Childshair - Diana Hausmann - E-Book

Childshair E-Book

Diana Hausmann

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Beschreibung

Wer sich in die Fänge eines europaweit agierenden Business-Netzwerkes begibt, geht ein hohes Risiko ein. Eine Beziehung im Fadenkreuz aus Hass und Eifersucht. Wie aus dem Nichts steht ein junger Mann in Josis Wohnung. Eine Begegnung, die ihr bisher langweiliges Leben verändert. Sie wird beobachtet, belästigt und überfallen, und alles führt zu ihrem neuen geheimnisvollen Freund. Er kennt die Hintergründe der Intrigen - sie sind die Folgen eines verhassten Erbes und der ranghohen Mitgliedschaft in einem Geheimbund. Um Josi zu schützen, schweigt er. Dennoch trifft er eine Entscheidung, die sie fast das Leben kostet.

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Seitenzahl: 564

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Blick ins Buch

Wie aus dem Nichts steht ein junger Mann in Josi‘s Wohnung. Doch statt um Hilfe zu schreien, lässt sie sich ohne nachzudenken auf ihn ein. Eine folgenschwere Entscheidung, wie sie schnell feststellen muss. Ab diesem Tag passieren die seltsamsten Dinge. Sie wird belästigt, beobachtete und überfallen, und immer wieder führt alles zu ihrem blonden Unbekannten.

Collin kennt die Hintergründe und Verursacher der Intrigen und weiß, um sein verhasstes Erbe. Mit Hilfe seines Bruders versucht er seine geliebte ‚Amy‘ zu schützen. Doch aus Angst, sie könnte ihn im Stich lassen, weiht er sie nur langsam in seine Geheimnisse ein. Er trifft die Entscheidung, sich seiner Vergangenheit zu stellen und befördert damit nicht nur sich selbst ins Visier seiner Gegner.

Als Josi die Wahrheit über ihren mystischen Unbekannten erfährt, steckt sie bereits in den schlimmsten Verstrickungen eines europaweit agierenden Geheimbundes. Wie skrupellos innerhalb dieses Männer-Bündnisses Entscheidungen getroffen werden, erfährt Josi auf die härteste Tour. Sie pokert um ihr eigenes Leben!

Autor:

Diana Hausmann wurde 1972 in der Pfalz geboren. Sie stammt aus Esthal, einem kleinen Ort unweit von Neustadt an der Weinstraße. Seit mehr als 25 Jahre lebt sie mit ihrem Mann und dem gemeinsamen Sohn in der Metropol-Region Mannheim.

PROLOG

Die Wände um mich kommen näher und die Schmerzen, die mich am Atmen hindern, werden mit jedem Atemzug stärker.

Ich versuche zu schreien, lauter - noch lauter! Meine Kehle ist völlig zugeschnürt. Mit den Fingern kratze ich an den eisigen Wänden und spüre, wie mein Blut fließt.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

- 1 -

„Hey, aufwachen!“

Die sachte Stimme weckt mich aus meinem Albtraum und der Schmerz lässt nach.

„Ist alles okay mit dir?“

Ich spüre eine Berührung an meinem Arm und ich blinzle gegen die Helligkeit an. Allmählich komme ich zu mir. Eine unangenehme Geräuschkulisse dringt mir in die Ohren. Musik und Stimmen, die sich wegen der laut hämmernden Beats fast schreiend unterhalten.

Stöhnend stütze ich mich auf die Ellenbogen. Ich muss auf der Couch eingeschlafen sein, auf dem Bauch, mit dem Gesicht in meinem Buch. Es liegt noch aufgeschlagen unter mir. Wahrscheinlich zeichnen sich jetzt einige unschöne Falten auf meiner Wange ab. Wieso zum Teufel ist die Musik so laut? Und woher kommen die Stimmen? Noch leicht benommen schaue ich mich um. Die Balkontür steht offen. Daher also das lärmende Partygrölen. Mein neuer Nachbar ist mal wieder in Feierlaune. Aber … - diese Stimme? Zögernd wandert mein Blick weiter. Es ist jemand im Zimmer - direkt neben mir! Die Hand auf meinem Arm zieht sich langsam zurück, als ich ihn sehe. Ein junger Mann sitzt unmittelbar neben mir in der Hocke.

„Bist du okay?“, erkundigt er sich noch einmal. Seine Stimme ist leise, nahezu scheu. „Du hast geträumt.“ Mit weit offenen Augen mustert er mich, dabei huscht sein Blick unruhig über mein Gesicht.

„Geträumt?“, stammle ich verwirrt. Bei seinem Anblick entspanne ich mich etwas, da er nicht den Anschein erweckt, als wolle er im nächsten Augenblick über mich herfallen. „Ein Traum, ähm … ja, es ist immer der gleiche.“

Sein Kopf neigt sich zur Seite und sein Blick verändert sich. Er schaut mich neugierig und durchdringend an. Wow, – diese Augen! Groß und ... stahlblau. Wahrscheinlich schmachte ich ihn gerade völlig blöd an, aber aus irgendeinem Grund halten mich diese Augen so fest wie ein Magnet. Langsam und ohne mich seinem Blick entziehen zu können, setze ich mich auf. Er hockt so nah bei mir, dass ich ihn riechen kann - angenehm herb. Sachte weicht er ein Stück zur Seite, hebt die Faust vor den Mund und räuspert sich, dabei zittert seine Hand. Ist er womöglich genauso verlegen wie ich gerade? Eilig schaue ich ihn mir genauer an. Er trägt Jeans, ein weißes T-Shirt und eine Baseball-Mütze. Mehr ist auf die Schnelle nicht zu erkennen. Durch sein kurzes Umschauen rutscht eine Haarsträhne unter dem Schild seines Caps hervor, direkt in die Augen. Hellblond! Seine Frisur muss ziemlich kurz sein, da sonst nichts unter den Rändern der Baseball-Kappe hervorlugt. Ohne nachzudenken fasse ich hin und streiche die Strähne zur Seite. In diesem Moment weicht er erschrocken zurück und ich reiße die Augen auf. Es hatte sich angefühlt, als hätte ich einem Kleinkind über den Haarflaum gefasst. Ein merkwürdiger Gedanke.

Mir fallen oft die seltsamsten Dinge auf - Kleinigkeiten, auf die sonst keiner achtet. Meiner Vermutung nach rührt diese Eigenschaft von einer schweren Kehlkopferkrankung in meiner Kindheit, bei der ich viele Wochen ohne Stimme auskommen musste. In dieser Zeit hatte ich dieses ‚scharfe Auge‘ genutzt, um meine Mitmenschen nicht permanent mit Fragen auf nervenden kleinen Zetteln zu belästigen. Meine Schwester ist anderer Meinung. Sie behauptet, diese Gabe – so nennt sie es immer – äußere sich in einer sehr speziellen Art und Weise. Angeblich wirke meine Ausstrahlung auf andere Menschen wie ein angenehmes Gefühl, das jeden zum Sprechen bringt. Eine grauenhafte Vorstellung für eine introvertierte und eher schüchterne Person wie mich.

Auf den hübschen Fremden in meinem Wohnzimmer wirkt diese Ausstrahlung offenbar nicht. Wir mustern uns gegenseitig, dazu scheint ihn die betretene Stille nicht im Geringsten zu stören. Mich übrigens auch nicht. Warum kann ich nur meinen Blick nicht von ihm lassen? Ich klebe regelrecht an seinen Augen. Sachte schleicht sich ein Lächeln auf seine Lippen, während ich nach etwas suche, das mir zu einem halbwegs normalen Satz verhelfen könnte.

„Schöne Kette!“, bemerke ich schließlich.

Er trägt tatsächlich eine schöne Kette. Zumindest das, was ich davon sehen kann, ist sehr schön und außergewöhnlich. Am liebsten hätte ich sie mir genauer angesehen. Doch der Blick, den er mir bei meiner Feststellung entgegenbringt, hält mich davon ab. Seine Brauen verengen sich. Außerdem greift er sich ans T-Shirt, an die Stelle, an der er seine Kette vermutet. Erleichtert und überrascht stellt er fest, dass sie unter seinem T-Shirt hängt.

„Sie, äh … hat sich unter dem Shirt abgezeichnet“, erkläre ich wahrheitsgemäß, aber leicht verlegen.

Plötzlich wird eine Stimme laut, die alle anderen übertönt. Was gerufen wird, ist nicht zu verstehen, doch mein Besucher richtet sich unmittelbar auf. Erst jetzt kommt mir die Balkontür wieder in den Sinn. Hatte ich sie wirklich offen gelassen? Mit weit aufgerissenen Augen spritze ich von der Couch auf und starre von der Balkontür zu dem Fremden hin. Doch irgendetwas an ihm hält mich davon ab, um Hilfe zu schreien.

„Wie … wie bist du hereingekommen?“, bringe ich es endlich über die Lippen.

Er ist mindestens einen halben Kopf größer als ich und so dicht, wie er jetzt vor mir steht, wirkt er riesig. Schüchtern blinzelnd sehe ich zu ihm auf.

„Ich stand an der Brüstung nebenan und habe ein Wimmern gehört. Es kam von hier drin.“ Er presst die Lippen zusammen und deutet mit einem entschuldigenden Schulterzucken Richtung Balkon. „Ein Satz reichte aus, um an der Trennwand vorbeizukommen. Und deine Tür war nur angelehnt, da dachte ich …!“ Sein Schmunzeln wird breiter und ein schelmisches Grinsen kommt zum Vorschein.

