Der Golemkrieg 1 - Timo Luksch - E-Book

Der Golemkrieg 1 E-Book

Timo Luksch

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Beschreibung

Ohne Vorwarnung überzieht eine fremde Macht das Land mit Krieg und vernichtet das friedliebende Volk der Arlia beinahe vollständig. Nur eine göttliche Barriere bewahrt die letzten Überlebenden vor der totalen Vernichtung. Doch der Feind sucht nach einer Schwachstelle. Auch der Prinz der Arlia, Darak il menoa, ausgesandt auf den Pfaden einer alten Prophezeiung, um das drohende Unheil abzuwenden, wird bereits verfolgt. Ein atemloser Kampf gegen die Zeit an allen Fronten beginnt. Und während Darak sich seinem Schicksal stellt, spinnt der Feind im Hintergrund seine Intrigen ...

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Seitenzahl: 733

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Der Golemkrieg
Teil 1
Timo Luksch
Erschienen im novum pro Verlag
Impressum
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.
Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und -auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.
© 2010 novum publishing gmbh
ISBN Printausgabe: 978-3-99003-172-8
ISBN e-book: 978-3-99003-737-9
Lektorat: Silvia Zwettler
Gedruckt in der Europäischen Union auf umweltfreundlichem, chlor- und säurefrei gebleichtem -Papier.
www.novumpro.com
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Saga von Licht und Schatten – Band I – Das Geheimnis der steinernen Herzen – Erstes Buch
Kapitel I – Der Schatten erhebt sich
Gatora, die größere der beiden Sonnen Dorodians, schickte sich gerade an, hinter dem Horizont zu verschwinden. Ihre kleinere Schwester Salune würde ihr in einiger Zeit nachfolgen. Noch beherrschte das gleißende weiße Licht Gatoras das Bild. Selbst Salune war im hellen Strahlen ihres Zwillings kaum auszumachen.
Traditionell war zwischen den Sonnenuntergängen der Schwestern die Zeit, in der sich die meisten der Bewohner des Arliareiches zur Ruhe begaben. So auch in Mejrun, einem kleinen Dorf am Rande des Hejengowaldes. Talaris bestieg gerade die Leiter, die zum Aussichtsturm hinaufführte, wo er einen langweiligen Wachdienst vor sich hatte. Mit hundertfünfundzwanzig Zyklen war er noch jung für einen Arlia, die leicht achthundert erreichten, doch seine erste Weihe hatte er mit Erfolg bestanden. Alle hundert Zyklen nämlich durfte sich jeder Arlia einer besonderen Aufgabe stellen, die entweder durch Mut, Stärke oder Weisheit gemeistert werden konnte. Meist aber gehörte von allem etwas dazu, um zu bestehen. Mit jeder erfolgreichen Weihe war es dem Arlia gestattet, neue Aufgaben in der Dorfgemeinschaft zu übernehmen. Die Ehre der Wache gehörte zu den ersten. Anfangs hatte sich Talaris unbändig darauf gefreut, war stolz darauf gewesen, sich „Wächter der dunklen Hälfte“ nennen zu dürfen. Im Volk bezeichnete man die dunkle Hälfte als Sonnenschlaf. Sonnenlauf und Sonnenschlaf wechselten sich ab und bildeten zusammen einen Umlauf. Nachdem er jedoch inzwischen unzählige dieser ehrenhaften Wachdienste hinter sich hatte, empfand er sie mehr als Qual, denn die Zeit bis zum Sonnenaufgang wollte und wollte einfach nicht verstreichen.
Seufzend nahm er auf einem Schemel Platz und sah hinüber zum Horizont, wo Gatoras letzte Strahlen gerade hinter den Bergen im Nordosten verschwanden. Somit übernahm Salune nun für einen kurzen Moment das Regiment am Himmel. Ein sonderbares Rätsel wurde von den Zwillingssonnen gehütet. Während Salunes Licht Wärme spendete und einen erblinden ließ, blickte man zu lange zu ihr hinauf, zeigte Gatora keinen dieser Effekte. Und das, obwohl sie gut dreimal größer war als Salune. Dafür konnte ein Blick zu Gatora hinauf das Herz mit neuem Mut füllen. Talaris hatte sich oft während des Sonnenschlafs den Kopf darüber zerbrochen, weshalb dies so war, doch das hatten bereits Generationen von weisen Arlia vor ihm getan, ohne zu einem Ergebnis gekommen zu sein.
Unten im Dorf wurde es jetzt sehr ruhig. Die meisten Bewohner hatten sich bereits in ihre Betten zurückgezogen, und nur noch vereinzelt quoll Rauch aus den Schornsteinen kleiner, beschaulicher Fachwerkhäuser. Drüben auf dem See dümpelte friedlich ein kleines Ruderboot, und die seichten Wellenkämme nahmen während der Dämmerung ein glitzerndes Funkeln an. Wenn Salune noch etwas weiter sank, verlieh sie der Wasseroberfläche die Farbe roten Weines, auf der sich silbrig glänzende Wellenkämme kräuselten.
Talaris erhob sich, streckte seine Glieder und blickte rundherum über die Landschaft. So weit sein scharfes Auge sehen konnte, erstreckten sich Wiesen und Felder vor ihm, über die der laue Wind strich. Spielerisch wogten die Ähren und Gräser hin und her und erfüllten die Luft mit einem angenehmen Rauschen. Das eintönige Bild wurde nur durch den kleinen See im Osten und den Hejengowald im Norden unterbrochen. Ein Feldweg führte nach Westen, nach Neg’jaech, der nächsten größeren Siedlung. Es dauerte beinahe einen ganzen Sonnenlauf, um von Mejrun dorthin zu gelangen.
Während eines Sonnenschlafs hingegen war niemand auf den Wegen und Pfaden unterwegs, doch hin und wieder kamen wilde Tiere nahe an die Siedlungen heran. Es war die Aufgabe der Wächter der dunklen Hälfte, diese Tiere fernzuhalten. Mit ihrer angeborenen magischen Begabung bedienten sich die Arlia zumeist einfacher Lichtblitze, um die Kreaturen zu erschrecken und zu verscheuchen. Nur selten waren sie gezwungen, zu Pfeil und Bogen zu greifen.
Es wurde jäh dunkel, als Salune hinter den Bergen verschwunden war, und die Dunkelheit breitete sich ungehindert über das Himmelszelt aus. Auch die Temperaturen sanken jetzt deutlich. Die Grillen verstummten langsam und überließen das Feld gänzlich den Kreaturen der dunklen Hälfte, die sich nun aufmachten ihren Beschäftigungen nachzugehen. Seufzend ließ sich Talaris auf den Schemel sinken. Er überlegte, was er tun sollte. Den Turm durfte er nicht verlassen, obwohl das nahe Rauschen des Sees zu einem Bad einlud. Bis die Sterne zu sehen waren, würde es noch ein wenig dauern, und auf „Tierstimmenraten“ hatte Talaris nicht so recht Lust.
Ein scharfer, schriller Schrei aus dem nahe liegenden Wald ließ ihn aufhorchen: ein Hejengovogel, der bis zum Waldrand gekommen war. Das versprach Abwechslung. Die Tiere, die dem Wald seinen Namen gegeben hatten, lebten sonst sehr zurückgezogen im undurchdringlichen Zentrum des Waldes. Nur selten verirrten sie sich in die Nähe von Mejrun. Und noch seltener trafen sie sich in Hörweite, um zu streiten. Hejengovögel zankten von Natur aus um alles, worum man kämpfen konnte. Ob es um Futter ging, den nächsthöheren Ast, etwas Nistmaterial oder einfach nur um des Streitens willen, ereiferten sich die Vögel oft viele Sonnensprünge lang und versuchten sich gegenseitig an Lautstärke zu übertreffen. Diese Eigenart hatte ihnen auch den unschönen Beinamen „Terrorvögel“ eingebracht, und Talaris war sicher, daß sich die meisten Dorfbewohner jetzt fluchend die Ohren zustopfen würden, um schlafen zu können. Den Wald selbst konnte man ohnehin nur mit versiegelten Ohren betreten, denn vom Gekreische der Hejengovögel ging eine seltsame Magie aus. Sie haßten es, wenn jemand in ihren Wald eindrang, und beschimpften ihn aus sicherer Entfernung zu Dutzenden von allen Seiten. Wer dieser Beschallung länger ausgesetzt war, verlor restlos die Orientierung, und zudem verwirrte das Gezeter die Sinne. Hier oben vom Turm aber konnte Talaris gefahrlos dem Treiben lauschen. Es mußten vier Vögel sein, die miteinander wetteiferten, zumindest vermutete der Arlia das. Manchmal konnte man sogar aus der Art des Streits heraushören, worum es ging. Um Futter wurde weit heftiger gerungen als um einen besseren Sitzplatz. Plötzlich änderte sich der Rhythmus des Streits. War es gerade noch der Reihe nach stetig lauter geworden, zeterten die Tiere nun zusammen gegen ein einziges Ziel. Offenbar hatten sie sich gegen einen gemeinsamen Feind verbündet, den sie nun vertreiben wollten. Vielleicht brach ein wilder Eber durch das Unterholz? Talaris lehnte sich über die Brüstung und machte seine Augen zu Schlitzen. Zwar konnten Arlia während der dunklen Hälfte sehr gut sehen, doch bis zum Waldrand war es einfach zu weit. Verwundert richtete sich Talaris auf. Der oder die Eindringlinge ließen sich von dem Gekreische nicht vertreiben, das mit unverminderter Stärke anhielt. Plötzlich kamen weitere Vogelstimmen dazu. Talaris konnte mindestens neun Tiere auseinanderhalten. Was war da nur los?
