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Wie kann es sein, dass eine Kaffeetasse sowohl dem steifen und eiskalten Geschäftsmann Gerrit, als auch dem dahergelaufenen und schulschwänzenden Marlon das Leben erleichtert? Glücklicherweise mischt das Schicksal dieser seltsamen Männerbegegnung noch einige weitere Besonderheiten hinzu. Denn ohne das feenhafte Geschick von Marlons Mum, würde sicher alles im absoluten Chaos enden ... Ein spannend und witzig geschriebener Roman, der die alltäglichen Probleme und Leidenschaften eines Teenagers und eines Erwachsenen beschreibt.
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Seitenzahl: 385
Veröffentlichungsjahr: 2020
Zur Story
Wenn Gerrit eine neue Herausforderung sucht, kauft er ein in Schieflage geratenes Unternehmen auf. Die Umstrukturierung und Eingliederung in seinen Konzern geschieht dann stets nach seinem eigens konzipierten Schema, rein zahlenbasierend und zielorientiert. Ein Konzept, nach dem er auch hier in Mannheim agiert. – Oder etwa nicht?
Gerrits akribische Vorgehensweise gerät ins Wanken, als er auf den blonden Marlon Evers trifft. Der 16jährige Teenager birgt dasselbe Geheimnis in sich, wie der nach außen kühl wirkende Geschäftsmann aus Hamburg. Gerrit sieht mit an, wie Marlon von Gleichaltrigen schikaniert und bei einem Streit verletzt wird. Als Dank, dass Gerrit ihm zu Hilfe eilt, lädt Marlons Mutter Felicitas den netten Samariter ins Haus der kleinen Evers-Familie ein, zu dem auch der 9jährige Louis gehört. Ein Zusammentreffen, das das zwanghaft gesteuerte Leben des sonderbaren Businessmans vollends aus der Bahn wirft.
Durch Marlons ist Felicitas geübt im Umgang mit einem Menschen, dessen tägliches Leben gewissen Zwängen unterliegt. Marlons bisheriger Lebensweg ist gepflastert von Schulwechseln, Anpassungsschwierigkeiten und vulkanartigen Wutausbrüchen auf der einen und dem Denken eines Hochbegabten auf der anderen Seite. All dies hat Felicitas Auge geschult, wodurch sie auch die Eigenarten des neuen Inhabers ihrer Arbeitsstätte richtig deutet. Denn auf die private Verabredung folgt ein Wiedersehen, das sowohl Gerrits als auch Felicitas Gefühlswelt auf eine harte Probe stellt.
Ein spannender und witzig erzählter Roman, der die alltäglichen Probleme und Leidenschaften unserer Gegenwart aus zwei Perspektiven beschreibt: aus der Sicht eines Teenagers und der eines Erwachsenen.
Autor:
Diana Hausmann wurde 1972 in einem kleinen Dorf in der Pfalz Nähe Neustadt an der Weinstraße geboren. Seit über zwanzig Jahren lebt sie mit ihrem Mann und dem gemeinsamen Sohn in der Metropol-Region Mannheim.
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
„Was tun Sie denn da?“, blökt Herr Keller und bleibt abrupt stehen.
Beinahe wäre Gerrit auf ihn aufgelaufen. Hastig greift er nach seinem Handy, das ihm durch den plötzlichen Stopp gefährlich nah an den Fingerspitzen vorbeiwitscht. Um ein Haar wäre es mit Gerrits kompletten Unterlagen für das bevorstehende Meeting auf dem Boden gelandet.
„Na was wohl?“, blafft eine dumpf klingende Frauenstimme zurück. „Ich versuche diesen Schrotthaufen hier zu reparieren!“ Die böse gebellte Antwort kommt vom Boden, unmittelbar vor den Füßen Kellers, der mit grimmiger Miene nach unten schaut.
Gerrit kann von seiner Position aus kaum etwas erkennen. Der Kollege vor ihm ist mindestens zwanzig Zentimeter größer als er. Obendrein baut er sich gerade mit den Fäusten in den Hüften vor ihm auf. Gerrit lugt neugierig um Kellers Schulter herum und entdeckt zwei gekrümmte, schwarz bestrumpfte Frauenbeine. Er streckt sich ein weiteres Stück und sein Blick folgt den wohlgeformten, zappelnden Beinen aufwärts. Auf Kniehöhe bedeckt ein kräftig grüner Rocksaum die Oberschenkel. Weiter kommt Gerrit nicht, da sich der Riese namens Keller ruckartig zu ihm herumdreht.
„Ähm … entschuldigen Sie bitte“, wendet er sich verlegen an Gerrit, „kommen Sie hier entlang.“ Mit einem aufgesetzten Lächeln tritt er zur Seite und deutet Gerrit mit ausgestrecktem Arm an, den Flur weiter entlangzugehen. „Die letzte Tür auf der rechten Seite, bitte.“
Gerrit nickt und unterdrückt ein Schmunzeln, während er vorbeigeht. Aus den Augenwinkeln beobachtet er, wie sich die Dame mit leisem Fluchen hinter dem riesigen Kopiersystem hervorschält. Der vermeintliche Rocksaum gehört tatsächlich zu einem kräftig grünen Etuikleid, das eine schlanke und grazile Frauensilhouette umschmeichelt. Als Gerrit das Ende des Korridors erreicht und sich dem Konferenzzimmer zuwendet, verlangsamt er seinen Gang und wagt einen erneuten, wie er hofft, unauffälligen Blick zurück. – Sie ist weg.
Mit einem tiefen Seufzer sinkt Gerrit auf einen Stuhl. Das kleine gemütliche Café Culture hat er inzwischen zu seinem ganz persönlichen Lieblingscafé auserkoren. Er schnaubt verächtlich bei diesem Gedanken: sein ganz persönliches Lieblingscafé! Eigentlich eine schwachsinnige Bezeichnung, wenn man bedenkt, dass er in dieser Stadt noch kein anderes Café betreten hat. Genau genommen ist es die einzige Lokalität, die er in den letzten zwei Wochen überhaupt betreten hat. Aber schön und gemütlich ist es zweifellos – sogar mehr als das. Bereits beim ersten Besuch dieses fast schon als winzig zu bezeichnenden Cafés in der Mannheimer Innenstadt umgab ihn dessen warmes und herzliches Flair. Er hatte sich in dem kleinen Raum mit den acht Tischen und der wuchtigen Holztheke umgesehen und sich entspannt in einem Stuhl zurückgelehnt. Sobald er sich hier aufhält, gelingt es ihm, sich seiner grübelnden Gedanken vollständig zu entledigen. Seither kommt er jeden Mittag auf einen Kaffee und ein Sandwich in aller Ruhe – seit genau zwei Wochen und vier Tagen. So auch heute.
