Der Goldhügel - Tobias Roller - E-Book

Der Goldhügel E-Book

Tobias Roller

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Beschreibung

Februar 1962: Erich Kästner ist an Tuberkulose erkrankt und soll sich im Sanatorium auf dem verschneiten Collina d’Oro, dem Goldhügel über dem Luganer See, erholen. Doch eine akute Schreibkrise, Selbstzweifel und zahlreiche weibliche Dämonen der Vergangenheit stehen der Genesung im Wege. Ohne den ins Zimmer geschmuggelten Whisky wäre das alles nicht zu ertragen – bis ein ebenso entzückendes wie cleveres Fräulein zu Kästners Tischgesellschaft stößt. Während der alternde Schriftsteller den Weg aus der Misere sucht, wird Der Goldhügel allmählich zu seinem ganz persönlichen Zauberberg. Sprachgewaltig und mit feinem Humor taucht Tobias Roller in das Leben Erich Kästners ein und schafft die perfekte literarische Hommage - originell und doch ganz im Stil des großen Dichters.

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Seitenzahl: 240

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Tobias Roller

DER

GOLD

HÜGEL

Roman

Volk Verlag München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literaturagentur Kai Gathemann GbR.

S. 6: »Kleines Solo«, Abdruck mit freundlicher Genehmigung

© Atrium Verlag, Zürich, und Thomas Kästner

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de/ abrufbar.

© 2024 Volk Verlag München

Neumarkter Straße 23; 81673 München

Tel. 089 / 420 79 69 80; Fax: 089 / 420 79 69 86

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH, Rudolstadt

Alle Rechte, einschließlich derjenigen des auszugsweisen Abdrucks sowie der photomechanischen Wiedergabe, vorbehalten.

ISBN 978-3-86222-489-0

ISBN 978-3-86222-499-9

www.volkverlag.de

Dies ist ein Roman, obwohl es für einige seiner Figuren reale Vorbilder gibt. Sie und die hier geschilderten Ereignisse sind fiktionalisiert sowie alle weiteren Charaktere frei erfunden.

Einsam bist du sehr alleine. Aus der Wanduhr tropft die Zeit. Stehst am Fenster. Starrst auf Steine. Träumst von Liebe. Glaubst an keine. Kennst das Leben. Weißt Bescheid.

Erich Kästner, Kleines Solo (1947)

Inhalt

Blick ins Dunkel

Verbannung

Speisesaal im Abendrot

Er ist’s!

Der Blick fürs Wesentliche

In der Zelle

Auf dem Eis

Sonnenbad mit Fräulein

Eine Ansprache

Lotte ruft an

Der Professor lässt bitten

Begegnungen

Der Mann in der Mitte

Eine Aufgabe

Im Bade

Traum und Gespräch

Ein Brief

Dramolett im Park

Die Wolke

Post

Sturm vor einem Bild

Eine Predigt

Auf der Lichtung

Ein Mann im Schnee

Mensch unter Menschen

Sorge

Hinaufgeschaut!

Man unterhält sich

Wege ins Freie

Höllenhunde

Einer kehrt Heim

Tränen im Traum

Augen auf, Augen zu

Aufbruch

Schwankende Gestalten

Nachwort

Zitierte Werke

Weitere Quellen

Danksagung

BLICK INS DUNKEL

Wien, Oktober 1961.

Zu Hunderten sind sie in die Stadthalle gepilgert, um ihm zu huldigen. Er soll für sie lesen, sie erheitern und sie bewegen, im besten Fall auch dazu, über diese immer befremdlicher werdende Welt nachzudenken. Schließlich ist man ja nicht nur zum Vergnügen hier.

Er hatte sich auf vier Lesungen an vier Abenden in Folge eingelassen. Dabei war er schon nach dem ersten Auftritt so erschöpft, dass ihn beim Gedanken an den nächsten ein Gefühl der Beklemmung überfiel. Doch auch die zweite Lesung wurde zum Triumph. Während der dritten gab es manchmal Applaus inmitten seines Vortrags, sodass er aufs Neue ansetzen musste, was ihn aber keineswegs störte. Und jeder Abend war ausverkauft. Dagegen hat man nun mal kein vernünftiges Argument, auch nicht als prominenter Dichter.

Nun also das Finale. Er wird auch das überstehen.

Er lauert hinter dem Vorhang, den er ein wenig zur Seite schiebt, und sieht den einfachen Stuhl und den einfachen Tisch, die man ihm wieder auf die Bühne gestellt hat. Er wollte es so. Das Mikrofon ist auf ihn gerichtet wie ein Säbel. Auf hoher See hätte er dies als Schuldspruch zu werten, und mit diesem Urteil wäre er wohl einverstanden.