Das Geschrei ebbte nicht ab. Im Gegenteil. Weitere Vögel kamen dazu. Aber was veranlaßte sie, das Zentrum des Waldes zu verlassen und an den Waldrand zu kommen? So etwas war noch nie geschehen. Langsam griff Talaris zum Klöppel für den Gong, mit dem er das Dorf warnen konnte. Noch niemals zuvor war dieser Gong geschlagen worden, dafür klopfte Talaris’ Herz bis zum Hals. Was, wenn er jetzt, nur weil die Vögel verrückt spielten, das ganze Dorf in Panik versetzte? Und würden sie ihn überhaupt hören? Mit Sicherheit schliefen die meisten von ihnen mit zugestopften Ohren.
Ein schwirrendes Geräusch kam schnell von hinten an ihn heran, doch bevor er reagieren konnte, war es bereits zu spät. Von der Wucht eines Pfeils getroffen wurde Talaris gegen die vordere Brüstung geschleudert. Sofort breitete sich ein pelziges Gefühl über seine Schulter aus, das schnell seinen Rücken hinunterkroch und von seinen Beinen Besitz ergriff. Es mußte ein schnell wirkendes Betäubungsgift sein. Talaris taumelte, stolperte und fiel der Länge nach auf den Holzboden des Turmes. Durch eine Ritze in der südlichen Brüstung fiel sein Blick auf die Wiesen. Dutzende dunkle Gestalten kamen langsam auf das Dorf zu. Talaris spähte genauer hin. Das Gift trübte bereits seinen Blick. Nach der Art ihrer Erscheinung und ihrem Gang zu urteilen, mußten es Morsakk sein. Aber sie waren irgendwie viel größer als alle Morsakk, die Talaris je gesehen hatte. Und überhaupt, was hatten die Morsakk für einen Grund, sie zu überfallen? Seit Tausenden von Zyklen lebten sie in Frieden mit den Arlia. Er sah zum Gong hinauf, der nur eine Armlänge über ihm hing. Er nahm den Klöppel, doch vor seinen Augen schien sich der Gong immer weiter von ihm zu entfernen. Das Gift forderte seinen Tribut, und Talaris wurde hinuntergezogen in ein tiefes Verlies seiner selbst, wo ihn die Ohnmacht wie eine Spinne im Netz erwartete und über ihn herfiel. Seine letzten Gedanken kreisten um seine Eltern, dann wurde es dunkel.
Ein schwarzer, schlanker Schatten zog pfeilschnell über die Hochebene von Irennan. Die Bauern auf den Feldern sahen hinauf in den Himmel und winkten ihrem Prinzen zu, der auf seiner Flugechse einen Ausritt unternahm. Darak il menoa, Sohn des Lorasar il menoa, der auf dem Arliathron saß, lenkte sein Reittier gen Norden. Die Hauptstadt Tahadar gmoija hinter sich lassend raste Darak auf die Schule der Weber, Silior degor, zu. Deren fünf Türme erhoben sich majestätisch auf einem Berghang, neben denen ein breiter, befestigter Weg aus der Hochebene hinunter zu den Wiesengründen führte. Der Rai takal schlängelte sich ebenfalls ins Tal hinunter, doch sein Wasser hatte sich einen direkteren Weg gesucht als die Arlia für ihre Straße. Die Hochebene von Irennan wurde durch das heilige Gebirge schützend wie ein Hufeisen umspannt. Die Hauptstadt war an einem Punkt südöstlich in dieser natürlichen Pfanne aus Stein errichtet worden. Das hatte den Effekt, daß wenn Gatora auf der richtigen Seite aufging, sie den Wolkendorn überstieg und das Tal mit Licht flutete, ihr Strahlen auf die quarzbedeckten Stadtmauern traf und die ganze Stadt aufblitzen ließ. Der Wolkendorn war der höchste Gipfel, den man von hier aus ausmachen konnte. Das heilige Gebirge selbst erstreckte sich noch viel weiter nach Süden, doch ein Gebot ihres Gottes Tiar untersagte den Arlia, einen Fuß in die höheren Regionen der Berge zu setzen. Ein uraltes Unheil würde dort schlummern und dürfe nicht geweckt werden. So tönte es seit Urzeiten aus den heiligen Schriften und Überlieferungen ihrer Ahnen.
Die Landschaft raste unter Darak dahin. Er lenkte seine Flugechse etwas nach Osten, an der nördlichen Gebirgsgrenze entlang zu den undurchdringlichen Wäldern von Ter’naral, was soviel wie „Bäume soweit das Auge reicht“ bedeutet. Rhelum teriaf, das grob übersetzt reinigendes Feuer hieß, war einer von insgesamt sieben Flugechsen, die bei den Arlia lebten. Für sie war eigens im zentralen Zwiebeldach des Palastes eine Flugterrasse mit Ställen eingerichtet worden. Beim ersten Anblick konnten sie einem einen gehörigen Schrecken durch Mark und Bein jagen. Ihr langer, schlangenförmiger Leib war mit Schuppen bedeckt, groß wie die Handfläche eines Erwachsenen. Zwei nach vorne gebogene Hörner ragten drei Armlängen aus einem imposanten Hornschild an ihrem Kopf, und ein drittes saß senkrecht auf der Spitze ihres zähnestrotzenden Mauls. Lange Barteln ragten aus ihren Mundwinkeln, die insbesondere beim Fliegen seitlich am Körper entlang im Luftstrom zitterten. Ihre gewaltigen Schwingen erlaubten ihnen große Lasten zu heben, und mit ihren Pranken konnten sie mühelos ein Pferd in Stücke reißen. Entgegen ihrer furchterregenden Erscheinung aber waren sie sanft wie Lämmer, wenn sie nicht gerade bockig waren, wofür Rhelum unter den Stallburschen gefürchtet war.
Nebel lag über weiten Teilen des Ter’naral, als er vor Daraks Augen auftauchte. Die Wälder zogen sich bis weit hinter den Horizont im Osten, und kein Arlia wußte, was dahinter verborgen war. Darak reizte es sehr, dieses unbekannte Reich zu erkunden, doch die Expansionspolitik seines Vaters zielte Richtung Norden. Er lenkte Rhelum dorthin, an der Westgrenze des Ter’naral entlang. Unten lagen verstreut einige Siedlungen der Arlia. Bald kam der Rai danur zum Vorschein, der aus den Wäldern kommend nordwestliche Richtung einschlug, um sich bei der Stadt Torolion mit dem Rai takal aus dem Süden zum breiten Strom Rai anaria zu verbinden, der dann irgendwann in das Westmeer mündete. Rhelum sank tiefer, als sie den Rai danur überquert hatten, und glitt nur knapp zwanzig Schritte über dem Boden entlang, wobei Darak sie etwas weiter in westliche Richtung lenkte. Im Westen sah er vereinzelte Rauchsäulen über den Wiesen stehen. Sie erstreckten sich über die gesamte Breite des Horizonts. Verwundert überlegte Darak, weshalb so viele Feuer entzündet worden waren und warum nur nördlich der Raisi danur und anaria. Im Norden kam bereits der Hejengowald in Sicht, hinter dem sich das Hügelmeer bis zu den Schneezacken hinzog, dessen majestätische schneebedeckte Gipfel sich über den Wolken verbargen. Das Hügelmeer war kein Ozean aus Wasser, sondern eine Hügellandschaft mit enormen Ausdehnungen. Kein Baum wuchs dort und nur vereinzelte Sträucher waren zu finden, weshalb das Gelände von oben betrachtet wie eine grüne, stehende Wasseroberfläche mit hohen Wellen aussah. Das Arliareich endete an der Waldgrenze des Hejengowaldes und Mejrun stellte den nordöstlichen Eckpunkt ihres Herrschaftsgebietes dar. Auch an der Stelle des Dorfes sah Darak Rauch aufsteigen, doch aus dieser Entfernung vermochte er noch nicht zu erkennen, was dort geschehen war. Weiter nordwestlich des Hejengowaldes veränderte sich das Landschaftsbild dramatisch. Die fruchtbaren Wiesen endeten einfach. Weite Steppen prägten hier maßgeblich das Bild, die im Norden von den Ausläufern der Kupferwüste verschluckt wurden. Weiter als bis zu dieser lebensfeindlichen Wüste hatten sich die Kundschafter der Arlia noch nicht gewagt, und es war die Überzeugung des königlichen Rates, daß es dahinter nichts mehr von Interesse geben konnte.
Als Mejrun vor Daraks und Rhelums Augen zum Vorschein kam, ging ein merklicher Ruck durch das Tier. Alle Häuser waren niedergebrannt worden. Nur noch rauchende Ruinen standen dort, wo sich einst das friedliche Mejrun erhoben hatte. Mit einer Mischung aus Ungläubigkeit und blankem Entsetzen betrachtete der Prinz die vor ihnen liegende Szenerie, während Rhelum zum Sinkflug ansetzte. Sein Verstand wehrte sich mit aller Kraft gegen die Realität, die er durch seine Augen wahrnahm. Wie in Trance betrachtete er die vielen verkohlten Ruinen der Häuser, zwischen den Trümmern aufgespießte, verbrannte Skelette. Eine gespenstische Stille lag über der Siedlung, sogar der Wind schien zu schweigen. Darak landete nahe der Dorfgrenze und stieg ab. Wie betäubt wanderte er zwischen den zerstörten Gebäuden umher, während tausend Fragen durch seinen Kopf schossen. In den Ruinen entdeckte er die verbrannten Leiber der Arlia, die hier gelebt hatten. Feige hatte man sie in ihren Betten mit Speeren ermordet und zusammen mit dem Rest einfach verbrannt. Nur noch verkohlte Skelette konnte Darak erkennen.