Ich nicke kurz. Zu einer anderen Reaktion bin ich nicht fähig. Einen Moment später wendet er sich ab und geht auf den Balkon hinaus. Als ich registriere, dass er wieder auf die andere Seite entschwinden will, nehme ich meinen ganzen Mut zusammen und rufe ihm „Das nächste Mal darfst du gern die Tür benutzen“ hinterher.

Ein freches Augenzwinkern kommt zurück, dann ist er verschwunden. Mit gespitzten Ohren bleibe ich an der Balkontür stehen. Bei seiner Rückkehr wird das Stimmengemurmel lauter. Doch die Bruchstücke, die ich trotz der lauten Musik verstehen kann, erschrecken mich. Kaum jemand scheint erfreut über seine Rückkehr zu sein. Stattdessen wird gehetzt und gelästert.

- 2 -

Was tut eine zugezogene junge Wahl-Münchnerin, die es nicht gerade in Perfektion versteht, auf Fremde zuzugehen und im Handumdrehen neue Freunde zu finden? Richtig! Sie arbeitet viel, trifft sich gelegentlich mit einer Kollegin zum Kaffee, und an einem besonderen Abend lässt sie sich sogar zu einem Discobesuch überreden. Ansonsten sitzt sie zu Hause, liest Bücher, surft im Internet und kämpft gegen das von Zeit zu Zeit aufkommende Heimweh. Eine durchaus treffende Beschreibung meines momentanen Lebens. Klingt übler als es ist. Immerhin nenne ich einen kleinen, bescheidenen Freundeskreis mein Eigen. Hierzu zählt eindeutig meine Nachbarin Tanja. Mit etwas Wohlwollen auch Lisa, eine Kollegin aus dem Büro. Damit ist meine Clique auch schon komplett. Zu mehr habe ich es binnen der letzten drei Jahre nicht gebracht. So lange wohne ich nämlich schon hier. Im Grunde völlig untypisch für mich, denn zu Hause war dies nicht so. Zu Hause bedeutet für mich die Stadt, in der ich geboren und aufgewachsen bin. Meine alte Heimat sozusagen. Ich stamme aus Garmisch-Partenkirchen. Weggezogen bin ich aus zwei Gründen: Zum einen wollte ich mich beruflich verändern. Zum anderen lief ich der altbackenen Einstellung meiner Mutter davon. Zurückgelassen habe ich mehr als nur zwei Dinge: meine heiß und innig geliebte Schwester, meine bis dato ebenso gemochte Arbeit und den Dreh- und Angelpunkt meiner absoluten Leidenschaft, das Snowboarden sowie den kompletten Skizirkus rund um die Zugspitze. Wobei mich diese Leidenschaft im Winter fast jedes Wochenende nach Hause zurücktreibt, um den Sehnsuchts-Vorrat für die schneefreie Zeit aufzufüllen. Mittlerweile gestehe ich mir ein, dass es noch einen weiteren Punkt gibt, der mit meinem Umzug auf der Strecke zurückblieb: meine offene und draufgängerische Art. Hier in München gehöre ich zu den ruhigen und scheuen Personen. Leider sehe ich mich viel zu häufig dem Vorurteil des sogenannten Landeis gegenüber. In Garmisch hingegen war ich weder auf den Mund gefallen noch hätte ich einen herablassenden Spruch unkommentiert hingenommen. Meine Schwester und ich waren ein unzertrennliches und perfekt eingespieltes Team. Um mich mit ihr zu verständigen, reichte ein einziger Blickkontakt.

Die nächsten Tage verlaufen wie gewohnt. Bei der täglichen Arbeit kommt mir der fremde Besucher fast wie eine Fata Morgana vor. Das Einzige, was mich immer wieder an ihn erinnert, sind die ständig auftretenden und lautstarken Krawalle, die mir regelmäßig von meinem neuen Nachbarn durch die Wand entgegenhallen. Der Neue von nebenan, laut Klingelschild ein gewisser Herr Nomes, zog vor knapp sechs Wochen ein. Seither wohnen wir Tür an Tür. Leider teilen wir uns auch eine viel zu dünne und kaum schallgedämpfte Wand. Mehrmals wöchentlich hämmert mir seine ohrenbetäubende Musik durch die Mauer entgegen. Überdies ist es Mitte Juli und die Temperaturen sind herrlich warm. Doch die letzten Sonnenstrahlen des Tages auf meinem Balkon zu genießen, ist schlichtweg unmöglich. Dies werde ich nicht länger dulden. Ich muss mit Herrn Nomes reden, sobald ich im Haus persönlich auf ihn treffe. Eine freundliche Anmerkung, mit der Bitte um Rücksicht, würde bestimmt Wirkung zeigen.

Diese erste Begegnung ergibt sich drei Wochen später, an einem Freitagabend. Ein dicklich wirkender, mittelgroßer Mann, vielleicht Mitte 30, unrasiert, mit fettigen Haaren und einer stinkenden Alkoholfahne. So begegnet mir Herr Nomes im Treppenhaus. Außerdem ist er bepackt mit Bierkästen und in Begleitung zweier leicht schwankender und kichernder Damen. Dieser Anblick reicht mir. Am liebsten würde ich mich in Luft auflösen, und außer einem eingeschüchterten „Guten Abend“ kommt nichts über meine Lippen. Wie ein verschrecktes Tier presse ich mich an die Wand und erdulde, wie mich die drei Gestalten mit einem abschätzenden Blick taxieren und die Stufen nach unten verschwinden. Enttäuscht über mich selbst, schleppe ich mich in den dritten Stock.

„Hast du den Neuen schon gesehen?“

Vor meiner Wohnungstür passt mich Tanja ab. Sie bewohnt das Apartment gegenüber.

„Ja, gerade eben“, seufze ich leise. „Sonst höre ich ihn immer nur. Oder besser, seine Musik und die Leute, die auf seinen Partys rumhängen.“

„Ich hatte die letzten Wochenenden Nachtdienst im Krankenhaus“, schwatzt sie aufgeregt los. Tanja liebt es, mir ihre Krankenhausanekdoten bis ins kleinste Detail zu erzählen. „Du wirst es nicht glauben! Jedes Wochenende landet einer seiner Saufkumpel in unserer Notaufnahme. Freitag, Samstag und Sonntag! Jede Nacht ein anderer, und der Neue ist immer dabei, um sie abzuliefern. Keine unserer Krankenschwestern ist vor denen sicher. Jede wird mit anrüchigen Sprüchen angemacht und angesäuselt. Echt eklig sind die!“ Angewidert verzieht sie das Gesicht und schüttelt sich.

„Dafür kann ich jedes einzelne Lied mitsingen, das auf seinen Partys läuft.“ Prompt fange ich an zu gähnen, da ich wegen der Lärmbelästigung kaum noch Schlaf bekomme.

Nach einem bedauernden Schulterklopfen von Tanja verabschiede ich mich in mein gemütliches Zwei-Zimmer-Appartement und drücke die Wohnungstür hinter mir zu. Mit geschlossenen Augen lehne ich mit dem Rücken an der Tür und genieße einen Moment die Ruhe.

Tanja bezog ihre Wohnung zur gleichen Zeit wie ich. Aus den anfänglichen Treppenhausgesprächen ergaben sich einige nette Abende und die Feststellung, dass wir eine Leidenschaft teilen. Wir lieben alles, was mit Italien zu tun hat: die Sprache, das Land, die Leute und ganz besonders das Essen! Schon unzählige Male haben wir zusammen gekocht und uns mit Wein oder Martini den herrlichen Köstlichkeiten der italienischen Küche hingegeben. Überdies hat Tanja, ebenso wie ich, keinen Anhang in München. Ihre Familie wohnt in der Nähe von Freiburg. Ergo, ein weiteres Landei!

Ich verstaue gerade Schuhe und Handtasche an den gewohnten Platz meiner Minigarderobe, da klingelt es an der Wohnungstür.

„Ach Tanja, bitte, nicht noch mehr Tratsch aus dem Krankenhaus. Nicht heute!" Leise stöhnend drehe ich mich zum Eingang um.

Während ich die Tür öffne, setze ich ein hoffentlich annehmbares und einladendes Lächeln auf, um … da schaue ich direkt auf ein bunt bedrucktes Sweatshirt, etwa Brusthöhe. Perplex beginne ich zu blinzeln und hebe langsam den Blick. Die Person steht so dicht vor mir, dass ich den Kopf in den Nacken legen muss, um aufzusehen. Da sind sie wieder! Die großen stahlblauen Augen meines unbekannten Balkonbesuchers, der schmunzelnd auf mich herunterschaut.

„Oh, äh …“, stammle ich. „Hi!“

Sein Lächeln verschwindet, dafür schaut er sich rasch um. Gerade so, als wolle er sich vergewissern, dass uns niemand beobachtet. Und seltsamerweise tue ich es ihm gleich!

„Darf ich heute durch die Tür rein?“, erkundigt er sich und sein strahlendes Grinsen ist zurück. „Oder muss ich erneut den Balkon benutzen?“

„Nein! Äh … doch, ja!“ Wirr schüttle ich den Kopf. „Ich meine, ja, komm rein und nein, du musst nicht den Balkon benutzen.“

Mit klopfendem Herzen und weichen Knien trete ich zur Seite und lasse ihn herein. Hoffentlich fühlt sich mein Gesicht nur heiß an und ist nicht so puterrot angelaufen, wie ich befürchte.

„Ist dir eigentlich aufgefallen, dass wir im dritten Stock sind?“, platzt es aus mir heraus, sobald die Tür zu ist. „Du hättest dir beim letzten Mal den Hals brechen können!“

Sein Grinsen wird breiter, dazu antwortet er lediglich mit einem Schulterzucken.