Bevor ihm der Blick wieder verschwimmt, wie so oft in den vergangenen Tagen, kneift er die Augen zusammen und versucht, Gesichter im Publikum zu erkennen. Er hofft auf einen hohen weiblichen Anteil. Doch das Scheinwerferlicht taucht den Zuschauerraum in ein diffuses Dunkel. Eigentlich sucht er vor allem nach einem bestimmten, dem geliebten Gesicht, doch Friedel ist auch heute nicht gekommen, natürlich nicht. Der Schluck aus dem schmalen Flakon, das er aus seiner Sakkotasche holt, betäubt die Enttäuschung für einen Moment.

Da überfällt ihn die nächste Attacke. Der Schmerz entflammt direkt unterhalb des Brustbeins und brennt sich dort so schneidend hinein, dass er sich krümmen muss – um sich doch gleich wieder aufzurichten, denn seine Not soll auch an diesem Abend niemand entdecken. Wie viele Tabletten sind es heute gewesen? Er weiß es nicht mehr. Sie helfen jedenfalls immer weniger gegen den verfluchten Schmerz im Bein und fügen ihm dafür einen weiteren im Magen zu. Das ist kein Leben, aber leben muss man ja, also hilft es nicht zu hadern und zu klagen oder gar sich zu offenbaren.

Man hat ihm eine Assistentin zur Seite gestellt. Sie ist so jung und so anmutig, dass ihm ganz flau wird, wenn er sie ansieht. Mit ihr hätte er gerne mehr ausgetauscht als freundliche Worte oder Überlegungen zum Auf- und Abtritt, zum Getränk, zur Art der Blumen oder der Beleuchtung. Ein Mädchen für alles und für alles doch nicht.

Die Assistentin tritt auf ihn zu, berührt ihn leicht an der Schulter und bedeutet ihm mit einem berückenden Lächeln, dass es an der Zeit sei.

So geht er hinaus in das Licht, das ihn auch heute wieder so sehr blendet, dass er den Blick senken muss.

Nachdem er unter großem Beifall Platz genommen und seine dunkelrandige Brille aufgesetzt hat, bemerkt er, dass seine Bücher noch in der Garderobe liegen. Er hat sie dort einfach vergessen. Für einen Moment rüttelt der Fluchtinstinkt an ihm. Doch da eilt schon die Assistentin herbei, legt sie ihm mit flinken Bewegungen auf den Tisch und ist gleich wieder hinter dem Vorhang verschwunden.

»Es war mir leider nicht möglich, die Texte bis heute Abend auswendig zu lernen«, kommentiert er die Szene für das Publikum und erntet das erste gut gelaunte Gelächter. »Das hat wohl auch meine freundliche Assistentin eingesehen«, schickt er hinterher.

Noch einmal wird gelacht, gefolgt von einem weiteren warmen Applaus, und als er das erste Buch aufschlägt und nach einem Räuspern zu seinem ersten Vortrag ansetzt, gerät er zusehends in einen wahren Leserausch. Vergessen ist bald jedweder Schmerz und die Angst vor weiteren Attacken. Vergessen ist für zwei Stunden auch die dumpfe Traurigkeit, die ihn schon lange begleitet, und sogar der quälende Gedanke, an anderen schuldig geworden zu sein. Er ist überrascht, wie sehr dieser Abend ihn beglückt, weil er die Liebe der Menschen spürt, zumindest die Liebe für seine Worte, vielleicht auch zu ihm selbst. Er vergisst darüber sogar zu rauchen.

So wünscht er, dieser Abend möge noch lange nicht enden.

Aber irgendwann endet er doch. Als der Schlussapplaus ertönt, erhebt der Umjubelte sich von seinem Stuhl, hält kurz inne, weil ihn ein jäher Schwindel überfällt, weiß dies jedoch mit einem Winken ins Publikum zu überspielen, während er die Stuhllehne kurz umklammert hält. Dann schreitet der König davon, zwar eher schlurfenden Schrittes, der verfluchte Ischias, doch das ihm überaus zugeneigte Volk wird stattdessen einen würdevollen Abgang erkannt haben wollen.

Auf dem Weg zu seiner Garderobe geht er durch ein Spalier aus Glückwunschbekundungen und Schulterklopfen. Dass er leicht schwankt, bemerkt man nicht. Der Gefeierte hingegen fühlt die nächste Attacke nahen. Entsetzlich langsam und doch unaufhaltsam kriecht sie in ihm herauf. Schnell schließt er die Garderobentür hinter sich, und als habe der Schmerzensteufel nur darauf gewartet, überfällt er den Geplagten mit Macht, sobald dieser in seinen Stuhl gestürzt ist. Das Brennen im Magen ist dieses Mal so unerhört, dass sich augenblicklich Dunkelheit vor ihm auftut. Als er zu Boden rutscht, reißt er das Deckchen auf dem Schminktisch mitsamt dem Blumenschmuck mit.