Gerrit ist Ritualfanatiker – im Privaten angeblich noch schwerwiegender und auffälliger als im Business. Ihm ist bewusst, dass viele seiner ehemaligen Kommilitonen, Kollegen sowie seine jetzigen Angestellten ihn aus diesem Grund heimlich verhöhnen und für seltsam erklären. Doch das ist ihm egal. Seine Prinzipien sind ihm wichtig und der Erfolg gibt ihm recht – im Gegensatz zu seinem Privatleben. Leider gibt es im Privaten niemand, der mit seinen Ritualen längere Zeit zurechtkommt. Sicher ist dies auch der Grund dafür, dass jede seiner Beziehungen nach einigen Monaten in die Brüche ging. Den äußeren Rest von ihm empfindet die Damenwelt, zumindest anfangs, durchaus annehmbar: 1,83 Meter groß, braunes Haar und ebenso braune Augen; dazu eine schlanke sportliche Figur und geschäftlich erfolgreich. Doch all das sind reine Äußerlichkeiten, die seinem eigentlichen Naturell nicht im Geringsten nützen! „Du kannst mir mit deinen abartigen Zwangsneurosen gestohlen bleiben!“ So oder ähnlich lauteten meistens die schnöden Demütigungen, die er sich nach kurzer Zeit anhören musste. Richtig! Aus medizinischer Sicht gehören seine Rituale in die Sparte der „menschlichen Zwänge“. Das hat er sogar schwarz auf weiß und versehen mit dem dicken Praxislogo eines englischen Spezialisten – eines Psychologen! Dieses unnütze Gutachten hat ihn obendrein eine ganze Stange Geld gekostet. Dabei wird ihm darin lediglich schriftlich bescheinigt, was er ohnehin seit seiner Jugend weiß und womit er seit Jahren ausgezeichnet umzugehen versteht. Genau diese Art rituellen Verhaltens – das Wort ‚Zwang‘ findet Gerrit erschreckend – brachte ihn sehr schnell und auf direktem Weg seinen Zielen näher und machte ihn zu dem, der er heute ist, zu einem äußerst erfolgreichen Firmeninhaber, der mit gerade mal einundvierzig Jahren seinem Unternehmen die nunmehr sechste Tochtergesellschaft eingliedert. Sein privates Jahreseinkommen wuchs schon vor Jahren über die siebte Stelle vor dem Komma hinaus und im Großen und Ganzen konnte er durchaus zufrieden auf sein bisheriges Arbeitsleben zurückblicken. Wie gesagt: im Großen und Ganzen – zumindest im Geschäftlichen.
Genüsslich nimmt er das Aroma des Kaffees in sich auf, trinkt den ersten Schluck und spürt mit geschlossenen Augen, wie sich seine Muskeln langsam entspannen. Es ist kurz nach eins am Mittag. Die erste Pause am heutigen Tag. Die erste und einzige Pause an jedem seiner Tage. Diese akribisch eingeplante Pause ist Teil seines Tagesrituals. Aufstehen um halb sechs in der Frühe, dreißig Minuten Joggen, Dusche, Frühstück, halb acht aus dem Haus und acht Uhr Arbeitsbeginn. Mittagspause um eins – Länge: eine Stunde –, dann der restliche Arbeitstag. Damit enden seine festen Vorgaben an sich selbst. Sein After Work beginnt stets unterschiedlich und richtet sich nach den geschäftlichen Vorgaben, wie Meetings, Telefonkonferenzen und sonstige Besprechungen oder Geschäftsverabredungen. Allerdings beendet er seinen Arbeitstag selten vor zehn oder elf Uhr am Abend.
Heute ist Donnerstag, der 27. September. Es ist die dritte Woche, die er nun in Mannheim wohnt und arbeitet. Geplant ist ein Aufenthalt von mindestens sechs Monaten. Solange veranschlagt er seine persönliche Anwesenheit in dem neuen Firmenzweig. Diese Zeitspanne ist geeignet, sich selbst in das neue Metier einzuarbeiten, die alte Firmenstruktur seinem eigenen Stil anzupassen und Führungskräfte seinen Richtlinien entsprechend zu benennen. Anschließend wird er an den Hauptsitz seines Konzerns zurückkehren und sich nach den nächsten Möglichkeiten zur Expansion umsehen. So tut er es immer, und bei den letzten fünf Firmenübernahmen hat sich diese Vorgehensweise als sehr zweckdienlich und gewinnbringend erwiesen. Darüber hinaus pflegt er noch eine weitere ganz spezielle Vorgehensweise in seinem Tun: Gerrit ist der Ansicht, dass ein gutes und perfekt abgestimmtes Betriebsklima nur dann funktioniert, wenn die Angestellten wie eine Familie im Team zusammenarbeiten und jeder die Position bezieht, die seinem Können vollends entspricht. Ist dies nicht der Fall, wird rigoros durchgegriffen, notfalls entlassen und personell umbesetzt. Auch hier gibt ihm der Erfolg recht. Es funktioniert in sämtlichen Bereichen seiner Firmenstruktur, die, zugegebenermaßen, kaum unterschiedlicher sein könnte.
Gerrit selbst ist ein Zahlen- und Finanzgenie, ursprünglich ein leidenschaftlicher Börsianer mit hemmungslosem Drang zum Erfolg. Parallel zu seinem Studium jonglierte er bereits mit der perfekt abgestimmten Risikobereitschaft und so geschickt mit dem Vermögen anderer, wie nur sehr wenige in dieser Branche. Den Sprung in die Unternehmerschaft betrachtete er anfangs als neue Herausforderung und ging sie mit ebenso geradliniger Zielverfolgung an, wie den Rest seines Lebens. Momentan befindet er sich in der vorbereitenden Phase seiner Team- und Kollegenstrukturprüfung. Die Übernahme der neuen ‚Tochter‘ ist längst unter Dach und Fach. Dies erfolgte durch Mittelspersonen und nach ausgiebiger Prüfung der Wirtschaftlichkeit. Daraufhin trat er seine persönliche Tätigkeit vor Ort an, die stets in zwei Stufen erfolgt. Während der ersten vier Wochen lässt er sich als externer Kollege in der Art oder simulierten Funktion eines Unternehmensberaters in sämtliche Abteilungen der Firma einarbeiten. Dabei wundert es ihn jedes Mal, dass dies stets reibungslos funktioniert. Er selbst würde einen solchen Maulwurf schon beim ersten Handschlag entlarven, davon ist er überzeugt. Nach Verstreichen der ersten vier Wochen kehrt er für die Dauer eines Wochenendes in sein Hauptunternehmen zurück und entwirft sein Firmenkonzept. Anschließend gibt er sich auf einer Betriebsversammlung der ‚Tochter‘ als neuer Inhaber zu erkennen und kann somit unbehelligt mit Phase zwei beginnen: den Umstrukturierungen. Der erste Monat ist stets ein aufregendes Erlebnis und insgeheim gesteht Gerrit sich ein, in dieser Zeit seiner Anonymität das Meiste über seine Angestellten zu erfahren. Dabei lernt auch er für seine eigene Tätigkeit permanent dazu.
Nach dem nächsten Schluck Kaffee legt er die Zeitung, die er zuvor ohne großes Interesse durchgeblättert hat, beiseite und sieht sich beiläufig um. Zu dieser Zeit ist das Café meist bis auf den letzten Platz besetzt. In der Umgebung befinden sich unzählige Bürogebäude, Banken und Arztpraxen. Außerdem liegen das Schloss mit der Universität und die Innenstadt in unmittelbarer Nähe. Aus den Gesprächen ist deutlich zu vernehmen, dass der überwiegende Teil der Gäste, wie er selbst, die Mittagspause hier verbringt. Manche Gesichter kennt er inzwischen, einige nur von seinen Pausen in den letzten Tagen, die er hier verbracht hat, andere wiederum sind Angestellte seiner Firma, die sich kaum drei Minuten zu Fuß entfernt befindet. Gestern kam er sogar selbst in Begleitung einiger Kollegen aus der Vertriebsabteilung hierher, der er augenblicklich zugeteilt ist. Dabei entwickelten sich nette und ungezwungene Gespräche, die völlig andere Einblicke in diese Abteilung ergaben, als während der Arbeitszeit. Nach der Pause stand für ihn fest, dass hier eindeutig Handlungsbedarf besteht.
