Der Golemkrieg 2 - Timo Luksch - E-Book

Der Golemkrieg 2 E-Book

Timo Luksch

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Beschreibung

Im Machtkampf zweier Götter mißbrauchen diese die Sterblichen als Figuren in einem abscheulichen Kriegsspiel. Und während das Böse versucht, die letzten Überlebenden der Arlia auszumerzen, kämpft Prinz Darak il menoa nicht nur gegen den Feind, sondern auch gegen die Zeit, denn die Schwachstelle in der göttlichen Barriere wurde gefunden. Ein finaler, alles entscheidender Kampf beginnt, bei dem es letztlich um das Überleben der Arlia geht ...

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Seitenzahl: 721

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Der Golemkrieg
Teil 2
Timo Luksch
Erschienen im novum pro Verlag
Impressum
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.
Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und -auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.
© 2010 novum publishing gmbh
ISBN Printausgabe: 978-3-99003-180-3
ISBN e-book: 978-3-99003-740-9
Lektorat: Sarah Schroepf
Gedruckt in der Europäischen Union auf umweltfreundlichem, chlor- und säurefrei gebleichtem -Papier.
www.novumpro.com
AUSTRIA · GERMANY · HUNGARY · SPAIN · SWITZERLAND
Saga von Licht und Schatten – Band I – Das Geheimnis der steinernen Herzen – Erstes Buch
Kapitel IX – Urteile
Dendril erzählte Ährrig alles über ihre Reise. Sie war felsenfest von seiner Vertrauenswürdigkeit überzeugt, und so ließ sie -keine Einzelheit aus. Sie begann mit ihrer Flucht aus Ter’baskar, gefolgt von dem Marsch durch das Wiesenmoor. Ihre Begegnungen mit den Quatarr unterwegs beschrieb sie als besonders grauenvoll. Geduldig hörte sich der Priester alles an, bis sie zu der Stelle mit den Ruinen im Hügelmeer kam. Dendril bemerkte seine gesteigerte Aufmerksamkeit, als sie von dem teilweise eingestürzten Kuppelbau berichtete.
„Habt ihr dort irgendwelche Leichen gefunden?“ fragte Ährrig erwartungsvoll. „Nein“, gab Dendril zu seiner Enttäuschung zurück. „Wenn ich die Vision, die ich dort hatte, richtig deute, liegt das alles schon unglaublich lange zurück.“ „Ja“, antwortete Ährrig verzagt und senkte den Kopf. „Wie dumm von mir anzunehmen, daß dort noch Überreste der Gadarai von damals zu sehen sein könnten. Seitdem hat Tiar uns verlassen“, sagte er. „Alle in Dar’tara wurden getötet. Unser Volk hat das als Zeichen gesehen, daß es nicht gewollt war, daß wir an die Oberfläche gehen. Die Gadarai haben sich daraufhin wieder unter die Erde zurückgezogen. Trotzdem hat sich Tiar seitdem nicht mehr gezeigt. Erst ein Funke sollte das Feuer wieder entzünden, steht in den Prophezeiungen. Aber was das zu bedeuten hat?“ Dendril kannte das. Diese ewigen Andeutungen, Zweideutigkeiten, Rätsel, Hinweise und Vermutungen dominierten die Prophezeiungen Tiars. Ohne näher darauf einzugehen, fuhr sie mit ihrer Geschichte fort. Sie erzählte Ährrig von ihrer Begegnung mit Darissa, von der Pyramide und von der blauen Grotte. Als sie zu den riesenhaften Spinnen kam, horchte Ährrig merklich auf. Aufmerksam verfolgte er jedes Detail über ihren Marsch durch den Höhlenkomplex.
„Es war seltsam“, schloß Dendril ihren Bericht. „Die kleinen Spinnen schienen uns viel feindseliger gegenüberzustehen als die riesigen Tiere im hinteren Teil der Höhle, doch die haben uns angegriffen, kurz bevor wir in diesen Raum mit den senkrecht herabhängenden Fäden kamen, welche mit dicken Klebetropfen getränkt waren.“ Ährrig lächelte sie an. „Was du da erzählt hast, ist der absolute Beweis, daß du der Gromrar bist“, stellte er fest. „Die verschiedenen Spinnen, wie ihr diese Tiere nennt, von denen du berichtet, gehören alle der gleichen Art an. Bei uns heißen sie Wallaria, und sie bevölkern beinahe jede Höhle hier im Gebirge. Und ihr seid durch eine ihrer Bruthöhlen eingedrungen.“ Dendril verstand nicht recht. „Bruthöhlen?“ hakte sie nach. „Wie ihr schon richtig beobachtet habt, ernähren sich die großen Wallaria von diesen Riesenpilzen und die Kleinen von Fleisch. Der Raum mit den grünen Farbklecksen war der Pufferraum, wie wir ihn nennen.“ „Pufferraum?“ wiederholte Dendril ratlos. „Trächtige Wallaria sind mit zahllosen Eiern übersät. Sie verlassen die hinteren Höhlen, um in den Bruthöhlen ihrem Schicksal zu begegnen. Eigentlich sollen sie ihren eigenen Kindern als erste Nahrung in ihrem Leben dienen, doch zumeist werden sie von den bräunlichen Jungtieren dort vorzeitig getötet. Wenn die Kleinen geschlüpft sind, dauert es sehr lange, bevor ihr Hunger auf Fleisch gestillt ist. Diese grüne Farbe in dem Pufferraum ist ein Duftstoff, der die kleineren Wallaria davon abhält, in die hinteren Bereiche der Höhle vorzudringen, sonst würden sie die großen Wallaria allesamt mühelos töten. Erst ab einem gewissen Alter wirkt dieser Duftstoff nicht mehr auf sie, und dann, wenn ihr Appetit auf Pilze erwacht, erreichen sie die hinteren Höhlen mit dem Lälasch.“ „Lä – was?“ fragte Dendril. Ährrig lächelte.