Zuletzt war er vor etwa sieben Umläufen hier gewesen, doch dem Rauch nach zu urteilen konnte dieses Massaker nur wenige Sonnensprünge zurückliegen. Er stand im Zentrum des Dorfes und sah sich nach allen Seiten um. Es gab keine Leichen der vermeintlichen Angreifer. Entweder hatten sie ihre Gefallenen mitgenommen oder sie hatten bei ihrer Attacke niemanden verloren. Darak erkannte Spuren auf dem Boden, die nicht von Arlia stammen konnten. Nach der Art ihres Ganges hatten sie Ähnlichkeit mit Morsakkspuren, doch die Abdrücke waren dafür zu tief und zu breit. Wer immer diese Spuren hinterlassen hatte, mußte beinahe doppelt so schwer sein wie ein Morsakk. Außerdem ergab das keinen Sinn. Sie lebten, seit Darak denken konnte, mit diesem Volk in Frieden, das in den Tiefen des Ter’naral seine Heimat hatte. In Stämmen organisiert, die sie Kat’raks nannten, wanderten sie auf festen, kreisförmigen Routen durch bestimmte Regionen des Waldes und kamen nur selten aus dem Schutz der Bäume, um mit den Arlia Tauschhandel zu treiben.
Daraks Blick fiel auf den Aussichtsturm. Er war niedergerissen worden und lag der Länge nach zerschmettert am Boden. Dort, wo die Aussichtsplattform zerborsten war, fand Darak einen abgebrochenen Pfeilschaft. Zu seinem Entsetzen deutete der Pfeil definitiv auf die Morsakk hin. Zwar war er viel dicker als ihre üblichen Jagdpfeile, doch die Befiederung am Ende des Geschosses war eindeutig den Morsakk zuzuweisen. Darak suchte den Boden nach weiteren Spuren ab. Ein Stück von dem Aussichtsturm entfernt entdeckte er eine eingetrocknete Blutlache. Jemand mußte hier gelegen haben, wie an der Mulde in der Erde leicht zu erkennen war. Dieser Jemand hatte sich auf allen vieren von diesem Platz fortbewegt. Darak folgte der Spur langsam bis zu einem Mauervorsprung. Hier hatte sich der Verletzte offenbar auf die Füße gezogen, denn die Spur änderte sich und Darak erkannte die Abdrücke eines Arlia, der ab hier weitergehumpelt war. Er folgte den Fußabdrücken ein Stück weit durch das Dorf, bis er in einiger Entfernung in einem Hauseingang die Füße von jemandem erkennen konnte. Darak rannte darauf zu. Ein junger Arlia war hier im verkohlten Türrahmen zusammengebrochen. Er atmete noch schwach. Aus seiner Schulter ragte blutverschmiert ein abgebrochener Pfeilschaft, offenbar die vordere Hälfte des Pfeils, den Darak beim Aussichtsturm gefunden hatte.
Darak pfiff scharf durch die Zähne und packte den Körper des bewußtlosen Arlia. Rhelum lief sofort zwischen den Ruinen hindurch auf ihn zu und der Prinz legte den Verwundeten neben der Flugechse auf den Boden. Er legte ihn auf den Bauch, damit das Projektil nicht tiefer in seinen Leib gedrückt wurde. Schnell fischte er eine kleine Phiole mit einer kristallklaren Flüssigkeit aus einer der Satteltaschen und kniete sich neben den jungen Arlia. Er drehte seinen Kopf und flößte ihm beinahe tropfenweise den starken Heiltrank ein, bis das Fläschchen leer war. Dann schloß er die Augen und konzentrierte sich einige Atemzüge lang. Als er sie wieder öffnete, war seine Wahrnehmung um einen Sinn erweitert. In seinem Blickfeld lagen nun tausende und abertausende bläulich schimmernder Fäden von unterschiedlicher Dicke und Länge kreuz und quer. Sie durchdrangen jeden Gegenstand, jede Pflanze, selbst Darak und Rhelum. Darak streckte die Hand über der Wunde des Arlia aus und konzentrierte sich. Sofort sprang ein Faden in seine Hand und das andere Ende wickelte sich um den hinteren Teil des Pfeilschafts. Zwei weitere Fäden zwang Darak unter seine Kontrolle und versenkte deren Enden tief in der Wunde, die der Pfeil gerissen hatte. Als die magischen Fäden an der vorgesehenen Stelle lagen, bot Darak all seine Konzentrationskraft auf. Jene beiden, welche in der Wunde steckten, wies er mit aller Macht an, die Blutung zu stoppen, während er langsam an dem ersten zog. Von außen betrachtet wurde der Pfeilschaft wie von Geisterhand Fingerbreit für Fingerbreit aus der Wunde gezogen, während die Magie dafür sorgte, die Verletzung zumindest so weit zu schließen, daß kein weiteres Blut austrat. Es schien endlos lange zu dauern, doch irgendwann hatte Darak das Projektil gänzlich aus dem Körper des Jungen entfernt. Erschöpft verließ er die magische Ebene und ließ sich zurücksinken. Sein Herz hämmerte, Schweiß stand ihm auf der Stirn und sein Atem ging nur noch stoßweise. Er war nicht sonderlich begabt in den magischen Künsten, weshalb er sich auch bis heute dagegen gewehrt hatte, ein Studium an der Schule von Silior degor zu absolvieren. Einen Zauber mit drei Fäden gleichzeitig zu wirken war für ihn eine enorme Kraftanstrengung, doch es war vollbracht. Nicht ohne ein wenig Stolz erhob er sich und betrachtete den immer noch schlafenden Arlia auf dem Boden. Er war außer Lebensgefahr, aber hier konnte er ihn nicht liegen lassen.
„Wir müssen ihn mitnehmen, Rhelum“, sagte der Prinz zu seinem Reittier gewandt. Er tat dies, weil er wußte, daß Rhelum sehr ungern jemand anderen als den Prinzen auf ihrem Rücken akzeptierte. Dieses Mal aber schien das Tier zu verstehen und stupste Darak an der Brust mit seiner enormen Schnauze an, als ob es sagen wollte: „Tu es einfach!“ aber weniger aus Sympathie als aus dem Bewußtsein um den Ernst der Lage. Vorsichtig hob Darak den kraftlosen Körper des Arlia auf den Leib der Flugechse und setzte sich hinter ihn. Fest umklammert packte er die Zügel des an den Hörnern Rhelums befestigten Geschirrs und gab der Echse den Befehl zum Start. „Nach Westen!“ rief der Prinz, noch während Rhelum Anlauf nahm. Wie eine Raubkatze, die mit einem Sprint den Angriff auf ein Beutetier aufnimmt, rammte Rhelum mit aller Kraft seine mächtigen Pranken in den Boden, um an Geschwindigkeit zu gewinnen. Nach wenigen Augenblicken breitete er seine Flügel aus und hob sich und ihre beiden Reiter in die Lüfte. Nach einigen Echsenlängen hatte er eine stabile Fluglage erreicht und preschte mit unbändiger Kraft nach Westen davon.
Daraks grausamer Verdacht bestätigte sich bereits kurze Zeit später, als sie Neg’jaech erreichten. Auch diese Siedlung lag in Trümmern, überall nur qualmende Ruinen. Wie in Mejrun erkannte der Prinz die leblosen und verbrannten Körper der Arlia in ihren Behausungen. Der Tod war ebenso überraschend über sie gekommen wie in Mejrun. Und wie in Mejrun war keine Spur der geheimnisvollen Angreifer zu entdecken. Rhelum stieg höher, während Darak ihn etwas weiter nach Süden lenkte. Hier war das Gebiet dichter besiedelt, die einzelnen Höfe und Dörfer nur wenige Sonnensprünge voneinander entfernt. Wo immer Darak seinen Blick jedoch hinwandte, konnte er nur Ruinen entdecken. Ihre Feinde hatten ganze Arbeit geleistet. Als er auf die unzähligen abgebrannten Siedlungen hinuntersah, rannen Tränen aus seinen Augen. Er empfand großen Schmerz für die Opfer, wenngleich sie wohl allesamt kaum gelitten hatten. Unbändiger Zorn keimte in ihm auf, doch er war ratlos, gegen wen er diese Wut richten sollte. Je weiter Rhelum nach Südwesten flog, um so mehr wurde Darak klar, daß sie hier über einen gigantischen Friedhof glitten. Der Rai danur kam in Sicht, und der Prinz lenkte Rhelum wieder ein Stück weiter nach Westen. Es gab nur eine Brücke über die Raisi, und die lag nördlich von Torolion, der größten Stadt in der Umgebung. Darak betete innerlich zu Tiar, daß Torolion unversehrt war.