Gerrit lässt den Blick schweifen, durch die großen Fensterscheiben hinaus auf die belebte Straße. Auch hier bemerkt er seit Tagen einen immer wiederkehrenden Rhythmus: einzelne Menschen, die kontinuierlich zur Mittagszeit an der gegenüberliegenden Straßenbahnhaltestelle eintreffen und auf die passende Bahn warten – Schüler, Berufstätige, Rentner. Seltsam, wie auffällig unauffällig alles vonstattengeht. Unzählige Personen treffen hier täglich aufeinander, ohne zu registrieren, dass sie den gleichen Ritualen folgen. Gerrit schüttelt sich kaum merklich, um diese alles infrage stellenden Gedanken zu zerstreuen. Er sieht auf die Uhr. Nach der Mittagspause steht eine Vertriebsbesprechung auf seiner Agenda, Beginn pünktlich 14:30 Uhr. Die verbleibende halbe Stunde will er zur Vorbereitung nutzen – genauer gesagt, sind es nur noch 25 Minuten. Er atmet tief durch, hebt den Kopf und schaut noch einmal zur Straßenbahnhaltestelle hinüber. Erneut entdeckt er ein Gesicht, das ihm bereits bekannt ist. Der Teenager, der jeden Mittag zur gleichen Zeit hier auftaucht, ist ihm bei seinem ersten Besuch im Café Culture bereits aufgefallen. Der Junge ist dünn und groß gewachsen, hat strubbelige blonde Haare und nähert sich stets mit hängenden Schultern in einem trottenden Schlürfgang. Gerrit schätzt ihn auf fünfzehn oder sechzehn. Die vornüber gebeugte Haltung verhinderte bisher jedoch, dass er sein Gesicht betrachten konnte. Der junge Mann ist zweifelsfrei Schüler, wirkt aber permanent matt, deprimiert und …
Gerrit fährt hoch und reißt die Augen auf. Er hatte sich so sehr auf den blonden Jungen fixiert, dass er das sonstige Geschehen an der Haltestelle völlig außer Acht ließ. Zwei weitere Teenager, etwa im gleichen Alter, hatten sich dem Blonden genähert. Der plötzliche Hieb ins Genick des Jungen lässt Gerrit fast ebenso aufschrecken, wie den Einzelgänger selbst. Die beiden stoßen ihn ein weiteres Mal, reißen ihm die Baseball-Mütze vom Kopf, und als sie den Boden berührt, kicken sie sie beiseite. Der nächste Rempler trifft den Jungen in die Rippen und er sackt leicht zusammen. Sein Rucksack und der Ordner, den er unterm Arm trug, fallen zu Boden und der leichte Regen weicht die herausfallenden Blätter sofort auf. Wieso mischt sich niemand ein? Die beiden Angreifer verspotten und verhöhnen den langen Blonden. Trotzdem reagiert keiner der umherstehenden Passanten! Ein weiterer Schlag trifft den Jungen ins Gesicht. Gerrit glaubt sogar das Klatschen dieser schallenden Ohrfeige zu hören, was unmöglich ist, da er sich in einem geschlossenen Raum voller Stimmengemurmel befindet. Der Kopf des Blondschopfes fliegt herum, was ihn offenbar aus seiner Lethargie reißt. Er packt seinen Angreifer am Kragen und holt aus. Dann schnellt seine Faust nach vorn und … stoppt wenige Millimeter vor der Nase seines Gegners, der perplex die Arme sinken lässt. Gerrit kann das Gesicht des Blonden direkt von vorn sehen und dessen Miene beobachten. Die Lippe ist aufgeplatzt und blutet, doch sein Gesicht ist völlig ausdruckslos und leer. Er wirkt weder verärgert noch verängstigt. Allein die Augen scheinen lebendig zu sein und fixieren sein Gegenüber hasserfüllt.
Ein schrilles Läuten ertönt und die Straßenbahn Nummer 6 kommt an der Haltestelle zum Stehen. In dieser Sekunde erwacht die Szene auf der Gasse wieder zum Leben. Emsig laufen die Leute über die Straße hin und her. Der blonde Teenager lässt die Hände sinken, wendet sich von seinem noch immer stocksteif dastehenden Widersacher ab und sammelt eilig seine verstreuten Unterlagen zusammen, bevor er gerade noch rechtzeitig in die Bahn steigt. Gerrit keucht und bemerkt erst jetzt, dass er vor Entsetzen die Luft angehalten hat. Langsam sinkt er in seinen Stuhl zurück und registriert, dass er das Geschehen nicht allein verfolgt hat. An den Tischen um ihn herum wird darüber diskutiert und gezetert. Warum aber kam dem jungen Mann niemand zu Hilfe?
„Wo ist Fee?“, erkundigt sich ein Kollege bei der Morgenbesprechung.
„Sie ist heute nicht da“, antwortet es von zwei Seiten gleichzeitig.
Freitag, 28. September: Gerrit befindet sich den letzten Tag in der Vertriebsabteilung. Die Bereiche Technik und Verwaltung hat er schon abgehakt und für die kommende Woche steht ihm nun der letzte Part seiner anonymen Prüfung bevor. Die vierte Woche wird er im Einkauf verbringen, einer Abteilung, die, analog zum Vertrieb, im Hinblick auf wirtschaftliches Arbeiten eine gewisse Herausforderung darstellt – zumindest in dieser Branche.
„Schon wieder?“, stöhnt es zu seiner Rechten. „Ist sie krank?“
Der Name Fee war Gerrit bisher in jeder Abteilung begegnet. Seiner Ansicht nach ist dieser Name nicht gerade weit verbreitetet, weshalb er vermutet, dass es sich stets um die gleiche Person handelt. Eine Mitarbeiterin, die offensichtlich in sämtlichen Abteilungen agiert und für alles und jeden der passende Ansprechpartner zu sein scheint. Nur angetroffen hat er diese Person noch nicht! Allein diese Tatsache weckt seine Neugier auf die Angestellte mit diesem außergewöhnlichen Vornamen. Wahrscheinlich trägt sie rosa Kleidchen, hat Flügel auf dem Rücken und schwingt einen glitzernden Zauberstab. Gerrit senkt schnell den Kopf, um sein Schmunzeln zu verbergen über diese witzige aber auch erschreckende Vorstellung.
„Nein, nicht krank“, raunt es zu Gerrits Linken. „Ich habe gehört, dass es schon wieder Ärger in der Schule gibt. Das wäre dann der dritte Schmiss ihres Ältesten.“
„Kaum zu glauben“, seufzt eine Kollegin am anderen Ende der Konferenztafel. „Mit dem Jungen kann sie einem echt nur leidtun.“
Das private Getratsche erstirbt, als sich mit fünfminütiger Verspätung nun auch der Leiter der Vertriebsabteilung die Ehre gibt und sich zur Besprechung im Saal blicken lässt. Himmel, hier stehen dringend einige Änderungen an. Gerrit zieht scharf die Luft ein und platziert einige rigorose Vermerke in seinem geistigen Notizbuch.
„Hey Mum“, brummt es leise.
„Marlon, warte!“ Felicitas läuft aus der Küche und trifft im Flur direkt auf ihren ältesten Sohn. „Wo kommst du her?“
„Aus der Schule.“ Verwundert sieht er seine Mum von oben herab an. „Woher denn sonst?“
„Und wo genau in der Schule hast du die ersten beiden Stunden verbracht?“ Verärgert kneift sie die Augen zusammen und verschränkt die Arme vor der Brust. „Ich war heute Morgen bei deinem Klassenlehrer. Der Termin – schon vergessen?“ Auffordernd neigt sich ihr Kopf.
„Ähm …“ Marlons Mundwinkel zucken: „Der Termin!“ Seine Augenbrauen heben sich langsam in luftige Höhen, dabei schürzt er verlegen die Lippen.