„Hättest du vielleicht einen Kaffee oder Espresso für mich?“, erkundigt er sich stattdessen mit sanfter Stimme. „Ein Koffein-Kick käme mir gerade sehr entgegen.“

Erneut steht er ganz dicht vor mir.

„Kaffee? Ja, klar!“ Widerwillig drehe ich mich um und deute ihm an, mir zu folgen.

Die Küche ist mein liebstes Zimmer in der Wohnung: hell und geräumig. Dazu mein persönliches Highlight: ein von der Arbeitsplatte erhöhter Tresen, der in den Raum ragt und umringt ist mit vier Barhockern. Außerdem besitzt dieser Raum auf der rechten Seite eine große Fensterfront mit breitem Sims, von dem aus man die komplette Straße überblicken kann. Mein Lieblingsplatz! Hier sitze ich abends oft, surfe im Internet, schaue dem Treiben auf der Gasse zu oder beobachte den Sonnenuntergang.

Geschäftig hantiere ich an der Jura herum. Dabei sehe ich im Augenwinkel, wie sich mein Besucher auf einen der Barhocker schiebt und mich mustert. Ich spüre seine Augen regelrecht auf mir, doch ausnahmsweise stört es mich nicht. Im Gegenteil, es schmeichelt mir.

„Ich heiße übrigens Josi!“ Lächelnd drehe ich mich zu ihm um und stelle ihm einen doppelten Espresso hin.

„Hmm, ich weiß!“, brummt er und nickt. „Danke!“

Da er keinerlei Anstalten macht, selbst seinen Namen zu nennen oder sonst etwas zu sagen, gestatte ich mir nun ebenfalls, ihn ungeniert zu betrachten. Seine kurzen blonden Haare stehen struppig ab und die nur wenig längeren Ponyfransen sind etwas zur Seite geschoben. Seine Augen strahlen mich an wie leuchtende Saphire. Und dies, obwohl der Rest von ihm eher matt und müde wirkt.

„Du siehst aus, als bräuchtest du, außer einem Koffein-Kick, dringend eine Mütze voll Schlaf“, bemerke ich schonungslos. Mein vorlautes Mundwerk hat mal wieder schneller reagiert als mein Verstand. „Ist alles in Ordnung?“, erkundige ich mich kleinlaut.

„Alles okay“, versichert er mit einem knappen Nicken und einem hinreisend verschmitzten Grinsen. „Der kleine Schwarze hilft mir schon weiter. Die letzten Tage habe ich wenig geschlafen.“

Er seufzt leise und während er die Tasse anhebt und an seinem Espresso nippt, fällt mein Blick auf seine Hand. Die Fingerknöchel sind übersät mit Abschürfungen und Kratzern, die offensichtlich schon einige Tage alt sind.

„Wohl schwer gearbeitet.“ Möglichst beiläufig deute ich auf seine Finger.

Im Grunde erwecken seine Hände und die schmalen, langen Finger nicht gerade den Eindruck, als schufte er auf einer Baustelle - eher in einem Büro. Auf meine Anspielung reagiert er nicht, unternimmt aber auch keinen Versuch, die Schrammen zu verbergen. Daher entscheide ich, nicht näher nachzufragen. Wir sitzen uns eine ganze Weile schweigend gegenüber. Normalerweise sind mir solche Situationen unangenehm. In diesem Moment nicht. Ich will auf keinen Fall etwas sagen, sondern nur in den Tiefen dieser stahlblauen Augen versinken. Er sitzt mir mit leicht geneigtem Kopf gegenüber und schaut mir unverhohlen ins Gesicht. Ruhig und durchdringend hält mich sein Blick fest. Bei seinem zweiten unterdrückten Gähnen lege ich ihm einen Finger unters Kinn und hebe es sachte an.

„Du weißt, wo die Couch steht. Wann soll ich dich wecken?“

Er seufzt leise und wirkt plötzlich wie ein großer Junge, den man bei einer Dummheit erwischt hat.

„Wäre neun Uhr verträglich?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, erhebt er sich und verschwindet im Wohnzimmer.

„Natürlich!“, flüstere ich zu mir selbst.

Momentan zeigt die Küchenuhr fünf Minuten nach sechs an. In aller Ruhe räume ich die Tassen in den Geschirrspüler, dann folge ich ihm ins Wohnzimmer. Ich finde meinen großen Unbekannten, von dem ich noch immer keinen Namen weiß, bereits im Tiefschlaf auf meiner Couch vor. Er liegt auf dem Bauch und sein Gesicht ist fast vollständig in den Armen vergraben. Mein gemütliches XXL-Sofa ist gerade breit genug, dass er der Länge nach darauf passt. Er muss mindestens 1,85 Meter groß sein, eher mehr. Ich selbst bin 1,70 Meter, und wie ich bereits unschwer feststellen konnte, reiche ich ihm kaum bis zur Nase. Er hat seine Schuhe ausgezogen. Die schwarzen Sneakers stehen akkurat am unteren Ende der Couch. Ansonsten trägt er ausgewaschene Jeans und ein dünnes buntbedrucktes Sweatshirt. Darunter zeichnet sich eine schlanke, sportliche Figur mit breiten Schultern ab. Nach ein paar Minuten, in denen ich ihn nur still angesehen habe, kommt mir ein lustiger Gedanke in den Sinn: Da liegt ein Fremder, von dem du nicht das Geringste weißt, auf deiner Couch und schläft. Nur gut, dass dies deine Mutter nicht weiß! Kopfschüttelnd greife ich zu meinem Plaid und breite es sachte über seinem Rücken aus. Trotz Anfang August entschied sich das Wetter heute für einen trüben Tag mit kühlen Temperaturen.

Kurz vor neun setze ich mich neben meinem schlafenden Gast in die Hocke. Erneut gleitet mein Blick über ihn. Er hat sich die letzten drei Stunden kaum bewegt. Seine auffällig hellblonde Mähne fasziniert mich. Sie sind wirklich ziemlich kurz, und die Erinnerung an die ungewöhnlich weiche Struktur treibt mich dazu, die Hand zu heben und sachte darüberzustreichen.

„Arg!“

Keuchend fährt er hoch und schlägt meinen Arm zur Seite. Einen Augenblick lang starrt er mich entsetzt, fast hasserfüllt an. Es erschreckt mich so, dass ich zusammenzucke und nach hinten wegkippe. Schwer atmend und verwirrt schaut er sich im Zimmer um, dabei fasst er sich mit verkrampften Fingern in die Haare. Schließlich sieht er mich auf dem Boden und mit einem erleichterten Durchatmen scheint er sich zu beruhigen.

„Es … es tut mir leid!“, stammelt er. „Ich … äh … wie spät ist es?“

Mit einem Satz ist er auf den Füßen, beugt sich zu mir vor und hält mir mit ausgestrecktem Arm die Hand entgegen. Verdattert greife ich danach und lasse mir aufhelfen.

„Drei Minuten vor neun“, antworte ich kleinlaut. „Bitte entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken. Ist alles okay mit dir?“

„Ja, alles bestens“, behauptet er steif. „Sorry, aber ich muss jetzt los.“ In Windeseile schlüpft er in seine Schuhe und rauscht zur Tür. Seine Hand liegt bereits auf der Türklinke, da dreht er sich noch einmal um. „Vielen Dank für den Koffein-Kick und das Kräftetanken.“ Er zwinkert, zeigt sein verschmitztes Lächeln, dann ist er weg.

„Keine Ursache, Mr. Unbekannt“, versichere ich meiner Wohnungstür und beginne zu kichern. „Und wenn du mir beim nächsten Mal nicht deinen Namen nennst, kommst du erst gar nicht mehr rein!“

- 3 -

Am Montagmorgen hetze ich in letzter Minute ins Büro und stecke keuchend die Karte in die Stechuhr. Durch erneute Lärmbelästigung meines schmierigen Nachbarn war ich gestern Abend mit dem Kopf unter dem Kopfkissen eingeschlafen, obendrein hatte ich vergessen meinen Wecker in Aktion zu nehmen. Gerade mal 15 Minuten blieben mir am Morgen, vom ersten Blick auf die Uhr bis zum Spurt an die U-Bahn-Station. Im Normalfall völlig unmöglich. Als bekennender Morgenmuffel ist ein Verlassen der Wohnung, ohne ausgiebig heiße Dusche, mindestens zwei Tassen schwarzen Kaffee und dreimaligem Kleiderwechsel vorm Schlafzimmerspiegel sonst nicht drin. Ein echt bescheidener Start in die neue Woche. Kaum zeigt sich der PC zur Arbeit bereit, steht Lisa vor meinem Schreibtisch und gafft mir in die müden Augen. Lisa ist meine Kollegin, obendrein eine Klatschzeitung in Menschengestalt. Schon bei unserem ersten Aufeinandertreffen in der Firma, was nach wenigen Minuten meines ersten Arbeitstages der Fall war, informierte sie mich über alles und jeden im Haus. Seither tut sie dies täglich. Lisa ist lustig und unterhaltsam. Für meine Verhältnisse jedoch eindeutig zu neugierig. Dennoch mag ich ihre frische und ungeschminkte Art, und wir treffen uns gelegentlich auch privat.

„Meine liebste Josi!“, tadelt sie mich, wie eine Schullehrerin mit erhobenem Zeigefinger. „Du willst mir doch nicht erzählen, dass du seit den letzten drei Jahren, die du hier arbeitest, heute das erste Mal verschlafen hast? Offensichtlich steckt doch noch etwas anderes in dir als die brave und pflichtbewusste Tochter deiner Mutter. Pfui, schäm dich!“, schmettert sie mir übertrieben theatralisch entgegen und wir fangen prompt an zu lachen.