Leben regte sich nun in dem Verwundeten, und stöhnend legte er langsam den Kopf nach hinten auf Daraks Schulter. Der Prinz konnte erkennen, wie er vorsichtig die Augen öffnete, und instinktiv drückte er ihn fester an sich, denn als der Arlia bemerkte, wo er sich befand, reagierte er zunächst mit Panik und versuchte sich krampfhaft irgendwo festzuhalten. Ohne Daraks festen Griff wäre er sicherlich von Rhelums Rückengestürzt. „Bleib ruhig“, raunte der Prinz ihm ins Ohr, „du bist in Sicherheit.“ „Wo?“ stammelte der Junge, „wo bin ich? Wer bist du?“ „Ich bin Darak il menoa, und du sitzt auf meiner Flugechse auf dem Weg zurück nach Tahadar gmoija. Aber zunächst muß ich erfahren, was hier geschehen ist.“ Die Verkrampfung löste sich etwas bei seinem unfreiwilligen Passagier. „Mein Name ist Talaris“, stammelte der Arlia, „und es waren die Morsakk, die das getan haben.“ „Die Morsakk?“ fragte Darak ungläubig, „bist du sicher?“ „Nein, Herr. Sie haben mich vergiftet, und das Gift hat meine Wahrnehmung getrübt. Aber aufgrund ihrer Silhouette und ihrer Art sich zu bewegen waren es eindeutig Morsakk. Auch wenn sie viel größer waren als alle Morsakk, die ich je gesehen habe.“
Wieder schossen tausend Gedanken durch Daraks Kopf. Einerseits passte diese Beschreibung auf die Spuren, die er entdeckt hatte, doch welchen Grund könnten die Morsakk haben, sie anzugreifen? In all den Zyklen war nichts von einer Feindschaft zu spüren gewesen, nicht einmal ansatzweise. Auch die Art und Weise, mit welcher Brutalität sie gegen die Siedlungen der Arlia vorgegangen waren, widersprach allem, was sie über die Morsakk wußten. Die Morsakk jagten gerade soviel Tiere, wie sie zum Überleben benötigten. Keines mehr und keines weniger. Sie lebten in einem tiefen, inbrünstigen Glauben an die Natur und unterwarfen sich bedingungslos all ihren Regeln. Ein solcher Angriff war einfach undenkbar. Unmöglich.
Talaris Körper krampfte sich zusammen. Der Prinz bemerkte, wie er anfing zu weinen und zu schluchzen. „Meine Eltern“, hörte er ihn wimmern, doch Darak fielen keine tröstenden Worte ein. Er versuchte den jungen Arlia zu stützen, so gut es ging. Tapfer schluckte dieser seinen Schmerz nach wenigen Augenblicken hinunter. „Mein Gebieter“, stammelte Talaris, „es ist mir eine große Ehre …“ Darak ließ ihn nicht zu Ende sprechen. „Wir haben keine Zeit für Etikette!“ fiel ihm der Prinz energisch ins Wort. „Tiar sei Dank, daß du noch lebst.“ Mit diesen Worten drückte er Talaris fest an sich. Beinahe empfand er ein wenig Hohn gegenüber ihren Feinden, daß es ihnen nicht gelungen war, alle Arlia zu töten, die sie hatten töten wollen. Daraks Umarmung löste sich schlagartig, als er gewahr wurde, was sich nun zu ihren Füßen befand. Sie hatten die Brücke über den Rai anaria erreicht. Nördlich des Stroms erstreckte sich ein gewaltiges Heerlager, und Darak trieb Rhelum schnell nach oben in den Schutz der Wolken-decke. Von hier aus erkannte er durch die Wolkenfetzen hindurch unter entsetzlichen Zweifeln, daß Talaris recht hatte. Es waren Morsakk. Normalerweise reichten sie einem Arlia nur bis zur Schulter, was auch in ihrer leicht gebeugten Körperhaltung begründet lag. Sie trugen ein Fell, das farblich zwischen grün und braun variierte, und vier mächtige Hauer ragten einen Fingerbreit aus ihrem Mund. Doch genau das, was Darak über ihre Fellfarbe und ihre Größe wußte, machte ihn stutzig. Eine große Anzahl der Morsakk dort unten war mindestens einen Kopf größer als jene, die sie kannten. Außerdem besaß ihr Fell eine schimmernde kupferne Farbe. Dazwischen jedoch erspähte Darak unzählige Morsakk, wie er sie seit jeher kannte. Hunderte Zelte standen dort, leicht befestigte Lager dazwischen, Kriegsmaschinen und Gehege mit Riesenschnappern. Darak sah genauer hin. Es bestand kein Zweifel – es waren tatsächlich Riesenschnapper. Diese Echsen, die ein Viertel der Größe einer Flugechse erreichten, jagten meist in Gruppen weit nordwestlich des Hejengowaldes und bis in die Steppen südlich der Kupferwüste hinein. Es waren furchtbare Gegner, die normalerweise auf alles losgingen, was sich in ihre Nähe wagte. Ihren Feinden war es offenkundig gelungen, die wilden Tiere zu zähmen, denn Darak erspähte auch vereinzelte Mor-sakk, die auf Schnappern durch das Lager ritten.
Der Prinz lenkte Rhelum ruckartig direkt nach Süden. Von hier aus war Torolion bereits zu sehen, und – Tiar sei Dank! –es stand noch. Im Gleitflug näherten sie sich schnell der Arliastadt. Die Stadt selbst konnte unmöglich von den Aktivitäten nördlich der Brücke wissen, denn sie lag mehr als einen halben Horizont davon entfernt, und während der wärmsten Zeit des Zyklus, dem Tanz der Sonnen, gab es kaum Karawanen, die zwischen den Siedlungen verkehrten. Die Bauern auf den Feldern winkten ihnen zu, als sie sich näherten, und Darak hätte ihnen am liebsten zugerufen sich in Sicherheit zu bringen, doch von hier aus war er machtlos. Rhelum landete vorsichtig im Obsthain der Villa des Statthalters und der Prinz sprang ab. „Kümmere dich um Rhelum!“ rief er Talaris zu, während er schnell auf den Eingang des Gebäudes zusteuerte.
Auf einem runden Kiesplatz direkt vor den drei Stufen, welche zum Rathaus hinaufführten, stand eine Sonnenuhr. Sie warf zwei Schatten, welche eng beieinander lagen, wobei Gatoras Schatten sehr viel deutlicher zu sehen war. Neun Einkerbungen markierten die Sonnensprünge, die einen Sonnenlauf in neun gleiche Teile einteilten. Wenn Gatoras Schatten auf einer Markierung lag, war der von Salune exakt in der Markierung dahinter. So war ein Sonnensprung definiert, obwohl das mit den Schatten nicht immer genau stimmte. Das war eine der vielen Eigenarten ihrer Welt. Im Augenblick zeigte die Uhr den dritten Sonnensprung an, wobei die Zeit an Salunes Schatten gemessen wurde, da dieser länger zu sehen war. Darak ging daran vorbei und stieß die Türen auf.
Im Inneren empfing ihn die dunkle Holztäfelung eines breiten Ganges, der zum Empfangsraum des Statthalters führte. Als ein Mitglied der königlichen Familie kannte Darak natürlich alle mit Verwaltungsaufgaben betrauten Arlia des Reiches. Arag’jan war der Statthalter Torolions. Und Darak fand ihn, als er die Türe zum Empfangsraum öffnete, an einem Tisch über die Pläne der nahen Umgebung gebeugt. Als er Darak bemerkte, ließ er sofort von den Karten ab und kam mit ausgebreiteten Armen auf den Prinzen zu. „Mein Prinz! Es ist mir eine Freude, Euch hier zu begrüßen.“ Darak sah in Arag’jans freundliches Gesicht. Das Wort blieb ihm buchstäblich im Halse stecken. Was sollte er ihm sagen? Würde er ihm überhaupt glauben? Es hatte noch niemals einen Krieg gegeben. Die Morsakk lebten seit Tausenden von Zyklen in Frieden mit ihnen. Als Arag’jan Daraks Miene betrachtete, setzte er einen besorgten Gesichtsausdruck auf. „Mein Prinz?“ fragte er eindringlich und faßte ihn bei den Unterarmen, „was ist mit Euch? Was ist geschehen?“ Darak konnte noch immer nicht antworten. Stattdessen stand er da, mit flachem Atem und glasigem Blick, während sein Körper zu zittern begann. Erst in diesem Augenblick wurde Darak selbst richtig bewußt, was er Arag’jan eigentlich sagen wollte. Erst jetzt spürte er die Angst, die von dieser Bedrohung nördlich der Brücke ausging und die nun von seinem Körper Besitz zu ergreifen drohte. Arag’jan bemerkte Daraks inneren Kampf und tat das einzig Richtige. Er zog den Prinzen hinüber an ein großes Fenster und deutete hinauf zu Gatora. Darak sah hinauf. Sofort bemerkte er, wie die Angst in ihm zurückgedrängt wurde. Zuversicht strömte in sein Herz und von dort aus direkt in den ganzen Körper. Gerade weit genug, damit der Prinz die Kontrolle zurückgewinnen konnte. Er löste sich aus Arag’jans Griff und packte ihn nun seinerseits fest an den Schultern, wobei er ihn mit ernster Miene ansah. „Die Morsakk haben sich gegen uns erhoben. Alle Siedlungen nördlich der Raisi danur und anaria wurden während des letzten Sonnenschlafs niedergebrannt. Der Feind steht in einem gewaltigen Heerlager auf der anderen Seite der Brücke.“
Arag’jan keuchte. Zwar war er ob Daraks Verhalten auf das schlimmste gefaßt gewesen, aber eben nur auf das schlimmste, was er persönlich sich hatte vorstellen können. Das hier übertraf seine Befürchtungen und auch seine Vorstellung bei weitem. „Wir sind nicht kriegsbereit“, stammelte er als erstes, nach Luft ringend. „Es gibt viel zu wenige Arlia unter Waffen. Die Morsakk sagt Ihr? Seid Ihr sicher?“ „Wenn sie die Brücke überqueren, werden sie jeden töten, der ihnen über den Weg läuft. Als Euer Prinz erteile ich Euch den Befehl, die Stadt sofort zu evakuieren. Kommt auf die Hochebene von Irennan so schnell Ihr könnt. Ich muß mit Rhelum sofort zurück zum Palast, um meinen Vater zu informieren. Ich werde noch einen Zwischenstopp in Ter’baskar einlegen, doch ich kann unmöglich alle Dörfer unterwegs warnen. Ihr müßt diese Aufgabe übernehmen. Schickt Reiter aus.“ Arag’jan nickte schwach. „Möge Tiar uns beistehen“, raunte er.
