Der Glöckner von Notre-Dame - Victor Hugo - E-Book

Der Glöckner von Notre-Dame E-Book

Victor Hugo

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Beschreibung

Fassung in aktueller Rechtschreibung Im Mittelpunkt steht die detailreich geschilderte Kathedrale Notre-Dame de Paris. In ihr spielen die wichtigsten Teile der Romanhandlung, vor allem das Geschehen um die Gestalt des Quasimodo, des Glöckners von Notre-Dame. Hugo, den man wohl als den wichtigsten Schriftsteller der französischen Sprache bezeichnen kann, liefert ein reiches Porträt des spätmittelalterlichen Paris', mit bunt skizzierten Figuren und Orten, und bietet einen spannenden Einblick in die Geschehnisse der damaligen Zeit. Victor Hugo ist der "Shakespeare des Romans" (Alphonse de Lamartine). Hinweise zur Übersetzung: Grundlage ist die bekannte Übersetzung von Friedrich Bremer. Es wurden ca. 3500 Änderungen bzw. Korrekturen vorgenommen, um ein flüssiges aber trotzdem unverfälschtes Lesen zu ermöglich. Zusätzlich wurden 245 erklärende Fußnoten eingefügt. Null Papier Verlag

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Seitenzahl: 919

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Victor Hugo

Der Glöckner von Notre-Dame

Vollständige und überarbeitete Ausgabe

Victor Hugo

Der Glöckner von Notre-Dame

Vollständige und überarbeitete Ausgabe

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019Übersetzung: Friedrich Bremer EV: Verlag von Philipp Reclam jun., 1884 und 1895 2. Auflage, ISBN 978-3-954181-43-8

www.null-papier.de/gloeckner

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

Vor­wort zur ers­ten Aus­ga­be

Vic­tor Hugo, Le­ben und Werk

Vor­wort des Über­set­zers

Ein­lei­tung

Ers­tes Buch

1. Der große Saal

2. Pe­ter Grin­goi­re

3. Der Herr Kar­di­nal

4. Meis­ter Ja­cob Cop­pe­no­le

5. Qua­si­mo­do

6. Die Es­me­ral­da

Zwei­tes Buch

1. Aus der Cha­ryb­dis in die Skyl­la

2. Der Grè­ve­platz

3. Be­sos para gol­pes

4. Unan­nehm­lich­kei­ten, die ent­ste­hen, wenn man ei­nem hüb­schen Frau­en­zim­mer abends in den Stra­ßen nach­geht

5. Wei­te­re Unan­nehm­lich­kei­ten

6. Der zer­bro­che­ne Krug

7. Eine Hoch­zeits­nacht

Drit­tes Buch

1. Die Kir­che Notre-Dame

2. Pa­ris aus der Vo­gel­schau

Vier­tes Buch

1. Gute Her­zen

2. Clau­de Frol­lo

3. Im­ma­nis pe­co­ris cu­stos, im­ma­ni­or ipse

4. Der Hund und sein Herr

5. Fort­set­zung des Ka­pi­tels, wel­ches von Clau­de Frol­lo han­del­te

6. Miss­lie­big­keit

Fünf­tes Buch

1. Ab­bas Bea­ti Mar­ti­ni

2. Dies wird je­nes ver­nich­ten

Sechs­tes Buch

1. Un­par­tei­ischer Blick auf den al­ten Richter­stand

2. Das Rat­ten­loch

3. Ge­schich­te ei­nes Mais­he­fe­ku­chens

4. Eine Trä­ne für einen Trop­fen Was­ser

5. Ende der Ge­schich­te des Mais­ku­chens

Sie­ben­tes Buch

1. Es ist ge­fähr­lich, sein Ge­heim­nis ei­ner Zie­ge an­zu­ver­trau­en

2. Pries­ter und Phi­lo­soph sind zwei­er­lei

3. Die Glo­cken

4. ΑΝΑΓΚΗ

5. Die bei­den schwarz­ge­klei­de­ten Män­ner

6. Was sie­ben Flü­che in frei­er Luft für eine Wir­kung her­vor­brin­gen kön­nen

7. Der ge­spens­ti­ge Mönch

8. Nut­zen der Fens­ter, die nach dem Flus­se hin­aus­ge­hen

Ach­tes Buch

1. Der in ein dür­res Blatt ver­wan­del­te Ta­ler

2. Fort­set­zung der Ge­schich­te vom Ta­ler, der in ein dür­res Blatt ver­wan­delt wur­de

3. Ende der Ge­schich­te vom Ta­ler, der in ein dür­res Blatt ver­wan­delt wur­de

4. Las­cia­te ogni spe­ran­za

5. Die Mut­ter

6. Drei ver­schie­den ge­bil­de­te Men­schen­her­zen

Neun­tes Buch

1. Fie­ber

2. Buck­lig, ein­äu­gig, lahm

3. Taub

4. Stein­gut und Kris­tall

5. Der Schlüs­sel zur Ro­ten Pfor­te

6. Fort­set­zung der Ge­schich­te vom Schlüs­sel zur Ro­ten Pfor­te

Zehn­tes Buch

1. Grin­goi­re hat man­cher­lei gute Ge­dan­ken im Ver­fol­ge der Bern­har­di­ner­stra­ße

2. Wer­det ein Land­strei­cher!

3. Es lebe die Fröh­lich­keit!

4. Der un­ge­schick­te Freund

5. Die Ein­sam­keit, in der Herr Lud­wig von Frank­reich sei­ne Ho­ren be­tet

6. »Mes­ser in der Ta­sche«

7. »Château­pers zu Hil­fe!«

Elf­tes Buch

1. Der klei­ne Schuh

2. La crea­tu­ra bel­la bian­co ves­ti­ta

3. Hei­rat des Phö­bus

4. Hei­rat des Qua­si­mo­do

Dan­ke

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Vorwort zur ersten Ausgabe

Ich habe die­se kom­plet­te Er­st­über­set­zung von Fried­rich Bre­mer kom­plett über­ar­bei­tet. Ver­g­li­chen mit der in Gra­tis­quel­len zu fin­den­den Ver­si­on, habe ich ins­ge­samt über 3500 Kor­rek­tu­ren und An­pas­sun­gen vor­ge­nom­men.

Aus That wur­de Tat, aus Ue­be­ra­schung wur­de Ü­ber­ra­schung und aus Pro­ceß­ac­te die Pro­zess­ak­te. Statt gieb­t heißt es nun gib­t, statt cir­cu­li­ren nun zir­ku­lie­ren. Ge­fah­ren wird nun im Wa­gen und ge­wo­gen mit der Waa­ge – und nicht um­ge­kehrt.

Mei­ner Mei­nung nach wird so am bes­ten das Text­ge­fühl der da­ma­li­gen Zeit ins Heu­te her­über­ge­ret­tet.

Ei­ni­ge Fuß­no­ten – meist rund um das The­ma Kir­che – habe ich er­klä­rend hin­zu­ge­fügt.

Jür­gen Schul­ze, Neuss Juni 2012

Victor Hugo, Leben und Werk

Die Fol­gen der Re­vo­lu­ti­on be­schäf­ti­gen Frank­reich, als Vic­tor Hugo am 26. Fe­bru­ar 1802 in Be­sançon ge­bo­ren wird, zwei Jah­re, zwei Mo­na­te und zwei Tage nach der Ver­ab­schie­dung der Kon­su­lats­ver­fas­sung, die Na­po­le­on Bo­na­par­te prak­tisch zum recht­mä­ßi­gen Al­lein­herr­scher al­ler Fran­zo­sen be­stimm­te.

Der jun­ge Roya­list

In die­ser ge­sell­schafts­po­li­tisch auf­ge­la­de­nen At­mo­sphä­re wächst der jüngs­te Sohn von So­phie Tré­bu­chet und Ge­ne­ral Jo­seph Léo­pold Si­gis­bert Hugo auf. Prä­gen­de Kind­heits­er­fah­run­gen dürf­ten so­wohl das un­har­mo­ni­sche Ver­hält­nis der El­tern sein als auch das Feh­len fes­ter Be­zugs­per­so­nen, weil Va­ter Hugo sel­ten da­heim ist und die Mut­ter ihr Herz ei­nem an­de­ren Mann schenkt.

Vic­tor be­tei­ligt sich früh an Dich­ter­wett­be­wer­ben und grün­det als Ju­gend­li­cher eine roya­lis­ti­sche Li­te­ra­tur­zeit­schrift, die er ge­mein­sam mit sei­nen Brü­dern be­treibt. Zu je­ner Zeit, im Al­ter von 17 Jah­ren, nimmt er ein Ju­ra­stu­di­um in Pa­ris auf, wo er gleich­zei­tig Zu­tritt zu den städ­ti­schen Li­te­ra­tur­krei­sen fin­det. Im Jahr 1820 er­hält er sei­ne ers­te Gra­ti­fi­ka­ti­on für die „Ode sur la mort du duc de Ber­ry“. Zwei Jah­re spä­ter er­scheint sein ers­ter Ge­dicht­band, des­sen voll­kom­men roya­lis­ti­sche Hal­tung ihm eine jähr­li­che Pen­si­on von 1000 Fran­cs ein­bringt.

Li­te­rat und Po­li­ti­ker

Sei­ne li­te­ra­ri­schen Er­fol­ge sind groß ge­nug, um dem hoff­nungs­fro­hen Schrift­stel­ler ein be­schei­de­nes Aus­kom­men zu er­mög­li­chen. Pri­vat sind die frü­hen 1820er Jah­re eine Zeit des Er­wach­sen­wer­dens, als Vic­tor Hugo die jun­ge Adèle Fou­cher zur Frau nimmt. Sie schenkt ihm fünf Kin­der, von de­nen nur die jüngs­te Toch­ter ih­ren Va­ter über­le­ben wird.

Mit Glück und Un­glück der Fa­mi­lie geht der li­te­ra­ri­sche Auf­stieg Hu­gos ein­her, dem es ge­lingt, sei­nen Lie­ben eine vor­erst ge­nüg­sa­me Exis­tenz zu er­ar­bei­ten, als er für sein 1823 ver­öf­fent­lich­tes Ro­man­de­büt „Han d'Is­lan­de“ Be­zü­ge von jähr­lich 2000 Fran­cs be­kommt. Im fol­gen­den Jahr kün­di­gen sich zar­te Knos­pen ei­nes Ge­sin­nungs­wan­dels an, als er in den Kreis der Ro­man­ti­ker um Charles No­dier auf­ge­nom­men wird. Noch bleibt Hugo der Roya­list, als der er auf­ge­wach­sen ist, ab 1826 voll­zieht er einen ra­di­kal er­schei­nen­den Ge­sin­nungs­wan­del zum Li­be­ra­len. Schon ab 1827 gilt Vic­tor Hugo als maß­geb­lich für die ro­man­ti­sche Li­te­ra­tur, zwei Jah­re spä­ter er­schei­nen sei­ne zu­nächst ge­mä­ßig­ten, spä­ter ein­deu­tig re­gi­me­kri­ti­schen Ro­ma­ne und Dra­men.

Das Jahr 1833 kenn­zeich­net einen neu­en Le­bens­ab­schnitt Hu­gos, als die Schau­spie­le­rin Ju­li­et­te Drou­et zu sei­nem neu­en pri­va­ten Glück wird. Spä­tes­tens seit 1838 ist der Schrift­stel­ler ein wohl­ha­ben­der Mann, denn ein Ver­lag er­wirbt für eine statt­li­che Sum­me sämt­li­che Rech­te an Hu­gos Wer­ken. Fünf Jah­re spä­ter wird der Au­tor zum Mit­glied der Aca­dé­mie françai­se ge­wählt, 1845 schließ­lich er­nennt ihn „Bür­ger­kö­nig“ Louis-Phil­ip­pe zum Pair. Sei­ne Kol­le­gen im Ober­haus ver­un­si­chert der Au­tor durch li­be­ra­le Stel­lung­nah­men, die von ei­nem kon­ser­va­ti­ven Ab­ge­ord­ne­ten in die­ser Wei­se nicht zu er­war­ten sind.

Sein un­ab­hän­gi­ges Den­ken trägt ihm im Jahr 1852 Ver­haf­tung und an­schlie­ßen­de Ver­ban­nung ein, als er ge­gen den Staats­s­treich Bo­na­par­tes de­mons­triert. Sein Exil in Saint Pe­ter Port nutzt der miss­lie­bi­ge Schrift­stel­ler, um „Na­poléon le Pe­tit“ aus der Fer­ne zu at­ta­ckie­ren und um so­zi­al­kri­ti­sche Schrif­ten zu ver­fas­sen. Im Jahr 1871, Na­poléon III. ist ge­stürzt und die Drit­te Re­pu­blik aus­ge­ru­fen, kehrt Hugo nach Pa­ris zu­rück, wo er 1876 in den Se­nat ge­wählt wird. Als er 1885 stirbt, ist der lei­den­schaft­li­che Li­te­rat und Homo po­li­ti­cus eine in­tel­lek­tu­el­le In­sti­tu­ti­on Frank­reichs. Vic­tor Hugo wird in der zum Pan­théon um­ge­wid­me­ten Kir­che der Hei­li­gen Ge­no­ve­va in ei­nem Ehren­grab bei­ge­setzt.