Meine Mittagspause verbringe ich mit Lisa und zwei weiteren Kolleginnen meist im benachbarten Café unseres Lieblingsbäckers. Sobald wir heute dort ankommen, stößt mich Lisa sachte an.

„Ist dir der Typ da drüben schon aufgefallen?“, tuschelt sie mir ins Ohr. „Letzte Woche stand er mindestens drei Mal dort.“

Möglichst unauffällig schaue ich auf die andere Straßenseite. Ich sehe den Mann, allerdings ist es niemand den ich kenne. Lisa hingegen schwört, dass der Kerl immer an dem Platz steht, wenn ich mit in der Pause bin. Letzte Woche hatte ich zwei Tage durchgearbeitet. An diesen Tagen sei er auch hier gewesen. Er hätte Lisa und die anderen kurz beobachtet, wäre anschließend aber wieder verschwunden. Außerdem sei er ihr am Abend vorm Firmeneingang aufgefallen. Spätestens nach dieser Nachricht bin ich satt und mein Kaffee plötzlich viel zu bitter. Davon abgesehen spukt mir Lisas Mitteilung den ganzen Nachmittag im Kopf herum. Ein konzentriertes Arbeiten ist damit ausgeschlossen und für die Fertigstellung der öden Diktatbänder meines Chefs benötige ich fast doppelt so lange wie üblich. Folglich beende ich meinen heutigen Dienst gut eine Stunde später, dazu noch allein, da sämtliche Kollegen bereits den Heimweg angetreten haben. Beim Verlassen der Firma steht mir der Schweiß auf der Stirn. Ängstlich schaue ich mich um. Den seltsamen Mann vom Mittag entdecke ich aber nicht. Ein Blick auf die Uhr befördert mich in die Realität zurück. Mir bleiben genau drei Minuten, um die nächste U-Bahn zu erreichen. Die anschließende Verbindung geht erst eine halbe Stunde danach und auf Warten steht mir partout nicht der Sinn. Ich renne los. In letzter Sekunde erreiche ich die bereits vorgefahrene Bahn und sinke mit heftigem Seitenstechen auf einen freien Platz.

„Absolut außer Form!“, rüge ich mich selbst.

Während des gesamten Heimweges begleitet mich das mulmige Gefühl, beobachtet zu werden. Erst zu Hause, hinter meiner verschlossenen Wohnungstür, schaffe ich es, durchzuatmen. Doch auch den Rest der Woche fühle ich mich wie ein gejagtes Kaninchen, trotz der Tatsache, dass niemand mehr zu sehen ist.

Am Samstagnachmittag läutet kurz nach der Mittagszeit mein Handy.

„Hallo Lisa“, posaune ich unverblümt ins Telefon, da ich ihre Nummer erkenne. „Alles klar für heute Abend?“

„Nein, Josi“, krächzt Lisa heiser, „ich muss leider absagen.“

„Was ist los? Bist du krank?“

„Und wie!“, quietscht sie und hustet kräftig. „Ich habe Fieber und kriege kaum noch einen Ton heraus. Und das, obwohl ich gestern nicht mal on tour war. Tut mir leid wegen unseres Dates. Aber das Essen heute Abend muss ausfallen.“

„Okay, das ist schon in Ordnung“, schwindle ich. „Brauchst du Hilfe, irgendetwas aus der Apotheke vielleicht?“ Hoffentlich hört Lisa meine Enttäuschung nicht.

„Nein, ich habe alles“, wehrt sie ab. „Unser Mädel-Essen wird nachgeholt. Fest versprochen!“

Nach kurzem Check meines Kühlschranks bleibt mir nun die Wahl zwischen Lieferservice oder einer zusätzlichen Fahrt zum Supermarkt. Kurzerhand schlüpfe ich in bequemere Jeans und ziehe hastig einen halbwegs ansehnlichen Pullover über. Ein prüfender Blick in den Geldbeutel, dann geht’s ab in die Tiefgarage. Dies ist wirklich der einzige Luxus, den ich mir gönne. In einer Großstadt wie München zu wohnen und gleichzeitig ein Auto mit Garage zu besitzen, das man nicht einmal für den Arbeitsweg braucht, ist eigentlich die reinste Verschwendung. Zumal die U-Bahn billiger ist und schneller fährt und jede Parkplatzsuche zu einem Lotteriespiel ausartet. Doch dieser kleine Luxus muss sein, zumindest für solche Momente wie jetzt gerade. Heute benötige ich für den Einkauf über eine Stunde bei einer Wegstrecke von nur drei Kilometern. Pure Idiotie. Wieder zu Hause angekommen verstaue ich leise summend meine Einkäufe im Kühlschrank. Dabei schaue ich beiläufig aus dem Küchenfenster, hinunter auf die Straße. Unmittelbar vor dem Haus ist ein Fahrzeug auf ein anderes aufgefahren. Die Fahrer stehen neben ihren Autos und schimpfen in verschiedenen Sprachen laut aufeinander ein. Mein Fenster ist gekippt und einige Worte, die scheinbar in jedem Land gleich sind, verstehe ich bis in den dritten Stock. Einige Passanten haben sich bereits um die Unfallstelle herum versammelt und amüsieren sich ebenso wie ich über die Szene auf der Gasse. Einen Moment bleibe ich hinter der Scheibe stehen und betrachte die schnell zunehmende Menge an Schaulustigen. Plötzlich stockt mir der Atem. Der Mann von der Bäckerei! Inmitten der Menge steht der Kerl, den Lisa mir am Montag in der Mittagspause gezeigt hat. Der, von dem sie überzeugt ist, dass er mich beobachtet. Mich überläuft eine Gänsehaut und ich weiche hastig einen Schritt zurück. Hat er hochgeschaut? Was, wenn er mir wirklich nachstellt und jetzt weiß, wo ich wohne? Gibt es denn keinen Ort mehr, an dem ich mich sicher fühlen kann? Langsam und vorsichtig gehe ich wieder näher ans Fenster. Er ist weg. Mit zusammengekniffenen Augen nehme ich jedes Gesicht in der Menschentraube ins Visier. Ganz sicher, er ist nicht mehr da.

„Du siehst Gespenster, Josi!“, kritisiere ich mich halbherzig.

Als endlich alles seinen gewohnten Platz eingenommen hat, ist es bereits 18 Uhr, und mein Magen zeigt lautstarkes Interesse an den eingekauften Lebensmitteln. Meine Entscheidung fällt auf Tortellini a la Josi, mit extra viel Käse! Ich koche grundsätzlich mit eingeschaltetem Radio und strecke gerade den Finger zum Power-Knopf aus, da wird es plötzlich mächtig laut im Hausflur. Die blökende Stimme ist mir inzwischen wohl bekannt. Mein äußerst unverschämter Nachbar Herr Nomes, der ständig mit einem dummen Spruch behaftet ist und diesen bei jeder Gelegenheit kundtut. Zumindest mir gegenüber, wenn ich es nicht schaffe, mich im Treppenhaus rechtzeitig zu verdrücken. Mein letztes ungewolltes Aufeinandertreffen mit diesem nach billigem Weinbrand stinkenden Pöbel, war gestern Abend am Briefkasten. Er quetschte sich so dicht an mich, um mir ein schönes Wochenende zu wünschen, dass es fast an Belästigung grenzte. Der alles zum Überlaufen bringende Tropfen kam unmittelbar danach. Zum Abschied verpasste er mir einen mehr als leichten Klaps auf den Hintern.

„Finger weg von fremdem Eigentum, du Arsch!“, hatte ich ihm wagemutig entgegengeschmettert.

Es war der erste Gedanke, den mein geschocktes Hirn hervorbrachte, und genau so kam er aus meinem Mund. Stolz darüber, endlich einen zurechtweisenden Konter aus meiner Kehle bekommen zu haben, strafte ich ihn gleich noch mit einem vernichtenden Blick. Eine schlechte Entscheidung, wie ich drei Sekunden später wusste. Nun stand er nämlich mit seinem dämlichen Grinsen genau zwei Zentimeter vor meinen Augen und hauchte mir seine Alkoholfahne in die Nase.

„Abwarten, Mäuschen, in wessen Eigentum DEIN Arsch noch wandert!“, und verschwand mit einem ekelig spottenden Lachen aus dem Haus.

Nach einer gefühlten Ewigkeit bekam ich meinen Puls und meine weichen Knie wieder unter Kontrolle. Schwankend und eingeschüchtert kehrte ich in meine Wohnung zurück. Diese Begegnung hatte mir dermaßen zugesetzt, dass ich die halbe Nacht wach lag und mir den Kopf zerbrach, was ich unternehmen könnte.

Mit einem tiefen Seufzer verbanne ich die Erinnerung an das gestrige Erlebnis in einen entfernten Winkel meines Kopfes. Vergebens! Just in diesem Moment, in dem ich ein Stoßgebet gen Himmel schicke, Herrn Nomes Sippschaft möge heute eine andere Party-Location besuchen, wird der Lärmpegel in der Nachbarwohnung lauter. So viel zu meinem unfreiwilligen und gemütlichen Abend zu Hause. Trotz 25 Grad Außentemperatur beschließe ich die Balkontür zuzudrücken. Eilig gehe ich auf die Glastür zu, da werde ich Ohrenzeuge einer lautstarken und, wie ich vermute, auch handgreiflichen Auseinandersetzung aus der Nachbarwohnung. Es klingt nach einer Schlägerei! Minuten später wird das Ganze durch laute Stimmen unterbrochen. Jemand brüllt: „Es ist genug! Hört auf damit!“ Diesen Moment nutze ich, schließe lautlos die Tür und schleiche auf Zehenspitzen in die Küche zurück.