Darak verließ den völlig verängstigten Arag’jan. Gerne hätte er ihm noch etwas beigestanden, doch er durfte keine Zeit verlieren. Er überlegte, nach seiner Rückkehr sofort die anderen Flugechsen nach Torolion zu befehligen, damit sie bei der Evakuierung helfen konnten. Jedes Tier vermochte leicht fünf bis sechs Arlia zu tragen und für einen Flug nach Torolion und zurück nach Tahadar gmoija brauchten sie lächerlich wenig Zeit im Vergleich zu einem Fußmarsch. Allerdings würde sein Vater die Entscheidungen treffen, was die Aufgabe der Flugechsen anging.
Als der Prinz aus dem Rathaus trat, blieb er überrascht stehen. Bei seinem Abstieg hatte er Talaris noch unbedacht zugerufen, sich um Rhelum zu kümmern. Er hatte nicht daran gedacht, daß seine Flugechse unter den Stallburschen des Palastes ob ihrer unberechenbaren Bockigkeit bekannt war. Nicht selten wurde man mal eben unsanft in den nächsten Heuhaufen geworfen, wenn Rhelum ihre Ruhe haben wollte, und das war eigentlich fast immer der Fall. Darak war nun überrascht, weil sich Rhelum von Talaris unbekümmert berühren ließ. Der junge Arlia hatte den Sattel gerichtet und festgezurrt und sogar das Zaumzeug geordnet. Rhelum zeigte sich nicht im geringsten daran interessiert, Talaris zu unterbrechen. Und Talaris wiederum schien keinerlei Furcht vor dem Tier zu haben. „Ihr habt euch wohl schon angefreundet?“ sagte Darak und trat auf sie zu. Talaris fuhr herum und lächelte. Auf ein Zeichen des Prinzen stieg er auf und Darak setzte sich wieder hinter ihn. Talaris’ Wunde schmerzte noch bei heftigen Bewegungen, doch sie hatte bereits angefangen zu verheilen. Er hatte sich zwischenzeitlich zur Sicherheit einen Verband angelegt, obwohl kein Blut mehr aus der Verletzung austrat. Allerdings war das sicherlich mehr dem Heiltrank zuzuschreiben als Daraks dilettantischen Magiekünsten. Ein echter Heiler hätte die Wunde ohne Narbe vollständig verschlossen.
Als sie beide fest im Sattel saßen, wandte sich Rhelum der Allee zu, die durch den Obsthain zum Verwaltungsgebäude heraufführte, um sie als Startbahn zu nutzen. Nach einem kraftvollen Anlauf hob sich das Tier in die Luft und schwenkte scharf nach Südosten. Schon wenige Flügelschläge später überquerten sie den Rai takal, der aus dem Süden heraufkam, und näherten sich der Maramatisenke.
Legenden erzählten von einem brennenden Sternenfunken, der vor vielen tausend Zyklen auf Dorodian gestürzt sein sollte. Das Land habe viele Umläufe lang gebrannt, und die weite Senke war entstanden. Für lange Zeit war dort nichts gewachsen, doch eines Umlaufs sei der erste Maramatibaum aus dem Boden gesprossen. Die Bäume waren über viele hundert Zyklen zu wahren Baummonstern herangewachsen. Sie waren mit nichts anderem vergleichbar, was andere Wälder zu bieten hatten. Zehn Arlia vermochten einen Stamm am Boden nicht zu umfassen, und sie übertrafen selbst den höchsten Turm der Hauptstadt an Größe. Eine Gruppe sehr gläubiger Arlia hatte inmitten des Waldes einen Tempel errichtet. Sie bauten ihn weit oben zwischen den enormen Stämmen, die sie mit Stegen umgaben und mit Hängebrücken verbanden. Im Laufe der Zeit gesellten sich mehr und mehr Arlia zu dieser Enklave der Zivilisation inmitten der Natur. So war die Stadt Ter’baskar entstanden, das in etwa „Holzsegen“ bedeutet. Inzwischen war die Stadt in allen Richtungen um den kugelförmigen Tempel herum gewachsen, wobei die meisten Behausungen und Gebäude in die Stämme geschlagen wurden. Ter’baskar besaß den größten Tiartempel außerhalb der Hauptstadt. Eine weitere Besonderheit war, daß die Stadt nach wie vor von der Tiarpriesterschaft geleitet wurde. Natürlich würde man sich den Anweisungen des Königshauses fügen, doch der Arliakönig Ar’glaan hatte vor vielen tausend Zyklen einen Eid geschworen, die Stadt unter der Leitung der Tiar-priesterschaft zu belassen, da sie die Siedlung gegründet hatten. An diesen Eid hielt man sich bis zum heutigen Umlauf.
Rhelum flog dicht über dem undurchdringlichen Blätterdach des Maramatiwaldes. Es dauerte nun nicht mehr lange, bis die oberste Ebene Ter’baskars zu sehen sein würde. Die unterste lag nur etwa zwanzig Schritte über dem Waldboden. Im Süden lag eine sehr weiträumige Lichtung mit einem See, aus dem der größte Teil des Trinkwassers kam. Aufzüge waren die einzige Verbindung zum Boden, um die Lasten der Karawanen zu heben. Daneben gab es unzählige Leitern und Seile für die sportlicheren Arlia. Die meisten zogen aber eine bequeme Fahrt mit dem Aufzug vor. Ironischerweise mußten andere Arlia dafür schwitzen, wenn sie die Plattformen mittels Flaschenzügen nach oben hievten. Ein großes Loch zwischen den Baumkronen empfing sie, bevor die ersten Holzbauten und Brücken in Sicht kamen. Weiter oben gab es große, stabile Holzebenen, auf denen sogar kleinere Gebäude errichtet worden waren. Rhelum wählte eine der obersten Plattformen zur Landung aus und setzte sanft auf dem leicht nachgebenden Holzboden auf.
„Wartet hier auf mich!“, sagte Darak und sprang ab. Zielsicher wählte er eine Hängebrücke, die zu einer Plattform führte, welche ringförmig um einen Stamm angelegt worden war. Dort packte er ein Seil und schwang sich hinunter auf die nächst tiefer liegende Ebene. Unter den obersten Plattformen wurde es deutlich düsterer, da das Sonnenlicht nur noch durch absichtlich angelegte Lücken in den unterschiedlichen Ebenen nach unten schien. Der Prinz steuerte auf das Zentrum der Stadt zu. Über eine Handvoll weiterer Hängebrücken, Seile, Leitern und Treppen begab er sich noch fünf weitere Ebenen hinab und näherte sich dem Tempel. Auch hier in Ter’baskar konnte niemand von der Katastrophe wissen, denn die Arlia gingen ohne Hektik ihren Beschäftigungen nach. Diejenigen, welche Darak erkannten, verbeugten sich respektvoll vor ihm. Der Prinz nahm kaum Notiz davon, denn Zeit war etwas, das er nicht hatte. Eigentlich verlangte seine Botschaft, daß er sich direkt in das Zeremonienhaus begab, doch ohne Anmeldung dem höchsten Tiarpriester Ter’baskars gegenüberzutreten wäre eine beispiellose Verletzung der Etikette. Und so betrat er den Tempel der Stadt auf der Suche nach einem Nehdijeha, einem hohenPriester, der die Befugnis hatte, ihn bei Ledachja anzumelden. Der Tempel, dessen Hauptraum Darak soeben betreten hatte, besaß die Form einer Kugel. Vier große Portale, nach den Himmelsrichtungen ausgerichtet, erlaubten es, die heilige Stätte zu betreten oder zu verlassen. Sie waren auf der Höhe des geometrischen Äquators angebracht, wo ein breiter Steg es ermöglichte, den gesamten Raum zu umrunden. Mehrere Zugänge führten nach unten in den Bauch des Tempels, in dessen Zentrum ein schlichtes, steinernes Becken stand, das mit Wasser gefüllt war. Dies war die Essenz Tiars. Aus diesem Trog schenkten die Nehdijeha während ihrer Zeremonien Wasser an die Gläubigen aus und obwohl es weder einen Zulauf noch einen Abfluß gab, blieb der Wasserstand immer gleich. Die heilige Flüssigkeit wurde mit der Hand in die Hände der Gläubigen geschöpft und sogleich getrunken. Man schrieb ihr eine heilende und stärkende Wirkung auf Geist und Seele zu.
Darak stellte sich nahe an die Brüstung und sah in den Gebetsraum hinunter. Viele Arlia waren anwesend, die entweder knieten, auf dem Boden saßen, herumlagen oder standen. Die meisten von ihnen waren in ein Gebet vertieft. Arlia ähnelten den Morsakk nur darin, daß auch sie zwei Arme und zwei Beine besaßen. Ansonsten konnten sie unterschiedlicher kaum sein. Arlia hatten kein Fell, sondern einen unbehaarten Körper, dessen Hautfarbe stets von einer vornehmen Blässe war. Ihr Gang war aufrecht, und die meisten trugen ihr Haupthaar kunstvoll geflochten zumindest bis über die Hälfte ihres Rückens. Die Ohren ragten spitz in die Höhe und überragten den Kopf um etwa eine halbe Handbreit. Ihr Körperbau war häufig schlank bis athletisch, und die Pupillen ihrer Augen waren senkrecht geschlitzt, wie bei einer Katze, und funkelten zumeist in stechendem Blau oder geheimnisvollem Grün.