Er ging hinüber zu einer Säule, wo ein Korb auf einer Anrichte stand, in dem mehrere violette Knödel lagen. Ährrig packte zwei davon und reichte einen zu Dendril hinüber. Diese wog ihn ratlos in der Hand hin und her und betrachtete ihn prüfend. Ährrig hingegen steckte ihn sich ohne Umschweife in den Mund, und sein Gesichtsausdruck beim Kauen deutete auf einen unnachahmlichen Geschmack hin. Obwohl der Knödel in Dendrils Hand kaum größer als eine Pflaume war, biß sie vorsichtig nur ein Stück davon ab. Als ihre Zunge es berührte, überschlugen sich die Ereignisse. Niemals zuvor hatte sie etwas gekostet, das so gut schmeckte. Ihre ganze Zunge überzog sich im Nu mit dem betörenden Geschmack, und sie warf vor Verzückung den Kopf in den Nacken. An diesen Knödeln war alles perfekt. Sie schmeckten nicht nur unvergleichlich, sie kauten sich auch wie ein Stück frisches Brot mit Butter. Oder wie ein knackiger Apfel. Oder ein Stück Fleisch, gerade frisch auf dem offenen Feuer zubereitet. Eben je nachdem, wonach einem gelüstete. Und sie sättigten ungemein. Das mußte Dendril schmerzlich feststellen, nachdem sie sich sofort noch drei weitere violette Knödel einverleibt hatte. Sie aß davon, soviel sie konnte, sie gelangte jedoch schnell an ihre Grenzen. Es war einfach nicht möglich, noch mehr davon zu essen, obwohl es so wenig schien und so verdammt gut schmeckte. Gnadenlos und viel zu früh füllte dieses Lälasch den Magen aus. „Ich frage mich nur“, schmatzte Dendril und leckte sich die Finger ab, „warum uns die Spinnen erst im letzten Raum angegriffen haben.“ „Die Höhle mit den klebrigen Fäden, welche von der Decke hängen“, erklärte Ährrig, „ist der Raum mit der Mutterflechte.“ Dendril verstand nicht. „Ihr habt sicherlich den leuchtenden Flechtenbewuchs in den verschiedenen Höhlen bemerkt?“ Die Arlia nickte. „Diese Flechten stammen allesamt von der Mutterflechte. Wenn sie zerstört wird, geht überall das Licht aus. Damit erlischt die Lebensgrundlage für das Lälasch und somit wiederum die Nahrung der Wallaria. Das ist der Grund, weshalb sie diesen Raum so verbissen verteidigen.“ Jetzt verstand Dendril. Offenbar lebten die Wallaria mit diesen Flechten in einer Art Symbiose. Sie beschützten ihren Lebensraum, so daß sie ungestört gedeihen konnten. „Auch für uns bedeutet das Lälasch die Hauptnahrungsquelle“, erklärte Ährrig, „doch die Wallaria verstehen es als einzige, das empfindliche Gleichgewicht zwischen Leuchtstärke der Flechten und dem Lälasch zu pflegen. Deshalb sind auch wir von diesen Tieren abhängig. Und davon abgesehen liefern sie uns jede Menge wertvolle Ressourcen. Ihre Haare, ihr Panzer, ihre Seide, das Gift, die Giftzähne, ja selbst ihre Augen sind wichtige Bestandteile vieler Dinge des normalen Lebens bei uns hier unten. Wir benötigen sie neben der Nahrungsherstellung auch für Rüstungen und Waffen, im Bauwesen und vor allen Dingen in der Alchemie.“
Zwar waren diese Informationen allesamt sehr interessant, doch Dendril mußte an ihr Volk denken. „Tiars Prophezeiungen haben erwähnt, daß in der Nähe der Pyramide etwas zu finden sei, um die Bedrohung durch diese Quatarr abzuwenden“, wiederholte sie sich. „Nun, wir haben euch Gadarai -gefunden.“ Ährrig sah sie zunächst verdutzt an, dann lachte er. „Du denkst, unser Volk würde euch Arlia in eurem Krieg beistehen? Oh, Dendril, deine Zuversicht möchte ich haben! Niemals würde ein Gadarai freiwillig einen Schritt an die Oberfläche wagen. Es gibt nur eine Handvoll Späher, die sich das trauen. Ich wüßte nicht, wie man die Gildenversammlung dazu bringen könnte, ein fremdes Volk militärisch zu unterstützen. Solange wir selbst nicht in Gefahr sind, wird kein Donnerrohr sprechen.“ „Donnerrohr?“ fragte Dendril neugierig. Ährrig betrachtete sie zunächst argwöhnisch, doch er entschied, daß er der Gromrar ruhig Einzelheiten über ihre Bewaffnung verraten konnte. „Ein Donnerrohr besteht aus einem eisernen Rohr, durch das kopfgroße Eisenkugeln abgefeuert werden können. Die meisten davon werden mit Dampf betrieben, doch es gibt auch einige, die mit Sprengpulver arbeiten. Sie können mühelos jede Verteidigungsmauer durchschlagen.“ Dendril hob eine Augenbraue. Eine solche Waffe wäre gegen die Quatarr schon ziemlich hilfreich, doch da Ährrig ihr so wenig Mut machte, was die Unterstützung durch die Gadarai anbelangte, verwarf sie diesen -Gedanken wieder. „Und du denkst nicht, daß man sie im Hinblick auf diplomatische Beziehungen dazu bewegen könnte …?“ „Nein!“ fiel Ährrig ihr unerbittlich ins Wort.