Als er in den weißen Laken eines Krankenhausbettes erwacht, blickt er in zwei Augen, die er sehr gut kennt, und in ein sehr vertrautes Gesicht. Er sieht den Versuch eines Lächelns darin und dann dessen klägliches Scheitern.

»Was machst du denn für Sachen«, sagt Lotte zu ihm.

»Ja, was mach ich denn für Sachen«, antwortet er, weil ihm nichts Geistvolleres einfällt, und schließt die Augen sogleich wieder, weil er nur noch schlafen will.

Endlich Ruhe.

VERBANNUNG

München, einige Wochen später.

In der Klinik hat man einen wochenlangen Reigen der Sorge aufgeführt, unermüdlich getanzt von Schwestern und Weißkitteln, die sich gebärdeten, als sei er dem süßen Jenseits näher als dem diesseitigen Jammertal. Auch die in Falten gelegte Stirn ist ihnen allen zu eigen gewesen. Selbst die an seinem Schicksal ach so interessierte Presse hat man nicht zu ihm vorgelassen. Na ja.

An manchen Tagen hat er noch nicht einmal in einen Spiegel geblickt, denn sogar die Rasur hat man ihm abgenommen. Er hätte sich wie eine Hoheit fühlen können, doch nach derlei Selbsterhebungen war ihm nicht zumute, weil ihm allzu oft reichlich elend war.

Zuletzt ist der Hofstaat emsiger denn je um ihn herumgeschwirrt. Mehrmals täglich hat man seinen Blutdruck genommen, seine Venen links wie rechts zwecks Erlangung immer neuer Blutwerte sorgfältig zerstochen und ihm schließlich mitgeteilt, er habe eine folgenreiche Begegnung mit einer gewissen Dame gehabt, die den unglücklichen Namen Tuberkulose trägt. So hätte er es jedenfalls selbst ausgedrückt, wäre er ein Arzt gewesen.

Lotte ist er im Moment der Verkündigung fast dankbar, weil ihr darüber geäußertes Entsetzen sein eigenes Erschrecken überdeckt. »Das ist ja nicht wahr«, entfährt es ihr, als der leitende Oberarzt das böse Wort ausgesprochen hat. Und dann noch: »Das ist doch nicht möglich!«

Sie taumelt, wird von einer Schwester zu einem Stuhl geführt und bekommt ein Glas Wasser. Auch der Puls wird ihr gefühlt. Der Patient und eigentliche Hauptdarsteller, den Lotte glatt an die Wand gespielt hat, kann sich unterdessen sammeln. Er nimmt sich vor, weiter den Gelassenen zu geben. Er hasst das Aufhebens, das man hier Tag für Tag um ihn gemacht hat. Mehr noch aber will er die eigene Angst verbergen.

Endlich Ruhe? Nicht die Bohne, würde Pony Hütchen wohl sagen, die ihm manches Mal einen Besuch abgestattet hat wie ein weiblicher Puck, während er durch nächtliche Schweißbäder ging und nicht genau wusste, ob er wachte oder träumte, und das keineswegs in einer Sommernacht, sondern mitten im tiefsten Winter. Tagsüber sehnte er sich nach seiner Schreibmaschine und fantasierte Szenarien, in denen er auf seinem Krankenlager munter auf sie einhackte, als sei nie etwas gewesen. Dichterurlaub im Krankenhaus. Das hätte ihm so passen können.

Er hat schon lange kein Kinderbuch mehr geschrieben. Dieser Wunsch beschleicht ihn immer häufiger. Spätestens seit sein Sohn geboren ist. Man denkt an das eigene zunehmend verbleichende Dasein und die Pflicht, dem Sohn, diesem späten Glück, etwas zu hinterlassen, das über Fotografien und Briefe hinausgeht, wenn er den bald Vierjährigen schon kaum sehen darf. Doch all diesem Sehnen, nach dem heimischen Arbeitszimmer gar, stellt sich der ärztliche Rat entgegen, dem er nun zu folgen hat.

»Ohne eine Kur in guter Luft und für lange Zeit werden Sie es nicht schaffen«, sagt der leitende Oberarzt streng zu ihm, selbstredend mit einer Faltenstirn, als dessen Entourage zur Abschlussvisite das Bett umringt.