Be­deu­tung und Schaf­fen des Mon­sieur Hugo

Die Trau­er der Fran­zo­sen um ih­ren Na­tio­nal­schrift­stel­ler – sei­ne Be­deu­tung ist mit der­je­ni­gen Goe­thes für Deutsch­land ver­gleich­bar – war enorm, das Be­dürf­nis über­wäl­ti­gend, ihn an­ge­mes­sen zu eh­ren. Die Pa­ri­ser Kir­che St. Ge­no­ve­va war be­reits wäh­rend der Re­vo­lu­ti­ons­jah­re zum Pan­théon um­ge­wid­met, spä­ter er­neut ge­weiht und nun, an­läss­lich Hu­gos Be­stat­tung, wie­der zur Ehren­hal­le er­nannt wor­den. Der Au­tor war nach ei­nem Schlag­an­fall im Jahr 1878 we­ni­ger ak­tiv ge­we­sen als zu­vor, den­noch galt er zum Zeit­punkt sei­nes To­des als le­ben­de Le­gen­de, als eine der be­deut­sams­ten Berühmt­hei­ten sei­ner Zeit.

Das lag selbst­ver­ständ­lich an sei­nem mu­ti­gen po­li­ti­schen En­ga­ge­ment ei­ner­seits, an­de­rer­seits be­saß Hugo ge­wal­ti­gen kul­tu­rel­len Ein­fluss: In den spä­ten 1820er Jah­ren, als er sti­lis­tisch und po­li­tisch ge­wis­ser­ma­ßen er­wach­te, präg­te er so­wohl Thea­ter als auch Li­te­ra­tur der Ro­man­tik, als de­ren Kopf er seit 1827 galt. Un­ter an­de­rem lös­te sein Stück „Her­na­ni“ bei der Pre­mie­re im Jahr 1830, hef­ti­ge Aus­ein­an­der­set­zun­gen im Pub­li­kum aus.

Ei­nes der be­kann­tes­ten Wer­ke Hu­gos ist der im fol­gen­den Jahr ver­öf­fent­lich­te his­to­ri­sche Ro­man „Notre-Dame de Pa­ris“ (Der Glöck­ner von Notre-Dame), der viel mehr ist als das heu­te häu­fig auf­ge­grif­fe­ne Lie­bes­dra­ma um den ver­krüp­pel­ten Qua­si­mo­do und sei­ne schö­ne Es­me­ral­da. Bei der un­glück­li­chen Ver­eh­rung Qua­si­mo­dos für die an­geb­li­che Zi­geu­ne­rin han­delt es sich le­dig­lich um einen der vie­len Hand­lungs­strän­ge, die Hugo erst am Ende zu­sam­men­führt. Das Buch ist glei­cher­ma­ßen so­zi­al- und re­gi­me­kri­tisch; dar­über hin­aus spricht es kul­tu­rel­le Wer­te an, die sei­ner­zeit kaum Be­ach­tung fan­den, in­dem es sich bei­spiels­wei­se für den Er­halt his­to­ri­scher Bau­sub­stanz ein­setzt. Der Ro­man stieß be­reits kurz nach Er­schei­nen auf au­ßer­or­dent­li­chen An­klang, Schrift­stel­ler­kol­le­gen wür­dig­ten ihn als epo­chal – La­mar­ti­ne er­klär­te Hugo gar zum „Sha­ke­s­pea­re des Ro­mans“.

Wie kein Zwei­ter ver­stand es Vic­tor Hugo, die­ser zu­tiefst po­li­ti­sche Li­te­rat, Pri­va­tes mit Ge­sell­schaft­li­chem zu ver­knüp­fen. Auch in „Notre-Dame de Pa­ris“ schlägt sich sein per­sön­li­ches Füh­len nie­der, wenn er einen sei­ner Pro­tago­nis­ten ins Un­glück stürzt, in­dem er ihn ver­hei­ra­tet: Der Au­tor selbst ver­lor sei­ne ers­te Gat­tin an einen Freund und Schrift­stel­ler-Kol­le­gen, der Af­fä­re stand er hilf­los dul­dend ge­gen­über. Erst nach­dem er sei­ne neue Le­bens­ge­fähr­tin Ju­li­et­te Drou­et ken­nen­lern­te, wich die Bit­ter­keit wie­der aus sei­nen Schrif­ten.

Nach der Ju­li­re­vo­lu­ti­on von 1830 ver­fass­te Hugo zu­nächst ex­trem kri­ti­sche Wer­ke. Nach­dem er aber den „Bür­ger­kö­nig“ Louis-Phil­ip­pe per­sön­lich ken­nen­ge­lernt hat­te, ver­lor sich die­se Di­stanz vor­erst. An­fangs muss­te der Li­te­rat da­mit le­ben, dass Stücke ver­bo­ten wur­den, „Le roi s'amu­se“ (Der Kö­nig amü­siert sich) aus dem Jahr 1832 bei­spiels­wei­se. Die we­ni­ger auf­rüh­re­ri­schen oder gänz­lich un­kri­ti­schen Wer­ke der fol­gen­den Jah­re, „Lu­crè­ce Bor­gia“, „Ma­rie Tu­dor“, „An­ge­lo“ und „Ruy Blas“ wur­den hin­ge­gen öf­fent­lich gou­tiert. Gleich­zei­tig schrieb Hugo meh­re­re Ge­dicht­bän­de, in de­nen sich nicht sel­ten Per­sön­li­ches nie­der­schlug. Das än­der­te sich ab 1848 und wäh­rend der Jah­re des Exils auf Jer­sey und Gu­ern­sey, denn hier ent­stan­den so­wohl bis­si­ge po­li­ti­sche Ge­dich­te als auch das im Jahr 1862 vollen­de­te „Les Misé­ra­bles“ (Die Elen­den), wor­an der Au­tor be­reits seit 1847 ge­ar­bei­tet hat­te. In ge­wis­ser Wei­se flie­ßen in die­sem Buch die Per­sön­lich­keits­an­tei­le des großen Fran­zo­sen wie in ei­nem Schmelz­tie­gel in­ein­an­der: sein kri­ti­scher Ver­stand, sei­ne Ur­teils­kraft und sei­ne Fä­hig­keit zur An­teil­nah­me.

Vorwort des Übersetzers

Der be­rühm­te Ro­man Vic­tor Hu­gos wird hier­mit der deut­schen Le­ser­welt in ei­ner neu­en Über­set­zung dar­ge­bo­ten.

Ich habe mich be­müht, Form und Geist die­ses größ­ten Er­zeug­nis­ses der neu­ro­man­ti­schen Lit­te­ra­tur Frank­reichs treu und un­ver­kürzt zu über­mit­teln; nur an ei­ni­gen we­ni­gen Stel­len, wo die Dic­ti­on for­ciert oder für die deut­sche Fan­ta­sie zu glü­hend er­scheint, sind mit lei­ser Hand klei­ne Dämp­fun­gen an­ge­bracht wor­den. Die Über­set­zung nimmt trotz­dem aber das Recht für sich in An­spruch, eine im Sin­ne des Ori­gi­na­les treue hei­ßen zu kön­nen.

Möge mei­ne Ar­beit kei­ne Sp­lit­ter­rich­ter fin­den, die Gunst des ver­ehr­li­chen Pub­li­kums sich der mit Recht welt­be­rühm­ten Dich­tung aber von Neu­em zu­wen­den!

Leip­zig, Früh­jahr 1884.

B.

Einleitung

Vor ei­ni­gen Jah­ren fand der Ver­fas­ser die­ses Bu­ches beim Be­su­che, oder bes­ser ge­sagt, beim Durch­su­chen von Notre-Dame, in ei­nem ver­steck­ten Win­kel des einen der Tür­me das Wort:

ΑΝΑΓΚΗ1

mit der Hand in die Mau­er ein­ge­gra­ben.

Die­se großen grie­chi­schen Buch­sta­ben, die vor Al­ter schwarz ge­wor­den und ziem­lich tief in den Stein ein­ge­kratzt wa­ren, hat­ten in ih­ren For­men und Stel­lun­gen so ei­gen­tüm­li­che, an die go­thi­sche Schreib­kunst er­in­nern­de Züge, dass man in ih­nen die mit­tel­al­ter­li­che Hand er­riet, wel­che sie da an­ge­schrie­ben hat­te. Über­dies er­griff der düs­te­re und un­heim­li­che Sinn, den sie ent­hiel­ten, den Au­tor in leb­haf­ter Wei­se.

Er frag­te sich, er such­te zu er­ra­ten, wer wohl die be­dräng­te See­le sein konn­te, wel­che die­se Welt nicht hat­te ver­las­sen wol­len, ohne die­ses Denk­zei­chen ei­nes Ver­bre­chens oder Un­glücks an der Front der al­ten Kir­che zu hin­ter­las­sen.

Seit­dem hat man die Mau­er mit Mör­tel über­tüncht, oder ir­gend­je­mand sie ab­ge­kratzt, und die In­schrift ist ver­schwun­den. Denn so ver­fährt man seit bald zwei­hun­dert Jah­ren mit den wun­der­vol­len Kir­chen des Mit­tel­al­ters. Ver­stüm­me­lun­gen er­lei­den sie von al­len Sei­ten, von in­nen so wie von au­ßen. Der Pries­ter über­tüncht sie, der Bau­meis­ter kratzt sie ab; schließ­lich kommt das Volk dar­über und de­mo­liert sie.

Da­her ist au­ßer dem schwa­chen An­den­ken, wel­ches der Au­tor die­ses Bu­ches ihm hier wid­met, heu­te nichts mehr von dem ge­heim­nis­vol­len, im düs­tern Tur­me von Notre-Dame ein­ge­gra­be­nen Wor­te üb­rig; nichts mehr von dem un­be­kann­ten Schick­sa­le, wel­ches es in so schwer­mü­ti­ger Wei­se zum Aus­druck bringt. Der Mensch, wel­cher das Wort auf die Mau­er ge­schrie­ben hat, ist vor meh­re­ren Jahr­hun­der­ten aus der Mit­te der Ge­schlech­ter ver­schwun­den, das Wort gleich­falls von der Mau­er ver­wischt, und die Kir­che wird viel­leicht selbst bald von der Erde ver­schwin­den.

Gera­de über die­ses Wort ist vor­lie­gen­des Buch ge­schrie­ben wor­den.

März 1831.

Alt­grie­chisch: Ver­häng­nis, Schick­sal. Anm. d. Übers.  <<<

Erstes Buch

1. Der große Saal

Heu­te vor drei­hun­dert­achtund­vier­zig Jah­ren sechs Mo­na­ten und neun­zehn Ta­gen er­wach­ten die Pa­ri­ser un­ter dem Ge­läu­te al­ler Glo­cken, wel­che in­ner­halb des drei­fa­chen Be­rei­ches der Alt­stadt, Süd­stadt oder des Uni­ver­si­täts­vier­tels und der Nord­stadt mit lau­tem Schal­le er­tön­ten.

Und den­noch ist der 6. Ja­nu­ar 1482 kein Tag, von dem die Ge­schich­te eine Erin­ne­rung be­wahrt hat. Nichts Merk­wür­di­ges war an dem Er­eig­nis­se, wel­ches seit dem Mor­gen die Glo­cken und die Bür­ger von Pa­ris so in Be­we­gung und Er­re­gung ver­setz­te. We­der war es ein Über­fall der Pi­car­den oder der Bur­gun­der, noch ein glän­zen­der Jagd­auf­zug, noch ein Stu­den­ten­tu­mult im Wein­gar­ten von Laas, noch ein Ein­zug »un­se­res all­er­gnä­digs­ten Herrn, des sehr ge­fürch­te­ten Herrn Kö­nigs«, noch auch eine hüb­sche Auf­knüp­fung von Spitz­bu­ben und Die­bin­nen im Ge­richts­ho­fe zu Pa­ris. Nein, nicht ein­mal die im fünf­zehn­ten Jahr­hun­der­te so häu­fi­ge Über­ra­schung durch ir­gend­wel­che ver­bräm­te und mit Fe­der­bü­schen ge­schmück­te Ge­sandt­schaft war es. Vor kaum zwei Ta­gen hat­te der letz­te der­ar­ti­ge Auf­zug, näm­lich der­je­ni­ge der flam­län­di­schen1 Ge­sand­ten, wel­che mit Ab­schlie­ßung des Ehe­bünd­nis­ses zwi­schen dem Dau­phin und Mar­ga­rethen von Flan­dern be­auf­tragt wa­ren, sei­nen Ein­zug in Pa­ris ge­hal­ten, zum großen Ver­drus­se des Herrn Kar­di­nals von Bour­bon, wel­cher, dem Kö­ni­ge zu ge­fal­len, die­ser gan­zen töl­pel­haf­ten Ge­sell­schaft flam­län­di­scher Bür­ger­meis­ter höf­lich be­geg­nen und sie in sei­nem Palas­te Bour­bon mit ei­nem »viel köst­li­chen Mora­li­täts­s­pie­le, Pos­sen- und Schwank­spie­le« hat­te un­ter­hal­ten müs­sen, wäh­rend ein Platz­re­gen die präch­ti­gen Tep­pi­che vor sei­nem Tore über­schwemm­te.

Der 6. Ja­nu­ar, wel­cher »die gan­ze Be­völ­ke­rung von Pa­ris in Be­we­gung brach­te«, wie Jehan von Troy­es er­zählt, ver­ei­nig­te seit un­denk­li­cher Zeit ein Dop­pel­fest in sich: das des Kö­nigs­ta­ges und des Nar­ren­fes­tes.

An die­sem Tage muss­te es Freu­den­feu­er auf dem Grè­ve­plat­ze, Mai­baum-Auf­stel­lung in der Ka­pel­le Braque und geist­li­ches Schau­spiel im Jus­tiz­pa­las­te ge­ben. Am Abend vor­her war es un­ter Trom­pe­ten­schall in den Gas­sen durch des Herrn Ober­rich­ters Leu­te in ih­ren Waf­fen­rö­cken von vio­let­tem Ca­me­lot,2 mit großen wei­ßen Kreu­zen auf der Brust, aus­ge­ru­fen wor­den.

