt, dass ich einen Auszubildenden ablehnen muss, weil er minderjährig ist und seine Eltern den Lehrvertrag nicht gegenzeichnen wollen.«

Marcs Augenbrauen schnellen in die Höhe. »Das ist in der Tat neu!«

»Der junge Mann, um den es sich dreht, hat sich schon vor Monaten bei mir vorgestellt und sich gleichzeitig zu einem Praktikum bereit erklärt. Vielleicht erinnerst du dich, er war beim Catering für die Moor-Hochzeit dabei.«

Marc nickt. »Von dem warst du doch so begeistert!«

»Ja«, seufzt Leonhard. »Er hat sich in den zwei Wochen sehr geschickt angestellt. Dazu war er so lernbegierig, dass der Rest meiner Mannschaft sich ebenfalls für ihn ausgesprochen hat.«

»Und weshalb lehnen seine Eltern die Ausbildung ab?«

»Das war der Vater des Jungen«, beginnt Leonhard, mit einem mürrischen Wink zum Telefon. »Ein gewisser Dr. Länder. Er ist der Ansicht, sein Sohn müsse die Entscheidung, eine Kochlehre zu absolvieren, noch einmal überdecken! Schließlich könnte er mit seinem sehr guten Abiturergebnis, ohne Weiteres, eine Akademikerlaufbahn anstreben.«

»Boa!«, posaunt Marc fassungslos. »Was für ein arroganter Schnösel!«

»Tja, mir sind die Hände gebunden.« Leonhard verschränkt die Arme vor der Brust und lehnt sich im Stuhl zurück. »Der Junge ist siebzehn. Und solange kein Erziehungsberechtigter den Ausbildungsvertrag gegenzeichnet, kann ich ihn nicht für mich arbeiten lassen.«

»Prima!«, schnaubt Marc. »Denkst du, der Idiot bekehrt seinen Sohn? Oder bleibt er bei seiner Berufswahl und beginnt im nächsten Jahr?«

Leonhard hebt matt sie Schultern. Einen Moment sitzen sie sich noch nachdenklich gegenüber und nippen an ihren Weingläsern. Plötzlich stutzt Marc, stellt sein Glas ab und ein hinterlistiges Grinsen zeigt sich in seinem Gesicht. Verschwörerisch beugt er sich seinem Freund über den Tisch entgegen und fuchtelt belehrend mit dem Zeigefinger herum.

»Ich wette da lässt sich was machen!«

Leonhard grunzt amüsiert auf. »Du wettest?«

Marc nickt, und zwinkert frech mit den Brauen.

»Irgendwann verwettest du noch Haus und Hof«, prophezeit Leonhard. »Davon abgesehen hast du gegen mich ohnehin keine Chance.« Nun beginnt auch er zu grinsen. »Das letzte Mal hast du mir deinen kompletten Whiskey Vorrat abgetreten, schon vergessen?«

»Pff – Peanuts!«, wischt Marc den Einwand beiseite. Seine Augen blitzen begeistert. »Los, um was wetten wir?«

4. Kapitel

»Man könnte meinen eine Welt bricht zusammen!« Meike sitzt auf der Arbeitsplatte ihrer Küche, hat die Arme um die Beine geschlungen und wippt leicht vor und zurück. Ihre Lippen presst sie fest gegen die Knie, um sich ihr Grinsen zu verbergen.

»Hä hä!«, maulen Ruven und Jannis gleichzeitig.

Ruven lümmelt mit angezogenem Fuß auf einem Küchenstuhl, Jannis hockt vorm Fenster auf dem Boden und lehnt mit dem Rücken gegen den Heizkörper. Beide offenbaren eine Miene, wie die sprichwörtlichen drei Tage Regenwetter. Es ist Montagabend und die herrschende Stimmung der Teenager hat sich dem augenblicklichen Wetter angepasst: trübe und extrem bedrückend.

»Wenn man es genau betrachtet, gleicht das heute in der Tat einem Weltuntergang«, raunt Jannis niedergeschlagen. »Wie verbohrt kann ein Mann sein, dass er so etwas tut?«

Wenige Minuten zuvor hatte er einen Anruf von seinem Vater erhalten. In völlig desinteressiertem Ton erklärte dieser, dass er nicht bereit sei, Jannis Kochausbildung zuzustimmen. Er weigere sich, den parat liegenden Ausbildungsvertrag gegenzuzeichnen. Falls der Herr Sohn diese Laufbahn weiterhin anstrebe, wird er warten müssen, bis er volljährig sei. In diesem Fall könne er sich jedoch gleich ganz von der Familie verabschieden. Jannis achtzehnter Geburtstag ist am 4. November dieses Jahres. Sollte Dr. Länder seine Ankündigung tatsächlich durchziehen, wäre der geplante Ausbildungsstart Anfang September nicht möglich. Er würde ein komplettes Jahr verlieren.

»Jannis«, seufzt Meike tröstend. »Es ist doch nicht das erste Mal, dass dein Vater droht, dich aus dem Haus zu werfen. – Und? Du besitzt weiterhin ein Haustürschlüssel, und gehst ein und aus.«

»Die bescheuerte Familie ist mir doch scheiß egal!«, motzt Jannis. »Die können mich alle mal. Mich fuchst aber der Mist mit der Unterschrift!«

»Probier’s doch bei deiner Mutter«, wirft Ruven ein, worauf er ein verbissen steifes Kopfschütteln von seiner Mum erntet.