Der beflissene Assistenzarzt fügt hinzu, als hätten sie es gemeinsam einstudiert: »Wir denken da ans Tessin. Im schönen Agra gibt es ein vorzüglich geleitetes Sanatorium auf dem Collina d’Oro, dem Goldhügel. Es hat schon manch prominenten Gast beherbergt, Herrn Bertolt Brecht zum Beispiel.«

Er erinnert sich des Kollegen aus Augsburg, den er wenig schätzt. Es überrascht ihn, dass ein Mediziner den Namen Brecht überhaupt kennt, denn Mediziner hält er für eine Spezies, die der Blick über den Tellerrand zumeist nicht weiter schert. Ein Urteil, das er wohlweislich für sich behält. Dennoch kommt er nicht umhin zu sagen: »Das hat dem werten Herrn Brecht bekanntlich nicht viel genützt. Er weilt ja längst schon nicht mehr unter uns.«

Nach dieser Bemerkung schweigt man allseits für einen Moment, vielleicht betreten, vielleicht überrascht oder gar empört. Eine der Schwestern nur muss sich ein Lachen verkneifen, was allein er zu bemerken scheint. Er freut sich darüber, aber mindestens ebenso sehr über den Anblick ihres wohlgeformten Körpers.

Lotte, welche die ganze Zeit seine Hand eher zu fest gehalten hat, reißt die Situation in ihrer unnachahmlichen Art wieder an sich: »Da gibt es ja gar kein Überlegen, Herr Doktor. Wir sind überaus dankbar für Ihre Empfehlung. Selbstverständlich gehen wir dorthin.«

Dabei hat sie den blassen Gefährten im Krankenbett nicht angesehen, aber seine Hand umso fester gedrückt. Sie hätte sich als Schraubzwinge verdingen können.

Auf die Stirn des Patienten ist wieder etwas Schweiß getreten und der Ischiasnerv, dieser Teufel, grüßt ihn wenig freundlich, wie er es gerne tut, wenn es Unannehmlichkeiten zu ertragen gilt. Wir sind also dankbar und wir gehen selbstverständlich dorthin. Dem ist dann wohl nichts hinzuzufügen. Über wohlfeile Widerworte braucht er gar nicht erst nachzudenken. Man will natürlich sein Bestes, und jedermann außer ihm selbst weiß offenbar ganz genau, wie es definiert ist.

Und so ergibt er sich und blickt seiner Entsendung in die Verbannung mit einer Angst entgegen, die er selbstredend niemandem offenbaren wird.

Nun könnte er ein Schlückchen gebrauchen.

SPEISESAAL IM ABENDROT

Agra, Februar 1962.

Wenn er ganz still am großen Fenster des Speisesaals sitzt und sich nicht bewegt, nur auf den See sieht, der sich zwischen den weiß bedeckten Bergen nach links krümmt, spürt er fast nichts. Ruhig schlägt sein Herz. Er kann atmen. Und wenn er die Luft nur ganz vorsichtig in sich hineinlässt und wieder hinaus, kann er das Rasseln in seiner Lunge überlisten, das ihn auch während seiner nächtlichen Grübeleien heimsucht. Doch sobald er sich der Rede erinnert, die der Professor ihm beim Aufnahmegespräch gehalten hat, als dieser wohl erkannte, welch widerwilligen Patienten er da vor sich hatte, rasselt es gewaltig.

»Sie werden uns für eine ganze gute Weile beehren – aber das ist ja schön! Wir freuen uns über unseren prominenten Gast! Und Sie, Sie sollten sich ebenfalls freuen, denn nun haben Sie Zeit, wieder ganz der Alte zu werden. Hier werden Sie erstarken und gesunden. Willkommen in Agra! Willkommen in unserem Haus!«, frohlockte der Mann, klopfte seinem neuen Patienten immer wieder auf die Schulter und strahlte ihm ins blasse Gesicht.

Ganz der Alte. Er weiß gar nicht, ob er das noch einmal werden will. Eigentlich möchte er nur bald wieder zu Hause an seinem Schreibtisch sitzen, sinnieren, schreiben, rauchen, ein gepflegtes Getränk zu sich nehmen und von niemandem behelligt werden, der nichts Gutes mit ihm vorhat.

Immer wieder muss er nach den Zigaretten in seiner Sakkotasche tasten, nur um zu prüfen, ob sie noch da und nicht etwa herausgefallen sind und ihn verraten könnten. Er kommt sich vor wie ein Pennäler.