Seine Mutter steht dicht vor ihm und reckt sich mit grimmiger Miene zu ihm hoch. Sie befinden sich unmittelbar hinter der Haustür und eigentlich wollte er die Kellertreppe hinunter, auf direktem Weg in sein Zimmer entschwinden.
„Marlon“, seufzt Felicitas, „was soll ich denn noch mit dir machen?“
Er beißt sich von innen auf die Lippen. Jetzt bloß nicht frech grinsen. Sie hasst das – zu Recht! Er weicht ihrem durchdringenden Blick aus und sieht immer wieder unruhig über seine Mum hinweg, was nicht schwer ist, da sie einen halben Kopf kleiner ist als er. „Musst du heute nicht arbeiten?“, versucht Marlon es mit einem Ausweichmanöver.
„Natürlich müsste ich heute arbeiten!“ Sie schnaubt und senkt mit einem resignierten Kopfschütteln den Blick zu Boden. „Komm bitte mit. Ich mag es nicht, zwischen Tür und Angel herumzustehen.“
Felicitas dreht sich um und verschwindet in der Küche. Mit einem Seufzer lässt Marlon seinen Rucksack auf den Boden sinken und folgt seiner Mutter. Er lehnt sich lautlos an die Arbeitsplatte und verfolgt, wie seine Mum den Knopf der DeLonghi drückt.
„Willst du auch einen?“, erkundigt sie sich, sobald das Mahlwerk verstummt und der erste heiße Schwarze aus der Maschine tropft.
„Bitte.“ Marlon nickt, und zum zweiten Mal brummt der Kaffeeautomat.
„Marlon“, beginnt Felicitas erneut, „wie willst du die nächste Klassenstufe erreichen, wenn du die Hälfte des Unterrichts nicht anwesend bist?“
Diese Leier kennt er schon und verdreht genervt die Augen.
„Hör auf damit!“
Mist, sie hat es gesehen.
„Ich verstehe es einfach nicht! Du bist weder dumm noch faul. Und trotzdem scheint es dir entgangen zu sein, dass die Schule nicht nur aus Mathematik, Sport und Musik besteht! Es gibt leider keine Schule, die dich zu einem Abschluss in nicht mehr als drei Fächern zulässt.“
Marlon nippt an der Kaffeetasse und sieht mit leerem Blick vor sich hin.
„Was hat er gesagt?“, fragt er plötzlich, ohne aufzusehen.
„Wer?“
„Der Prof.“
Seine Mum reagiert nicht gleich, daher legt er den Kopf schief und mustert sie durch die wuscheligen Ponyfransen hindurch. Ihre Blicke treffen sich. Felicitas’ Lippen sind fest aufeinandergepresst, aber ihre Mundwinkel zucken, als sie die Tasse beiseitestellt und die Fäuste in die Hüften stemmt. Mit einem tiefen und gut hörbaren Einatmen baut sie sich vor ihm auf und schaut Marlon mit gespielter Entrüstung ins Gesicht.
„Du fehlst stets in denselben Fächern. Wenn du da bist, beteiligst du dich nicht am Unterricht. Du verkriechst dich in die letzte Reihe und hast ständig Streit oder sogar Handgreiflichkeiten mit den Mitschülern!“, donnert sie ihm entgegen.
Marlon hebt eine Augenbraue und wartet.
„Und im krassen Gegensatz dazu“, setzt seine Mum nach, „so sieht es zumindest die komplette Lehrerschar, stehen deine überragenden Leistungen in“, sie hebt eine Hand und zählt mit Marlon gemeinsam an den Fingern ab, „Mathematik, Musik und Sport!“
Marlon zuckt mit der Schulter und beide fangen an zu lachen.
„Nichts Neues also“, sagt er anschließend, und seine Mum schüttelt schnaubend den Kopf.
Marlon stellt seine Tasse in die Spüle und verschwindet ohne weiteren Kommentar aus der Küche.
„Lass dir etwas einfallen!“, ruft seine Mum ihm hinterher. „Wir reden heute Abend noch mal darüber.“
Marlon schnappt sich seinen Rucksack, geht die Stufen in den Keller hinunter und verschwindet in seinem Zimmer. Er schließt die Tür hinter sich, schmeißt seine Schulsachen aufs Bett und lässt sich auf die Couch fallen. Sein Reich ist der ehemalige Hobbykeller des Hauses, ein großer und geräumiger Raum, der gut fünfzig Quadratmeter misst. Aufgrund der Souterrain-Lage dringt oft nur spärlich Licht durch die Fenster, was Marlon ganz besonders mag. Am liebsten liegt er hier im Halbdunkel auf der Couch und lässt sich über Kopfhörer mit Musik berieseln. Dabei ist die Art der Musik nebensächlich.
Er selbst spielt seit seinem siebten Lebensjahr Klavier. Aufgrund von Platzmangel und eigenem schöpferischen Interesse wechselte er nach vier Jahren vom Klavier zum Keyboard, und zu seinem dreizehnten Geburtstag kam ein absolut profimäßiges Mischpult samt Synthesizer hinzu. Marlon spielt alles, von Klassik über Jazz bis Pop. Darüber hinaus schreibt und komponiert er auch selbst – alles nur für sich. Keines seiner Werke hat jemals das Souterrain verlassen. Warum auch? Er hat gar nicht das Bedürfnis sich zu profilieren, seine Stücke mit anderen in einer Band aufzunehmen und auf ständiger Suche nach spektakulären Gigs Aufnahmen einzuschicken. Marlon spielt nur für sich. Die Musik ist seine eigene Welt, in die er abtaucht und in der er sich für sein seltsames Verhalten nicht rechtfertigen muss – noch mehr als das: Die Musik vollbringt, was sämtliche Ärzte und Kinderpsychologen bisher nicht erreicht haben, die ihn angeblich ‚heilen‘ wollen. Blödsinn! Zurechtbiegen wollen sie ihn, anpassen an die Normalnorm, damit er gemäß Schema F der Schulmedizin ‚integriert‘ werden kann. Dabei ist er nicht abnormal! Er bewegt sich lediglich am Rande der Erwartungen, die an den Standardschüler gestellt werden. Eine Erklärung, mit der er inzwischen gut leben kann und zufrieden ist. Und eine Erklärung, mit der auch der übrig gebliebene Teil seiner Familie halbwegs zurechtkommt. Wobei seine Mum, trotz der wenigen Ermahnungen wie eben gerade, noch nie ein Problem damit hatte, ihn anzunehmen, wie er ist, und sein Bruder schon gar nicht. Bei dem Gedanken an seinen quirligen kleinen Bruder beginnt Marlon zu schmunzeln. Der kennt seine Musik. Er liebt sie und kann jedes Stück davon auswendig summen oder mitsingen.
Mit dem Kopfhörer auf den Ohren und einem Buch vor der Nase, das vollgestopft ist mit Formeln, die eigentlich erst zwei bis drei Klassenstufen höher zum Lehrplan gehören, sinkt Marlon in die Kissen der Couch. Die nächsten Stunden gehören ihm allein, ihm und seiner eigenen Welt. Denn erst in der Nacht, wenn im Haus alles schläft, kann er sich seiner größten Leidenschaft hingeben. Niemand, den er kennt, versteht, was er mit einer anderen Tastatur vollbringen kann und wie viel Genugtuung ihm dies verschafft. Und es ist besser, wenn dies auch so bleibt.