Die Türklingel schreckt mich von meiner Lektüre auf.

„Ach, Tanja“, seufze ich leise und schaue auf die Uhr. Es ist halb zehn. „Ich dachte, du hast Nachtdienst.“ Schwerfällig erhebe ich mich von der Couch. Was sie wohl heute alles zu erzählen hat? Egal, dann eben Gesellschaft von Tanja, auch gut!

Wehmütig schaue ich auf mein Buch und das angetrunkene Glas Martini, dabei begebe ich zum Eingang. Mit einem hoffentlich glaubwürdigen Lächeln ziehe ich schwungvoll die Wohnungstür auf und zucke erschrocken zusammen. Vor mir steht der blonde Unbekannte ohne Namen.

„Störe ich oder kann ich reinkommen?“ Seine Stimme klingt eigenartig, dazu blickt er mich seltsam verhalten mit gesenktem Kopf an.

„Äh … nein. Ich meine, ja!“, stottere ich und fuchtle abwehrend mit der Hand herum. „Ja, komm rein! Nein, du störst nicht.“

Zögernd und steif schiebt er sich an mir vorbei in die Wohnung. Nach Blickkontrolle den Flur entlang – warum tue ich das eigentlich? – schließe ich die Tür, drehe mich zu ihm um und reiße entsetzt die Augen auf.

„Himmel!“, stoße ich aus. „Wie siehst du denn aus? Was ist passiert?“ Entsetzt schnappe ich nach Luft und hebe rasch die Hand vor den Mund. Die Beleuchtung im Inneren offenbart schonungslos, weshalb er so verhalten klingt und den Kopf nicht richtig anhebt.

„Bitte habe keine Angst.“ Er spricht so leise, dass ich es beinahe überhöre.

Seine blauen Augen schauen mich flehend an. Sie leuchten wie bei den letzten Malen, doch von dem frechen Schmunzeln fehlt jede Spur. Mit hängenden Schultern und leicht in sich gesunken steht er vor mir. Mein Blick scannt immer wieder sein bleiches Gesicht, aber er rührt sich nicht. Stattdessen lässt er es ohne Scheu zu, dass ich ihn mustere und mir das Ausmaß seiner Verletzungen ansehe. Er ist übersät mit Kratzern, Schürfwunden und aufgeplatzten Stellen. Nach ein paar Sekunden, in denen mir der Puls lauter in den Ohren hämmert als die Musik vom Nachbarn, hebt er sachte den Kopf an und bringt mir ein gequältes Lächeln entgegen.

„Espresso, Fremder?“, frage ich mit überraschend ruhiger Stimme und seine verkrampfte Haltung entspannt sich sichtlich.

„Ja, bitte. Gerne auch einen Doppelten.“

Ich nicke und schenke ihm meinerseits ein Lächeln. Sachte greife ich nach einer unversehrten Stelle an seinem Arm und ziehe ihn behutsam hinter mir in die Küche. Eilig wende ich mich der Kaffeemaschine zu. Auch wenn ich es schaffe, ruhig zu reden, ein paar unbeobachtete Sekunden zum Durchatmen können uns jetzt nicht schaden. Einige verstohlene Blicke aus dem Augenwinkel kann ich mir jedoch nicht verkneifen. Ich sehe, wie er beim Versuch, tiefer durchzuatmen, schmerzverzerrt die Augen zukneift. Außerdem hält er einen Moment lang den Atem an, als er sich vorsichtig auf einen Barhocker schiebt. Wahrscheinlich hat er stärkere Schmerzen, als er mir gegenüber zeigen will. Bis unsere doppelten Espressi fertig sind, habe ich mich so weit gefasst, dass ich mich ohne zu zittern zu ihm umdrehen kann. Ich stelle ihm die Tasse direkt vor die rechte Hand. Auch sie ist verschrammt, dazu sind die Knöchel an Zeige- und Mittelfinger aufgeplatzt. Durch die Küchenbeleuchtung sind die Wunden deutlicher zu sehen. Wir stehen uns an der Theke gegenüber und abermals lässt er zu, dass ich mir seiner Verletzungen ansehe. In diesem Moment ist es mir gleich, ob ich neugierig wirke oder nicht. Er kam freiwillig, also muss er damit rechnen, dass ich ihn schonungslos angaffe. Die Situation ist fast schon komisch! Wir starren uns an, aber keiner verliert ein Wort darüber. Minutenlang hüllen wir uns in Schweigen und trinken unsere Espressi. Dann nehme ich wortlos einige Eiswürfel aus dem Froster, wickle sie in zwei Tücher und bedecke damit sachte eine Platzwunde an der Lippe und am rechten Auge. Zögernd greift er danach und hält sie fest. Anschließend verschwinde ich ins Bad und kehre mit meiner Hausapotheke zurück, die dank Nachbarin Tanja der Krankenschwester, bestens ausgestattet ist.

„Versuche stillzuhalten“, bitte ich ihn. „Ich werde die Schrammen am Mund und am Auge säubern.“ Mit spitzen Fingern und gerunzelter Stirn suche ich die passenden Verbandmaterialien heraus. „Tut mir leid, aber um ein scheußliches Brennen wirst du nicht umhinkommen. Ich tu mein Bestes.“

Nach einem matt zustimmenden Nicken meines Patienten mache ich mich an die Arbeit. An mehreren Stellen klebt Schmutz im inzwischen angetrockneten Blut - Sand und kleine Steine. Er trägt eine moderne dünne Strickmütze, die seine blonden Haare komplett verbergen. Um die Platzwunde am Auge besser reinigen zu können, schiebe ich sie langsam und vorsichtig ein Stück höher.

„Was um alles in der Welt ist mit deinen Haaren passiert?“, ächze ich und deute mit starrem Blick auf seinen Kopf.

Erschrocken schaut er auf und sieht mir durchdringend in die Augen, wahrscheinlich um zu sehen, ob ich in Ohnmacht falle.

„Angesengt“, sagt er leise, dabei huschen seine Augen unruhig über mein Gesicht. Vielleicht rechnet er damit, dass ich kreischend das Weite suche oder doch neben ihm zu Boden gehe.

„Angesengt?“ Verkrampft halte ich seine Mütze in den Händen und stiere mit weit aufgerissenen Augen auf seinen Haarschopf. „Du meinst … mit Feuer? Jemand hat dich angesengt, mit Feuer?“

Langsam beginnt er zu nicken. In seinen blauen Augen zeigt sich der gleiche flehende Ausdruck wie zuvor an der Tür. Was hatte er geflüstert? ‚Bitte habe keine Angst!‘. Mir ist übel. Dazu kostet es mich alle Kraft, nicht auf direktem Weg ins Bad zu stürmen und mich zu übergeben. Aber nein, ich habe keine Angst!

„Wer, um Himmels willen, tut so etwas? Und warum?“

Ich hatte es mehr zu mir selbst oder einfach aus Entsetzen ausgesprochen, denn irgendwie ist mir klar, dass ich auf meine Frage keine Antwort bekomme. Wie in Trance stehe ich da, spüre, wie mir die Eiseskälte über den Rücken läuft und mich erschauern lässt, weil ich nicht glauben kann, was ich vor mir sehe. Langsam beruhige ich mich etwas und mein Blick streift um seinen Kopf. Meine rechte Hand schwebt mit leichtem Abstand über den Resten seiner hellen Mähne. Ihn anzufassen traue ich mich nicht. Erleichtert stelle ich fest, dass nur die Haarspitzen versengt sind. Glücklicherweise sind keine Verbrennungen oder Wunden an der Kopfhaut zu entdecke, obwohl einige Stellen ziemlich schlimm aussehen. Derjenige, der meinem geheimnisvollen Fremden dies angetan hat, wusste genau, was er tut. Hinter einer solch gezielten Verunstaltung kann nur Absicht stecken.

„Gott sei Dank“, rede ich leise vor mich hin.

Wieder ein minimales Nicken. Sonst nichts.

Bevor ich ihn etwas fragen kann, klingelt es an der Wohnungstür. Nach kurzem Zögern verlasse ich die Küche. Dieses Mal öffne ich den Eingang nicht ganz so arglos, sondern luge erst misstrauisch durch den Spalt. Vor mir steht ein Mann mit breiten Schultern, der sicher ebenso groß ist wie mein angeschlagener Schönling in der Küche. Er trägt dunkelblaue Jeans, Shirt und eine dünne Sportjacke. Mit zusammengepressten Lippen neigt er den Kopf und schaut auf mich herab. Langsam mache ich die Tür ein Stück weiter auf, aber mehr als ein stirnrunzelndes „Ähm“, bringe ich nicht zustande. Eine Reaktion, die dem Neuankömmling offensichtlich ausreicht. Er beginnt zu schmunzeln und zwinkert mir zu. Dann schiebt er mich vor sich in die Wohnung und drückt die Tür hinter sich ins Schloss.

„Ich habe ihm gesagt, dass er mich hier findet“, höre ich es plötzlich leise hinter mir.