Hinter dem Haus oder auf einer Bank in einem nahen Tal könnte er endlich wieder die Sensation empfinden, wenn der Rauch seine Lungen füllt, er ihn dann wieder langsam aus Mund und Nase herausströmen lässt. Doch er weiß ja, mein Gott, er weiß, dass er es nicht soll und sich mit dem unweigerlich folgenden Hustenanfall nur selbst bestrafen würde. Das würde ihm eine Laune bereiten, in der er sich selbst nicht leiden könnte. Und weil er sich lieber leiden können will, übt er sich so lange im Verzicht, bis ihm der Ausflug in die Askese schlimmer aufs Gemüt schlägt als jeder Hustenanfall. Spätestens vor dem Zubettgehen wird er sich ans geöffnete Fenster seines Zimmers setzen und den Mond anrauchen. Er kann es eben doch nicht lassen und er will es auch nicht. Was soll man machen?

Irgendwann hat er sich am Panorama der bald verdämmernden Landschaft sattgesehen. Da taucht der Collina d’Oro in ein sanftes Rotgold ein, das sich bis in den Speisesaal ergießt. Zumindest diesen Augentrost lässt er sich gefallen. Es blickt sich schon erstaunlich erhaben in eine solche Weite.

Hier soll er nach diesem verfluchten Zusammenbruch samt Diagnose, die ihn erschüttert hat, gesunden. Er zweifelt aber, ob ihm das gelingen wird. Um sich einen Zustand der Genesung vorstellen zu können, fühlt er sich zu lange schon zu matt und zu müde. Ein älterer Herr, der genügend hinter sich und wohl nicht mehr viel vor sich hat, das ist er nun. Sein Spiegelbild beklemmt ihn schon seit einiger Zeit. Dort sieht er genau, dass seine Augen den blitzenden Glanz vergangener Tage verloren haben. Schlaff und grau geworden ist die Haut und im Gesicht haben sich rötliche Äderchen gebildet, die eines Don Juan kaum mehr würdig sind.

Man zieht Bilanz, betrachtet das Ergebnis und merkt, dass man das Bilanzziehen besser hätte bleiben lassen.

Noch nicht einmal die Liebe will ihm gelingen, aber gelungen ist sie ihm ja noch nie. Nicht die zu Lotte, nicht die zu Friedel, seinen Lebensfrauen 2 und 3. (Ilse, die erste große Liebe, hat einen gesonderten Ehrenplatz ohne Rang.) Mit jedem Tag, an dem er sich wieder nicht für eine der beiden entschieden hat, beschmutzt er sie nur noch mehr. Die eine betrügt er mit der anderen, der feine Herr Moralist. Das haben sie nicht verdient, wenigstens Friedel nicht, und er weiß es gut genug. Wie lange machen sie das wohl noch mit? Doch er kann nicht anders, weil er keine der beiden verlieren will, und dass weder Lotte noch Friedel ihn bislang verlassen haben, wundert ihn. Und es schmeichelt ihm auch.

Verließe ihn Lotte, wäre er endlich frei. Doch das wird sie nicht tun. Verlöre er jedoch Friedel, wüsste er nicht mehr gesichert, warum er weiterleben sollte. (Das fragt er sich ohnehin immer häufiger.) Was für ein verflixter, ein lebenslänglicher Schlamassel.

»Und daran bist du selber schuld«, verflucht er sich oft genug dafür.

Die Mama, die Nummer 1, ist seit über zehn Jahren tot, in ihm jedoch noch ausgesprochen lebendig. Weiß er, dass ihr ewiger Platz auf dem Siegertreppchen der Grund für sein Scheitern als Liebender ist? Mit beiden Händen hält sie Nummer 2 und 3 von ihm fern, das liebe, gute Muttchen, die Liebe seines Lebens, immer schon und immer noch.

Hinter sich hört er, wie man die Tische für das Abendessen eindeckt, auf das er aber einmal mehr keinen Appetit hat. Wenn er schon nicht rauchen kann, soll ein kräftiger Schluck aus der Flasche in seinem Kleiderschrank ein Trost sein. Dort hat er sie ganz weit nach hinten gestellt und davor seine Schals und den Hut kunstvoll drapiert. Der bis auf Weiteres beruhigende Vorrat an Whisky und Zigaretten liegt in einem eigens dafür verwendeten Koffer, der ganz unschuldig in der Ecke steht. Trotzdem muss er jedes Mal, wenn er zurückkehrt in sein Zimmer, das er insgeheim Zelle nennt, den Bestand überprüfen. Er traut den gestrengen Schwestern nämlich zu, dass sie die Zimmermädchen anweisen, nicht nur ihrem ursprünglichen Geschäft nachzugehen. Haben sie Anlass zu einem Verdacht, wird ihnen gegebenenfalls Meldung zu machen sein, die wiederum den Professor zu erreichen hätte. Nicht auszudenken, wenn der ihm in der nächsten Sprechstunde, den Triumph im Blick, eine selbstverständlich ausgeleerte Flasche oder sein Zigarettenetui präsentieren würde. Das wäre wohl ein Grund, wieder nach Hause fahren zu müssen. Da würde er sich lieber gleich von selber verabschieden, bevor man Gelegenheit hätte, ihn unehrenhaft zu entlassen beziehungsweise wegen groben Verstoßes gegen die Hausregeln hinauszukomplimentieren.