Endlich entdeckte Darak zwischen den Gläubigen die blaue Robe eines Nehdijeha. Er beeilte sich einen Weg hinunter und zwischen den Betenden hindurch zu finden, um dem Priester seine Aufwartung zu machen. Dieser erkannte Darak sofort, als er sich ihm gegenüber stellte, und verbeugte sich respektvoll. Auch der Prinz machte eine Verbeugung. „Ich muß den Nehdi sprechen“, sagte Darak kurz. Der Angesprochene nickte nur und bedeutete ihm mit einem Handzeichen zu folgen.
Der Nehdi war ein besonderer Titel, den es nur einmal im Arliareich gab. Dies lag in der besonderen Stellung der Stadt Ter’baskar begründet. Der Hohepriester hatte seinen Sitz in der Hauptstadt und seitdem Ter’baskar dem Klerus übergeben worden war, lenkte der Nehdi im Auftrag des Hohepriesters die Geschicke der Stadt. Obgleich einem Nehdijeha in Rang und Aufgaben gleichgestellt, war der Nehdi der höchste Priester des Reiches neben dem Hohepriester, da er als einziger Nehdijeha die Befugnis hatte, in weltlicher Hinsicht über die Stadt zu befehlen.
Darak folgte dem Nehdijeha, der ihn wieder nach oben auf die zentrale Tempelebene und hinaus in die Stadt führte. Über eine Hängebrücke ging es hinüber zu einer Plattform, die nur diese eine Brücke als einzigen Zugang besaß. Dort stand das Zeremonienhaus, wo der Nehdi seinen Sitz hatte. Darak war Ledachja schon begegnet. Er war ein Arlia von enorm hohem Alter, dessen Gesicht und Körper noch überraschend jugendlich schienen. Obwohl Arlia vom Aussehen her nur sehr langsam alterten, waren ihnen neunhundert Zyklen normalerweise anzusehen. Nicht so bei Ledachja. Als Darak hinter dem Nehdijeha in das Zeremonienhaus trat, war er wie bei ihrem ersten Aufeinandertreffen vom Anblick des jung wirkenden Greises überwältigt. Vorsichtig näherte sich der Nehdijeha Ledachja und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Der Nehdi hob den Kopf in Daraks Richtung und schickte den Nehdijeha mit einer Handbewegung fort.
„Darak, mein Junge“, sagte der Nehdi freundlich und breitete seine Arme aus. Darak ging ein paar Schritte auf ihn zu und stellte sich direkt vor ihn. Die klaren, hellblauen Augen des Nehdi ruhten auf seinem Gesicht, als könne er ihn sehen, doch sein Augenlicht war schon vor dreihundert Zyklen erloschen. Langsam streckte der Nehdi seine Hände aus und faßte an Daraks Ohren.
Die Arlia tätowierten ihre Ohren in der Sprache ihrer Vorfahren. Wenige Schriftzeichen konnten lange Geschichten erzählen, und in den kunstvollen Ornamenten lag die Lebensgeschichte des betreffenden Arlia. Wer die Runen lesen konnte, vermochte zu erkennen, wer ihm gegenüberstand, aus welcher Familie er kam, welche Weihen er bereits bestanden hatte und welche Aufgaben er bekleidete. Die Runen wurden unter dem Wirken magischer Kräfte eintätowiert, und Ledachja war in der Lage, auf der magischen Ebene diese Zeichen zu erkennen. Trotz seiner Blindheit offenbarten sich ihm die Linien und Stränge der magischen Ströme.
„Es ist nichts Neues in deinem Leben passiert, seit wir uns zuletzt begegneten“, stellte Ledachja fest und ließ Daraks Ohren wieder los. „Was führt dich zu mir?“ Darak stockte der Atem. Wie zuvor bei Arag’jan schnürte die Bedrohung seine Kehle zu. Er schluckte die Beklommenheit hinunter und atmete kräftig durch. „Hört meine Worte, Nehdi“, begann Darak leise, „die Morsakk haben sich gegen uns erhoben. Sie stehen mit einem großen Heer nördlich der Stadt Torolion und sie haben während der letzten dunklen Hälfte alle Arlia nördlich der Raisi danur und anaria erschlagen. Ich fürchte, wenn sie die Brückenach Süden überqueren, wird hier niemand mehr sicher sein.“ Mit jedem Wort stiegen in Darak Zweifel, ob der Nehdi ihn überhaupt verstand. Kein Schock, keine Angst, keinerlei Bestürzung oder Überraschung war in Ledachjas Gesicht zu lesen. „Es ist also geschehen?“ fragte Ledachja ermattet. Darak war bestürzt. „Ihr wußtet davon?“ fragte er wie vor den Kopf gestoßen. „Nicht direkt“, gab der Priester zurück. „Das Buch der Prophezeiungen spricht von einer Dunkelheit, die dereinst über unser Land ziehen würde. Leider beschreiben die Texte weder die Art der Dunkelheit noch ist ihnen der Zeitpunkt zu entnehmen, wann das Ganze stattfinden wird. Wir waren uns sicher, daß es noch viele Generationen dauern würde, bis diese Prophezeiung einträte, da andere Verse, zumindest nach unserer Interpretation, zeitlich weit vor dieser Dunkelheit hätten eintreffen müssen. Ich denke, dein nächstes Ziel wird der Palast sein?“ Darak nickte in Gedanken, besann sich jedoch rasch. Wie sollte der Blinde sein Kopfnicken sehen? „Ja, Nehdi. Das hatte ich vor.“ „Dann flieg, so schnell du kannst, Darak!“ sagte Ledachja mit fester Stimme. „Du mußt eine Botschaft von mir überbringen. Sage Mahrzun, daß der Schatten nach uns greift. Er wird wissen, was zu tun ist. Machen die Morsakk Anstalten, die Brücke zu überqueren?“ „Das Lager steht still im Augenblick“, gab Darak zurück. „Wenn sie sich aber dazu entschließen sollten, den Rai zu überschreiten, wird sie niemand aufhalten können.“ Der Nehdi nickte nachdenklich. „Ich werde Vorbereitungen zur Evakuierung treffen“, sagte der Greis kurz entschlossen. „Wir sollten so viele Arlia wie möglich auf die Hochebene bringen. An dem schmalen Zugang nach Irennan können wir uns vielleicht sogar verteidigen. Führe mich hinüber zum Tempel.“
Der Prinz war unendlich erleichtert. Er hatte befürchtet, daß der Nehdi vielleicht andere Pläne haben könnte, doch er hatte genau die Entscheidung getroffen, um die Darak ihn hatte bitten wollen. Ledachja reichte ihm seinen Arm. Der Prinz nahm ihn vorsichtig und führte ihn aus dem Zeremonienhaus über die Brücke bis zu einem der Eingangsportale des Tempels. Ein Nehdijeha entdeckte sie und übernahm sofort Daraks Aufgabe, den Nehdi zu stützen. Bevor er in dem kugelartigen Bau verschwand, drehte sich Ledachja noch einmal zum Prinzen um. „Fliege schnell wie der Wind, Darak! Möge Tiar mit dir sein.“ Mit diesen Worten streckte er ihm beide Handflächen mit weit gespreizten Fingern entgegen. Darak verbeugte sich, dankbar für den Priestersegen, und wandte sich zum Gehen.
Auf seinem Rückweg zu Rhelum fielen ihm all die kleinen Wunder ins Auge, die Ter’baskar zu dem machten, was es war. Eine einzigartige Stadt, umhüllt von reiner Natur. Es grünte, wo auch immer man den Blick hinwendete. Die Stämme waren teilweise eingeschlossen durch Luftwurzeln, die sich den Stamm hinauf zum Licht rankten. Vögel und Schmetterlinge bevölkerten in dichter Zahl die vielen unterschiedlichen Stockwerke der Baumkronen und vor allem das Federvieh erzeugte eine stetige, sich niemals wiederholende Melodie im Hintergrund. Jeder einzelne Pfosten der unzähligen Geländer an den vielen Brücken und Plattformen war eine Schnitzerei. Freilich gab es auch stümperhafte Werke dazwischen, doch einige Arbeiten bestachen durch ihre Genauigkeit und den Einfallsreichtum des Künstlers, was Formen und Muster anging. Darak mußte sich von all dem losreißen. Der Atem wurde ihm schwer, wenn er daran dachte, daß diese wundervolle Stadt von der Vernichtung bedroht war. Zielstrebig, aber widerwillig fand er den Weg zurück, wo Rhelum und Talaris auf ihn warteten.
Auf der für eine Flugechse recht engen Plattform gestaltete sich das Startmanöver weitaus schwieriger als auf dem Boden. Rhelum nahm soviel Anlauf, wie er konnte, und stürzte sich über ein Geländer, um auf den Waldboden zuzurasen. Nur ein kurzer Augenblick und sie hatte genügend Geschwindigkeit, um die Schwingen ruckartig aufzureißen und den Sturz abzufangen. In waghalsigen Schlangenlinien suchte er sich seinen Weg zwischen den turmdicken Baumstämmen, bis er eine Lichtung fand, von wo aus sich das Tier über die Baumwipfel emporschrauben konnte. Oben angekommen lenkte Darak sein Reittier direkt nach Süden, und Rhelum stürmte mit atemberaubender Kraft davon.