In dieser Sekunde spüre ich meinen mystischen Unbekannten dicht hinter meinem Rücken. Sanft legt mir eine Hand auf den Arm und es fühlt sich beruhigend an. Der Kerl vor mir versieht mich kurz mit einem breiten Grinsen, dann wandert sein Augenmerk höher. Schlagartig änderte sich seine Miene. Seine Stirn legt sich in Falten, dazu mustert er meinen Patienten besorgt. Mehr noch! Einen Augenblick wirkt er schuldbewusst. Ebenso schnell ist es vorbei und sein gelassener, eher abschätzender Gesichtsausdruck ist zurück. Ich drehe mich etwas zur Seite und schaue zwischen den Männern hin und her. Sie reden nicht. Kein einziges Wort! Dennoch fühle ich mich wie ein Zuschauer. Gerade so, als verfolge ich eine Unterhaltung. Doch zu hören ist … nichts! Ihre Augen scheinen das Einzige zu sein, was sie dafür brauchen. Wenige Sekunden, ein reiner Blickkontakt, dann ist es weg.

„Entschuldige bitte“, mein angeschlagener Blondschopf räuspert sich verlegen. „Das ist Dirk.“ Er deutet kurz auf sein Gegenüber. „Er … na ja, er ist für mich, was man bei Frauen wohl die beste und älteste Freundin nennt.“ Er steht nun direkt neben mir und strahlt mich mit einem breiten Grinsen an, soweit dies seine Platzwunden zulassen. „Also … mein ältester Freund, Vermieter, gelegentlicher Seelsorger und so.“ Erneut wechseln die beiden einen schnellen Blick, und wieder schwingt eine wortlose Botschaft mit.

„Ich habe dabei, was du haben wolltest.“ Lautlos setzt Dirk die Sporttasche, die er die ganze Zeit in der Hand gehalten hat, neben sich auf dem Boden ab. „Scheint, als wirst du bestens versorgt“, bemerkt er grinsend und zwinkert mir ein zweites Mal zu.

In diesem Moment kehrt die zuvor abgeflaute Party meines Nachbarn mit voller Lautstärke ins Leben zurück. Aufhorchend hebt Dirk den Kopf an, dann drehte er sich kurzerhand um. Er öffnet die Wohnungstür und tritt auf den Flur hinaus.

„Ich sorge dafür, dass ihr eure Ruhe habt“, richtet er sich noch einmal an seinen Freund. „Anschließend verschwinde ich wieder. Bist du sicher, dass alles okay ist? Der Rest ist heil geblieben?“ Besorgt wartet er ab, bis er ein beruhigendes Nicken als Antwort erhält.

„Danke für die Sachen. Ich melde mich später bei dir.“

Kurz darauf verstummt der Radau in der Nebenwohnung. Überrascht drehe ich mich zu meinem Patienten um. Wir stehen noch immer hinter der Wohnungstür und zum ersten Mal an diesem Abend kommt mir sein jungenhaftes Grinsen entgegen. Dabei zuckt er unschuldig mit den Schultern.

„Hat er denen den Stecker gezogen, oder wie lief das eben?“, erkundige ich mich staunend.

„Nein, das wohl kaum“, lacht er. „Wahrscheinlich hat er sämtliche Frauen zu einem Abstecher in den House-Club eingeladen.“

Der ‚House-Club‘ ist einer der angesagtesten Clubs, die München aktuell zu bieten hat. Jeder, der etwas auf sich hält, will am Wochenende hier gesehen werden. Super gelegen, direkt an der Isar, mit eigenem Privatstrand für den nächtlichen Chill-Out. So schreibt es zumindest die Presse. Einen Versuch, in den House-Club hineinzukommen, haben Lisa und ich bisher gar nicht erst gestartet, da die Einlassschlange vorm Haupteingang schon aus der Entfernung nicht mehr zu überschauen ist. Außerdem seien die Türsteher angeblich extrem wählerisch.

„Ach“, beginne ich zu frotzeln, „und dein Kumpel schneit dort an einem Samstagabend zur Party-Rush-Hour einfach so rein, bringt ein paar zwielichtige Damen mit und geht womöglich noch durch den VIP-Eingang!“ Ungläubig lege ich den Kopf schief und hebe kritisch eine Augenbraue.

„Ja, so in etwa“, nickt er und grinst noch breiter. „Wenn man dort arbeitet, ist es meist kein Problem reinzukommen.“

„Hm, klar. Nein, dann sicher nicht“, gebe ich zerknirscht zu.

Auf dem Weg zurück in die Küche kommt mir die seltsam nonverbale Kommunikation meiner Besucher wieder in den Sinn. Abrupt drehe ich mich um und stoße frontal mit meinem Patienten zusammen.

„Arg!“ Keuchend krümmt er sich nach vorne und schafft es gerade noch, sich am Türrahmen festzuhalten.

„Sorry! Verdammt, was denn noch?“, quietsche ich und versuche, ihn möglichst behutsam zu stützen. „Oh Gott, bitte, jetzt bloß nicht umkippen!“

Mit schmerzverzerrtem Gesicht lässt er sich zur Couch begleiten. Dabei wage ich es kaum ihn zu berühren. Erst jetzt fällt mir der Zustand seiner Kleider auf. Pullover und Jeans sind dreckverschmiert, an einigen Stellen ist der Stoff aufgeschürft und mit Blut verkrustet. Durch das gedämpfte Licht an der Tür und die Aufregung über seine Verletzungen im Gesicht habe ich den Rest vollkommen übersehen!

„Es … es tut mir leid, ich …“

„Josi, bitte, es ist doch nicht deine Schuld, dass …“, er bricht ab. Stattdessen hält er eine Sekunde den Atem an, schließt die Augen und schüttelt kaum merklich den Kopf.

„Könntest du versuchen den Pullover auszuziehen?“, gehe ich eilig darüber hinweg. „Dann werde ich nachsehen, ob meine bescheidenen medizinischen Hilfsmittel etwas ausrichten können.“

Womöglich gibt es einen Grund für die Geschehnisse des heutigen Tages. Doch offenbar hat er entschieden, ihn für sich zu behalten. Nun, wie auch immer. Ich werde gewiss nicht nachfragen, selbst wenn mich die Neugier fast umbringt.

„Ich tue mein Bestes“, haucht er und beißt schon bei der ersten Bewegung vor Schmerzen die Kiefer zusammen.

Vorsichtig helfe ich ihm aus den Ärmeln. Anschließend weite ich den Kragen so gut es geht, um die gerade versorgten Wunden im Gesicht nicht zu berühren. Dabei verheddert sich seine Kette mit dem Amulett. Während er es vom Stoff befreit, hängen meine Augen gebannt an diesem wunderschönen Anhänger. Ein rundes silberfarbenes Amulett. Entlang des Randes sind Hieroglyphen eingearbeitet. Darin ein Quadrat mit weiteren Schriftzeichen und eine Raute. Es ist auffallend groß! Bestimmt sechs oder sieben Zentimeter im Durchmesser. Ob dieses außergewöhnliche Schmuckstück auch eine Bedeutung hat? Als er die Arme sinken lässt, trifft mich der nächste Hieb in die Magengegend. Der Anblick verschlägt mir augenblicklich die Sprache. An mehreren Stellen rund um den Brustkorb sind Schrammen, mit Schmutz verklebte Kratzer und was mich noch mehr verwirrt, bereits verblasste blaugelbe Blutergüsse. Außerdem entdecke ich einige kleine Narben, die zwar abgeheilt sind, aber auf alte Schnittverletzungen schließen lassen. Ich keuche, da meine Gedanken allmählich Eins und Eins zusammenaddieren. Der heutige Übergriff auf ihn war nicht der erste! Ich spüre, wie mir die Tränen in die Augen steigen und sein besorgter Blick verrät mir, dass es ihm nicht entgeht. Es ist mir egal. Das ist echt zu viel für einen Abend.

„Was …?“ Ich schlucke, um den Kloß in meiner Kehle zu lösen.

„Nein, bitte frag nicht!“, seufzt er leise.

Zaghaft zieht er mich ein Stück näher zu sich heran. Mit dem Finger hebt er mein Kinn an, sodass ich hochschauen muss. Er nimmt mein Gesicht in beide Hände und streicht mir zärtlich die Tränen von den Wangen. Der Blick in seine geheimnisvollen Augen bringt mich zur Ruhe und auch er entspannt sich merklich.

„Könntest du mir die Tasche geben, die Dirk gebracht hat?“

Ich nicke mechanisch. Dann gehe ich zur Wohnungstür, kehre mit der Sporttasche zurück und reiche sie ihm. Er platziert sie neben sich auf der Couch, öffnet den Reißverschluss und befördert einige Kleider zutage.

„Warte einen Moment!“ Ich sause in die Küche und hole die Überbleibsel meiner Hausapotheke. „Lass mich erst nachsehen, ob ich die Schrammen noch säubern kann.“ Meine Stimme klingt heiser und ich räuspere mich verlegen. „Ich meine, wenn das in Ordnung ist für dich.“

„Hmm“, brummt er und nickt.

Zehn Minuten später ist nahezu mein gesamter Vorrat an Verbandsmaterial auf seinem Körper verteilt und mein Patient mit neuem T-Shirt und Jeans bekleidet. Glücklicherweise brachten seine Beine nur kleinere Abschürfungen zutage. Beim Verstauen der verschmierten und aufgerissenen Kleider stockt er plötzlich. Dann greift er noch einmal gezielter in die Sporttasche.

„Danke, Bruder!“, flüstert er, ohne den Blick zu heben. Lächelnd zieht er eine Whiskyflasche hervor und hält sie mir entgegen. „Hast du zwei Gläser für uns?“

Mit einem erfreuten Nicken nehme ich die Flasche entgegen. Beim Anblick des Etiketts schürze ich anerkennend die Lippen: Single Malt, 18 Jahre alt! Während ich in der Küche verschwinde, um zwei passende Gläser zu besorgen, registriere ich im Augenwinkel, dass sich mein Patient leise stöhnend von der Couch erhebt und mir folgt.