Unerfreuliche Schlagzeilen in der Heimat gilt es ja zu vermeiden. Dichterfürst aus Sanatorium gewiesen, könnten die Schmierfinken vom Boulevard schreiben, die Schande der Zunft, der er doch selbst einmal angehörte. Dann hätten sie ihn am Schlafittchen, dann wäre der Lack wohl ab vom großen Moralisten und verehrten Kinderbuchautor.

Aber ist er das denn noch? Man liest ihn ja schon weniger. Er kennt die Zahlen und zieht den Schluss: Die Deutschen brauchen ihn nicht mehr. Und die Kinder? Ach, die Kinder … Was hat ein älterer Herr ihnen denn noch zu sagen? Und er sagt oder schreibt ja auch kaum mehr etwas an ihre Adresse. Er lässt sie zusehends im Stich, seine lebenslange Lieblingsleserschaft.

So geht ihm buchstäblich die Luft aus, und mit ihr verschwinden auch die Worte, noch bevor sie den Weg aufs Papier gefunden haben. Die Hülle der Schreibmaschine, die oben auf dem schmalen Tischlein unweit des Betts steht, hat er noch gar nicht entfernt, seit er vor wenigen Tagen in Agra angekommen ist.

Er nimmt Gerüche aus der Küche wahr, die ihm nicht gefallen. So verordnet er sich noch etwas Zimmerzeit, bevor die Pflichtübung des Abendessens beginnt. Als er sich langsam am Sims nach oben stemmt, um den Fensterplatz zu verlassen, verspürt er einen leichten Schwindel. Zum Glück weiß davon nur er selbst. Und niemand soll sehen, dass er beim Gang hinauf in sein Zimmer den Halt am Geländer benötigen wird.

Es sieht ihn auch niemand. Das Haus zeigt sich am späten Nachmittag so leer und still, als sei er dort allein. Und er wünschte, er wäre es auch. Na ja. Der große Schluck aus der Flasche hinter den Seidenschals und dem Hut und das immer noch wunderbare Brennen in der Kehle machen endlich alles etwas erfreulicher.

Die Tage in der Münchner Klinik waren schlimm im vergangenen Jahr. Und sie wurden erst besser, nachdem Lotte ihm ein schmales, elegant mit Leder ummanteltes Fläschchen mitgebracht hatte, das er in der Nachttischschublade deponierte. Sie war kundig genug gewesen, eine Packung Pfefferminzbonbons dazuzulegen, extra stark. Sie kennt sich aus mit der Vertreibung des Unwillkommenen. Auch um den Nachschub musste er sich nicht sorgen. Für das Enderlein, wie er sie insgeheim nennt, hätte er dies ebenfalls getan. Nicht viel mehr außerdem, aber das allemal.

»Na, alter Knabe«, sagt er, als er an seinem Spiegelbild am Waschbecken vorbeikommt, »ob du wohl noch mal auf die schmalen Beinchen kommst? Alle geben sich so viel Mühe mit dir, nur du selber nicht. Du gibst dir keine Mühe. Wenn da mal niemand dahinterkommt.«

Selbstgespräche führt er gerne. Er findet sie tröstlich und ungefährlich, weil ihm da niemand dreinreden kann. Höchstens er sich selbst.

Danach widmet er sich ausgiebiger Zahnhygiene zwecks der Vertreibung verdächtiger Ausdünstungen, bevor er den Gang zurück in den Speisesaal antritt. Dort wird er wieder einmal nichts oder kaum etwas essen, eine Portion Salat vielleicht. Immerhin zeigen will er sich aber, sodass niemand Verdacht schöpft, wie es tatsächlich in ihm aussieht. Glücklicherweise ist er gut geübt darin, sich nicht hinter die Fassade blicken zu lassen. Das fehlte noch.

ER IST’S!

Er muss es sein. Die junge Frau, eine Fabrikantentochter aus Wörth am Rhein, sieht ihn im Foyer, nur wenige Meter entfernt. Zwar trägt er einen Hut und einen Mantel mit hochgeschlagenem Kragen, doch als sie hört, wie die Dame am Empfang ihn mit seinem Namen anspricht, ist jeder Rest an Zweifel verflogen. Ihr ist, als schwanke der Boden unter ihren Füßen. So tastet sie nach einem Stuhl, der hinter ihr steht, und lässt sich langsam darauf nieder. Währenddessen kann sie den Blick nicht von ihm wenden, ja, von ihm, dessen Gedichte sie liebt wie keine anderen sonst und von dessen Romanen sie gelebt und sich an ihnen gelabt hat, seit sie lesen kann.