Das Ge­drän­ge der Bür­ger und Bür­ge­rin­nen wog­te also vom Mor­gen an, und nach­dem Häu­ser und Ver­kaufs­lä­den ge­schlos­sen wa­ren, von al­len Sei­ten nach ei­ner der drei be­zeich­ne­ten Stel­len hin. Ein je­der hat­te Par­tei ge­nom­men: der eine für das Freu­den­feu­er, der an­de­re für die Maie, der drit­te für das geist­li­che Schau­spiel. Zum Ruh­me des ein­fa­chen, ge­sun­den Men­schen­ver­stan­des der Pa­ri­ser Maulaf­fen muss man sa­gen, dass der größ­te Teil der Men­ge sei­ne Schrit­te nach dem Freu­den­feu­er lenk­te, wel­ches ganz zum Wet­ter pass­te, oder nach dem Schau­spie­le, wel­ches in dem wohl ver­deck­ten und ge­schlos­se­nen Saa­le des Palas­tes auf­ge­führt wer­den soll­te; und dass die Schau­lus­ti­gen über­ein­ge­kom­men wa­ren, die arme, grü­ne Maie ganz al­lein un­ter dem Ja­nu­ar­him­mel auf dem Kirch­ho­fe der Ka­pel­le Braque frie­ren zu las­sen.

Das Volk wog­te vor­nehm­lich auf den Zu­gän­gen nach dem Jus­tiz­pa­las­te, weil man wuss­te, dass die flam­län­di­schen Ge­sand­ten, wel­che vor zwei Ta­gen ein­ge­trof­fen wa­ren, sich ent­schlos­sen hat­ten, der Auf­füh­rung des Schau­spiels und der Wahl des Nar­ren­paps­tes bei­zu­woh­nen, die gleich­falls im großen Saa­le statt­fin­den soll­te.

Es war kein leich­tes Vor­ha­ben, an die­sem Tage in je­nen Saal zu ge­lan­gen, wel­cher da­mals für den größ­ten be­deck­ten Raum, der in der Welt war, galt (frei­lich hat­te Sau­val den großen Saal des Schlos­ses Mon­tar­gis noch nicht aus­ge­mes­sen). Der men­schen­be­deck­te Platz vor dem Palas­te bot den Schau­lus­ti­gen an den Fens­tern den An­blick ei­nes Mee­res dar, in wel­ches fünf bis sechs Stra­ßen als eben­so vie­le Strom­mün­dun­gen je­den Au­gen­blick neue Flu­ten von Köp­fen er­gos­sen. Die Wo­gen die­ser un­auf­hör­lich zu­neh­men­den Men­ge bra­chen sich an den Ecken der Häu­ser, wel­che hier und da, wie eben­so vie­le Vor­ge­bir­ge in das un­re­gel­mä­ßi­ge Be­cken des Plat­zes her­vor­tra­ten. In der Mit­te der ho­hen go­thi­schen3 Fassa­de des Palas­tes wog­te die große Trep­pe un­auf­hör­lich ein Dop­pel­strom auf und ab, wel­cher, nach­dem er sich un­ter dem Zwi­schenper­ron ge­bro­chen hat­te, in großen Wel­len auf sei­ne bei­den Sei­ten­trep­pen hin­ström­te; ohn­ge­fähr, be­haup­te ich, wie eine Kas­ka­de in einen See spie die große Trep­pe un­auf­hör­lich Men­schen auf den Platz. Das Schrei­en, La­chen, Stamp­fen die­ser Tau­sen­de von Fü­ßen ver­ur­sach­te einen großen Lärm und mäch­ti­ges To­ben. Von Zeit zu Zeit ver­dop­pel­ten sich die­ses To­ben und Lär­men, so­bald der Strom, wel­cher die gan­ze Men­schen­mas­se nach der großen Trep­pe zu trieb, zu­rück­prall­te, durch­ein­an­der wog­te und wir­bel­te; oder wenn ein Hä­scher Rip­pen­stö­ße ver­teil­te, oder das Pferd ei­nes Ser­gean­ten vom Ge­richt­sam­te hin­ten aus­schlug, um die Ord­nung wie­der her­zu­stel­len: – eine herr­li­che Über­lie­fe­rung, wel­che das Ober­ge­richt­samt an die Lan­drei­ter, und die Lan­drei­ter an un­se­re Pa­ri­ser Gen­dar­me­rie ver­erbt ha­ben.

An den Tü­ren, in den Fens­tern, an den Dach­lu­ken, auf den Dä­chern wim­mel­te es von Tau­sen­den je­ner gu­ten, ru­hi­gen, recht­li­chen Bür­ger­ge­stal­ten, wel­che den Palast be­trach­te­ten, das Ge­drän­ge be­ob­ach­te­ten und nichts wei­ter ver­lang­ten; denn sehr vie­le Leu­te in Pa­ris sind schon zu­frie­den, Zuschau­er von Zuschau­ern sein zu kön­nen, und für man­che von uns ist schon eine Mau­er, hin­ter der sich et­was er­eig­net, eine sehr merk­wür­di­ge Sa­che.

Wenn es uns, den Men­schen von 1830, er­laubt wäre, im Ge­dan­ken uns un­ter die­se Pa­ri­ser des fünf­zehn­ten Jahr­hun­derts zu mi­schen, und mit ih­nen, ge­drängt, ge­sto­ßen und ge­tre­ten in den un­ge­heu­ern Saal des Palas­tes ein­zu­drin­gen, wel­cher am 6. Ja­nu­ar 1482 so be­engt war, – dies Schau­spiel wür­de für uns nicht ohne Reiz und Ver­gnü­gen sein, und wir wür­den so viel al­ter­tüm­li­che Ge­gen­stän­de rings um uns er­bli­cken, dass sie uns ganz neu er­schei­nen müss­ten.

Wenn es dem Le­ser recht ist, wol­len wir ver­su­chen, den Ein­druck zu schil­dern, den er beim Ein­tritt in die­sen Saal, mit­ten un­ter den Schwarm in Wamms, in Ja­cke und in Wei­ber­rock mit uns emp­fan­gen ha­ben wür­de.

Schon von vorn­her­ein sind un­se­re Ohren be­täubt, un­se­re Au­gen ge­blen­det. Über un­se­ren Köp­fen be­fin­det sich ein dop­pel­bo­gi­ges Ge­wöl­be, mit Holz­bild­schnit­ze­rei­en ver­tä­felt, azur­blau ge­malt und mit gol­de­nen Blu­men ge­schmückt; un­ter un­se­ren Fü­ßen ein ab­wech­selnd aus weißem und schwar­zen Mar­mor zu­sam­men­ge­setz­ter Bo­den. Ei­ni­ge Schrit­te von uns er­hebt sich ein rie­si­ger Pfei­ler, dann ein zwei­ter, dann noch ei­ner: im gan­zen sie­ben Pfei­ler in der Län­ge des Saa­l­es, der mit­ten in sei­ner Brei­te die Schwib­bo­gen der Dop­pel­wöl­bung trägt. Rings um die vier ers­ten Pfei­ler ste­hen Kram­lä­den, die von Glas und Flit­ter­tand glän­zen, um die drei Letz­ten Bän­ke von Ei­chen­holz, die von den Ho­sen der Pro­zes­sie­ren­den und den Amts­klei­dern der Sach­wal­ter ab­ge­nutzt und glatt ge­ses­sen sind. Rings­um im Saa­le, längs der ho­hen Wän­de, zwi­schen den Tü­ren, den Ni­schen und den Pfei­lern be­fin­den sich in un­ab­seh­ba­rer Rei­he die Sta­tu­en al­ler Kö­ni­ge Frank­reichs seit Pha­ra­mund: die schwa­chen Re­gen­ten un­ter ih­nen mit her­ab­hän­gen­den Ar­men und ge­senk­ten Bli­cken; die tap­fe­ren, schlacht­be­rühm­ten mit mu­tig zum Him­mel er­ho­be­nem Haup­te und Hän­den. In den ho­hen Rund­bo­gen­fens­tern aber glän­zen tau­send­far­bi­ge Schei­ben; an den brei­ten Aus­gän­gen des Saa­l­es se­hen wir rei­che Tü­ren mit schö­ner Holz­schnit­ze­rei; und das Gan­ze: Ge­wöl­be, Pfei­ler, Wän­de, Sims­werk, Tä­fe­lung, Tü­ren und Sta­tu­en, ist von oben bis un­ten mit glän­zen­der Ma­le­rei in Blau und Gold be­deckt, wel­che, als schon ein we­nig ge­dun­kelt in dem Zeit­rau­me wo wir sie se­hen, im Jah­re der Gna­de 1549, wo Du Breul sie nach der Über­lie­fe­rung noch be­wun­der­te, fast ganz un­ter dem Stau­be und den Spin­ne­we­ben ver­schwun­den war. Nun den­ke man sich die­sen un­ge­heu­ren Saal in recht­e­cki­ger Ge­stalt er­leuch­tet von dem mat­ten Lich­te ei­nes Ja­nu­ar­ta­ges, über­schwemmt von ei­ner lär­men­den und bun­ten Men­ge, die längs der Wän­de hin­flu­tend um die sie­ben Pfei­ler bran­det, und man wird einen all­ge­mei­nen Ein­druck von dem gan­zen Ge­mäl­de ha­ben, das wir in sei­nen merk­wür­di­gen Ein­zeln­hei­ten zu schil­dern ver­su­chen wol­len.

Si­cher ist, dass, wenn Ra­vail­lac Hein­rich den Vier­ten über­haupt nicht er­mor­det hät­te, es gar kei­ne Pro­zess­ak­ten Ra­vail­lacs, die in der Kanz­lei des Jus­tiz­pa­las­tes la­gen, ge­ge­ben ha­ben wür­de; dass kei­ne Mit­schul­di­gen In­ter­es­se dar­an ge­habt hät­ten, die ge­nann­ten Ak­ten ver­schwin­den zu las­sen; folg­lich kei­ne Brand­stif­ter er­for­der­lich wa­ren, um, man­gels ei­nes bes­sern Mit­tels, die Kanz­lei an­zu­zün­den, um die Ak­ten zu ver­bren­nen, und den Jus­tiz­pa­last ein­zuä­schern, um die Kanz­lei mit Feu­er zu ver­nich­ten; in Fol­ge wo­von es schließ­lich 1618 kei­ne Feu­ers­brunst ge­ge­ben hät­te. Der alte Palast mit sei­nem al­ten großen Saa­le wür­de noch ste­hen, und ich könn­te zum Le­ser spre­chen: »Geh hin und sieh ihn an«; und wir wür­den dem­nach alle bei­de über­ho­ben sein: ich, eine Be­schrei­bung zu ge­ben, und er, eine mit­tel­mä­ßi­ge Be­schrei­bung zu le­sen. – Die­se neue Wahr­heit be­weist, dass große Er­eig­nis­se un­be­re­chen­ba­re Fol­gen ha­ben.

Frei­lich wür­de es sehr wohl mög­lich sein kön­nen, so­bald Ra­vail­lac kei­ne Mit­schul­di­gen hat­te; her­nach, dass sei­ne Mit­schul­di­gen, so­fern er sol­che zu­fäl­lig hat­te, beim Bran­de von 1618 um­sonst wa­ren. Es gibt da­für zwei an­de­re sehr an­nehm­ba­re Er­klä­run­gen. Ers­tens: den großen flam­men­den Stern von ein Fuß Brei­te und ei­ner Elle Höhe, der, wie je­der­mann weiß, am 7. März nach Mit­ter­nacht vom Him­mel auf den Palast fiel. Zwei­tens: den vier­zei­li­gen Vers Theo­phi­les:

Der Spaß war wahr­lich teu­er, Als in Pa­ris der Dame Recht Vom zu viel Sch­lin­gen wur­de schlecht, Der Palast ganz auf­ging in Feu­er.