„An der Theke sitze ich angenehmer“, erklärt er, auf meinen verwunderten Blick und schiebt sich sachte auf einen Barhocker.

Ich schenke uns ein, wir prosten uns wortlos zu und ich beobachte, wie er mit langsamen und genussvollen Schlucken den Whisky die Kehle hinunterrinnen lässt. Auch mir verleiht das rauchige Aroma des schottischen Goldes eine angenehme Wärme. Es vertreibt das flaue Gefühl im Magen. Wie zu Beginn des Abends stehen wir uns in der Küche gegenüber, in Gedanken versunken und nur auf den anderen fixiert. Mir kommt in den Sinn, dass er mich heute zum ersten Mal mit meinem Namen angesprochen hat. Seinen hingegen weiß ich noch immer nicht.

„Verrätst du mir heute eigentlich wie du heißt?“, frage ich prompt. „Oder muss ich mir einen Namen einfallen lassen?“

„Nur, soll ich mir für dich auch einen aussuchen darf!“ Er grinst schief, gleichzeitig hält er mir sein Glas zum Nachfüllen entgegen.

„Du weißt doch, wie ich heiße!“, reagiere ich überrascht.

„Na und! Gleiches Recht für beide. Wie würdest du mich taufen?“ Gespannt beugt er sich mir über die Theke entgegen und stützt seinen Kopf auf den Händen ab.

„Ich … äh“, mit gerunzelter Stirn und leisem Brummen täusche ich angestrengtes Grübeln vor. „Ich muss erst einmal überlegen, was zu dir passt!“

Langsam beuge ich mich näher zu ihm vor und sehe absichtlich forsch und tief in seine Augen: groß, stahlblau, mit dichten schwarzen Wimpern. Dann wandert mein Blick hoch zu seinen Haaren, die, trotz der Verunstaltung, noch immer ungewöhnlich hell glänzen. Anschließend kehrt mein Augenmerk zurück und unser Blick trifft sich erneut. Wenn ich das noch länger tue, dann …! Rasch weiche ich ihm aus, schlucke kräftig und schaue verlegen auf meine Hände.

„Ich werde dich … Detlef nennen!“, verkünde ich theatralisch. Und obgleich es sicher das Blödeste ist, das mir eingefallen konnte, breche ich bei seiner Reaktion in schallendes Gelächter aus. Mit offenem Mund und entsetzt aufgerissenen Augen starrt er mich an. „Vielen Dank“, gluckse ich. „Deine Reaktion war es wert!“

„Okay, in Ordnung! Der Punkt geht an dich.“ Erleichtert stößt er die Luft aus, dabei verdreht er gespielt empört die Augen. „Aber ernsthaft, wie würdest du mich nennen?“

„Du willst wirklich, dass ich dir einen Namen gebe?“

Inzwischen hege ich den Verdacht, dass dies kein Spiel für ihn ist! Er lächelt sanft und seine Augen funkeln mich erwartungsvoll an.

„Also, Ironman oder Hero wären nach dem heutigen Abend sicher passend, aber nennen werde ich dich … ich … ähm, ich weiß es nicht!“, jammere ich und versuche es mit Bettelblick und Schmollmund. „Bitte, sage mir doch einfach, wie du heißt!“

„Du findest, ich sei wie Ironman?“ Er seufzt übertrieben. „Klingt irgendwie gefühlskalt.“

„Nein! Nein, so meine ich das nicht. Im Gegenteil! Ich meine nur …“, unbeholfen fuchtle ich mit den Händen herum, „wegen heute! Ich meine, was du ertragen musstest.“ Meine Stimme wird immer leiser. „Heute, meine ich.“ Beklommen senke ich den Blick und drehe nervös mein Glas zwischen den Fingern.

„Wenn ich dir sage, wie ich heiße“, er lugt unter meinen Ponyfransen hindurch, worauf ich beschämt den Kopf anhebe, „darf ich mir dann trotzdem einen Namen für dich aussuchen?“

„Findest du Josi oder Josephine, so heiße ich nämlich richtig, so schrecklich?“ Meine Frage klingt hörbar angekratzt, was ihn nicht zu stören scheint.

„Nein, ganz und gar nicht! Doch ein ganz privater Kosename, nur von mir …!“ Seine Augen weiten sich, während er bittend den Kopf neigt.

Ich warte auf sein verschmitztes Grinsen, das jedoch ausbleibt. Es ist ihm absolut ernst!

„Welcher Name wäre es denn?“, frage ich neugierig.

„Amy!“

„Oh! Ich, ähm … der ist schön!“

Verlegen versuche ich seinem Blick auszuweichen, was nicht gelingt, da er mir sachte mein Kinn festhält. Seine wunderschönen Augen fixieren mich durchdringend, dann macht er langsam den Mund auf.

„Halt, warte!“ Eilig hebe ich die Hand und lege sie kaum spürbar auf seine Lippen. „Ich weiß einen Namen für dich“, behaupte ich und meine Hand sinkt wieder.

„Gut“, murmelt er und wirkt erleichtert. „Welchen?“

„Ian!“

„Ian?“

„Ja. Eine Romanfigur, die dir der Beschreibung nach durchaus ähnelt“, erkläre ich und lächle verschmitzt.

„Okay, Amy“, grinst er und nickt. „Dann bin ich ab sofort Ian. Klingt gut.“

Zum wiederholten Mal an diesem Abend sitzen wir uns schweigend gegenüber und schauen uns an. Ich präge mir jede Kleinigkeit seines Gesichts wie ein Bild ein. Ebenmäßige, kantige Gesichtszüge, geschwungene Lippen, eine schmale Nase und dichte Brauen, die seine leuchtend stahlblauen Augen noch mehr zur Geltung bringen. Sieht man von den Schrammen und der verstümmelten Frisur einmal ab, könnte dieses Gesicht durchaus bei einer Werbekampagne punkten. Ein Grund mehr, mich zu fragen, was diesen Schönling in meine Küche bringt? Leise schnaubend schiebe ich diesen Gedanken beiseite und kehre in die Realität zurück.

„Sicher hast du deine Gründe, weshalb du nicht über …“, ich deute wie zufällig auf seine Haare, „deinen Unfall sprechen willst. Das ist in Ordnung. Eine Bitte hätte ich aber!“

„Und welche?“ Erwartungsvoll legt er den Kopf schief.

„Dass du dich umgehend von einem Arzt untersuchen lässt und mir versprichst, zukünftig besser aufzupassen. Klar soweit?“

Es kommt wie ein bettelndes Flehen über meine Lippen, dabei hätte es sachlich und nüchtern klingen sollen. Außerdem hatte ich, wie bei einer Strafpredigt mit dem erhobenen Zeigefinger herumgefuchtelt. Wie peinlich! Ian fängt prompt an zu lachen, was zur Folge hat, dass der Riss an seiner Lippe erneut anfängt zu bluten. Schnell hole ich aus dem Gefrierfach einen Eiswürfel und wickle ihn in das letzte saubere Tuch, das meine Hausapotheke noch hergibt.

„Ein Nicken hätte ausgereicht“, seufze ich und bedecke die blutende Stelle vorsichtig mit dem kleinen Coolpack.

Er greift an den Verband und hält ihn mitsamt meiner Hand fest. Sein Grinsen ist weg. Dafür nickt er einmal. Das Telefon läutet. Widerwillig entziehe ich ihm meine Hand, schaue rasch zur Uhr und lange gleichzeitig zum Hörer, der am anderen Ende der Theke in der Ladestation steht.

„Hallo Süße!“ Die Nummer meiner Schwester erkenne ich sofort. „Was verschafft mir die Ehre zu so später Stunde? Ist etwas passiert?“

Während ich telefoniere, nimmt Ian den Eispack von seiner Lippe, legt ihn vor sich auf die Theke und geht aus der Küche. Ich sehe ihm verträumt nach, wie er aus dem Zimmer verschwindet. Meine Gedanken sind voll und ganz mit der Verarbeitung des heutigen Abends beschäftigt, sodass ich der Stimme am anderen Ende der Leitung nur halbherzig folgen kann.

„Was? Wie? Sara, bitte, ich kriege gerade nicht alles mit“, unterbreche ich den Informationsschwall meiner Schwester. „Vorschlag: Ich bin morgen spätestens um zehn Uhr bei euch. Da haben wir Zeit zum Reden. Einverstanden? – Gut, dann bis morgen, Süße.“

Ich schicke Sara einen Kuss durch die Leitung, drücke den Anruf weg und stelle den Hörer in die Station zurück. Als ich mich anschließend zur Küchentür umdrehe, steht Ian wieder an der Theke. Außerdem liegt seine Sporttasche auf einem der Barhocker. Er nimmt eine Baseball-Mütze aus dem Seitenfach, setzt sie auf und zieht das Schild tief ins Gesicht. Somit verbirgt er einen Teil der Schrammen, obendrein verschwindet seine zerrupfte Mähne. Vor ihm liegt ein iPhone.

„Hattest du das vorhin schon dabei?“ Ich kann mich nicht erinnern, dass er beim Umziehen etwas aus den Taschen seiner Kleider befördert hatte. Und beim Eintreffen hielt er auch nichts in Händen. Weder Schlüssel, Handy noch Portemonnaie.

„Nein. Dirk hat es mitgebracht“, erklärt er und zeigt beiläufig auf sein Gesicht. „Meins ist hierbei zu Bruch gegangen.“

„Ich hole meine Autoschlüssel und fahr dich nach Hause“, entscheide ich schnell, da mir klar wird, dass er sich gleich verabschiedet und was sich plötzlich seltsam anfühlt.