Dank des Aufenthalts auf dem Goldhügel hat sich die junge Frau von einer schweren Pneumonie beinahe in Gänze erholt. Nun durchströmt sie ein pures Glücksgefühl, das ihre Lungen neu belebt. Er ist wirklich hier!

Ein Karussell an Gedichten beginnt sich in ihrem Kopf zu drehen. Sie könnte jedes davon augenblicklich aufsagen und wüsste dennoch nicht, welches am geeignetsten wäre, so sie ihn mit einem solchen ansprechen und begrüßen wollte. Doch schon im nächsten Moment sinkt ihr Herz: Ihn ansprechen und begrüßen? Einfach so? Wie könnte sie? Sie ist eine Tochter aus gutem Hause, dem wohl bekannt ist, was sich gehört. Dann wiederum weiß sie nicht, wie sie es ertragen sollte, ihn hier zu wissen, ohne wenigstens einmal seine Nähe zu suchen und ihm zu danken für unzählige Stunden des Glücks, die er ihr mit seiner Dicht- und Fabulierkunst beschert hat. So nahe wird sie ihm wohl nie wieder kommen.

Es wird nicht mehr lange dauern, bis sie die Heimreise antreten muss, und sie weiß schon jetzt, dass sie jede noch übrige auf dem Goldhügel zugebrachte Sekunde mit sich ringen wird, ob sie ihn weiter still verehren oder behelligen soll. Letzteres brennt nun in ihr als Sehnsucht, doch dann versteht sie, und es wird ihr schwer zumute: Der Dichter ihres Lebens ist nicht etwa zu einer Lesung hier, sondern als Patient.

In diesem Moment nimmt er seine schwarz umrandete Brille ab, schenkt der Dame an der Rezeption ein Lächeln, das die junge Frau sofort eifersüchtig macht, tippt sich zum Abschied an den Hut und wendet sich zum Gehen.

Da sieht er sie auf dem Stuhl und hält inne. Die junge Frau hält die Wangen mit ihren Händen bedeckt, um sie zu kühlen.

Er sieht blass und müde aus. Von den Porträts auf den Büchern, die sie immer wieder heimlich geküsst hat, kennt sie ihn anders. Doch sein Blick wird wach, als er sie durch seine Brille betrachtet, als kenne er sie, wisse aber nicht, woher. Sie hingegen ist fast einer Ohnmacht nahe. Zugleich hat sie nun Gewissheit, dass es ihr unmöglich sein wird, bis zu ihrer Abreise zu schweigen.

Vielleicht ließe sich ja eine Möglichkeit finden, an seinen Tisch im Speisesaal zu wechseln. Wenn sie allen Mut zusammennähme, könnte sie die Servierdamen danach fragen. Ihrer bisherigen Tischgesellschaft ist sie ohnehin überdrüssig.

War es ein Lächeln, das sie für einen Augenblick auf seinen Lippen gesehen hat? Hat der Dichter es nun auch ihr geschenkt?

Als er weitergeht, bemerkt sie seinen schweren Schritt.

DER BLICK FÜRS WESENTLICHE

Seine kleine Tischgesellschaft weiß er vortrefflich zu unterhalten. Dabei holt er noch einmal den ganzen Charme vergangener Tage hervor. Mit einem gewissen Vergnügen sieht er dann, wie die Dame zu seiner Rechten, die Gattin eines Richters a. D. aus Bad Oldesloe, auf seine Komplimente mit einem so vorsichtigen Lächeln reagiert, als könnte sie dabei ertappt werden. Man erkennt einander, denn sie ist, wie er, Mitglied des Tuberkulose-Clubs und hüstelt immer wieder in ihr stets gezücktes Seidentuch hinein, den Kopf geneigt, als habe ihr das unangenehm zu sein. So lobt er ihre hübsche Brosche, von der er sagt, sie müsse von Lilienhänden gefertigt worden sein, weil sie der Frau des Richters a. D. so viel Anmut verleiht.

Zu seiner Linken sitzt doch tatsächlich seit heute das Fräulein vom Foyer, von Nahem betrachtet ein junges Ding von vielleicht zwanzig Jahren. Das findet er höchst erfreulich. Bis gestern hatte noch ein älterer Herr den Platz gewärmt, der kuriert abgereist ist.