Montag, 1. Oktober, 8:25 Uhr. Felicitas stellt die Handtasche auf ihrem Schreibtisch ab und nimmt den Rechner in Betrieb. Während dieser hochfährt, räumt sie eilig ihre wenigen Privatutensilien in die Schublade und hängt ihren dünnen Mantel in den Spind. Anschließend saust sie in die kleine Büroküche zwei Türen weiter, um sich mit einer großen Tasse Milchkaffee zu versorgen. Punkt 8:29 Uhr sitzt sie vor dem Bildschirm, sortiert ihre Arbeit für den Tag nach Dringlichkeit und stellt sich gedanklich von privat auf Geschäft um – eine Kleinigkeit, die sie täglich ohne Mühe zustande bringt.
Ihre Arbeitszeit startet um 8:30 Uhr und endet irgendwann nach 17 Uhr, je nach Arbeitsaufkommen und der von ihrem Chef erbetenen Verfügbarkeit. So zumindest gestaltete sich ihr Arbeitstag bis vor zwei Monaten. Sie arbeitet seit knapp sechs Jahren in diesem Unternehmen und nach kurzer Einarbeitung hatte man ihr, wegen personeller Umstrukturierung, den Job der Geschäftsführungsassistenz angeboten – eine Offerte, die sie zwar sehr gern aber auch mit leichter Besorgnis angenommen hatte. Die gehobenere Stellung verlangte nämlich eine Änderung ihres Tagesablaufs, insofern sich die frühere Halbtagsstelle auf einen Vollzeitjob ausweitete. Somit benötigte sie für ihren damals Zweijährigen einen Krippenplatz und ihr Ältester, Marlon war derzeit erst zehn, musste nach der Schule vorübergehend einen Hort besuchen. Felicitas tat sich zwar schwer mit dieser Entscheidung, doch drei Monate später war sie froh, den Entschluss getroffen zu haben, denn zu diesem Zeitpunkt wurde aus ihrem bisherigen Ehemann ihr jetziger Ex-Mann. Über Nacht wurde aus der berufstätigen Mutter und sorgenden Ehefrau Felicitas eine von vielen alleinerziehenden berufstätigen Müttern. Wenigstens das Dach über dem Kopf war ihr geblieben.
Seit der überraschenden Entlassung des bisherigen Geschäftsführers driftet Felicitas’ momentaner Arbeitsbereich allmählich ins Chaos ab. Sämtliche Aufgaben, die sonst niemand erledigen will, landen auf ihrem Tisch. Offensichtlich sind alle davon überzeugt, dass ihr Arbeitsplatz spätestens nach Einsetzung einer neuen Geschäftsleitung wegfällt oder zumindest neu besetzt wird. Hinsichtlich der vor Kurzem erfolgten Firmenübernahme grassieren die schlimmsten Gerüchte im Haus. Keiner weiß etwas Genaues und dennoch hat jeder eine Erklärung und entsprechende Kommentare parat – das reinste Altweiber-Getratsche. Dieser seit Wochen andauernde Zustand macht Felicitas sehr zu schaffen. Bisher halten sich ihre finanziellen Belastungen in Grenzen und sie kommt mit ihrer dreiköpfigen Familie gut über die Runden. Ohne Job allerdings würde sich dies sehr schnell ändern.
„Guten Morgen Fee!“, schallt es zur Begrüßung durch den Flur. Schnellen Schrittes nähert sich Karin, Felicitas‘ Kollegin und Freundin, ihrem Schreibtisch. „Du treulose Tomate! Wolltest du nicht Bescheid geben, wie der Termin bei Marlons Lehrer verlaufen ist?“
Fee verdreht die Augen und schüttelt genervt den Kopf.
„Lass das!“, stößt Karin sie an. „Überlass deinem Sohn diese Marotten und erzähl mir endlich, was es Neues gibt.“
„Die gleiche Ansprache wie immer“, tut Felicitas es mit einer wegwerfenden Handbewegung ab. „Daher habe ich mich nicht gemeldet. Inzwischen kann ich es im Schlaf vorwärts- und rückwärtsbeten.“
Karin seufzt und drückt ihre Freundin tröstend an sich. „Und was jetzt? Wechselt er wieder die Schule, in der Hoffnung die Richtige zu finden, bis ihr alle Gymnasien Mannheims abgeklappert habt?“ Abwartend sieht sie Fee an. „Oder …“
„Nein!“, unterbricht Fee sie lautstark. „Keine Sonderschule!“ Verlegen beißt sie sich auf die Unterlippe. Einige Kollegen drehen sich verwundert zu ihnen um. „Er bleibt, wo er ist“, flüstert sie. „Er hat mir versprochen durchzuhalten und in den ungeliebten Fächern wenigstens so viel zu tun, dass er die Versetzung schafft. Wenn er die letzten beiden Jahre durchhält, kann er sich voll und ganz auf das konzentrieren, was ihm liegt und was er will – hoffe ich.“
Die letzten Worte kommen halbherzig und beinahe flehend über ihre Lippen, denn Fee hat nicht die geringste Ahnung, wie es mit Marlon weitergehen wird. Doch das würde sie nicht einmal der Freundin gegenüber eingestehen.
Mittags um Viertel nach eins sitzt Gerrit wie gewohnt im Café Culture. Heute hat er seinen Tablet-PC mitgenommen und überfliegt die Aufzeichnungen der letzten Wochen, während er auf sein Essen wartet. Morgen Abend endet Phase eins. Er wird mit all den gesammelten Unterlagen und Informationen in den Flieger steigen und das bevorstehende Wochenende Zuhause verbringen. Ein sehr wichtiger Arbeitsschritt steht ihm bevor, der ihn jetzt schon mit Freude erfüllt. Es berauscht ihn jedes Mal, seine über Wochen gesammelten Erkenntnisse auszuwerten und die Weichen für den weiteren Fortgang seines neuen Unternehmens zu stellen. Obendrein wird er sein neues Konzept in eine entsprechende Präsentation einarbeiten, die er am Montag darauf seinen Angestellten hier vor Ort als Zielvorgabe bekannt geben wird. Damit läutet er Phase zwei ein, deren Umsetzung sofort anläuft. Binnen der folgenden fünf Monate sollte dann alles soweit in seinem Sinne realisiert sein, dass er anschließend an den Sitz seines Konzerns zurückkehren kann. So ist es geplant, und so passt es in sein eigens für solche Übernahmen geschaffenes Ablaufschema.
Die Dame vom Service bringt das Sandwich und Gerrit sieht freundlich lächelnd von seinem Computer auf. Er bedankt sich mit einem Nicken, legt den kleinen Rechner neben sich auf den Tisch und beginnt zu essen. Gedanklich geht er noch einmal alle Abläufe durch, kann aber nichts Außergewöhnliches feststellen. Alles läuft nach Plan. Während Gerrit im Anschluss an sein Essen auf die Rechnung wartet, wandert sein Blick durch die Scheiben hinaus auf die Straße. Er ist wieder da. Der blonde große Teenager, der, ebenso wie er selbst, täglich zur selben Zeit hier auftaucht. Gerrit fragt sich seit Tagen, welche Art Schule der Junge wohl besucht. Er hält es für sehr untypisch, dass ein Fünfzehn- oder Sechzehnjähriger, der diesem Alter entsprechend wahrscheinlich die neunte oder zehnte Klasse besucht, tagtäglich um diese Uhrzeit den Heimweg antritt. Gerrit begleicht die Rechnung und schiebt den Tablet-PC ins Etui. Sein Blick liegt voll und ganz auf dem Jungen an der Straßenbahnhaltestelle, sogar noch während er das Café verlässt.
Vor der Tür zögert Gerrit kurz. Gedankenversunken schenkt er den sich nähernden Passanten keine Aufmerksamkeit. Erst als er mit ansieht, wie zum wiederholten Mal zwei Bengel den blonden Jungen mit pöbelnden Sprüchen und schubsenden Hieben drangsalieren, rüttelt es ihn auf.