„Danke, aber du hast heute schon genug für mich getan.“ Er lächelt und hält mich am Arm fest. „Meine Mitfahrgelegenheit ist schon auf dem Weg.“

Sekunden später leuchtet das Handy auf. Er steckt es ein, greift sachte nach meiner Hand und ich folge ihm zur Wohnungstür. Dort bleibt er dicht vor mir stehen, hebt mein Kinn an und sieht mir sanften Blickes in die Augen.

„Danke für die Erste Hilfe“, murmelt er und streicht mir zärtlich mit dem Daumen über die Wange. „Mach dir bitte keine Sorgen, Amy. Es ist alles in Ordnung!“

„So! Meinst du das wirklich?“

„Ja, das meine ich wirklich“, versichert er ruhig, trotzdem er weiß, dass ich daran zweifle. „Amy, ich … wir reden ein anderes Mal.“

Ohne meinen Blick loszulassen, öffnet er die Tür und tritt auf den Flur hinaus. Zögernd wendet er sich ab und läuft zur Treppe, bleibt an der obersten Stufe aber noch einmal stehen und dreht sich um.

„Gute Fahrt und viel Spaß morgen“, zwinkert und lächelt verschmitzt. Dann ist er weg.

- 4 -

Am Straßenrand parkt ein SUV, ein weißer Audi Q7. Nach raschem Umsehen verlässt Collin das Mehrfamilienhaus und hält direkt auf den Wagen zu. Am Steuer sitzt Dirk, der ihn bereits erwartet.

„Hey Kleiner, wie geht’s dir inzwischen?“, erkundigt er sich, als er zusieht, wie Collin sich unter leisem Stöhnen auf den Beifahrersitz gleiten lässt.

„Danke der Nachfrage, es geht schon.“ Seine versuchte Lässigkeit endet mit einem Ächzen, während er mit schmerzverzerrtem Gesicht eine möglichst annehmbare Sitzposition sucht. „Ich denke, dieses Mal ist nichts gebrochen.“

„Soll ich dich ins Krankenhaus bringen?“

„Nein“, seufzt Collin. „Fahre bitte nach Hause. Ich lege mich hin und versuche zu schlafen. Sonst schaffe ich morgen die restliche Arbeit für die kommende Woche nicht.“

Dirk mustert seinen Beifahrer skeptisch. Schließlich startet er den Motor und fährt los. Wortlos sitzen sie nebeneinander im Wagen. Knapp zwanzig Minuten sind sie unterwegs, bis sie in die Garage zu Dirks Haus einbiegen.

„Ich hätte eine Bitte!“, beginnt Collin, sobald der Wagen steht. „Wenn ich nächste Woche nicht da bin …“

„Schon klar, Mann. Ich halte die Augen offen. Hat dich jemand gesehen oder weiß jemand, zu wem du gegangen bist?“

„Außer Nomes?“ Collin verzieht angewidert das Gesicht. „Nein, ich bin mir ziemlich sicher, dass keiner etwas mitbekommen hat. Es wäre mir aber trotzdem lieber …“ Er zuckt vielsagend mit der Schulter.

„Nomes! Dieser Idiot!“, spottet Dirk und grinst gehässig. „Mach dir um den keine Sorgen. Den hab ich ins Gebet genommen, als ich ihm die Ladys abgezogen habe.“

„Fährst du in den Club zurück?“, erkundigt sich Collin.

„Ich denke, ich sollte besser hierbleiben.“ Dirks Grinsen versiegt, während er sich etwas mehr über seinen Nebenmann beugt. Stattdessen wirkt er besorgt. „Du siehst ziemlich mitgenommen aus. Und das, obwohl die süße Josi gute Arbeit geleistet hat.“ Anerkennend hebt er die Brauen.

„Ja, stimmt.“ Collin lächelt, und Dirk entgeht nicht, dass er sogar verlegen wird. „AMY hat gute Arbeit geleistet.“

„Soso, Amy!“ Dirks Augen verengen sich und er schlägt einen seltsamen Ton an, als er vorsichtig nachhakt. „Hast du ihr deinen Namen genannt?“

Collin schüttelt zögernd den Kopf. „Aber ich hätte es getan, wenn sie nachgefragt hätte.“

„Mensch, Kleiner, werde jetzt bloß nicht leichtsinnig!“, ranzt Dirk ihn an. „Oder muss ich mir nun doch ernsthaft Sorgen um CHILDSHAIR machen?“ Dirks absichtliche Erwähnung des Namens ‚Childshair‘ verfehlt seine Wirkung nicht.

„Nein!“, reagiert Collin aufbrausend. Sein abruptes Hochfahren bekommt er unverzüglich mit einem stechenden Schmerz gedankt. „Nein, das musst du nicht. Ich bin vorsichtig“, versichert er keuchend und sinkt langsam in den Sitz zurück. „Nur will ich mein Leben nicht wie zu Hause verbringen. Wir waren lange genug im goldenen Käfig meiner Familie eingesperrt.“ Collin stockt und wird leiser, als er Dirk ansieht. „Du weißt, dass ich dir für deine Freundschaft und deinen Schutz ewig dankbar bin.“ Einen Moment lang schauen sie sich nur an. Schließlich nickt Dirk minimal und Collins Miene hellt sich auf. „Übrigens: Collin heißt Ian!“

„Ian?“ Dirk wirft ihm einen prüfenden Blick zu. „Du erwartest aber nicht, dass ich dich ebenfalls so nenne, oder?“

„Hm …“

„Hör auf!“, protestiert Dirk lachend. „Los, bewege deine geschundenen Knochen aus dem Wagen und lass uns endlich reingehen. Ich habe Hunger. Wie sieht es mit dir aus?“

Collin winkt ab.

„Danke für den Whisky. War passend, aber auch genug für meinen eingetretenen Magen.“

Dirks Haus besteht aus einem großen alten Fabrikgebäude, das zu einem Loft umgebaut wurde. Darüber hinaus ist innerhalb des Baus ein kleines Maisonette-Apartment integriert, das mittels Durchgangstür direkt mit dem zentralen Bereich des Lofts verbunden ist. Diese 80m2-Wohnung, bestehend aus zwei Zimmern und Bad, bewohnt Collin. Der Dreh- und Angelpunkt des Hauses und der beiden Bewohner ist jedoch eine freistehende Küche, an der Collin nun kurz stehen bleibt.

„Hast du ein starkes Schmerzmittel für mich?“

„Klar“, murmelt Dirk leise. „Leg dich hin, ich bring dir gleich etwas rüber.“

Ein paar Minuten später hat sich Collin seiner Schuhe entledigt, umständlich von den Jeans befreit und ins Bett gelegt. Durch die Ruhe und das Abflauen des letzten Adrenalins spürt er die Schmerzen nun in vollem Ausmaß. Wie im Alkoholrausch beginnt die Zimmerdecke sich vor seinen Augen zu drehen. Ihm ist übel und in immer kürzeren Abständen krampft sich sein Magen zusammen. Als Dirk mit einem Glas ins Zimmer kommt, schafft Collin es gerade noch, sich über die Bettkante zu drehen und in die Schüssel zu übergeben, die er in weiser Voraussicht mit herüber genommen hat. Leise seufzend sinkt Dirk auf die Bettkante. Wie immer bleibt ihm nichts anderes übrig, als die stärksten Wellen abzuwarten, mit denen Collins Körper auf die ständigen Intrigen reagiert.

„Hier, trink das“, brummt Dirk, sobald Collin in die Kissen zurücksinkt. „Versuche, es bei dir zu behalten, dann kannst du sicher ein paar Stunden schlafen. Morgen geht es dir besser.“ Besorgt legt er die Stirn in Falten und mustert Collin, während dieser das Glas leert. „Hast du jemanden erkannt?“ Dirk hasst diese Litanei. Es ist stets die gleiche Frage, und er ahnt bereits, welche Antwort er hören wird.

„Nein!“, keucht Collin und fängt an zu husten. „Dasselbe Spiel wie immer. Sie tauchen auf wie Geister, kommen von hinten und drücken mich mit dem Gesicht auf den Boden. Die einen halten mich fest, die anderen treten sofort zu. Keiner gibt einen Ton von sich. Dann haben sie mir die Haare angezündet und die Flammen mit einer Decke oder einem Tuch ausgedrückt. Wie sonst auch!“ Collin dreht sich gequält zur Seite und hält verkrampft die Arme um den Oberkörper geschlungen. „Diese beschissenen Haa …“, weiter kommt er nicht.

Sobald die Krämpfe nachlassen, flößt Dirk seinem Schützling erneut eine Ration Schmerzmittel ein, das endlich den erwünschten Erfolg bringt. Einige Minuten später hat Collin sich beruhigt und ist eingeschlafen.

Kurz nach acht am Morgen schleppt sich Collin vom Schlafzimmer ins Bad. Verhalten weicht er seinem Spiegelbild aus, duscht und zieht sich an. Als er es endlich wagt, sich anzusehen, stellt er fest, dass seine Krankenschwester am vergangenen Abend gute Arbeit geleistet hat. Dank der Kühl-Paks und dem raschen Versorgen der Platzwunden sieht er dieses Mal bei Weiten nicht so entstellt aus wie schon einige Male zuvor. Nach genauerem Mustern stützt er sich mit den Händen aufs Waschbecken und beugt sich dicht vor den Spiegel.

„Wie lange hältst du das noch aus?“, fragt er sich selbst mit ernstem Blick.