Es ist ihm nicht entgangen, mit welch ungläubigem Blick seine junge Tischnachbarin ihren Sitz eingenommen hat, und es entgeht ihm auch nicht, wie sie ihn seitdem wieder und wieder von der Seite ansieht. Und es ist auch nicht zu übersehen, wie interessiert sie ihm zuhört, wenn er nun von jungen Jahren erzählt, als er ein toller Hecht, ein lebensfroher Kerl war.

»Diese Geschichten lassen so wunderbare Bilder in mir entstehen, ganz wie beim Lesen«, bricht es aus der jungen Frau heraus, als er von den Berliner Cafés der Zwanziger erzählt und dabei wohlweislich diejenigen Episoden ausspart, die sich vorzugsweise nach Anbruch der Dunkelheit ereignet haben.

»Das freut mich«, entgegnet er als Versuch, keinen eitlen Eindruck zu erwecken.

Doch dann sieht dieses erstaunliche Fräulein ihn an, wie ihn schon lange kein weibliches Geschöpf mehr angesehen hat, und sagt keck: »Man hätte Sie schon damals kennen mögen.«

»Ich weiß nicht, ob man sich das wünschen sollte«, wendet er ein und versucht, die Bilder längst vergangener Sünden sogleich wieder aus seinem Gehirn zu verscheuchen. Es gelingt ihm nur leidlich.

»Wer kann schon genau wissen, was ich mir wünsche«, erwidert die junge Frau.

»Seien Sie vorsichtig mit Ihren Wünschen, bevor sie am Ende noch in Erfüllung gehen«, rät er ihr und vermeidet dabei, dem Blick der Richtersgattin zu begegnen.

Als die junge Dame ihm sagt, dass sie sein Werk fast vollständig kennt, fällt es ihm nicht leicht, zu verbergen, wie sehr ihm all diese unverhoffte Zuneigung schmeichelt. Dass gerade sie beide nun an diesem Tisch zusammensitzen, hält er kaum für einen Zufall, denkt aber auch nicht weiter darüber nach. Vielmehr beschäftigen ihn die Grübchen, die sich auf den Wangen der jungen Frau bilden, wenn sie lächelt, und eigentlich lächelt sie die ganze Zeit, vor allem, wenn er zu ihr spricht. Wie von selbst wandert sein Blick aber auch zu den Wölbungen ihrer Brüste. Sein Magen wird ihm dabei auf angenehme und wohlvertraute Weise flau. Viel hat sich zuletzt für ihn eingetrübt, nicht aber der Blick fürs Wesentliche.

Die junge Dame greift sich währenddessen immer wieder mit sanften Bewegungen ins Haar. Wie sie mit geneigtem Haupt ihre Steckfrisur zurechtrückt und dabei den Dichter heimlich von unten ansieht, lässt ihn nicht kalt. Und er stellt fest, dass er auch ihr ein bisschen gefallen will, sogar ein bisschen mehr, als ihm lieb sein kann.

»So geht es eigentlich nicht, alter Knabe«, sagt er im Stillen zu sich. »Oder geht es vielleicht genau so?«

Kurz nur gleitet sein Blick vom Fräulein ab und schwenkt, nun recht ermuntert, nach rechts. Als er jedoch ein Misstrauen in den Augen der Richtersgattin bemerkt, kehrt er zurück zu harmlosen Anekdoten rund um das Journalistenleben und umschifft allzu Persönliches elegant. Er hätte auftrumpfen können, doch die Zeiten, in denen er das tat und damit erfolgreich war, sind lange vorbei.

Froh ist er auch, dass die beiden Damen entweder nicht kundig genug sind oder ausreichend Benimm haben, um nicht etwa nach dem Nachtgesang-Skandälchen zu fragen. Seinerzeit hatte man ihm bei der Neuen Leipziger Zeitung wegen der angeblichen Anstößigkeit dieses Gedichts gekündigt, nur weil darin ein lyrisches Ich eine Gespielin wie ein Cello zwischen die Knie nehmen will (und sie hatten die tatsächlich frivole Version, wie sie ihm vorgeschwebt hatte, noch nicht einmal gekannt). Diesen Schwank gäbe er allenfalls in einer so zigarrenrauchvernebelten wie vertrauenswürdigen Herrenrunde zum Besten.

Er strengt sich also an, denn solange er die Konversation zwischen ihm und den Damen lenkt, ja, geradezu bestimmt, was ihn, den sonst so Zurückhaltenden, an sich selbst erstaunt, bemerken sie nicht, dass er währenddessen kaum etwas zu sich nimmt. Und solange er den Unterhalter gibt, kann er auch nicht nach seinem werten Befinden gefragt werden, zumal er darauf nichts Brauchbares antworten könnte, außer vielleicht bescheiden, und damit würde er die Wahrheit allenfalls andeuten. »Ein Mann gibt keine