„Hey!“ brüllend, läuft er los. „Hört gefälligst auf damit!“
Er muss einen Augenblick stehen bleiben, da ein Fahrzeug die Straße passiert, dann erreicht er endlich die andere Seite. Eine Sekunde, bevor er in Reichweite der raufenden Kerle kommt, trifft den blonden Jungen ein kräftiger Tritt in die linke Seite. Er verliert das Gleichgewicht und kippt nach hinten. Mit einem dumpfen Schlag prallt sein Schädel gegen die Ecke des Wartehäuschens und der junge Mann geht ächzend zu Boden. Gerrit ist mit einem Satz bei ihm, lässt alles neben sich zu Boden fallen und kniet sich neben den Kopf des blonden Teenagers. Hinter ihm drängen sich murmelnde Passanten vorbei, Füße trappeln, die Straßenbahn hält, klingelt und fährt ab. Sekunden später ist es ruhig. Niemanden schert sich darum, was hier gerade passiert ist. Gerrit verfolgt aus den Augenwinkeln, wie die beiden Angreifer das Weite suchen. Einen Moment lang scharen sich noch neugierige Passanten um ihn, dann verläuft sich alles wieder, als sei nichts passiert.
„Verdammte Anonymität!“, schimpfte Gerrit leise.
Der schlaksige Kerl vor ihm stöhnt gequält. Eine Hand presst er sich gegen die Schläfe und die andere krampft sich um seine linke Seite. Vorsichtig schiebt Gerrit einen Arm unter den Rücken des Jungen und richtet ihn langsam auf. Die Stirn des Teenagers liegt in Falten. Mit schmerzverzerrtem Gesicht kneift er die Augen zu. Als er Gerrits Arm spürt, zuckt er zusammen und sein Rücken verkrampft sich noch mehr.
„Keine Sorge, ich tu Ihnen nichts“, murmelt Gerrit. „Können Sie sich aufsetzen?“
Der Junge blinzelt ein paar Mal und betrachtet Gerrit plötzlich mit einem seltsamen Ausdruck im Gesicht. Sein Blick wirkt verwirrt, ängstlich und … apathisch! Gerrit stockt. Dieser verzerrte Ausdruck ist ihm so sehr vertraut, dass er ihn wie ein Schlag in den Magen trifft. Gerrits Finger krampfen sich zusammen und er schluckt mehrfach. Jetzt bloß Ruhe bewahren, befiehlt er sich unentwegt und versucht sich mit aller Gewalt auf das zu konzentrieren, was hier vor ihm sitzt: ein verletzter junger Mann, der dringend Hilfe benötigt – nicht mehr, aber auch nicht weniger.
„Ist alles in Ordnung?“, raunt Gerrit. Wie bescheuert! Natürlich ist der Junge nicht in Ordnung! An seiner Schläfe klafft eine Platzwunde, Blut läuft ihm übers Gesicht und der arme Kerl starrt ihn völlig desorientiert an. „Reiß dich zusammen Gerrit!“, mahnt er sich selbst und hebt eilig den Kopf. „Taxi!“, brüllt er einem drei Meter entfernt stehenden Mann zu. „Besorgen Sie ein Taxi, schnell!“ Gerrit unterstreicht den Ernst seiner Aufforderung mit einem grimmigen Blick und zu seinem eigenen Verwundern holt der Passant eilig sein Handy hervor und wählt eine Nummer. Doch bevor der Anruf sein Ziel erreicht, läuft der Mann schon mit erhobener Hand auf die Straße und stoppt laut rufend einen schwarzen Wagen.
„Hier haben Sie Ihr Taxi!“, brummt der Passant und deutet dem Fahrer an, wer seinen Dienst in Anspruch nehmen will.
„Kommen Sie, ich bringe Sie zu einem Arzt“, ermuntert Gerrit den Blondschopf und versucht ihn vergeblich auf die Füße zu hieven.
Der Junge bringt noch immer keinen Ton hervor. Obendrein versteift er sich noch und beginnt verstört mit dem Kopf zu schütteln. Dabei fixiert er Gerrit aus völlig entsetzten grünen Augen.
„Keine Angst mein Großer“, flüstert Gerrit, sicher ebenso zu seiner eigenen Beruhigung, wie zu der des Jungen. „Niemand will dir etwas Böses. Ich weiche nicht von deiner Seite. Es ist nur zur Kontrolle deiner Verletzungen.“
Leeres Gefasel, das Gerrit seit seiner Kindheit in Fleisch und Blut übergegangen ist. Warum es ausgerechnet in diesem Augenblick über seine Lippen kommt, weiß er nicht. Es waren die Sätze seines Vaters, die ihn zur Ruhe brachten, sobald Gerrit mit panischer Angst auf irgendeine Abweichung von seinen Routinen reagiert hat.
Mit aller Kraft hebt Gerrit den Jungen hoch und stellt ihn auf die Füße. Er hat völlig vergessen, wie schwer Menschen sind, sobald sie sich widersetzen oder keinerlei Körperspannung an den Tag legen.
„Ich weiche nicht von deiner Seite“, verspricht er erneut.
Das hilft. Mit weit aufgerissenen Augen und verkrampften Händen umschlingt der Junge seinen Oberkörper und stellt sich vornüber gebeugt auf die Füße. Er lässt zu, dass Gerrit ihm den Arm um die Schultern legt und ihn zum Taxi führt. Der verängstigte starre Blick des Jungen verfolgt Gerrit, als der um den Wagen herum geht und neben ihm im Fond Platz nimmt.
Eine Stunde verbringt Gerrit mit dem Jungen in einem Behandlungszimmer, bis es ihm und dem Arzt nach mehrfachem Anlauf mit beruhigenden Worten gelingt, dass er sich untersuchen lässt. Die Verletzungen selbst sind eher geringfügig, doch die Stelle an seiner Schläfe hat sich inzwischen blau verfärbt und der arme Kerl zittert am ganzen Körper. Dank Gerrits alles abdeckender privater Krankenversicherung hatte man sie unverzüglich in das Behandlungszimmer gebracht und, trotz überfülltem Warteraum, sich alle Zeit der Welt genommen, um auf den seltsamen Patienten einzugehen. Nun sind die Untersuchungen sowie die Versorgung der Platzwunde abgeschlossen und Gerrit sitzt mit dem Jungen wieder allein im Raum.
„Ich heiße Gerrit, Gerrit Heisters.“
Zwar hat er seinen Namen schon genannt, dennoch versucht er damit zum wiederholten Mal ein Gespräch in Gang zu bekommen. Bisher hat der Junge noch kein Wort von sich gegeben. Die einzigen Regungen bestanden in verstörten Abwehrlauten und panischen Rückzugsaktionen. Gerrit hockt neben ihm auf der Untersuchungsliege und schaut absichtlich desinteressiert vor sich ins Leere. Er spürt, dass der Junge ihn unentwegt mustert. Seine Augen haben sich beruhigt und wirken annähernd klar – zumindest im Vergleich zu der apathischen Starre zuvor.
„Du fährst mit der Linie sechs, immer um halb zwei am Mittag.“ Gerrit tut so, als führe er ein Selbstgespräch. „Ich sitze immer von eins bis Viertel vor zwei gegenüber im Café Culture und esse zu Mittag – immer, jeden Mittag, von Montag bis Freitag.“
Inzwischen ist er sich sicher, die seltsame und abnormale Haltung des Jungen richtig zu deuten. Sie ist seiner eigenen so ähnlich.