Was man von die­ser drei­fa­chen po­li­ti­schen, na­tür­li­chen und poe­ti­schen Er­klä­rung des Bran­des des Jus­tiz­pa­las­tes im Jah­re 1618 auch den­ken mag, die un­glück­li­cher­wei­se fest­ste­hen­de Tat­sa­che ist der Brand. Heu­te ist nur noch sehr we­nig vor­han­den, Dank die­sem Un­glücke, Dank vor­nehm­lich den ver­schie­de­nen Wie­der­her­stel­lungs­ver­su­chen im Lau­fe der Zeit, wel­che vollends zu Grun­de ge­rich­tet ha­ben, was er ver­schont hat­te; es ist nur noch sehr we­nig von die­sem ers­ten Auf­ent­halts­or­te der fran­zö­si­schen Kö­ni­ge, von die­sem ur­sprüng­li­chen Palast­baue des Lou­vre üb­rig, der schon zu Phil­ipps des Schö­nen Zeit so alt war, dass man hier nach den Spu­ren der präch­ti­gen Bau­ten forsch­te, die vom Kö­nig Ro­bert auf­ge­führt und von Hel­gal­dus be­schrie­ben wor­den sind. Fast al­les ist ver­schwun­den. Was ist aus dem Zim­mer der Kanz­lei ge­wor­den, wo der hei­li­ge Lud­wig »sei­ne Ehe voll­zog«? Was aus dem Gar­ten, wo er Recht sprach, »an­ge­tan mit ei­nem Ca­me­lo­tro­cke, mit ei­nem grob­wol­le­nen Ober­ge­wan­de ohne Är­mel, und mit ei­nem Man­tel dar­über von schwar­zem San­dal, auf Tep­pi­chen lie­gend mit Join­ville«? Wo ist das Zim­mer des Kai­sers Si­gis­mund? Das­je­ni­ge Karls des Vier­ten? Das­je­ni­ge Jo­hanns ohne Land? Wo ist die Trep­pe, von wel­cher Karl der Sechs­te sein Gna­de­ne­dikt ver­kün­de­te? Die Stein­plat­te, wo Mar­cel, in Ge­gen­wart des Dau­phins, den Ro­bert von Cler­mont und den Mar­schall von Cham­pa­gne er­würg­te? Das Pfört­chen, wo die Bul­len des Ge­gen­paps­tes Be­ne­dikt zer­ris­sen wur­den, und aus wel­chem die­je­ni­gen mit Spott­chor­rö­cken und Bi­schofs­müt­zen an­ge­tan her­austra­ten, wel­che sie über­bracht hat­ten, und wel­che öf­fent­li­che Buße durch ganz Pa­ris ta­ten? Und wo der große Saal mit sei­ner Ver­gol­dung, sei­nem Azur­blau, sei­nen Spitz­bo­gen, sei­nen Sta­tu­en, sei­nen Pfei­lern; wo sein un­ge­heu­res Ge­wöl­be, das von Stein­metz­ar­bei­ten ganz über­zo­gen war? Und das ver­gol­de­te Zim­mer? Und der stei­ner­ne Löwe, der an der Tür stand, mit ge­senk­tem Kop­fe, den Schwanz zwi­schen den Bei­nen, wie die Lö­wen an Sa­lo­mo’s Thro­ne, in der de­mü­ti­gen Stel­lung, wel­che sich für die Stär­ke vor der Ge­rech­tig­keit schickt? Und wo die schö­nen Tü­ren, und die far­ben­präch­ti­gen Fens­ter? Wo die ge­trie­be­nen Ei­sen­be­schlä­ge, wel­che Bis­cor­net­te ab­schreck­ten? Und die zier­li­chen Schrei­ner­ar­bei­ten Du Han­cys? … Was hat die Zeit, was ha­ben die Men­schen aus die­sen Wun­der­wer­ken ge­macht? Was hat man uns für al­les das ge­ge­ben; für jene gan­ze Ge­schich­te un­se­rer Vor­fah­ren, für jene gan­ze go­thi­sche Kunst? Die plum­pen Halb­wöl­bun­gen des Herrn de Bros­se, die­ses un­ge­schick­ten Bau­meis­ters des Por­tals von Saint-Ger­vais – das hat man uns für die Kunst ge­ge­ben; und was die Ge­schich­te be­trifft, so ha­ben wir die ge­schwät­zi­gen Erin­ne­run­gen der di­cken Schand­säu­le, die noch völ­lig wie­der­hallt von dem Alt­wei­ber­ge­wäsch der Leu­te wie Pat­ru.4 Das hat kei­ne Be­deu­tung. – Wir wol­len zu dem wirk­li­chen großen Saa­le in dem wirk­li­chen al­ten Palas­te zu­rück­keh­ren.

Die bei­den End­sei­ten die­ses gi­gan­ti­schen Recht­ecks wa­ren gleich­falls nicht frei: die eine war von der be­rühm­ten Mar­mor­plat­te aus ei­nem Stücke ein­ge­nom­men, wel­che so lang, breit und dick war, wie man sie nie­mals ge­se­hen hat, er­zäh­len die al­ten Grund­buch­ak­ten in ei­nem Sti­le, der die Be­gier­de Gar­gan­tua’s, »ei­nes ähn­li­chen Mar­mor­blockes in der Welt« ge­reizt ha­ben wür­de; an der an­de­ren Sei­te be­fand sich die Ka­pel­le, in wel­cher Lud­wig der Elf­te, auf den Kni­en vor der hei­li­gen Jung­frau lie­gend, sich in Mar­mor hat­te ab­kon­ter­fei­en las­sen, und wo­hin er, un­be­küm­mert, dass zwei Ni­schen in der Rei­he der kö­nig­li­chen Stand­bil­der leer wür­den, die­je­ni­gen Karls des Gro­ßen und des hei­li­gen Lud­wig hat­te brin­gen las­sen, – zwei Hei­li­ge, von de­nen er glaub­te, dass sie als Kö­ni­ge von Frank­reich im Him­mel großes An­sehn hät­ten. Die­se noch neue, kaum seit sechs Jah­ren fer­ti­ge Ka­pel­le war ganz im rei­zen­den Ge­schma­cke je­ner fei­nen Bau­art und wun­der­ba­ren Mei­sel- und Grab­sti­che­l­ar­beit aus­ge­führt, die in Frank­reich das Ende der go­thi­schen Bau­pe­ri­ode kenn­zeich­net, und bis zur Mit­te des sech­zehn­ten Jahr­hun­derts in den zau­be­ri­schen Fan­ta­sie­spie­len der Re­naissance fort­dau­ert. Die klei­ne, durch­bro­che­ne Ro­set­te über dem Por­ta­le be­son­ders war ein Meis­ter­werk von Zart­heit und An­mut: man hät­te sie für einen Stern aus Spit­zen hal­ten mö­gen.

Mit­ten im Saa­le, der großen Tür ge­gen­über, war eine mit Gold­bro­kat be­deck­te Er­hö­hung, die bis an die Mau­er reich­te, er­rich­tet wor­den, und auf ihr durch ein Fens­ter aus dem Gan­ge zu dem so­ge­nann­ten gol­de­nen Zim­mer, ein be­son­de­rer Ein­gang für die flam­län­di­schen Ge­sand­ten und an­de­re hohe Per­so­nen her­ge­stellt, die zur Auf­füh­rung des Schau­spie­les ge­la­den wor­den wa­ren.

Die­ses Schau­spiel muss­te dem Her­kom­men ge­mäß auf der Mar­mor­plat­te auf­ge­führt wer­den. Am Mor­gen war sie dazu her­ge­rich­tet wor­den; die große Mar­mor­flä­che, die von den Ab­sät­zen der Par­la­ments­schrei­ber ganz zer­ritzt war, trug ein ziem­lich ho­hes Bal­ken­ge­rüst, des­sen Ober­flä­che, vom gan­zen Saa­le aus sicht­bar, als Thea­ter die­nen soll­te, wäh­rend sein mit Tep­pi­chen rings­um ver­häng­tes In­ne­re für die Per­so­nen des Stückes als An­klei­de­zim­mer her­hal­ten muss­te. Eine Lei­ter, die of­fen­her­zig au­ßer­halb an­ge­bracht war, soll­te die Kom­mu­ni­ka­ti­on zwi­schen Sze­ne und An­klei­de­zim­mer un­ter­hal­ten, und ihre stei­len Spros­sen den auf- und ab­tre­ten­den Per­so­nen her­lei­hen. Da gab es kei­ne so plötz­li­che Er­schei­nung, kei­ne Ent­wick­lung im Schau­spiel, kei­nen Thea­ter­ef­fekt, der nicht ge­zwun­gen ge­we­sen wäre, auf der Lei­ter hin­auf­zu­klet­tern. – O du un­schul­di­ge, teue­re Ein­falt in Kunst und Ma­schi­ne­ri­en!

Vier Die­ner des Ge­richts­vog­tes, die ge­wöhn­li­chen Auf­se­her al­ler Volks­be­lus­ti­gun­gen so­wohl an den Fest­ta­gen, als an den Hin­rich­tungs­ta­gen, stan­den an den vier Ecken der Mar­mor­plat­te. Erst mit­tags, beim zwölf­ten Glo­cken­schla­ge auf der großen Pala­st­uhr soll­te das Stück be­gin­nen. Das war frei­lich recht spät für eine Thea­ter­auf­füh­rung; aber man hat­te auf die Zeit der Ge­sandt­schaft Rück­sicht zu neh­men.

Nun war­te­te die­se gan­ze Men­ge schon seit dem Mor­gen. Eine gute An­zahl die­ser neu­gie­ri­gen Spieß­bür­ger fror seit Ta­ge­s­an­bruch vor der großen Trep­pe des Palas­tes; ja, ei­ni­ge ver­si­cher­ten, die gan­ze Nacht dem Tore ge­gen­über zu­ge­bracht zu ha­ben, um si­cher zu­erst den Saal zu be­tre­ten. Die Men­ge wur­de je­den Au­gen­blick dich­ter, und wie ein Ge­wäs­ser, das sein Bett ver­lässt, fing sie an längs der Wän­de in die Höhe zu stei­gen, um die Säu­len her­um an­zu­schwel­len, an den Tä­fe­lun­gen, Kar­nie­ßen,5 Fens­ter­bret­tern, an al­len Vor­sprün­gen der Archi­tek­tur und an al­len Er­hö­hun­gen der Bild­hau­er­ar­beit hin­auf­zu­stei­gen. Dazu der Zwang, die Un­ge­duld, die Lan­ge­wei­le, die Zü­gel­lo­sig­keit ei­nes fre­chen Nar­ren­fes­tes, die Strei­tig­kei­ten, wel­che bei je­der Ge­le­gen­heit we­gen ei­nes spit­zen El­len­bo­gens, ei­nes ei­sen­be­schla­ge­nen Schu­hes aus­bra­chen, das er­mü­dend lan­ge War­ten, – al­les das ga­ben schon lan­ge vor der Zeit, in wel­cher die Ge­sandt­schaf­ten an­lan­gen soll­ten, dem Ge­schrei die­ses ein­ge­schlos­se­nen, ein­ge­pferch­ten, ge­quetsch­ten, er­stick­ten Vol­kes einen schar­fen und bit­tern Aus­druck. Man hör­te nur Kla­gen oder Ver­wün­schun­gen ge­gen die Flam­län­der, ge­gen den Ober­bür­ger­meis­ter, den Kar­di­nal von Bour­bon, den Palast­vogt, ge­gen Ma­da­me Mar­ga­re­the von Östreich, ge­gen die Po­li­zis­ten, über Käl­te, Hit­ze und schlech­tes Wet­ter, ge­gen den Bi­schof von Pa­ris, ge­gen den Nar­ren­papst, ge­gen die Pfei­ler und Sta­tu­en, ge­gen die­se ver­schlos­se­ne Tür und je­nes of­fe­ne Fens­ter, – al­les das zur großen Be­lus­ti­gung der un­ter der Volks­men­ge zer­streu­ten Stu­den­ten- und Be­dien­ten­ru­del, wel­che die­se Un­zu­frie­den­heit durch ihre bos­haf­ten Ne­cke­rei­en er­höh­ten, und die all­ge­mei­ne Miss­s­tim­mung, so zu sa­gen, mit Na­del­sti­chen reiz­ten.

Un­ter an­de­ren be­fand sich ein Hau­fe die­ser lus­ti­gen Teu­fel, wel­che die Schei­ben ei­nes Fens­ters ein­ge­sto­ßen und sich keck auf das Ge­sims ge­setzt hat­ten, und von wo aus sie ihre Bli­cke und Spöt­te­rei­en ab­wech­selnd bald nach in­nen, bald nach au­ßen, auf die Men­ge im Saa­le und auf die des Plat­zes hin­schick­ten. An ih­ren äf­fen­den Ge­bär­den, an ih­rem lau­ten Ge­läch­ter, an den spöt­ti­schen Zu­ru­fen, wel­che sie von ei­nem Ende des Saa­l­es bis zum an­de­ren mit ih­ren Ka­me­ra­den wech­sel­ten, konn­te man leicht er­ken­nen, dass die­se jun­gen Ge­lehr­ten nicht die Lan­ge­wei­le und die Er­mü­dung der üb­ri­gen An­we­sen­den teil­ten, son­dern dass sie recht gut ver­stan­den, bei dem, was un­ter ih­ren Au­gen vor­ging, zu ih­rem Pri­vat­ver­gnü­gen ein Schau­spiel zu ge­nie­ßen, wel­ches sie das an­de­re ge­dul­dig er­war­ten ließ.

»Bei mei­ner See­le, Ihr sei­d’s, Jo­han­nes Frol­lo de Mo­len­di­no!« rief ei­ner von ih­nen ei­ner Art klei­nem blon­den Teu­fel mit hüb­schem und schalk­haf­ten Ge­sich­te zu, der sich an das Laub­werk ei­nes Säu­len­knau­fes an­ge­klam­mert hat­te, »Ihr heißt ganz rich­tig Müh­len­han­nes, denn Eure zwei Arme und Bei­ne se­hen ganz wie vier Flü­gel aus, die im Win­de tan­zen. Seit wie lan­ge seid Ihr hier?«

»Bei der Gna­de des Teu­fels«, ant­wor­te­te Jo­han­nes Frol­lo, »seit mehr als vier Stun­den, und ich hof­fe mit Recht, dass sie mir der­einst auf mei­ne Fe­ge­feu­er­zeit an­ge­rech­net wer­den. Ich habe um Sie­ben die acht Sän­ger des Kö­nigs von Si­zi­li­en die ers­te Stro­phe des Hochamts in der hei­li­gen Ka­pel­le an­stim­men hö­ren.«

»Schö­ne Sän­ger das!« ver­setz­te der an­de­re, »und die eine noch spit­ze­re Stim­me ha­ben, als ihre Müt­ze. Ehe der Kö­nig dem hei­li­gen Herrn Jo­han­nes eine Mes­se stif­te­te, hät­te er sich erst er­kun­di­gen sol­len, ob der hei­li­ge Herr Jo­han­nes la­tei­ni­schen Psal­men­ge­sang mit pro­vença­li­schem Ak­zent ver­tra­gen kann.«

»Bloß um die ver­damm­ten Sän­ger des Kö­nigs von Si­zi­li­en an­zu­brin­gen, hat er das ge­tan«, rief är­ger­lich ein al­tes Weib in der Men­ge un­ter dem Fens­ter. »Ich fra­ge Euch nur! tau­send Li­vres Pa­ri­ser Mün­ze für eine Mes­se! Und au­ßer­dem die Pach­tung des See­fi­sches in den Markt­hal­len von Pa­ris auch noch!«

»Ru­hig, Alte!« ver­setz­te ein di­cker ernst­haf­ter Mann, wel­cher sich ne­ben dem Fisch­wei­be die Nase zu­hielt, »er muss­te wohl eine Mes­se stif­ten. Möch­tet Ihr etwa, dass der Kö­nig wie­der krank wür­de?«

»Brav ge­spro­chen, Herr Gil­les Le­cor­nu, Meis­ter Hof­kürsch­ner!« rief der klei­ne Stu­dent, der am Säu­len­knau­fe sich an­ge­klam­mert hat­te.