„Gadarai kümmern sich nur um Angelegenheiten der -Gadarai. Es gibt zahlreiche Städte hier unten und viele zehntausend von uns, doch ebenso vielfältig sind unsere eigenen Probleme.“ Dendril sah ihn enttäuscht an. „Da gibt es etwas, das du wissen solltest“, sagte er und trat verlegen von einem Bein auf das andere. „Es geht um euer Herz, nicht wahr?“ fragte die Arlia scharfsinnig. „Woher weißt du … Ach ja. Wir haben ja vorhin in eurer Gegenwart davon gesprochen. Ich erinnere mich. Nun, wir Gadarai waren einmal wesentlich offener und freundlicher gegenüber Fremden, als wir es jetzt sind. Wir hatten schon einmal Besuch von außerhalb. Leider zeichnen die Überlieferungen ein euch sehr ähnliches Bild dieser früheren Besucher mit Ausnahme der Ohren. Sie wurden damals mit offenen Armen empfangen, und als Dank haben sie unser Herz gestohlen und sind damit auf und davon. Keiner weiß, warum sie das getan haben, denn sie haben es bislang nicht gegen uns eingesetzt. Trotzdem leben wir in der ständigen Angst davor, daß sie es tun werden, um uns zu versklaven. Und da wir nicht wissen, wo sie sich befinden, haben wir keinerlei Handhabe in dieser Angelegenheit.“ Dendril nickte verständnisvoll. Es mußte grauenhaft sein, nicht zu wissen, ob man beim Aufwachen vielleicht schon unter der Kontrolle einer fremden Macht stand. Und diese Angst trug ein jeder Gadarai allgegenwärtig mit sich.
„Wenn wir also keine Möglichkeit haben, euch für uns zu gewinnen“, sagte Dendril, „verrate mir wenigstens, wie wir lebend aus dieser Gildenversammlung kommen.“ Wieder machte Ährrig ein betrübtes Gesicht, was ihr ganz und gar nicht behagte. „Was ist diese Gildenversammlung überhaupt?“ „Sie lenkt unser Volk“, gab Ährrig ein wenig verstört zurück. „Habt ihr Arlia denn keine Führung?“ „Doch, wir haben einen König. Er wird von einem Ministerrat beraten, von denen jeder für ein bestimmtes Ressort zuständig ist. Die Entscheidungen aber trifft der König alleine. Nur der Hohepriester des Tiar ist noch eine Stufe über ihm, doch Mahrzun mischt sich niemals in weltliche Belange ein.“ „Mahrzun“, wiederholte Ährrig langsam. „Er ist sozusagen mein Bruder nur in eurem Volk?“ Dendril nickte. Wenngleich es niemand wagen würde, mit Mahrzun so zu sprechen wie diese Grundular mit Ährrig. Das ließ sie jedoch im Augenblick besser unausgesprochen. „Nun, unser Volk ist in verschiedene Gilden aufgeteilt. Jeder Gadarai sucht irgendwann in seinem Leben die Mitgliedschaft in einer dieser Gilden, die von einem Gildenführer befehligt werden. Alle Gildenführer bilden zusammen die Gildenversammlung. Sie tritt nur bei äußerst wichtigen Dingen zusammen, die das ganze Volk betreffen. Ansonsten sind die drei Ältesten jeder Siedlung für alle Belange zuständig. Insgesamt gibt es siebzehn Gilden. Wenn also eine Entscheidung getroffen werden muß, kann es kein Unentschieden geben, es sei denn, jemand würde sich der Stimme enthalten. Das ist jedoch bislang noch nie passiert.“ „Und diese Grundular?“ hakte Dendril nach. „Sie ist die Anführerin der Sporensammler. Das ist eine sehr wich-tige Gilde, denn sie ist für die Nahrungsversorgung zuständig. Und Grundular hat großen Einfluß auf einige der anderen Gildenführer, was eure Situation leider ziemlich schwierig macht.“ „Aber bist du nicht auch ein solcher Gildenführer?“ fragte Dendril. „Das schon. Aber denke daran, was ich dir vorhin gesagt habe. Der Glaube an Tiar ist kaum noch ein Thema. Der Einfluß der Priestergilde ist sehr gering. Trotzdem würde ich vorschlagen, daß du das Reden mir überläßt. Du solltest vorerst vielleicht weiterhin die Ahnungslose spielen, die nichts verstehen kann. Du kennst dich in unserer Gesellschaft einfach zu wenig aus. Man würde dir, ohne zu zögern, das Wort im Munde herumdrehen und es gegen euch verwenden. Und bedenke, daß die Angst, von Fremden hintergangen zu werden, in jedem von uns Gadarai sehr tief sitzt.“ Dendril nickte. Just in diesem Augenblick kam ein Priester in den Raum herein. „Ährrig?“ sagte er. „Die Gildenversammlung tritt in Thurrkaschal zusammen. Ihr seid gerufen worden.“ Ährrig nickte dem Priester dankbend für die Überbringung dieser Nachricht zu, welcher sie daraufhin wieder verließ.