„Ich brauche das. Aber das kennst du gewiss selbst.“ Gerrit sieht sehr auffällig auf seine Uhr. „Eigentlich müsste ich jetzt in meiner Firma sitzen und arbeiten. Bestimmt wartet dort jemand auf mich. Ich habe vergessen anzurufen.“ Abermals schiebt er den Hemdsärmel zurück und hebt demonstrativ den Arm mit der Uhr. „Gleich halb vier.“
Keine Reaktion. Resigniert lässt Gerrit den Arm wieder sinken.
„Auf dich wartet bestimmt auch jemand. Du solltest Bescheid geben.“
Gerrit hofft im Augenwinkel eine Regung zu erhaschen – nichts dergleichen, außer mehrfachem Blinzeln und schneller werdendem Atem.
„Ich sollte für dich Bescheid geben.“ Mit einem ruckartigen Satz erhebt sich Gerrit von der Untersuchungsliege und steuert schnellen Schrittes auf den Stuhl zu, auf dem der Rucksack des Jungen liegt. „Du hast sicher ein Handy“, bemerkt Gerrit entschieden und macht sich übertrieben neugierig an der Tasche zu schaffen.
„NEIN!“, brüllt es plötzlich. „Nichts anfassen!“ Binnen einer Sekunde steht der Junge neben Gerrit und reißt ihm den Rucksack aus den Händen. „Nichts anfassen“, wiederholt er leiser und zieht seine Sachen an sich.
Gerrit lässt die Hände sinken, atmet erleichtert durch und versucht einen ruhigen und entspannten Ausdruck zu vermitteln.
„Ich heiße Gerrit.“ Sein nächster Versuch.
Der Junge nickt, wirft Gerrit einen raschen Blick zu, schaut aber schnell wieder weg.
„Marlon.“
Gerrit nickt ebenfalls und ein Schmunzeln zeigt sich auf dem Gesicht des Jungen.
„In welchem Stadtteil wohnst du, wenn du mit der Linie sechs fährst?“, erkundigt sich Gerrit weiter.
Marlon schüttelt zögernd den Kopf: „Nirgends da. Ich steige später immer um.“
„Hmm“, brummt Gerrit vernehmbar. „Aber du bist von hier, oder?“
Wieder ein Nicken des Jungen, gefolgt von betretenem Schweigen. Gerrit steht einfach da, schaut im Raum umher und Marlon hält unverändert seinen Rucksack vor der Brust fest.
„Ich muss anrufen“, erklärt Gerrit, macht jedoch keine Anstalten, etwas Derartiges zu tun.
„Ich nicht“, behauptet der Blondschopf kopfschüttelnd. „Aber ich muss los. - Jetzt!“
Als sei er in dieser Sekunde erwacht, sucht Marlon hektisch seine restlichen Sachen zusammen: den Ordner und eine dünne Sportjacke. Mit größter Sorgfalt schiebt er den Ordner in seinen Rucksack. Dabei achtet er akribisch darauf, keine anderen Unterlagen, Hefte oder was sonst noch im Rucksack verstaut ist, weder zu knicken oder auch nur in ihrer Position zu verschieben. Gerrits Mundwinkel zucken bei diesem Anblick. Für ihn ist das ein weiterer Hinweis, der seine Vermutung bestätigt. Ob der arme Kerl wohl auch schon ein Schriftstück mit der Erwähnung „Zwangsneurose“ sein Eigen nennt?
„Ich muss Zuhause sein, wenn mein Bruder von der Schule kommt“, verkündet Marlon und zieht vorsichtig den Reißverschluss seiner Tasche zu. „Er kann ohne mich nicht rein. Ich bin immer Zuhause, wenn er von der Schule kommt“, plappert er weiter. „Immer!“
„Wann ist das?“
„Zehn nach vier.“
Marlons Blick huscht zur Uhr über der Zimmertür und seine Augen weiten sich. Sofort kehrt das unruhige und hektische Atmen des Jungen zurück. Offensichtlich ist ihm gerade klar geworden, dass er es nicht rechtzeitig schaffen wird. Oder er weiß nicht, wie er nun schnellstmöglich nach Hause kommt.
„Wir könnten ein Taxi rufen“, schlägt Gerrit vor. Nebenbei nimmt er sein Jackett vom Stuhl und schlüpft hinein. Dann greift er nach seiner Aktentasche und dreht sich zu Marlon um: „Wenn du gestattest, setze ich dich in deiner Straße ab und fahre dann in meine Firma zurück.“
Der Junge zögert, schluckt, dann nickt er. Auffordernd hält Gerrit die Zimmertür auf und lässt Marlon den Vortritt.
Schweigend verlassen sie die Notaufnahme der Mannheimer Uniklinik und halten auf das nächste Taxi zu. Glücklicherweise sind wartende Taxis in sämtlichen Krankenhäusern des Landes eine Selbstverständlichkeit. Das lästige Warten auf einen Wagen erübrigt sich somit, was gut ist, denn Gerrit gehen langsam die absichtsvoll hingemurmelten Sätze aus, mit denen er versucht, den Jungen zum Reden zu bringen. Marlons verkrampfte Haltung verstärkt sich wieder, als er auf der Rückbank des Wagens Platz nimmt. Trotz allem murmelt er halbwegs verständlich den Straßennamen des Fahrtziels zum Fahrer nach vorn. Dieser nickt, drückt den Knopf des Taxameters und fährt los. Gerrit nennt die Adresse seiner Firma als späteres Fahrtziel und fügt mit fester Stimme „Bitte beeilen Sie sich“ hinzu. Anschließend lehnt er sich in steifer Businessmanier im Fond zurück.
Marlon schürzt die Lippen und betrachtet Gerrit – diesmal neugierig und ohne Scheu. Er verschränkt die Arme und streckt sich lümmelhaft aus. Dann legt er den Kopf schief und grinst
„Ihre Firma?“
„Meine Firma!“, bestätigt Gerrit.
Als er sich Marlon zuwendet, erkennt er zum ersten Mal eine für dieses Alter typische Gelassenheit. Gerrit glaubt sogar etwas Überhebliches in dessen Augen aufblitzen zu sehen. Ganz offensichtlich weiß er, dass er sein Ziel rechtzeitig erreichen wird und seine Routineaufgaben somit erfüllen kann. Er fühlt sich sicher.
„Ein alteingesessenes Unternehmen, das ich vor Kurzem übernommen habe“, ergänzt Gerrit nicht ohne Stolz. Dabei wirft er dem Jungen einen ebenso angeberischen Blick zu.
„Cool!“ Marlon nickt zufrieden, dann sieht er wieder nach vorn. „Wie alt sind Sie?“
„Einundvierzig.“
Marlon pfeift anerkennend durch die Zähne und wendet sich abermals mit einem abschätzenden Blick seinem Retter zu.
„Sie haben in der Schule bestimmt gut aufgepasst.“
Die darin mitklingende Ironie entgeht Gerrit nicht, doch innerlich jubelt er, es geschafft zu haben, diesen verschreckten Jungen aus seinem Schneckenhaus zu locken. Er rümpft die Nase und schüttelt schmunzelnd den Kopf.
„Nicht sonderlich – Abi mit Ach und Krach. Dafür lief das Studium besser. Ohne die lästigen Ballastfächer war alles einfacher. Und du?“
„Sechzehn“, antwortet Marlon sofort und beide beginnen zu lachen, zielte die Frage doch in erster Linie auf die Schule ab.
„Und die Schule?“, hakt Gerrit nach.
Marlon zieht eine abfällige Grimasse und brummt. „Nicht sonderlich.“ Da Gerrit unverkennbar eine deutlichere Auskunft erwartet, fügt er missmutig hinzu: „Hoffe auf ein Abi mit Ach und Krach. Dann kann ich die Ballastfächer vielleicht abwählen.“
„Vernünftige Einstellung“, murmelt Gerrit.