Ein lau­tes Ge­läch­ter al­ler Stu­den­ten be­will­komm­ne­te den un­glück­li­chen6 Na­men des ar­men Hof­kürsch­ners.

»Le­cor­nu! Gil­les Le­cor­nu!« rie­fen die einen.

»Cor­nu­tus et hir­su­tus«,7 ent­geg­ne­te ein an­de­rer.

»Ei ge­wiss«, fuhr der Klei­ne oben auf dem Säu­len­knau­fe fort. »Was ist da zu la­chen? Ein Ehren­mann, der Gil­les Le­cor­nu, der Bru­der des Meis­ters Jo­hann Le­cor­nu, des Pro­foß im kö­nig­li­chen Palas­te, der Sohn vom Meis­ter Ma­hiet Le­cor­nu, dem Ober­wald­hü­ter im Ge­hölz von Vin­cen­nes, – al­les Bür­ger von Pa­ris, alle ver­hei­ra­tet vom Va­ter bis zum Soh­ne!«

Die Aus­ge­las­sen­heit ver­dop­pel­te sich. Der di­cke Kür­sch­ner be­müh­te sich, ohne ein Wort zu spre­chen, den Bli­cken sich zu ent­zie­hen, die über­all­her auf ihn ge­rich­tet wa­ren; – aber ver­ge­bens schwitz­te und keuch­te er: wie ein Keil, der ins Holz ge­trie­ben wird, dienten die An­stren­gun­gen, die er mach­te, nur dazu, sein brei­tes, auf­ge­dun­se­nes, vor Zorn und Är­ger pur­pur­ro­tes Ge­sicht noch fes­ter zwi­schen die Schul­tern sei­ner Nach­barn ein­zu­klem­men. End­lich kam ihm ei­ner von die­sen, wel­che kurz, dick und an­sehn­lich wie er wa­ren, zu Hil­fe.

»Ab­scheu­lich! Schul­jun­gen, die so mit ei­nem Bür­ger spre­chen! Zu mei­ner Zeit hät­te man sie mit Ru­ten aus­ge­peitscht, und dann hät­te man sie ver­brannt.«

Die gan­ze Ban­de brach nun los.

»Hol­la he! wer liest da ei­nem den Text? Wer ist der Un­glücks­ra­be?«

»War­te, ich ken­ne ihn«, sag­te ein an­de­rer, »es ist Meis­ter An­dry Mus­nier.«

»Ja­wohl, es ist ei­ner von den vier ge­schwo­re­nen Uni­ver­si­täts­buch­händ­lern«, sag­te ein an­de­rer.

»Al­les ist vier­fach in die­ser Bude«, schrie ein drit­ter, »die vier Na­tio­nen, die vier Fa­kul­tä­ten, die vier Fes­te, die vier Pro­ku­ra­to­ren,8 die vier Wahl­män­ner, die vier Buch­händ­ler.«

»Nun wohl«, ent­geg­ne­te Jo­hann Frol­lo, »man muss ih­nen auch den Teu­fel ver­vier­fa­chen.«

»Mus­nier, wir wer­den dei­ne Bü­cher ver­bren­nen.«

»Mus­nier, wir wer­den dei­nen Die­ner prü­geln.«

»Mus­nier, wir wer­den dei­ne Frau zer­drücken.«

»Die gute, di­cke Frau Ou­dar­de.«

»Die so frisch und so lus­tig ist, als wäre sie Wit­we.«

»Möge der Teu­fel euch ho­len!« brumm­te Meis­ter An­dry Mus­nier.

»Meis­ter An­dry«, fing Jo­hann wie­der an, wel­cher im­mer noch an sei­nem Säu­len­knau­fe hing, »sei stil­le, oder ich fal­le dir auf den Kopf!«

Meis­ter An­dry hob die Au­gen auf, schi­en einen Au­gen­blick die Höhe des Pfei­lers, die Schwe­re des Bur­schen zu ta­xie­ren, mul­ti­pli­zier­te in Ge­dan­ken die­se Schwe­re mit dem Qua­dra­te der Ge­schwin­dig­keit, und schwieg.

Jo­hann, Herr des Schlacht­fel­des, fuhr tri­um­phie­rend fort:

»Ja, das wür­de ich tun, ob­gleich ich der Bru­der ei­nes Archi­dia­co­nus bin!«

»Schö­ne Her­ren, un­se­re Leu­te von der Uni­ver­si­tät! nicht ein­mal an ei­nem Tage, wie dem heu­ti­gen, un­se­re Pri­vi­le­gi­en in Ruhe zu las­sen! Kurz, in der Nord­stadt gib­t’s Mai­fest und Freu­den­feu­er, in der Alt­stadt Schau­spiel, Nar­ren­papst und flam­län­di­sche Ge­sand­te, und im Uni­ver­si­täts­vier­tel – nichts!«

»Und doch ist der Mau­berts­platz groß ge­nug!« ent­geg­ne­te ei­ner von den Bur­schen, die auf dem Fens­ter­bret­te kam­pier­ten.

»Nie­der mit dem Rek­tor, mit den Wahl­män­nern, mit den Pro­ku­ra­to­ren!« rief Jo­hann.

»Die­sen Abend wird man im Champ-Gail­lard ein Freu­den­feu­er ma­chen müs­sen«, fuhr der an­de­re fort, »mit den Bü­chern Meis­ter An­dry’s.«

»Und mit den Pul­ten der Schrei­ber«, sag­te sein Nach­bar.

»Und den Stö­cken der Pe­del­le!«

»Und den Spuck­näp­fen der De­ka­ne!«

»Und den Ak­ten­schrän­ken der Pro­ku­ra­to­ren!«

»Und den Kas­ten der Wahl­män­ner!«

»Und den Fuß­sche­meln des Rek­tors!«

»Nie­der!« rief der klei­ne Jo­hann mit falscher Bass­s­tim­me, »nie­der mit Meis­ter An­dry, mit den Pe­del­len und Schrei­bern, nie­der mit den Theo­lo­gen, Me­di­zi­nern und De­kre­tis­ten;9 mit den Pro­ku­ra­to­ren, den Wahl­män­nern und mit dem Rek­tor!«

»Das ist ja das Wel­ten­de!« mur­mel­te Meis­ter An­dry, in­dem er sich die Ohren ver­stopf­te.

»Ei seht da, der Rek­tor! Da geht er auf dem Plat­ze«, rief ei­ner von de­nen im Fens­ter. Die Fol­ge war, dass sich al­les nach dem Plat­ze wand­te.

»Ist das wirk­lich un­ser ehr­wür­di­ger Rek­tor, Meis­ter Thi­baut?« frag­te Jo­hann Frol­lo du Mou­lin, der an ei­nem Pfei­ler im In­nern hän­gend, nicht se­hen konn­te, was drau­ßen vor­ging.

»Ja, ja«, ant­wor­te­ten alle an­de­ren, »ge­wiss, er ist es, Meis­ter Thi­baut, der Rek­tor.«

Es war in der Tat der Rek­tor mit al­len Wür­den­trä­gern der Uni­ver­si­tät, wel­che in fei­er­li­chem Zuge der Ge­sandt­schaft ent­ge­gen­gin­gen, und in die­sem Au­gen­bli­cke den Platz des Palas­tes über­schrit­ten. Die in das Fens­ter ge­dräng­ten Stu­den­ten emp­fin­gen sie beim Vor­über­ge­hen mit Spott­re­den und iro­ni­schem Bei­falls­ge­schrei. Der Rek­tor, wel­cher dem Zuge vor­an­schritt, er­hielt die ers­te Sal­ve; sie war stark.

»Gu­ten Tag, Herr Rek­tor! Hol­la! ei! Gu­ten Tag denn!«

»Wie kommt es, dass er hier ist, der alte Spie­ler? Er hat also sei­ne Wür­fel ver­las­sen?«

»Wie er auf sei­nem Maulesel ein­her­trot­tet! der hat we­ni­ger lan­ge Ohren, als er.«

»Hol­la, he! Gu­ten Tag, Herr Rek­tor Thi­baut! Ty­bal­de alea­tor!10 Al­ter Esel, al­ter Spie­ler!«

»Gott schüt­ze Euch! Habt Ihr ver­gan­ge­ne Nacht oft Dop­pel-Sechs ge­wor­fen?«

»O! seht ein­mal das hin­fäl­li­ge, blei­far­bi­ge, mat­te Ge­sicht, mit den Spu­ren der Spiel­wut dar­in!«

»Wo geht es jetzt hin, Thi­baut, Ty­bal­de ad cla­des,11 weil Ihr der Uni­ver­si­tät den Rücken zu­ge­kehrt habt und nach der Stadt trabt?«

»Zwei­felsoh­ne will er eine Woh­nung in der Stra­ße Thi­b­au­to­dé12 su­chen«, schrie Jo­hann du Mou­lin.

Die gan­ze Ban­de wie­der­hol­te den fau­len Witz mit don­nern­dem Ge­schrei und wü­ten­den Hän­de­klat­schen.

»Ihr wollt Euch in der Stra­ße Thi­b­au­to­dé Woh­nung su­chen, nicht wahr, Herr Rek­tor, Ihr Spiel­kum­pan des Teu­fels?«

Dann ka­men die an­de­ren Wür­den­trä­ger an die Rei­he.

»Nie­der mit den Pe­del­len! nie­der mit den Stab­trä­gern!«

»Sage mir doch, Ro­bin Pous­se­pain, wer ist denn je­ner dort?«

»Das ist Gil­bert von Suil­ly, Gil­ber­tus de So­lia­co, der Kanz­ler des Kol­le­gi­ums Au­tun.«

»Da hast du mei­nen Schuh: wirf ihn die­sem an den Kopf; du hast einen be­que­me­ren Platz als ich.«

»Sa­tur­na­li­ti­as mit­ti­mus ecce nu­ces.«13

»Nie­der mit den sechs Theo­lo­gen in ih­ren wei­ßen Chor­hem­den!«

»Das dort sind die Theo­lo­gen? – Ich dach­te, es wä­ren die sechs wei­ßen Gän­se, wel­che Sanct Ge­no­ve­va der Stadt für das Lehn­gut von Roo­gny ge­weiht hat.«

»Nie­der mit den Me­di­zi­nern!«

»Fort mit den schwer­fäl­li­gen und ab­ge­schmack­ten Re­de­übun­gen!«

»Da fliegt dir mei­ne Müt­ze an den Kopf, Kanz­ler von Sanct Ge­no­ve­va! Du hast mir Un­recht ge­tan.«

»Ja­wohl! er hat mei­ne Stel­le in der nor­man­ni­schen Lands­mann­schaft dem klei­nen As­ca­nio Falz­as­pa­da ge­ge­ben, der zur Pro­vinz Bour­ges ge­hört, weil er ein Ita­lie­ner ist.«

»Das ist eine Un­ge­rech­tig­keit«, sag­ten alle Stu­den­ten. »Nie­der mit dem Kanz­ler von Sanct Ge­no­ve­va!«

»Ho he! Meis­ter Joa­chim von La­de­hors! Ho he! Lud­wig Da­huil­le! Ho he! Lam­bert Hoc­te­ment!«

»Hole der Teu­fel den Pro­ku­ra­tor der deut­schen Lands­mann­schaft!«

»Und die Kaplä­ne der hei­li­gen Ka­pel­le in ih­ren grau­en Pelz­män­teln, cum tu­ni­cis gri­sis.«

»Seu de pel­li­bus gri­sis four­ra­tis!«14

»Hol­la, seht, die Meis­ter der frei­en Küns­te! Die gan­zen schö­nen Schwarz- und Rot­män­tel!«

»Die bil­den einen schö­nen Schweif für den Rek­tor!«

»Man möch­te ihn für einen Do­gen von Ve­ne­dig hal­ten, der sich mit dem Mee­re ver­mäh­len will.«

»Sind das die Ca­no­ni­ci15 von Sanct Ge­no­ve­va, Jo­hann?«

»Zum Teu­fel mit den Ca­no­ni­cis!«

»Abt Clau­de Choart! Dok­tor Clau­de Choart! sucht Ihr Ma­rie la Gif­far­de?«

»Sie wohnt in der Stra­ße Gla­tigny.«

»Sie macht dem Hu­ren­kö­ni­ge das Bett.«

»Sie zahlt ihre vier Hel­ler; qua­tuor de­na­ri­os.«

»Aut unum bom­bum!«

»Soll sie Euch hin­ter die Ohren be­zah­len?«

»Ka­me­ra­den! Meis­ter Si­mon San­guin, der Wahl­mann der Pi­car­den, der sei­ne Frau hin­ter sich auf dem Pferd hat!«

»Post equi­tem se­det atra cura.«16

»Mu­tig, Meis­ter Si­mon!«

»Gu­ten Tag, Herr Wahl­mann!«

»Gute Nacht, Frau Wäh­le­rin!«

»Sind die doch glück­lich, al­les se­hen zu kön­nen«, seufz­te Jo­han­nes de Mo­len­di­no, der im­mer noch am Blät­ter­wer­ke sei­nes Säu­len­knau­fes hing.