„Wo ist dieses Thurrkaschal?“ wollte Dendril wissen. „Unsere Hauptstadt liegt weit entfernt im Osten, doch wir werden einfach einen Rarrach nehmen. Dann sind wir in kurzer Zeit dort.“ „Einen was?“ fragte die Gromrar. Ährrig lächelte. „Laß dich überraschen. Geh jetzt zurück zu deinen Kameraden und informiere sie, was auf euch zukommt. Leider kann ich euch nicht viel Hoffnung machen, doch ich darf sagen, daß jeder Fluchtversuch zwecklos ist. Auch wenn ich eure Gefangenschaft nicht befürworte, sind mir die Hände gebunden. Ihr müßt euch wohl dieser Gildenversammlung stellen, und dort sollten wir gemeinsam auf ein Wunder deines Vaters hoffen.“ Ein Lächeln umspielte Dendrils Lippen. Ährrig brachte sie zu Darak und Talaris zurück, die bereits besorgt auf sie gewartet hatten.
„Ich brauche eine Eskorte von sechs Soldaten“, sagte Ährrig zu dem Gadarai mit den Zöpfen im Bart. Der nickte und deutete sofort die geforderte Anzahl von Kriegern aus. „Wir gehen zum Tunnel und nehmen einen Rarrach nach Thurrkaschal“, erklärte Ährrig. „Was hat er gesagt?“ flüsterte Darak zu Dendril geneigt. „Wir werden jetzt in ihre Hauptstadt gebracht, damit sie dort Gericht über uns halten“, erklärte sie. „Gericht?“ fragte Talaris ängstlich. „Aber wir haben doch nichts verbrochen?“ „Doch. Wir sind ohne Einladung in ihr Reich eingedrungen, und das nimmt man uns wohl sehr übel.“ „Aber du wirst das doch alles erklären, oder?“ runzelte Darak ratlos die Stirn. Dendrils Gesichtsausdruck machte ihm wenig Hoffnung. „Ährrig hat darum gebeten, daß wir das Reden ihm überlassen. Und ich glaube, daß wir uns daran halten sollten.“ Der Prinz sah sie aus zusammengekniffenen Augen an. „Du verheimlichst uns doch etwas“, stellte er fest. Dendril seufzte ertappt. „Ich will euch nicht im Dunkeln lassen, doch unsere Chancen stehen sehr schlecht. Man steht uns wohl mehrheitlich feindselig gegenüber, und weder Ährrig noch ich wissen, wie wir diesen Umstand ändern könnten. Trotzdem ist diese Gildenversammlung die einzige Möglichkeit für uns, hier lebendig herauszukommen, obwohl es fast sicher ist, daß sie uns töten wollen.“ Talaris zitterte am ganzen Leib, und Darak nahm ihn unterstützend in den Arm. Obwohl auch ihm nach Zittern zumute war, dominierte in ihm doch eher der Zorn. Was bildeten sich diese Gadarai eigentlich ein? Sie waren nicht mit Absicht in ihr Reich eingedrungen. Sie hatten bis vor ein paar Sonnensprüngen nicht einmal gewußt, daß es dieses Volk überhaupt gab. Und wenn sie es gewußt hätten, so wären sie peinlich darauf bedacht gewesen, die nötige Etikette einzuhalten. Und nun wollte man sie schlicht dafür töten, weil sie hier waren? Und zu allem Überfluß hielt man sie auch noch davon ab, daß sie ihre eigentliche Suche fortführen konnten. In Anbetracht der Lage war jedoch jeder Widerstand zwecklos. Noch dazu jetzt, wo sie ohne Waffen dastanden. Also ließen sie sich ohne Gegenwehr abführen. Ihr Marsch führte sie durch den Raum, in dem Dendril mit Ährrig gesprochen hatte. Von dort aus wanderten sie durch diverse Gänge, bis sie einen großen Tunnel erreichten. Er war beinahe perfekt kreisrund, hatte einen Durchmesser von leicht vier bis fünf Schritten und verlor sich weiter hinten im Duster. Sie erreichten eine Art Rampe. Dort warteten sie gemeinsam mit ihren Begleitern. Allerdings wußten sie nicht, worauf sie warteten. „Die Reise auf einem Rarrach ist nichts für einen schwachen Magen“, raunte Ährrig leise zu Dendril hinüber. So etwas hatte sie befürchtet. Doch sie schwor sich, diesmal jeder Gewalt zu widerstehen, die versuchen sollte, ihr dieses phantastische Lälasch zu entreißen.
Ein stetig lauter werdendes Donnern kündete von der Ankunft eines Rarrach. Als die Kreatur zum Vorschein kam, hätte Dendril beinahe erschrocken aufgeschrien. Ihren Begleitern erging es da nicht anders. Vor der Rampe kam ein Riesentausendfüßler zum Stehen, der von seinem Ende bis zu den Ausläufern seiner Fühler leicht dreißig Schritte maß. Mit seinem Stillstand erstarb auch das Donnern im Tunnel. Das Tier hatte einen Durchmesser von gut einem und einem halben Schritt, wenn es seinen feisten, schlangenförmigen Leib auf dem Boden ablegte. Im mittleren Drittel der Kreatur war ein aufwen-diger Reitsattel angebracht, der für etwa fünfzehn Gadarai Platz bot. Ganz vorne, direkt über dem Kopf der Kreatur, saß ein Reiter, der das Ungetüm lenkte. Ohne Umschweife stiegen die Umstehenden auf, nur die Arlia zögerten. Einige Helfer kamen herbeigeeilt, um ihnen beim Aufstieg zu helfen. Auf dem Sattel befand sich eine Lage Spinnseide, welche die Helfer mit viel Kraftaufwand hochzogen. Die Seide war zwischen jedem Sitzplatz fest mit dem Sattel verwoben. Die Arlia setzten sich widerstrebend zwischen den Sattel und diese Spinnseide, die man ihnen anschließend über den Kopf zog wie ein Hemd. Die Spinnfäden waren für einen Gadarai gespannt und drückten die Arlia deshalb so massiv in den Sattel, daß ihre Rücken zu -Buckeln gekrümmt wurden. Nur ihre Köpfe ragten nunmehr aus dem seidenen Gurtband heraus. Massive Eisenhelme wurden ihnen aufgesetzt und unter dem Kinn festgezurrt und Visiere aus einem durchsichtigen Material vor ihren Gesichtern angebracht. Wesentlich komplizierter war das Ein-packen der aufwendigen Frisur von Ährrig. Sie spürten, wie ihre Beine links und rechts an dem Sattel festgebunden wurden. Die Knoten wurden dabei so eng geschnürt, daß sie ihre Füße nicht mehr spürten. Dann wickelte man ein Seil um ihre Arme, drückte es ihnen nachhaltig fest in die Hand und verknotete es mit einer Öse auf dem Zwischenstück des Sattels vor ihnen. Dann wurde die Prozedur mit dem Vordermann wiederholt, bis man ganz vorne am Sattel angekommen war. Alles in allem konnten sich die Arlia kaum von der Stelle bewegen. Dann ging es los. Die Helfer signalisierten dem Reiter des Rarrach, daß er aufbrechen konnte, und dieser ließ die Zügel um den Kopf der Kreatur schnalzen.