Beide nicken grinsend, ohne sich dabei anzusehen. Eine Zeit lang sitzen sie wortlos nebeneinander und schauen hinaus auf den Verkehr und die vorbeiziehenden Gebäude. Gerrit bemerkt, dass sich Marlons Aufmerksamkeit wieder auf ihn richtet, obgleich er ihn nur mit gesenktem Kopf verstohlen ansieht. Scheinbar brennt ihm etwas auf der Seele, da seine Finger unruhig am Saum seiner Jacke nesteln.
„Interessiert dich noch etwas?“, erkundigt sich Gerrit direkt, sieht ihn aber nicht an.
„Also …“, Marlon räuspert sich verlegen, „welchen Ballast kann man denn ablegen, um es trotzdem zu etwas …“ Verdeutlichend macht er Handbewegung in Gerrits Richtung.
„Ich kann gut mit Zahlen“, bringt Gerrit es auf den Punkt. „Darauf habe ich mich konzentriert. Und inzwischen bezahle ich einer Menge von Leuten viel Geld, dass sie den Rest übernehmen. Aber der Weg dorthin war gelegentlich steinig.“ Seltsam, so ungeschönt und grob zusammengerafft hat er seine eigene Karriere noch nie beurteilt. Doch genau so sieht die Realität aus.
„Zahlen sind gut“, stimmt Marlon ihm zu. „Sie sind logisch, damit kann ich umgehen.“
„Womit noch?“
„Mit Noten.“
„Noten“, wiederholt Gerrit leise. „Auch gut. Die lenken ab.“
Der Wagen biegt in eine Nebenstraße und Sekunden später hält das Taxi an einer Straßenecke. Marlon greift nach seinem Rucksack und setzt sich auf.
„Vielen Dank, Mister!“ Lächelnd streckt er seinem Retter die Hand entgegen.
Gerrit schlägt ein und hält ihn einen Augenblick lang fest. Währenddessen zieht er eine Visitenkarte aus seinem Jackett.
„Gerrit! Nicht Mister. Hier!“ Er hält Marlon die Karte hin. „Falls du mal wieder ein Taxi benötigst – oder Ballast ablegen willst.“
Zaghaft greift Marlon nach der Karte. Dann dreht er sich eilig um und steigt aus dem Auto. Als der Wagen wieder anrollt wendet Gerrit sich an den Fahrer:
„In welchem Ortsteil befinden wir uns gerade?“, erkundigt er sich.
„Vogelstang“ lautet die knappe Auskunft von vorn.
Zufrieden seufzend sinkt Gerrit im Café Culture auf eine Sitzbank. Phase eins ist abgeschlossen. Heute trinkt er nur einen Kaffee, anschließend fährt direkt zum Flughafen. Sein Wagen ist bestellt und der Fahrer holt ihn in einer halben Stunde hier ab. Somit kann er sich gedanklich schon auf die Auswertung seiner Daten und Notizen sowie die anstehende Umstrukturierung einstellen. Dieses Unternehmen agiert auf einem völlig anderen Gebiet, als die zuvor von ihm übernommenen Firmen und jetzigen Tochtergesellschaften. Bisher hatte er stets nur finanzschwache Firmen gekauft, diese dann entweder gesundgeschrumpft und seinem eigenen Konzern untergeordnet oder sie zerpflückt und die Einzelbereiche gewinnbringend veräußert. Hier nun liegt der Fall anders. Die Firma ist der Haupt- und Gründungssitz eines alteingesessenen Mannheimer Familienunternehmens. Darüber hinaus handelt es sich zum ersten Mal um ein produzierendes Unternehmen. Die Firma stammt aus dem Bereich der Werkzeugherstellung. Der Gründer allerdings hatte sich seinerseits auf einige ganz spezielle Teile konzentriert, die lange in der Platinenbestückung unersetzlich waren. Hier erfolgte der rapide Aufschwung des Unternehmens. Als Weiteres kamen einige Patente auf Fertigungsteile hinzu und die Spezialisierung im Bereich der Sicherheitstechnik. Doch auch hier blieb die Entwicklung nicht stehen und der Mitbewerbermarkt hatte die Zeit nicht verschlafen. Die Produktion selbst wurde schon vor Jahren ins benachbarte Ausland, nach Österreich und Tschechien ausgelagert. Dies sollte künftig auch so bleiben. Nach einigen Neuentwicklungen in der Produktion läuft dieser Teil des Unternehmens wieder gewinnbringend. Nur die Einkaufs-, Verwaltungs- und Vertriebsstätte muss noch auf Vordermann gebracht werden. Ein neues und zielorientiertes Management muss her. Innerhalb des Verwaltungssitzes herrscht ein regelrechter Kampf zwischen Einkauf und Vertrieb, dem die bisherige Geschäftsleitung in den letzten Jahren tatenlos zugesehen hat. Jede Abteilung köchelt ihr eigenes Süppchen. Es fehlt an Struktur und klaren Richtlinien. An diesem Punkt würde Gerrit beginnen: Störfelder beseitigen und konkrete Vorgaben zur Umsetzung auferlegen. Ein großes Stück Arbeit liegt da vor ihm – eine Arbeit, die ihn neu fordern und für die kommenden Monate von seinem bisherigen Leben ablenken wird.
Vor vier Wochen hatte er seine Heimatstadt Hamburg verlassen, womit auch all das zurückblieb, was ihn in den letzten Jahren immer mehr geschwächt hatte: diverse Beziehungen, die nach außen hin geraume Zeit als Fassade dienten, unzählige Auseinandersetzungen mit seinen Geschwistern sowie der angeheirateten Familie. Außerdem trieb ihn der Drang, etwas Neues zu beginnen. Nun, da ihm seine Rückreise bevorsteht, obgleich nur für wenige Tage, kochen diese über Jahre hinweg angesammelten Probleme wieder hoch, und plötzlich ist ihm sogar der sonst so köstlich mundende Milchkaffee viel zu bitter. Enttäuscht schüttelt er den Kopf. Er wird alles daransetzen, sich nicht wieder in den alten Trott ziehen zu lassen. Sie können ihn allesamt …
„Hallo Mister!“
Gerrit fährt erschrocken aus seinen Gedanken. Ruckartig hebt er den Kopf und starrt direkt in große grüne Augen, die ihn freudig anstrahlen. Augenblicklich hellt sich seine Stimmung auf, denn diese Augen erkennt er sofort.
„Marlon!“, staunt er. Eilig erhebt sich Gerrit, streckt dem Jungen die Hand zur Begrüßung entgegen und bedeutet ihm, sich zu ihm zu setzen. „Wie geht es dir?“ Dabei tippt er sich kurz an die Schläfe.
„Alles bestens“, versichert der Junge, während er sich Gerrit gegenüber auf einem Stuhl niederlässt.
„Musst du nicht auf die Bahn?“
Gerrit weiß inzwischen, dass Marlons Fahrt in der Linie 6 ein reiner Zeitvertreib ist – Zeit, die er normalerweise in der Schule verbringen müsste. Um auf direktem Wege nach Hause zu kommen, müsste er die Linie 7 benutzen. Doch diese passiert diesen Teil der Stadt gar nicht. Ein in der Tat seltsames Aufeinandertreffen.
„Sie fährt alle zehn Minuten und heute ist Freitag. Freitags ist Louis bei unserer Om.“
„Wer ist bei wem?“
Marlon lacht über Gerrits verblüffte Reaktion. „Louis ist mein kleiner Bruder. Freitags geht er nach der Schule immer zu unserer Oma – zur Om! Freitags endet die Schule früher, daher … “ Er tut es mit einer erledigenden Handbewegung ab.