Wäh­rend­dem neig­te sich Meis­ter An­dry Mus­nier, der ge­schwo­re­ne Uni­ver­si­täts­buch­händ­ler, zum Ohre des Hof­kürsch­ners, Meis­ter Gil­les Le­cor­nu.

»Ich sage Euch, Herr, es ist das Ende der Welt da. Man hat wohl nie­mals sol­che Zü­gel­lo­sig­kei­ten der Stu­den­ten­schaft ge­se­hen! Das kommt aber von den ver­fluch­ten Er­fin­dun­gen die­ses Jahr­hun­derts, die noch al­les ver­der­ben: von den Ge­schüt­zen, Feld­schlan­gen und Don­ner­büch­sen, und vor al­lem vom Buch­druck, die­ser zwei­ten deut­schen Pest. Gib­t’s kei­ne Ma­nu­skrip­te mehr, gib­t’s kei­ne Bü­cher mehr! Der Buch­druck ver­nich­tet den Buch­han­del. Das Ende der Welt ist nahe.«

»Ich mer­ke es auch recht am Über­hand­neh­men der Samt­stof­fe«, sag­te der Pelz­händ­ler.

In dem­sel­ben Au­gen­bli­cke schlug es Zwölf.

»Ah! …« mach­te der gan­ze Hau­fe mit ei­nem Mun­de.

Die Stu­den­ten schwie­gen. Nun ent­stand eine große Ver­wir­rung, eine ge­räusch­vol­le Be­we­gung der Füße und der Köp­fe, ein star­kes, all­ge­mei­nes Ge­hus­te und Ge­sch­neu­ze; je­der stell­te sich zu­recht, rich­te­te sich in die Höhe. Nun tie­fes Schwei­gen; alle Häl­se blie­ben ge­r­eckt, alle Mäu­ler of­fen, alle Bli­cke nach der Mar­mor­ta­fel ge­rich­tet … nichts war dort zu se­hen. Die vier Die­ner des Vog­tes wa­ren im­mer noch da, starr und un­be­weg­lich, wie vier be­mal­te Sta­tu­en. Alle Au­gen wand­ten sich nach der, für die flam­län­di­schen Ge­sand­ten be­stimm­ten Tri­bü­ne. Die Tür blieb ge­schlos­sen, und die Tri­bü­ne leer. Die­se Men­schen­mas­se er­war­te­te nun seit der Frü­he drei­er­lei: die Mit­tags­stun­de, die fland­ri­sche Ge­sandt­schaft, das geist­li­che Schau­spiel. Der Mit­tag al­lein war da, auf die Mi­nu­te. Das war für dies­mal zu viel!

Man war­te­te eine, zwei, drei, fünf Mi­nu­ten, eine Vier­tel­stun­de: nichts kam. Die Tri­bü­ne blieb leer, das Thea­ter stumm. Da folg­te der Un­ge­duld der Zorn auf dem Fuße nach. Ge­reiz­te Wor­te flo­gen um­her, al­ler­dings noch mit lei­ser Stim­me. »Das Schau­spiel! das Schau­spiel!« mur­mel­te man dumpf. Die Köp­fe er­hitz­ten sich. Eine Wet­ter­wol­ke, die nur erst noch groll­te, zog über die Häup­ter die­ser Men­ge hin und her.

Jo­hann du Mou­lin war es, der ihr den ers­ten Fun­ken ent­lock­te.

»Das Schau­spiel, und zum Teu­fel mit den Flam­län­dern!« schrie er aus Lei­bes­kräf­ten, in­dem er sich wie eine Schlan­ge um sei­nen Säu­len­knauf wand.

Die Men­ge klatsch­te in die Hän­de.

»Das Schau­spiel«, wie­der­hol­te sie, »und mit Flan­dern zu al­len Teu­feln!«

»Wir müs­sen das Stück auf der Stel­le ha­ben«, fuhr der Stu­dent fort, »oder ich bin der An­sicht, wir hän­gen den Palast­vogt, als Er­satz für Lust­spiel und Schau­spiel.«

»Wohl ge­spro­chen«, schrie das Volk, »und lasst uns mit den Ge­richts­die­nern das Hän­gen be­gin­nen.«

Rau­schen­der Bei­fall folg­te. Die vier ar­men Teu­fel fin­gen an blass zu wer­den und sich ge­gen­sei­tig an­zu­se­hen. Die Men­ge drang auf sie ein, und sie sa­hen schon das schwa­che Holz­ge­län­der, das sie von ihr trenn­te, sich bie­gen und un­ter dem Drän­gen der Men­ge zu­sam­men­bre­chen. Der Au­gen­blick war kri­tisch.

»Drauf! drauf!« schrie man von al­len Sei­ten.

In die­sem Au­gen­bli­cke hob sich der Tep­pich des An­klei­de­zim­mers, wel­ches wir oben be­schrie­ben ha­ben, und ließ eine Per­son her­ein, de­ren blo­ßer An­blick die Men­ge plötz­lich zum Ste­hen brach­te, und wie mit ei­nem Zau­ber­schla­ge ih­ren Zorn in Neu­gier­de ver­wan­del­te.

»Still! still!«

Die Per­son trat, ziem­lich be­stürzt und an al­len Glie­dern zit­ternd, an den Rand der Mar­mor­plat­te un­ter vie­len Ver­beu­gun­gen, die, je nä­her sie kam, zu förm­li­chen Knie­beu­gun­gen wur­den.

In­des­sen war die Ruhe nach und nach wie­der her­ge­stellt. Nur je­nes lei­se Geräusch blieb üb­rig, das selbst noch beim Schwei­gen der Men­ge ver­nom­men wird.

»Mei­ne Her­ren Bür­ger«, sag­te die Per­son, »und mei­ne wer­ten Bür­ge­rin­nen, wir sol­len die Ehre ha­ben, ein sehr schö­nes Schau­spiel mit Na­men: ›Das ge­rech­te Ur­teil un­se­rer lie­ben Jung­frau Ma­ria‹ vor Sei­ner Emi­nenz dem Herrn Kar­di­nal vor­tra­gen und auf­füh­ren. Ich selbst gebe den Ju­pi­ter. Sei­ne Emi­nenz be­glei­tet in die­sem Au­gen­bli­cke die sehr eh­ren­wer­te Ge­sandt­schaft des Herrn Her­zogs von Ös­ter­reich; die­se ist ge­gen­wär­tig noch an der Pfor­te Bau­dets auf­ge­hal­ten, um die Be­grü­ßungs­re­de des Herrn Uni­ver­si­täts­rek­tors an­zu­hö­ren. So­bald der hoch­wür­digs­te Herr Kar­di­nal an­ge­kom­men sein wird, wol­len wir an­fan­gen.«

Si­cher­lich be­durf­te es nichts we­ni­ger, als der Da­zwi­schen­kunft Ju­pi­ters, um die vier un­glück­li­chen Die­ner des Palast­vog­tes vom Ver­der­ben zu ret­ten. Wenn wir das Glück hät­ten, die­se sehr glaub­wür­di­ge Ge­schich­te er­fun­den zu ha­ben, und folg­lich vor un­se­rer Dame, der Kri­tik, da­für ver­ant­wort­lich zu sein, so könn­te man sich in die­sem Au­gen­bli­cke uns ge­gen­über nicht auf die klas­si­sche Vor­schrift be­ru­fen: »Nec deus in­ter­sit.«17

Üb­ri­gens war das Ko­stüm des Herrn Ju­pi­ter sehr schön, und hat­te nicht we­nig dazu bei­ge­tra­gen, die Men­ge zu be­ru­hi­gen, de­ren gan­ze Auf­merk­sam­keit er auf sich zog. Herr Ju­pi­ter war in ein Pan­zer­hemd aus schwar­zem Samt, der mit ver­gol­de­ten Nä­geln be­schla­gen war, ge­klei­det; er trug einen Helm mit ver­gol­de­ten Sil­ber­knöp­fen auf dem Kop­fe; und wäre der rote und lan­ge Bart, wel­cher die Hälf­te sei­nes Ge­sichts be­deck­te, wäre die Rol­le ver­gol­de­ter Pap­pe nicht ge­we­sen, die er, mit ei­ser­nen Ha­ken über­sä­et und star­rend von Flit­ter­gold­strei­fen, in der Hand trug, und in wel­chem ge­üb­te Au­gen leicht den Blitz­strahl er­ken­nen konn­ten; wä­ren die fleisch­far­be­nen, nach grie­chi­scher Wei­se be­bän­der­ten Bei­ne nicht ge­we­sen, er hät­te we­gen der Ernst­haf­tig­keit sei­ner Hal­tung mit ei­nem bre­to­ni­schen Bo­gen­schüt­zen vom Korps des Herrn von Ber­ry den Ver­gleich aus­hal­ten kön­nen.

2. Peter Gringoire

Die Ge­nug­tu­ung und die Be­wun­de­rung, wel­che sein Ko­stüm über­all her­vor­ge­ru­fen hat­te, ver­schwan­den je­doch wäh­rend sei­ner An­spra­che; und als er mit den un­glück­li­chen Wor­ten schloss: »Wir wer­den an­fan­gen, so­bald sei­ne Hoch­wür­den, der Herr Kar­di­nal an­ge­kom­men sein wird«, ver­schwand sei­ne Stim­me in ei­nem don­nern­den Hohn­ge­schrei.

»Fangt auf der Stel­le an! Das Schau­spiel! Auf der Stel­le das Schau­spiel!« schrie das Volk. Und über alle Stim­men hin­weg hör­te man die­je­ni­ge des Jo­han­nes von Mo­len­di­no, wel­che den Tu­mult durch­drang wie die Pfei­fe bei ei­ner Kat­zen­mu­sik in Nî­mes: »So­fort an­fan­gen!« kreisch­te der Stu­dent.

»Nie­der mit Ju­pi­ter und dem Kar­di­nal von Bour­bon!« schri­en Ro­bin Pous­se­pain und die an­de­ren im Fens­ter­kreuz hocken­den Stu­dio­sen.

»So­fort die Auf­füh­rung!« wie­der­hol­te die Men­ge, »so­fort, auf der Stel­le! Gal­gen und Rad für die Schau­spie­ler und den Kar­di­nal!«

Der arme Ju­pi­ter, ver­wirrt, be­stürzt und un­ter sei­ner Schmin­ke er­blei­chend, ließ sei­nen Don­ner­strahl nie­der­fal­len und nahm sei­nen Helm in die Hand; dann grüß­te er zit­ternd und stot­ter­te her­aus: »Sei­ne Emi­nenz … die Ge­sand­ten … Frau Mar­ga­re­the von Flan­dern …« Er wuss­te nicht, was sa­gen. Er fürch­te­te auch, ge­han­gen zu wer­den. Ge­han­gen durch den Pö­bel, wenn er zö­ger­te, ge­han­gen vom Kar­di­nal, wenn er frü­her an­ge­fan­gen hät­te. So sah er von zwei Sei­ten einen Ab­grund, d.h. den Gal­gen. Glück­li­cher­wei­se er­schi­en je­mand, um ihn aus der Ver­le­gen­heit zu zie­hen und die Verant­wort­lich­keit auf sich zu neh­men.

Ein Mensch, wel­cher sich dies­seits des Ge­län­ders in dem rings um die Mar­mor­plat­te frei­ge­las­se­nen Rau­me be­fand, und den noch nie­mand be­merkt hat­te, so voll­stän­dig war sei­ne dür­re, lan­ge Fi­gur für je­des Auge von dem Durch­mes­ser der Säu­le, an wel­che er sich ge­lehnt hat­te, ver­bor­gen wor­den, – die­ser ziem­lich große, ma­ge­re, blei­che, blon­de, trotz Fal­ten an Stirn und Wan­gen noch jun­ge Mann mit glän­zen­den Au­gen und lä­cheln­dem Mun­de, in schwar­ze, vom Al­ter ab­ge­nutz­te und glän­zen­de Sar­sche ge­klei­det, nä­her­te sich der Mar­mor­plat­te und gab dem ar­men Dul­der ein Zei­chen. Die­ser aber, in sei­ner Be­stür­zung, sah ihn nicht.

Der An­kömm­ling trat einen Schritt nä­her.

»Ju­pi­ter! mein lie­ber Ju­pi­ter!« rief er.

Die­ser hör­te aber nichts.

End­lich schrie ihm der große Blon­de un­ge­dul­dig ge­wor­den fast ins Ge­sicht:

»Mi­chel Gi­bor­ne!«

»Wer ruft mich?« sag­te Ju­pi­ter er­schro­cken, wie aus dem Schla­fe er­wa­chend.

»Ich«, ant­wor­te­te der Schwarz­ge­klei­de­te.

»Ah!« sag­te Ju­pi­ter.

»Fangt gleich an«, fuhr je­ner fort. »Stellt das Volk zu­frie­den; ich über­neh­me es, den Herrn Palast­vogt zu be­schwich­ti­gen, der wie­der den Herrn Kar­di­nal be­schwich­ti­gen wird.«

Ju­pi­ter at­me­te auf.

»Mei­ne Her­ren Bür­ger«, rief er mit al­ler Kraft sei­ner Lun­gen der Men­ge zu, wel­che fort­fuhr, ihn zu ver­höh­nen, »wir wol­len so­gleich be­gin­nen.«

»Evoe Ju­pi­ter! Plau­di­te ci­ves!«1 schri­en die Stu­den­ten.

»Juch­he! Juch­he!« schrie das Volk.

Ein be­täu­ben­des Hän­de­klat­schen be­gann, und Ju­pi­ter war schon hin­ter den Vor­hang zu­rück­ge­kehrt, als der Saal noch vom Bei­falls­ge­schrei er­zit­ter­te.