Ein Donnern erhob sich, als sich die tausend Füße in Bewegung setzten. Der Tunnel wanderte immer schneller an ihnen vorbei, und das Licht erstarb mit jedem Atemzug mehr, den sie tiefer in die Röhre eindrangen. Dann ging es plötzlich steil bergab, und schnurstracks in die Dunkelheit. Das Donnern um sie herum nahm eine Lautstärke an, welche selbst Dendril übertönte, die aus Leibeskräften schrie. Der Wind pfiff ihnen unter das Visier, und nicht die winzigste Lichtquelle durchbrach die allgegenwärtige Schwärze um sie herum. Ausnahmslos packten sie mit aller Kraft die Seile in ihren Händen, doch das schien unnötig. Die Spinnseide, welche über ihre Schultern gespannt war, ließ sie kaum aus ihrem Sattel gleiten, und das, obwohl der Rarrach natürlich auch die Wände und die Decke des Tunnels zur Fortbewegung nutzte. Die feste Verschnürung um ihre Beine tat ihr übriges, und so hob sich höchstens einmal ihr Gesäß um maximal einen Fingerbreit vom Sattel ab, wenn es kopfüber vorwärtsging.
Das Tier wurde scheinbar immer schneller. In völliger Dunkelheit erspürte es die Windungen des Tunnels bereits viele hundert Schritte zuvor und wußte allzu genau, wie es weiterging. Der Reiter konnte lediglich eingreifen, indem er das Tier stoppte, wenn irgend etwas passieren sollte. Die zahlreichen stampfenden Beinchen, die immerhin die Dicke eines Schienbeins hatten, verursachten zahllose Sprengungen in dem fel-sigen Untergrund. Steine, Sand und Staub wurden freigesetzt, und durch den Wirbel, den der Tausendfüßler mit seiner Geschwindigkeit und seiner schieren Größe verursachte, erhob sich ein durchdringendes Rauschen, welches sich mit dem Donner vermischte. Dazu kamen klingelnde Geräusche, wenn kleine Steinchen gegen ihre Eisenhelme prallten, was jetzt permanent der Fall war.
Dendril hatte es aufgegeben, zu schreien, obwohl ihr mehr den je danach zumute war. Sie preßte krampfhaft die Augen zusammen und hoffte, daß dieser Ritt so bald wie möglich vorbei sein würde. Mit dieser Meinung stand sie allerdings alleine da, denn Darak und Talaris genossen diesen rasanten Transport in vollen Zügen. Darak fühlte sich an Rhelum erinnert, auch wenn er nie mit ihm Ausritte in völliger Dunkelheit gemacht hatte. Auch waren sie nie kopfüber unterwegs gewesen. Durch die Schwärze um sie herum konnte sich keiner der Passagiere auf einen Positionswechsel einstellen, und man war auf Gedeih und Verderb von dem stabilen Sattel und den vielfältigen Sicherungen abhängig. Bei voller Fahrt von dem Rarrach zu stürzen, würde bestimmt sehr weh tun. Ohne Vorstellung, wie lange die Reise dauern würde, ergaben sich die Arlia in ihr Schicksal. Und obwohl sie einer bedenklichen Verhandlung entgegensteuerten, hoffte Dendril trotzdem auf ein schnelles Ende dieses Ritts.
Zu seiner großen Überraschung war Thar Molok’dor noch am Leben. Winsojir hatte ihn nicht für sein Versagen bestraft. Sein Zorn hatte drei andere Quatarr das Leben gekostet. Er war erschienen, als der Fledermausguano schon beinahe wieder getrocknet war. Die ersten Morsakk waren bereits damit beschäftigt, die Festung zu reinigen.