Am Horizont waren bereits die Ausläufer des heiligen Gebirges zu erkennen. Talaris schien sich zwischenzeitlich an das Fliegen gewöhnt zu haben. Neugierig sah er hinunter und beobachtete, wie die Landschaft unter ihnen vorbeizog. Rhelum flog leicht östlich, bis sie genau über dem Lauf des Rai takal schwebten. Hier bog er wieder gänzlich in südliche Richtung ab und folgte dem Wasserlauf. Die Siedlungen unter ihnen erinnerten Talaris an die Spielzeughäuser, mit denen er als Kind gespielt hatte.
Daraks Gedanken waren nicht so kindlich unbefangen. Er zermarterte sich den Verstand bei dem Versuch, einen möglichen Ausweg aus dieser Situation zu finden. Sein erster Gedanke war, zu den Waffen zu greifen, doch das verwarf er schnell wieder. Die Arlia verfügten über kein stehendes Heer. Sie besaßen nicht einmal genügend Waffen, um jeden kampftauglichen Arlia auszurüsten. An Rüstungen, Schilde und Kriegsmaschinen brauchte man gar nicht erst zu denken. Die einzige Waffe, mit der sie jedes Kind bewaffnen konnten, waren ihre Bögen. Pfeile hatten sie schier unendlich viele. Doch mit einer solchen Armee gegen die Morsakk anzutreten war aussichtslos. Vielleicht hatte Ledachja recht? Möglicherweise konnten sie an der schmalen Stelle zwischen den nordwestlichen Ausläufern des heiligen Gebirges auf Höhe von Silior degor einen Verteidigungswall errichten? Bei diesem Gedanken kamen Darak die Weber in den Sinn, welche die fünf Türme von Silior degor bewohnten. Konnten sie mit ihrer Magie kämpfen? Und wenn ja, war ihre Magie sogar stark genug, gegen die Morsakk zu bestehen? Die Knüpfer vermochten sogar Zauber mit beinahe drei Dutzend Fäden zu weben. Ob diese ungeheure Macht reichte, um die Armee der Morsakk zumindest zu stoppen?
Just in diesem Moment trafen sie auf der Hochebene von Irennan ein. Nach wenigen Atemzügen hatten sie Silior degor passiert und Rhelum schwenkte langsam in östliche Richtung, wo Tahadar gmoija vor ihnen prangte. Sieben schlanke Türme standen kreisförmig um den zentralen Hauptbau des Palastes, der ein imposantes Zwiebeldach trug. Die Mauern des Prunkbaus sowie die Stadtmauern funkelten und glitzerten wegen ihrer Quarzschicht im Licht der Sonnen. In das Zwiebeldach war eine Terrasse eingelassen, die eigens für die Flugechsen angelegt worden war, worauf Rhelum jetzt zusteuerte. In den Straßen und auf den Plätzen der Hauptstadt herrschte reges Treiben. Der Hauptmarktplatz war mit Arlia überfüllt, und auf der breiten Treppe, die zum großen Tempel hinaufführte, sah es aus dieser Perspektive aus, als ob man auf einen Ameisenhaufen hinuntersah. Es dauerte nicht lange, bis Rhelum die Flugterrasse erreicht hatte und sanft gelandet war. Sofort kamen mehrere Stallburschen angelaufen, um Rhelum in Empfang zu nehmen und seinen Passagieren beim Absteigen behilflich zu sein. Talaris wollte sich bereits wieder der Flugechse zuwenden, doch Darak hatte anderes mit ihm vor.
„Überlasse Rhelum den Leuten hier und komme mit mir“, sagte er und wandte sich einer Tür im hinteren Bereich der Ställe zu. Dahinter erwartete sie eine breite Wendeltreppe, die sie hinunterstiegen. „Wohin gehen wir?“ fragte Talaris neugierig. „Zu meinem Vater“, antwortete Darak. Talaris blieb ruckartig stehen. „Zum König?“ fragte er verunsichert. Auch Darak hielt inne und drehte sich zu dem Arlia um. „Ja, zum König. Du wirst meine Geschichte vor ihm und den anderen Ministern bestätigen.“ Talaris Augen weiteten sich und er ging ängstlich eine Stufe rückwärts die Treppe hinauf. Er hatte den König erst zweimal bei offiziellen Anlässen gesehen, allerdings aus großer Entfernung. Ihm persönlich gegenüberzutreten hätte er sich niemals träumen lassen. Darak lächelte, packte Talaris am Arm und zog ihn hinter sich die Treppe hinunter. „Du brauchst keine Angst zu haben“, erklärte er, „dir wird nichts geschehen.“ Am Ende der Stufen angekommen schritten sie durch einen mit dickem Teppich ausgelegten Gang. Fackelhalter an den Wänden spendeten Licht, denn selbst bei Sonnenschein war es im Inneren des großen Gebäudes, vor allem in den kleineren Korridoren und Seitenflügeln, duster. An den Wänden zwischen den Fackeln standen oder hingen allerlei Kunstwerke. Von Skulpturen, Wandteppichen, eindrucksvollen Gemälden bis hin zu ausgestopften Wildtieren oder Ganzkörperrüstungen, die sich einen in der Zeit eingefrorenen Schaukampf lieferten, gab es eine Menge zu bestaunen. Talaris fühlte sich irgendwie winzig klein zwischen dem ausladenden Gang und den vielen wertvollen Kunstgegenständen, und er beeilte sich mit Darak Schritt zu halten. Der Prinz ging an den ganzen bemerkenswerten Schätzen vorbei, als sei es nutzloser Tand, und näherte sich einer hölzernen zweiflügeligen Tür am Ende des Ganges.
Als die Türflügel zum Ratszimmer aufgestoßen wurden, verstummte die Ministerin Odoran, die gerade den König über die bevorstehende Ernte informierte. König Lorasar saß mit den Ministern zusammen an einem runden Tisch. Neben ihm die Ministerin Odoran, die für den Nahrungsmittelanbau des Reiches zuständig war. Daneben waren noch Chiridan, der Anführer der Palastwache, der Hohepriester Mahrzun, Januran, der Berater für innere Angelegenheiten, Olgwana, die Baumeisterin sowie Kajoris, der höchste Forscher des Reiches, anwesend. Ministerin Odoran setzte sich, als Darak, von Talaris gefolgt, in den Raum trat. König Lorasar hingegen stand ruckartig auf. „Darak?“ fragte er verwundert, „was hat das zu bedeuten? War-um bringst du uneingeladen einen Gast in die Ratsversammlung mit?“ Der Prinz drückte sich normalerweise vor diesen Sitzungen, wann immer es ging, und sein bloßes Erscheinen allein war Grund genug für Lorasar, verwundert zu sein.
„Dieser Gast“, sagte Darak mit ernster Miene, „ist vielleicht der letzte überlebende Arlia nördlich der Raisi danur und anaria.“ Lorasars Gesicht überzog sich mit einem Ausdruck, der sich nicht recht zwischen Ungläubigkeit und Erschrockenheit entscheiden konnte, während er sich wieder setzte. Auch die anderen Anwesenden zeigten einen Gesichtsausdruck, als wolle Darak ihnen einen schlechten Streich spielen. Nur Mahrzun war ungerührt. „Hohepriester“, sagte Darak und näherte sich Mahrzun mit gesenktem Kopf und ohne ihn direkt anzusehen. Die Silbe „rz“ im Namen sprach sich wie ein weiches „Sch“ und war ein Privileg des Hohepriesters. Niemand sonst durfte diese Silbe in seinem Namen führen. „Der Nehdi von Ter’baskar sendet Euch diese Worte: ‚Der Schatten greift nach uns.‘“ Nachdem er die Botschaft überbracht hatte, ging er wieder rückwärts einige Schritte von dem Hohepriester weg, sich über dessen völlige Gelassenheit angesichts dieser Botschaft wundernd, da keinerlei Reaktion erfolgte. Dann wandte er sich ohne weiteres Zögern Talaris zu. „Erzähle, was geschehen ist!“ forderte er ihn auf. Alle Augen waren auf den jungen Arlia gerichtet, und er fühlte sich sehr unbehaglich. In den Gesichtern standen Ungläubigkeit, gespannte Erwartung und auch ein wenig Angst geschrieben.