Un­ter­des­sen war der Un­be­kann­te, der auf so ma­gi­sche Wei­se »den Sturm in Stil­le« ver­wan­delt hat­te, wie un­ser al­ter, lie­ber Cor­neil­le sagt, be­schei­den in das Halb­dun­kel sei­nes Pfei­lers zu­rück­ge­kehrt, und wür­de dort un­sicht­bar, un­be­weg­lich und stumm wie zu­vor ge­blie­ben sein, wenn ihn von hier nicht zwei jun­ge Frau­en­zim­mer, die in der Vor­der­rei­he der Zuschau­er stan­den, und die sein Zwie­ge­spräch mit Mi­chel Gi­bor­ne-Ju­pi­ter be­ob­ach­tet hat­ten, weg­ge­lockt hät­ten.

»Meis­ter«, sag­te die eine von ih­nen, die ihm mit der Hand ein Zei­chen gab, her­an­zu­kom­men …

»Schwei­get doch, lie­be Liénar­de«, sag­te ihre rei­zen­de, jun­ge und in ih­rem Sonn­tags­staa­te statt­lich ge­putz­te Nach­ba­rin; »das ist kein Ge­lehr­ter, son­dern ein Laie; und Ihr dürft nicht Meis­ter,2 son­dern müsst viel­mehr Herr spre­chen!«

»Herr«, sag­te Liénar­de.

Der Un­be­kann­te trat an das Ge­län­der.

»Was wünscht ihr von mir, lie­be Fräu­lein?« frag­te er eif­rig.

»Oh! nichts«, sag­te Liénar­de ganz ver­wirrt, »mei­ne Nach­ba­rin Gis­quet­te la Gen­ci­enne ist es, die Euch spre­chen will.«

»Ganz und gar nicht«, ver­setz­te Gis­quet­te er­rö­tend, »Liénar­de hat Euch Meis­ter ge­ru­fen, und ich sag­te ihr, dass man Herr sa­gen müss­te.«

Die bei­den jun­gen Mäd­chen schlu­gen die Au­gen nie­der. Je­ner der nichts an­ge­le­gent­li­cher wünsch­te, als ein Ge­spräch an­zu­knüp­fen, sah sie lä­chelnd an.

»Ihr habt mir also nichts zu sa­gen, wer­te Fräu­lein?«

»Oh! ganz und gar nichts«, ant­wor­te­te Gis­quet­te.

»Nein, nichts«, sag­te Liénar­de.

Der große blon­de jun­ge Mann trat einen Schritt zu­rück; aber die bei­den Neu­gie­ri­gen hat­ten nicht Lust, die Beu­te fah­ren zu las­sen.

»Mein Herr«, sag­te Gis­quet­te leb­haft und mit dem Un­ge­stüm ei­ner sich öff­nen­den Schleu­se oder ei­nes Wei­bes, die einen Ent­schluss fasst, »Ihr kennt also den Sol­da­ten, der die Rol­le der hei­li­gen Jung­frau im Schau­spie­le ge­ben wird?«

»Ihr wollt sa­gen die Rol­le Ju­pi­ters?« ent­geg­ne­te der Un­be­kann­te.

»Ei, ja!« sag­te Liénar­de, »die Tö­rich­te! Ihr kennt also den Ju­pi­ter?«

»Mi­chel Gi­bor­ne?« ant­wor­te­te der Un­be­kann­te; »ja, wer­tes Fräu­lein.«

»Er hat einen präch­ti­gen Bart!« sag­te Liénar­de.

»Wird das hübsch sein, was man da oben spre­chen wird?« frag­te schüch­tern Gis­quet­te.

»Sehr schön, mein Fräu­lein«, ent­geg­ne­te der Un­be­kann­te ohne das ge­rings­te Zau­dern.

»Was wird es denn sein?« sag­te Liénar­de.

»Das ge­rech­te Ur­teil der hei­li­gen Jung­frau, ein mo­ra­li­sches Stück, wenn’s be­liebt, mein Fräu­lein.«

»Ah! das ist et­was andres!« ver­setz­te Liénar­de.

Ein kur­z­es Schwei­gen folg­te. Der Un­be­kann­te un­ter­brach es:

»Es ist ein ganz neu­es Stück, und noch gar nicht ge­ge­ben.«

»Es ist also nicht das­sel­be«, ver­setz­te Gis­quet­te, »wel­ches man vor zwei Jah­ren, beim Ein­zu­ge des Herrn päpst­li­chen Ge­sand­ten ge­ge­ben hat, und in wel­chem drei hüb­sche Mäd­chen Rol­len ga­ben …«

»Si­re­nen«, sag­te Liénar­de.

»Und ganz nackt –« füg­te der jun­ge Mann hin­zu.

Liénar­de schlug ver­schämt die Au­gen nie­der. Gis­quet­te sah sie an und mach­te es eben­so. Er fuhr lä­chelnd fort:

»Das war sehr spaß­haft zu se­hen. Das heu­ti­ge Schau­spiel ist ex­press für das gnä­di­ge Fräu­lein von Flan­dern ge­macht.«

»Wird man Lie­bes­lie­der sin­gen?« frag­te Gis­quet­te.

»Pfui!« sag­te der Un­be­kann­te, »in ei­nem mo­ra­li­schen Stücke? Man darf die Gat­tun­gen nicht ver­wech­seln. Wenn es eine Pos­se wäre, al­ler­dings!«

»Scha­de!« ent­geg­ne­te Gis­quet­te. »Da­mals gab es an der Fon­taine von Pon­ceau wil­de Män­ner und Frau­en, wel­che mit­ein­an­der kämpf­ten, meh­re­re Grup­pen auf­führ­ten und klei­ne Ari­en und Lie­bes­lie­der san­gen.«

»Was für einen päpst­li­chen Ge­sand­ten passt«, sag­te ziem­lich tro­cken der Un­be­kann­te, »passt nicht für eine Prin­zes­sin.«

»Und ne­ben ih­nen«, fuhr Liénar­de fort, »spiel­ten meh­re­re dump­fe In­stru­men­te präch­ti­ge Me­lo­di­en.«

»Und zur Er­fri­schung der Vor­über­ge­hen­den«, fuhr Gis­quet­te fort, »spie die Fon­taine aus drei Mün­dun­gen Wein, Milch und Ge­würzwein aus, wo­von trank wer woll­te.«

»Und ein we­nig un­ter­halb Pon­ceau, bei der Tri­nité«, sag­te Liénar­de, »gab es ein Stück aus der Lei­dens­ge­schich­te Chris­ti, von stum­men Per­so­nen auf­ge­führt.«

»Ja, ich er­in­ne­re mich!« rief Gis­quet­te, »der Herr am Kreu­ze und die bei­den Schä­cher links und rechts.«

Jetzt be­gan­nen die bei­den Schwät­ze­rin­nen, in der Erin­ne­rung an den Ein­zug des Herrn Le­ga­ten sich er­ei­fernd, bei­de auf ein­mal zu spre­chen.

»Und wei­ter vor­wärts bei der Ma­ler­pfor­te wa­ren an­de­re sehr reich ge­schmück­te Per­so­nen zu se­hen.«

»Und bei der Fon­taine Saint-In­no­cent der Jä­ger, wel­cher eine Hin­din un­ter lau­tem Hun­de­ge­bell und Hör­ner­schall ver­folg­te.«

»Und bei dem Schlacht­hau­se von Pa­ris die Gerüs­te, wel­che die Burg von Diep­pe vor­stell­ten.«

»Und weißt du, Gis­quet­te, als der Le­gat vor­über­kam, spiel­te man die Er­stür­mung und al­len Eng­län­dern kos­te­te es die Köp­fe.«

»Und nach dem Tore des Châte­let hin wa­ren sehr schö­ne Fi­gu­ren zu se­hen!«

»Und auf der Wechs­ler­brücke, die oben ganz mit Tep­pi­chen be­han­gen war.«

»Und als der Le­gat vor­über­zog, ließ man auf der Brücke mehr als zwei­hun­dert Dut­zend Vö­gel al­ler Art flie­gen; das war herr­lich, Liénar­de.«

»Heu­te wird’s viel schö­ner sein«, fuhr end­lich der Un­be­kann­te fort, wel­cher ih­nen an­schei­nend mit Un­ge­duld zu­hör­te.

»Ihr ver­sprecht uns, dass dies Schau­spiel schön sein wird?« sag­te Gis­quet­te.

»Ohne Zwei­fel«, ant­wor­te­te er; dann füg­te er mit ei­nem ge­wis­sen Nach­dru­cke hin­zu: »Mei­ne Fräu­lein, der Ver­fas­ser des­sel­ben bin ich.«

»Wahr­haf­tig?« rie­fen die jun­gen Mäd­chen ganz er­staunt.

»Ge­wiss!« ant­wor­te­te der Dich­ter, in­dem er sich vor­nehm in die Brust warf; »das heißt, wir sind zwei: Jo­hann Mar­chand, der die Bret­ter zu­ge­schnit­ten, das Gerüst des Thea­ters und das Holz­werk auf­ge­baut hat, und ich, der das Stück ge­macht hat. Ich hei­ße Pe­ter Grin­goi­re.«

Der Dich­ter des »Cid«3 hät­te mit nicht mehr Stolz sa­gen kön­nen: »Pe­ter Cor­neil­le.«

Un­se­re Le­ser ha­ben be­mer­ken kön­nen, dass schon eine ge­wis­se Zeit ver­flos­sen sein muss­te seit dem Au­gen­bli­cke, wo Ju­pi­ter hin­ter den Vor­hang zu­rück­ge­kehrt war, und der Ver­fas­ser des neu­en Stückes sich so plötz­lich der nai­ven Be­wun­de­rung Gis­quet­tens und Liénar­dens of­fen­bart hat­te. Son­der­ba­re Tat­sa­che! Die­se gan­ze, we­ni­ge Mi­nu­ten zu­vor so un­bän­di­ge Men­ge war­te­te jetzt mit Sanft­mut auf das Wort des Schau­spie­lers hin; was die ewi­ge und in un­sern Thea­tern noch alle Tage er­prob­te Wahr­heit dar­tut, dass das bes­te Mit­tel, das Pub­li­kum ge­dul­dig war­ten zu ma­chen, das ist, ihm zu er­klä­ren, dass man so­fort be­gin­nen wer­de.

Je­doch der Stu­dent Jo­han­nes ließ sich nicht in Si­cher­heit ein­wie­gen.

»Hol­la, he!« schrie er auf ein­mal mit­ten in der ru­hi­gen Er­war­tung, die dem Lär­me ge­folgt war: »Ju­pi­ter, hei­li­ge Jung­frau, Teu­fels­gauk­ler, wollt Ihr uns fop­pen? Das Stück, das Stück! Fangt an oder wir be­gin­nen von Neu­em!«

Mehr brauch­te es nicht.

Eine Mu­sik von lau­ten und ge­dämpf­ten In­stru­men­ten ließ sich aus dem In­nern des Gerüs­tes her­aus ver­neh­men; der Vor­hang hob sich; vier ge­putz­te und ge­schmink­te Per­so­nen tra­ten her­vor, klet­ter­ten die stei­le Thea­ter­lei­ter hin­auf und stell­ten sich, auf der obe­ren Platt­form an­ge­kom­men, in ei­ner Li­nie vor dem Pub­li­kum auf, wel­ches sie mit tiefer Ver­beu­gung be­grüß­ten. Jetzt schwieg die Sym­pho­nie. Das Stück be­gann nun.

Nach­dem die vier Per­so­nen das Bei­falls­klat­schen für ihre Ver­beu­gun­gen reich­lich ein­ge­ern­tet hat­ten, be­gan­nen sie un­ter an­däch­ti­gem Schwei­gen der Hö­rer einen Pro­log, mit dem wir den Le­ser be­reit­wil­lig ver­scho­nen wol­len. Üb­ri­gens be­schäf­tig­te sich das Pub­li­kum, wie heut­zu­ta­ge noch ge­schieht, mehr mit den Ko­stü­men, wel­che sie tru­gen, als mit der Rol­le, die sie vor­tru­gen; und in Wahr­heit, es war in der Ord­nung. Sie wa­ren alle vier in halb gel­be und halb wei­ße Ge­wän­der ge­klei­det, die sich von­ein­an­der nur durch die Be­schaf­fen­heit des Stof­fes un­ter­schie­den; die eine war in Gold- und Sil­ber­bro­kat, die an­de­re in Sei­de, die drit­te in Wol­le, die vier­te in Lein­wand ge­klei­det. Die ers­te Per­son trug ein Schwert in der Rech­ten, die zwei­te zwei gold­ne Schlüs­sel, die drit­te eine Waa­ge, die vier­te einen Spa­ten; und um den be­schränk­teren Köp­fen, wel­che die Be­deu­tung die­ser At­tri­bu­te nicht voll­kom­men klar hät­ten be­grei­fen kön­nen, zu Hil­fe zu kom­men, konn­te man un­ten auf der bro­ka­te­nen Robe in großen, schwarz­ge­stick­ten Buch­sta­ben le­sen: »Ich bin der Adel«; un­ten auf der sei­de­nen: »Ich bin die Geist­lich­keit«, auf der wol­le­nen: »Ich bin der Han­del« und auf der lei­ne­nen: »Ich bin die Ar­beit«. Das Ge­schlecht der bei­den männ­li­chen Fi­gu­ren war für je­den ur­teils­fä­hi­gen Zuschau­er an den we­ni­ger lan­gen Ge­wän­dern und an der Müt­ze an­ge­deu­tet, wel­che sie auf dem Kop­fe tru­gen, wäh­rend die bei­den weib­li­chen Er­schei­nun­gen nicht so kurz ge­klei­det und mit ei­ner Hau­be ge­schmückt wa­ren.