Winsojir hatte die Verfolgung der Arlia abgebrochen. Stattdessen war Molok’dor mit einer neuen Aufgabe betraut worden. Er sollte die Festung zu einem uneinnehmbaren Stützpunkt ausbauen. Zu diesem Zweck waren bereits weitere Morsakk und viel Baumaterial unterwegs. Der Thar konnte diesen Schritt überhaupt nicht nachvollziehen. Bedeutete etwa das Entkommen der drei Flüchtlinge durch die Schlucht eine Gefahr für dieses Bollwerk? Winsojir hatte eine große Truppe zur Verstärkung entsandt, die in weniger als zwei Umläufen hier sein würde. Damit kam Molok’dor zumindest wieder in den Genuß, eine angemessene Streitmacht zu befehligen. Ein Glück, das er sich nach seinem Versagen nicht einmal vorzustellen gewagt hatte. Die Sonnen standen tief, und Salunes Sprung würde bald anbrechen. Bis zum Sonnenaufgang sollte die Festung wieder soweit von Kot befreit sein, daß man ihr diese Schmach nicht mehr ansah. Mit gerunzelter Stirn überflog Molok’dor die Skizzen des Bauauftrages, die er nach Winsojirs Vision schnell angefertigt hatte. Ein neuer, größerer Mauerring sollte darum errichtet werden. Dabei war die geforderte Mauerdicke auf der der Schlucht zugewandten Seite wesentlich mächtiger als in Richtung des Hügelmeers. Vier neue Wehrtürme sollten entstehen. Zwei auf jeder Seite, wobei die beiden Türme, welche buchstäblich inmitten der Schlucht gebaut werden sollten, noch einmal weitaus mächtiger waren als die anderen beiden. Sie würden eng beieinanderstehen und zusammen mit der neuen Wehrmauer ein Passieren der Schlucht, gleich, in welche Richtung, vollkommen unmöglich machen. Doch wie es schien, fürchtete Winsojir eher einen Angriff von jenseits der Schlucht. Molok’dor konnte sich keinen Reim darauf machen. In den ausgedehnten Hochgebirgstälern gab es nichts außer Wäldern, Fledermäusen und Grubenspinnen. Offenbar existierte dort noch etwas anderes, von dem der Thar keine Kenntnis hatte.
Er mußte Winsojirs neuen Befehl ausführen, doch von seinem letzten Einsatz konnte er einfach nicht gedanklich ablassen. Immer wieder sah er die drei Flüchtlinge vor seinem geistigen Auge, die ihn abgehängt hatten. Mit Worten war nicht mehr zu beschreiben, was er ihnen antun wollte, wenn er sie noch einmal zu Gesicht bekommen sollte. Sein Zorn auf diese drei war so immens, daß die Quatarr einen Bogen um ihn machten, wenn er an sie dachte, so fürchterlich war seine Fratze zu einer Grimasse aus Haß verzerrt. Wie hatten es diese drei nur schaffen können, seine Soldaten zu töten? Sobald die Schlucht wieder begehbar war, und das würde kurz nach Sonnenaufgang sein, wollte er nicht nur Späher ausschicken, um den Kampfplatz zu untersuchen, sondern höchstpersönlich mit dabei sein. Vielleicht fand er dort Hinweise darauf, wie es den Arlia gelungen war, sein Kampfkommando zu vernichten. Auch würde er Kundschafter aussenden, um die Täler hinter der Schlucht in Augenschein zu nehmen. Vielleicht hatte man beim ersten Auskundschaften irgend etwas übersehen? Zwar war ihm das nicht befohlen worden, doch ebensowenig hatte Winsojir es ihm verboten.
Mit Ausnahme des bemerkenswert dichten Waldes im ersten Tal hinter der Schlucht war den Quatarr nichts von Interesse bekannt. Mit Äxten und Feuer würden sie auch das Geheimnis dieses Waldes lüften, wenn sie die Arlia dereinst besiegten. Das war alles nur eine Frage der Zeit. Von den -Gadarai unter den Bergen hatte Molok’dor keine Kenntnis. Nur Thar Magrusch war im Besitz aller Geheimnisse, und er hätte ihm wohl auch verraten können, wovor sich Winsojir zu fürchten schien. Doch Magrusch hatte wiederum keinen Schimmer davon, daß drei Arlia, die Molok’dor eigentlich hatte abfangen sollen, möglicherweise die Gadarai erreicht hatten. Es gab erst wenige dieser neuen Verbündeten, die auf der Seite der Quatarr standen. Genauso erschaffen wie die Quatarr, machte sie das gewissermaßen selbst zu Quatarr, obwohl es Gadarai waren und sie sich auch wie diese verhielten. Was die ersten Exemplare dieser Verbündeten jedoch bereits an Geheimnissen an Winsojir verraten hatten, war sehr bedeutsam. Wenn die Gadarai erst einmal vollständig unter seiner Kontrolle standen, würde er seine Armee auch mit Donnerrohren ausrüsten können.
Mit finsterster Miene schritt Thar Chokol unter Ter’baskar hindurch. Angestrengt überlegte er, wie es ihm gelingen sollte, diese vermaledeite Stadt endlich zu vernichten. Katapulte standen ihm nun keine mehr zur Verfügung. Er hätte eine Anforderung zu Thar Magrusch schicken können, doch dieser würde wohl kaum einen Teil seiner Streitmacht von der vordersten Front abziehen, um diese ohnehin schon handlungsunfähige Stadt zu zerstören. Selbst, wenn er die Kriegsmaschinen nicht vor Fertigstellung der Staumauer benötigte. Spätestens mit der Eroberung des Herzens der Arlia würden sich die wenigen Überlebenden ohnehin ergeben und ihnen die Stadt freiwillig überlassen. Chokol war jedoch fest entschlossen, die Stadt wesentlich früher aus den Baumkronen zu holen. Winsojir schien an dieser Sache kaum Interesse zu zeigen. Zwar war seine Aura vor einigen Sonnensprüngen hier gewesen, und Chokol hatte mit seinem Tod oder zumindest einer harten Bestrafung gerechnet, doch nichts dergleichen war geschehen. Er hatte sein Versagen einfach zur Kenntnis genommen, und Chokol war nicht sicher, ob er darüber erleichtert sein sollte oder Winsojir vielleicht an eine besondere Bestrafung dachte, die noch folgen mochte.