„Ich komme aus Mejrun“, begann Talaris leise. „Während des letzten Sonnenschlafs war ich Wächter der dunklen Hälfte. Das Dorf wurde überfallen, mich hat man mit einem vergifteten Pfeil niedergestreckt. Als ich kurz nach Sonnenaufgang zu mir kam, waren alle tot. Alle Arlia wurden erschlagen. Sämtliche Gebäude wurden ein Raub der Flammen. Wie ich diesen Angriff überlebt habe, kann ich nicht erklären. Ohne Euren Sohn aber wäre ich an meinen Wunden gestorben, Majestät.“ König Lorasar erhob sich langsam während dieser Worte. Die Ungläubigkeit auf den Mienen der Zuhörer wandelte sich mehr und mehr in Bestürzung. Nur Mahrzuns Gesicht zeigte nach wie vor keine Regung. Darak faßte Talaris an der rechten Schulter und zog ihn ein Stück zurück, um sich vor ihn zu stellen. „Er spricht die Wahrheit. Mejrun, Neg’jaech, Adaria, Tin’joch. Alle diese Siedlungen und Städte wurden dem Erdboden gleichgemacht. Aufgrund der Rauchsäulen über der Umgebung müssen wir annehmen, daß es allen Dörfern so ergangen ist. Ich konnte keine anderen Überlebenden entdecken. Allerdings habe ich das Heerlager des Feindes nördlich der Brücke von Torolion gefunden. Es sind die Morsakk.“ „Die Morsakk?“ rief Januran und sprang auf. Odoran und Kajoris warfen sich beinahe panische Blicke zu. „Die Morsakk?“ wiederholte König Lorasar, „bist du sicher?“ Darak nickte verzagt. „Ich war über diese Entdeckung ebenso schockiert wie ihr jetzt. Die Morsakk werden unterstützt durch einen Stamm, den wir noch nie gesehen haben. Sie sind über einen Kopf größer als die Morsakk aus den östlichen Kat’raks und ihr Fell hat eine kupferne Farbe. Sie besitzen Waffen und Rüstungen aus Metall, haben Kriegsmaschinen dabei und sie haben Riesenschnapper gezähmt, die sie als Reittiere benutzen. Anhand der Zelte sind es mindestens zehntausend Krieger.“ „Das bedeutet“, warf Chiridan ein, „daß wenn sie die Brücke überqueren …“ Er stockte. „Dann sind wir verloren!“ beendete Kajoris Chiridans Gedankengang.“ „Die Städte Torolion und Ter’baskar sind bereits bei den Vorbereitungen zu einer Evakuierung“, erklärte Darak. „Bei Tiar!“ rief Januran. „Erinnert euch daran, als wir darüber diskutierten, warum die Morsakk während der letzten Zyklen so tief in unser Reich eingedrungen sind. Wir dachten, sie wollten die Handelsbeziehungen verbessern. Offenbar diente das nur dazu, unser Hinterland auszukundschaften.“ Lorasar nickte beipflichtend. „Aber selbst wenn wir alle Arlia hinter die Stadtmauern holen“, gab Chiridan zu bedenken, „können wir sie hier überhaupt verteidigen?“ „Die Mauern sind nicht dafür gebaut, Katapulten standzuhalten“, erklärte Olgwana. Nun geschah etwas, das keiner der Anwesenden jemals zuvor erlebt hatte. Mahrzun ergriff das Wort. Der Klerus schwieg normalerweise zu weltlichen Angelegenheiten, und die wenigsten Arlia hatten Mahrzun überhaupt jemals sprechen hören. „Ruft alle hinter die Mauern Tahadar gmoijas. Wenn ich Tiars Schutz auf die Stadt herabrufe, werden wir sicher sein.“
Für einen kurzen Moment reagierte niemand. Alle verstummten augenblicklich und sahen gebannt auf den Hohepriester, als sei er eine Luftspiegelung. Es dauerte einen Augenblick, bis sie begriffen, daß er gerade tatsächlich gesprochen hatte. Dann ergriff Lorasar wieder das Wort. „Geht hinauf zu den Ställen, Chiridan. Schickt alle Flugreiter nach Norden. Sie sollen jedes Dorf, jede Stadt und jeden Hof warnen und den Arlia befehlen, in die Hauptstadt zu kommen.“ „Wenn es möglich ist“, hakte Ministerin Odoran ein, „sollen sie soviel zu essen mitbringen, wie sie tragen können. Wir stehen kurz vor der Ernte, und so wie die Dinge stehen, werden wir sie wohl nicht einholen können. Für eine Belagerung haben wir viel zu wenig Vorräte.“ Chiridan nickte und ging, um Lorasars Befehl auszuführen. „Was, wenn wir den Morsakk bei Torolion entgegentreten?“ fragte Olgwana. Lorasar schüttelte nur den Kopf. „Wir haben kaum Soldaten und Waffen. Außerdem fehlt uns die Zeit, eine wirksame Verteidigung aufzustellen. Die Morsakk könnten jeden Augenblick losschlagen. Vielleicht wird Torolion schon in diesem Moment angegriffen? Nein, kämpfen können wir nicht. Nicht dort.“ Darak horchte auf. „Ledachja hat vorgeschlagen, am Zugang zur Hochebene eine Verteidigungslinie zu bilden“, sagte der Prinz, „auf Höhe von Silior degor.“ „Natürlich, die Weber!“ rief Kajoris. „Darak, das ist deine Aufgabe“, sagte Lorasar und trat auf seinen Sohn zu. „Fliege mit Rhelum zu den Knüpfern und frage sie um Rat. Kehre dann sofort zu mir zurück.“ Dann wandte sich der König den übrigen Ministern im Raum zu. „Und wir werden Vorbereitungen für die Flüchtlinge treffen.“ „Ich werde in den Tempel zurückkehren“, sagte Mahrzun und erhob sich. „Ich werde im Buch der Prophezeiungen lesen. Möge Tiar mit euch sein.“ Mit weit gespreizten Fingern und ausgestreckten, offenen Handflächen erteilte der Priester den Anwesenden den Segen und verließ den Raum.
„Hoffentlich verraten uns Tiars Weissagungen etwas Nützliches?“ sinnierte Odoran ängstlich. Auf ein Zeichen des Königs verließen er und die übrigen Minister ebenfalls das Ratszimmer. Zurück blieben Darak und ein immer noch sehr nervöser Talaris. Darak sah ihn an und wollte etwas sagen, doch der junge Arlia kam ihm zuvor. „Bitte Herr!“ stammelte er, „schickt mich nicht fort. Ihr habt mein Leben gerettet und ich lege es in Eure Hände. Gebt meinem Dasein wieder einen Sinn und laßt mich Euch dienen.“ Er kniete sich sogar vor Darak nieder, doch das war zuviel für den Prinzen. Mit festem Griff zog er Talaris auf die Füße zurück. „Wenn du mir dienen willst“, sagte der Prinz mit erhobenem Finger, „knie nie wieder vor mir nieder.“ Seine Strenge auf dem Gesicht wich langsam einem Lächeln. Talaris konnte nicht anders, als dieses Lächeln erleichtert zu erwidern. Darak deutete mit dem Kopf in Richtung Tür und sie liefen los. Zurück durch den Gang und die Wendeltreppe hinauf erreichten sie gerade noch rechtzeitig die Flugterrasse, um die letzte Flugechse losfliegen zu sehen. Chiridan drehte sich zu dem Prinzen und seinem Begleiter um. „Mein Vater trifft Vorbereitungen für die Flüchtlinge“, sagte Darak. Chiridan nickte. Er war mehr ein Berater als ein Minister mit eigener Entscheidungsbefugnis. Es hatte nie einen Grund gegeben, ein stehendes Heer zu unterhalten. Weder die Ausbildung von Soldaten noch die Produktion von Waffen und Rüstungen nahm einen nennenswerten Stellenwert bei den Regierungsgeschäften des Reiches ein. Zumindest war das bis zu diesem Sonnenaufgang so gewesen. „Dann werde ich mich in der Waffenkammer umsehen“, sagte der Wachmann. Er klopfte Darak zum Abschied auf die Schulter und ging hinter ihnen durch die Tür zur Wendeltreppe. Rhelum kam freudig und voller Erwartung aus seinem Stall gelaufen. Das Tier liebte das Fliegen. Im Stall liegen zu müssen behagte ihm ganz und gar nicht. Sie mußte nicht lange auf das Aufsitzen von Darak und Talaris warten und begann sofort mit dem Start.
Vom Palast bis nach Silior degor war es mit einer Flugechse ein sehr kurzer Ritt. Es dauerte nur eine Handvoll Atemzüge, und schon mußte Rhelum zum Sinkflug ansetzen. Der zentrale Hauptturm der Weberschule besaß den einzigen Eingang. Die ihn umringenden vier Nebentürme, in denen die Weber ihre Zimmer hatten, waren nur weit oben über Brücken vom Zentralturm aus, dessen Spitze die Knüpfer bewohnten, zu erreichen. Der Unterschied zwischen einem Weber und einem Knüpfer war enorm. Während ein Weber einen Zauber aus bis zu fünfzehn Fäden weben konnte, beherrschten Knüpfer Magie von der Stärke jenseits der zwanzig Fäden. Um Knüpfer zu werden, mußte man außerdem die Kunst beherrschen, die magischen Fäden nicht einfach nur in Bahnen von der Hand zum Ziel zu zwingen. Stattdessen formten sie aus mehreren davon geometrische Konstruktionen, mit denen sie Objekte einhüllen konnten. Das war eine Voraussetzung, um einen Gegenstand dauerhaft mit Magie zu erfüllen. Ohne in eine geometrische Form gepreßt worden zu sein, kehrten die astralen Fäden wieder an ihren Ursprungsort zurück, wenn der Zauber beendet war. Allerdings durfte das Objekt danach nicht mehr entfernt werden, da die astrale Konstruktion statisch in diesem Punkt ihrer Ebene verharrte. Ein im Volk weit verbreiteter Irrglaube war, daß Weber nur mit dem Kopf arbeiten würden und ansonsten faul und träge wären. Tatsächlich gehörten mindestens zwei Sonnensprünge körperliches Training pro Sonnenlauf zum Lehrplan eines Webers. Sich auf der magischen Ebene zu bewegen, Zauber aus einem oder mehreren Fäden zu weben und sich dabei auf das eigentliche Ziel zu konzentrieren erforderte ein hohes Maß an Kondition. Während eines Zaubers die Kontrolle zu verlieren konnte schreckliche Folgen haben, wenn die Magie unkontrolliert entfesselt wurde. Ironischerweise waren es genau diese schlimmen Nebeneffekte des Zauberns, auf die Darak nun all seine Hoffnungen setzte. Rhelum erreichte die Eingangstür des Hauptturms und setzte etwas holprig auf dem felsigen Boden auf. „Warte hier, mein Guter!“ rief Darak Rhelum zu und klopfte dem Tier auf den schuppigen Hals.