Es hät­te viel bö­ser Wil­le dazu ge­hört, um aus dem In­hal­te des Pro­logs nicht zu be­grei­fen, dass die Ar­beit mit dem Han­del, die Geist­lich­keit mit dem Adel ver­mählt war, und dass die zwei glück­li­chen Paa­re ge­mein­sam einen präch­ti­gen Gold­del­phin hat­ten, den sie nur mit der Schöns­ten zu ver­bin­den be­ab­sich­tig­ten. Sie zo­gen also durch die Welt, auf der Su­che nach die­ser Schön­heit, und nach­dem sie nach und nach die Kö­ni­gin von Gol­kon­da, die Prin­zes­sin von Tra­pe­zunt, die Toch­ter des Groß-Kans von der Tar­ta­rei u.s.w. u.s.w. ver­wor­fen hat­ten, wa­ren Ar­beit und Geist­lich­keit, Adel und Han­del nach dem Jus­tiz­pa­las­te ge­kom­men, um sich auf der Mar­mor­plat­te nie­der­zu­las­sen, und vor ei­nem ver­eh­rungs­wür­di­gen Pub­li­kum so vie­le Sit­ten­sprü­che und Ma­xi­men aus­zu­kra­men, wie man da­mals bei der Fa­kul­tät der frei­en Küns­te, in den Prü­fun­gen, wo die Meis­ter ihre Dok­tor­hü­te er­lang­ten, Trug­schlüs­se, De­ter­mi­na­tio­nen, Re­de­fi­gu­ren und Dis­pu­ta­tio­nen an den Mann brin­gen konn­te.

Al­les das war wahr­haf­tig sehr schön.

In die­ser gan­zen Men­schen­men­ge je­doch, über wel­che die vier Er­schei­nun­gen um die Wet­te Flu­ten von Gleich­nis­re­den aus­schüt­te­ten, gab es kein auf­merk­sa­me­res Ohr, kein klop­fen­de­res Herz, kein un­stä­te­res Auge, kei­nen ge­r­eck­teren Hals, als Auge, Ohr, Hals und Herz des Au­tors, des Dich­ters, die­ses bra­ven Pe­ter Grin­goi­re, wel­cher kurz zu­vor dem Ent­zücken nicht hat­te wi­der­ste­hen kön­nen, den bei­den hüb­schen Mäd­chen sei­nen Na­men zu nen­nen. Er war nicht weit von ih­nen ent­fernt hin­ter sei­nen Pfei­ler zu­rück­ge­kehrt, und dort hör­te, sah und ver­schlang er. Der wohl­wol­len­de Bei­fall, mit wel­chem der Vor­trag sei­nes Pro­logs auf­ge­nom­men wor­den war, tön­te noch in sei­nem In­nern nach, und er war ganz von je­ner Art ver­zück­ter Be­trach­tung hin­ge­ris­sen, mit wel­cher ein Au­tor sei­ne Ge­dan­ken, einen nach dem an­de­ren, von den Lip­pen des Schau­spie­lers in die Stil­le ei­nes un­ge­heue­ren Au­di­to­ri­ums fal­len hört. Wür­di­ger Pe­ter Grin­goi­re!

Es tut uns leid, es zu sa­gen, aber die­se ers­te Ver­zückung wur­de sehr bald ge­stört. Kaum hat­te Grin­goi­re sei­ne Lip­pen an den be­rau­schen­den Be­cher der Freu­de und des Tri­um­phes ge­legt, als ein Wer­muts­trop­fen hin­ein­fiel.

Ein zer­lump­ter Bett­ler, wel­cher nicht hat­te ein­sam­meln kön­nen, weil er mit­ten im Ge­drän­ge sich be­fand, und der zwei­felsoh­ne in den Ta­schen sei­ner Nach­barn kei­ne hin­rei­chen­de Ent­schä­di­gung ge­fun­den hat­te, war auf den Ge­dan­ken ge­kom­men, ir­gend einen sicht­ba­ren Platz zu su­chen, um die Bli­cke und Al­mo­sen auf sich zu len­ken. Er hat­te sich des­halb wäh­rend der ers­ten Ver­se des Pro­lo­ges mit Hil­fe der Pfei­ler, wel­che sich an der Ge­sand­ten-Tri­bü­ne be­fan­den, auf das Kar­niss4 ge­schwun­gen, wel­ches den un­tern Teil der­sel­ben be­grenz­te; und da hat­te er sich nie­der­ge­las­sen, um Auf­merk­sam­keit und Mit­lei­den der Men­ge durch sei­ne Lum­pen und eine scheuß­li­che Wun­de am rech­ten Arme auf sich zu zie­hen. Üb­ri­gens sprach er kein Wort.

Das Still­schwei­gen, wel­ches er be­ob­ach­te­te, ließ den Pro­log ohne Stö­rung vor­über­ge­hen, und kei­ne merk­li­che Un­ord­nung wäre ein­ge­tre­ten, wenn das Un­glück nicht ge­wollt hät­te, dass der Stu­dent Jo­han­nes von der Höhe sei­nes Pfei­lers den Bett­ler und sei­ne Fir­le­fan­ze­rei­en ge­se­hen hät­te. Ein tol­les La­chen pack­te den jun­gen Tau­ge­nichts, wel­cher, un­be­sorgt dar­um, das Schau­spiel zu un­ter­bre­chen und die all­ge­mei­ne Auf­merk­sam­keit zu stö­ren, frech aus­rief:

»Seht da den Elen­den, der um ein Al­mo­sen bit­tet!«

Wer je ein­mal einen Stein in eine Frosch­p­füt­ze ge­wor­fen, oder eine Flin­te auf einen Vo­gel­schwarm ab­ge­feu­ert hat, kann sich einen Be­griff von der Wir­kung ma­chen, wel­che die­se un­pas­sen­den Wor­te bei der all­ge­mei­nen Stil­le her­vor­brach­ten. Grin­goi­re fuhr zu­sam­men, wie von ei­nem elek­tri­schen Schla­ge ge­trof­fen. Der Pro­log blieb ste­cken, und alle Köp­fe wen­de­ten sich hef­tig nach dem Bett­ler um, der, ohne die Fas­sung zu ver­lie­ren, in die­sem Zwi­schen­fal­le gute Ge­le­gen­heit zu ei­ner Ern­te er­blick­te, und mit schmerz­li­cher Mie­ne und halb­ge­schlos­se­nen Au­gen zu ru­fen an­fing:

»Eine mil­de Gabe, wenn’s be­liebt!«

»Ei aber … bei mei­ner See­le«, ver­setz­te Jo­han­nes, »das ist Clo­pin Trouil­le­fou. Hol­la, Freund, dei­ne Wun­de ge­nier­te dich wohl am Bei­ne, dass du sie auf den Arm ge­legt hast?«

Bei die­sen Wor­ten warf er mit der Ge­schick­lich­keit ei­nes Af­fen ein klei­nes Sil­ber­stück in den schmie­ri­gen Filz, den der Bett­ler mit sei­nem kran­ken Arme hin­hielt. Der Bett­ler nahm das Al­mo­sen und die bei­ßen­den Wor­te un­be­irrt hin, und fuhr mit kläg­li­cher Stim­me fort: »Gebt mir ein Al­mo­sen, ich bit­te!«

Die­ser Zwi­schen­fall hat­te die Hö­rer­schaft sehr zer­streut; und eine ziem­li­che An­zahl Zuschau­er, Ro­bin Pous­se­pain und alle Stu­den­ten an der Spit­ze, klatsch­ten die­sem son­der­ba­ren Duett lus­tig Bei­fall, wel­ches, mit­ten im Pro­log, der Stu­dent mit sei­ner krei­schen­den Stim­me und der Bett­ler in sei­nem be­harr­li­chen Kla­ge­to­ne eben im­pro­vi­siert hat­ten.

Grin­goi­re war sehr miss­ge­stimmt. Nach­dem er sich von sei­ner ers­ten Be­stür­zung er­holt hat­te, er­mann­te er sich und rief den vier Per­so­nen auf der Büh­ne zu: »Fah­ret fort, zum Teu­fel, fah­ret fort!« ohne auch nur sich ge­mü­ßigt zu füh­len, einen ver­ächt­li­chen Blick auf die zwei Stö­ren­frie­de zu wer­fen.

In die­sem Au­gen­bli­cke fühl­te er sich am Sau­me sei­nes Ober­klei­des ge­zo­gen; er wand­te sich nicht ohne eine ge­wis­se Übel­lau­ne um, muss­te aber, wenn auch wi­der­wil­lig, la­chen. Es war der hüb­sche Arm der Gis­quet­te la Gen­ci­enne, wel­che über das Ge­län­der hin­weg auf die­se Wei­se sei­ne Auf­merk­sam­keit reiz­te.

»Mein Herr«, sag­te das jun­ge Mäd­chen, »wer­den die da fort­fah­ren?«

»Ge­wiss«, ent­geg­ne­te Grin­goi­re von die­ser Fra­ge ziem­lich be­lei­digt.

»In die­sem Fal­le, Herr«, fuhr sie fort, »habt Ihr wohl die Güte, mir zu er­klä­ren …«

»Was sie sa­gen wer­den?« un­ter­brach sie Grin­goi­re. »Nun gut! hört nur zu!«

»Nein!« sag­te Gis­quet­te, »aber was sie bis jetzt ge­spro­chen ha­ben.«

Grin­goi­re tat einen Satz, wie ein Mensch, des­sen of­fe­ne Wun­de man be­rührt.

»Dass dich die Pest, du dum­mes, ver­na­gel­tes Ding!« mur­mel­te er zwi­schen den Zäh­nen.

Von die­sem Au­gen­bli­cke an hat­te es Gis­quet­te bei ihm voll­stän­dig ver­dor­ben.

In­des­sen hat­ten die Schau­spie­ler sei­nem ener­gi­schen Be­feh­le Fol­ge ge­leis­tet, und das Pub­li­kum, wel­ches sah, dass sie wie­der zu spre­chen an­fin­gen, hat­te be­gon­nen zu­zu­hö­ren; vie­le Schön­hei­ten wa­ren ihm aber bei der Art Zu­sam­men­lö­tung der zwei Tei­le des so schänd­lich un­ter­bro­che­nen Stückes ver­lo­ren ge­gan­gen. Grin­goi­re mach­te die bit­te­re Be­mer­kung ganz in der Stil­le. Den­noch war die Ruhe nach und nach wie­der­her­ge­stellt; der Stu­dent schwieg, der Bett­ler zähl­te ei­ni­ges Geld im Hute, und das Stück hat­te sei­nen Fort­gang ge­nom­men.

Es war in der Tat ein sehr schö­nes Werk, aus dem man, wie uns be­dünkt, noch heu­te mit klei­nen Än­de­run­gen sehr wohl Nut­zen zie­hen könn­te. Die Er­fin­dung des Stückes war, wenn auch nach den Re­geln der Kunst ein we­nig lang und dürf­tig, ein­fach; und Grin­goi­re be­wun­der­te vor dem lau­te­ren Hei­lig­tu­me sei­nes geis­ti­gen Richter­stuh­les de­ren Durch­sich­tig­keit. Wie man sich wohl den­ken mag, wa­ren die vier al­le­go­ri­schen Ge­stal­ten ein we­nig er­mü­det von ih­rem Zuge durch die drei Welt­tei­le, ohne Ge­le­gen­heit ge­fun­den zu ha­ben, sich ih­res Gold­del­phi­nes an­ge­mes­sen ent­le­di­gen zu kön­nen. Nun kam eine Lo­b­re­de auf den wun­der­ba­ren Fisch, mit tau­send fei­nen An­spie­lun­gen auf den jun­gen Bräu­ti­gam Mar­ga­rethens von Flan­dern, der da­mals höchst jäm­mer­li­cher­wei­se in Am­boi­se ein­ge­schlos­sen war, und sich wohl nicht träu­men ließ, dass Ar­beit und Geist­lich­keit, Adel und Han­del so­eben sei­net­we­gen eine Fahrt durch die Welt ge­macht hät­ten. Be­sag­ter Del­phin also war jung, schön, tap­fer und vor al­lem – herr­li­cher Ur­sprung al­ler kö­nig­li­chen Tu­gen­den! – er war der Sohn des Lö­wen von Frank­reich. Ich er­klä­re, dass die­ses küh­ne Gleich­nis be­wun­de­rungs­wür­dig ist, und dass die Na­tur­ge­schich­te des Thea­ters, an ei­nem Tage, der für ver­blüm­te Rede und kö­nig­li­ches Hoch­zeits­ge­dicht be­stimmt ist, nicht ir­gend­wie an ei­nem Del­phi­ne An­stoß nimmt, wel­cher der Sohn ei­nes Lö­wen ist. Das sind eben die sel­te­nen und pin­da­ri­schen Ver­men­gun­gen, wel­che den En­thu­si­as­mus zei­gen. Nichts­de­sto­we­ni­ger, um auch noch et­was Ta­del un­ter das Lob zu mi­schen, hät­te der Dich­ter die­sen schö­nen Ge­dan­ken in etwa zwei­hun­dert Ver­sen aus­spre­chen kön­nen. Es ist wahr, dass das Schau­spiel nach An­ord­nung des Herrn Ober­rich­ters von zwölf Uhr mit­tags bis um vier Uhr dau­ern soll­te, und not­wen­di­ger­wei­se wohl et­was ge­sagt wer­den muss­te. Au­ßer­dem hör­te man ge­dul­dig zu.

Auf ein­mal, mit­ten in ei­nem Strei­te zwi­schen Frau Han­del und Frau Adel, im Au­gen­bli­cke, wo Meis­ter Ar­beit fol­gen­den wun­der­ba­ren Vers sprach:

»Nie sah man in Wäl­dern ein stol­ze­res Tier« –