Chokol hatte allen Quatarr ausnahmslos befohlen, sich Gedanken darüber zu machen, wie sie in die Stadt eindringen konnten. Verbissen untersuchten sie das seltsame Material, aus dem die Fallkugel bestand. Möglicherweise ergab sich aus dieser neuen Substanz irgendeine Möglichkeit? Eine andere Gruppe von Quatarr hatte damit begonnen, von den Katapulten soviel Holz zu retten, wie noch möglich war. Allzuviel war es jedoch nicht. Die meisten längeren Holzteile waren durch den Würgegriff der Schlingwurzeln mehrmals geborsten. Sie schleppten es in den hohlen Baum, in welchem sie die Fallkugel entdeckt hatten. Chokol war gerade in der Nähe, also beschloß er, ihnen einen Besuch abzustatten.
Einige Hundert Schritte später hatte er den geheimen Eingang erreicht und zwängte sich ins Innere des hohlen Baumstamms, wo bereits reges Treiben herrschte. Unter der Anleitung eines Baumeisters waren die Quatarr dabei, eine Art Gerüst zu errichten. Sie verhielten sich auffällig leise während ihrer Arbeit, befürchteten sie doch, daß man über ihnen Wind von ihrer Aktion bekam.
„Mein Thar“, begrüßte ihn der Baumeister und verbeugte sich. „Was wird das hier?“ fragte Chokol, ohne ihn anzusehen. „Wir versuchen, das Gerüst zu bauen, das es uns erlaubt, bis ganz nach oben und damit in die Stadt zu gelangen“, erklärte der Quatarr, obwohl das in seinen Augen eigentlich offensichtlich war. Den Ranghöheren mußte man eben gelegentlich das Eindeutige noch einmal erklären, damit sie es auch verstanden. „Und du glaubst, daß das Holz dafür ausreichen wird?“ zweifelte Chokol argwöhnisch. „Der untere Teil wird der schwierigste“, antwortete der Quatarr. „Wenn wir erst einmal eine Höhe von einigen Schritten erreicht haben und der Stamm enger wird, können wir die Holzteile dazwischen verkeilen und brauchen so weniger Baumaterial zum Abstützen. Leider wurde das wenige dafür brauchbare Holz von der Palisade bereits fast vollständig verbaut. Deshalb würde etwas zusätzliches Bauholz immens weiterhelfen. Es wird noch dauern, bis wir soweit sind, deshalb solltet Ihr vielleicht einen Trupp ausschicken, der uns davon noch etwas besorgt?“ „Willst du mir etwa sagen, was ich zu tun habe?“ fragte Chokol aufgebracht. „Nein, mein Thar. Selbstverständlich nicht.“ „Was für Bauholz braucht ihr?“ erkundigte sich der Thar und blickte senkrecht nach oben. „Drei oder vier Stämme aus einem nahegelegenen Wald dürften ausreichen, um unser Gerüst fertigzustellen“, antwortete der Baumeister. Chokol schien zu überlegen. „Dann werde ich einen Trupp Morsakk losschicken, damit sie diese Stämme besorgen“, bestimmte er kurzentschlossen. Der andere Quatarr rollte genervt mit den Augen, senkte jedoch schnell das Haupt, als Chokol ihn ansah. „Ich danke Euch, mein Thar“, sagte er demütig. Mit diesen Worten verließ er den Stamm, um die Morsakk für die Beschaffung der nötigen Ressourcen abzustellen.
„Mein Thar“, rief ein Quatarr und kam strammen Schrittes auf ihn zu. „Die Truppen verlangen nach Dranal“, berichtete der Soldat. „Sie stehen bereits Schlange, um …“ „Was?“ schnauzte Chokol ihn an. „Für diese erbärmliche Niederlage wollt ihr auch noch eine Belohnung? Macht euch gefälligst wieder an die Arbeit! Die nächste Dosis Dranal erhaltet ihr frühestens bei Sonnenaufgang!“ „Aber mein Thar?“ wollte der Quatarr einwerfen. Chokol riß seinen Gazarrach aus der Scheide und starrte den Soldaten durchdringend an. „Ich kann deinen Durst auf Dranal auch gleich beenden“, zischte er wütend. Dieser wich einen Schritt zurück und verbeugte sich schließlich. Das war eine schlechte Entscheidung. Einerseits wollte er von seinen Quatarr, daß sie sich Gedanken darüber machten, wie die Stadt zu nehmen war, andererseits enthielt er ihnen die dringend benötigte Dosis Dranal vor. So waren die Quatarr mehr damit beschäftigt, sich gegen die schleichenden Auswirkungen dieses Mangels zu stemmen, als daß sie den Kopf für andere Dinge frei hatten. Wahrscheinlich würden einige sogar außer Kontrolle geraten und durchdrehen. Doch seinen Befehlshaber darauf hinzuweisen, würde wahrscheinlich lediglich sein eigenes Leben beenden, nicht aber dessen dummes Vorgehen. Also trollte sich der Soldat, um den auf das Dranal wartenden Quatarr die schlechte Nachricht zu überbringen, für die sie zweifelsohne ebenfalls ihn verantwortlich machen würden, obwohl er keinen Einfluß darauf hatte. Chokol indessen wählte einen Trupp Morsakk aus und ließ sie durch eine Handvoll Quatarr eskortieren, damit diese das benötigte Bauholz holten.
Innerlich rieb er sich bereits die Hände und malte sich aus, was er mit den Arlia dort oben anstellen würde, wenn sie die Stadt stürmten. Er würde sie nicht einfach niedermetzeln lassen. Einfangen sollte man sie. Danach? Das würde er sich noch überlegen. Entweder fackelte er sie zusammen mit dieser Stadt einfach ab, oder er veranstaltete ein Festmahl für die Schnapper. Diesmal jedoch ohne unvorhersehbare Unterbrechungen.
Olgwana war gerade dabei, einige Befehle zu brüllen, als sie König Lorasar und den Hohepriester Mahrzun daherkommen sah. Sie verbeugte sich tief und wagte nicht aufzusehen. Erst als Lorasar das Wort an sie richtete, schaute sie ihn an. Peinlich darauf bedacht, keinen versehentlichen Seitenblick auf den Hohepriester zu werfen.
„Wir dürfen dir gratulieren, Olgwana“, eröffnete Lorasar stolz. „Dein Damm hält. Du hast es tatsächlich geschafft, den Rai takal trockenzulegen.“ „Danke, Sire“, antwortete sie mit einer weiteren Verbeugung. „Doch die Arbeiten an der -Sperre sind noch nicht abgeschlossen. Noch immer besteht die Gefahr, daß der Rai die Erde ausschwemmt und wieder in die Stadt eindringt, doch meine fähigsten Arbeiter sind dabei, -dieses Problem zu bannen.“ „Und die Mauer?“ fragte der König. „Noch bevor ich ausgeschlafen hatte, war damit begonnen worden, die auserkorenen Gebäude zurückzubauen. Dieser Rückbau dauert zwar wesentlich länger als ein einfacher Abriß, doch wir benötigen soviel intaktes Baumaterial wie möglich. Gegenwärtig -wurden bereits zwei Häuser bis auf die Grundmauern abgetragen. Dort vorne seht ihr das Ergebnis.“ Olgwana deutete auf mehrere Stapel mit Steinen, die pyramidenförmig aufgeschichtet worden waren und die an ihrem Platz auf weitere Verwendung warteten. „In Kürze werden wir noch wesentlich mehr Baumaterial zur Verfügung haben“, ergänzte sie und deutete auf eine Reihe von Gebäuden, denen bereits deutlich ihr zukünftiges Schicksal an der Fassade geschrieben stand.
Alle Holzteile wie Türen, Rahmen, Treppen, Geländer, Schränke, Fensterrahmen, die Fensterläden, Bodendielen und Balken waren bereits entfernt worden, und nur der nackte Steinbau stand noch da. Dagegen gedieh das Holzgerüst an der Stadtmauer prächtig. Es erstreckte sich bereits über mehrere Dutzend Schritt Länge und an einigen Stellen sogar schon bis an die höchsten Bereiche der momentanen Stadtmauer. Olgwana war jedoch nicht sehr zufrieden mit diesem Fortschritt. Sie mußten Metall einsparen, was sie dazu zwang, das Gerüst mit Seilen zu verzurren, damit es stabil war. Kein einziger Nagel steckte darin, doch Olgwana hatte sich auch hierfür etwas Besonderes ausgedacht. Das Gerüst bestand aus einzelnen Abschnitten, die je nach Bedarf vollständig an eine andere Stelle des Baues gebracht werden konnten. So mußte man nicht das ganze Gerüst abbauen, um es an der gewünschten Stelle wieder neu zusammenzusetzen, sondern man war in der Lage, stückchenweise vorzugehen. Gegenwärtig stand das Gerüst neben einem jener Gebäude, die in die neue Mauer mit integriert werden sollten. Von hier aus würde man sich Stück für Stück rund um die Stadt arbeiten, bis die neue Mauer vollständig war.
„Was denkst du?“ fragte Lorasar. „Wie lange wird es dauern, bis deine Mauer fertig ist?“ Olgwana sah ihn entgeistert an. „Majestät, bitte verzeiht, aber das weiß ich nicht. Ein solches Projekt hat es bislang nie gegeben, und wir wissen noch nicht, welche Schwierigkeiten sich uns in den Weg stellen werden.“ „Schon gut“, wiegelte der König ab. „Wir haben genug Zeit“, ergänzte er und deutete auf den Schild Tiars über ihren Köpfen. Aufgrund ihres Wissens über die Schwachstelle dieses Schutzes war sich Olgwana nicht ganz sicher, ob Lorasar es ernst meinte oder sie auf ironische Weise zur Eile antreiben wollte. Letzteres hätte sie als sehr unpassend empfunden, doch an des Königs Gesicht konnte sie ablesen, daß er es tatsächlich ernstgemeint hatte. „Wenn unser Feind eine Mauer bauen will, um uns zu ersäufen“, raunte Lorasar leise in ihr Ohr, „wird er eine wesentlich größere und mächtigere Mauer errichten müssen als du. Und das wird ihn sehr viel Zeit kosten.“ „Ich frage mich auch, woher das ganze Baumaterial dafür kommen soll?“ warf Olgwana ein. „Wobei“, überlegte sie laut, „ich hätte dafür schon eine Idee. Und wenn sie den gleichen Einfall haben, werden sie sehr viel schneller damit fertig sein, als Ihr erhofft, Majestät.“ „Was meinst du?“ fragte Lorasar. „Nun, ich würde einfach einen Wall aus losen Steinen aufschütten und mit Erde verstärken. Schließlich soll dieser Damm keinen ganzen Zyklus überstehen, sondern gerade mal so viele Umläufe, wie nötig sind, um uns hier drinnen zu ersäufen.“ Lorasar machte ein besorgtes Gesicht. „Du hast recht“, sagte Mahrzun, und Olgwana zuckte zusammen. Sofort senkte sie das Haupt und wendete sich dem Hohepriester zu. Es war das erste Mal in ihrem Leben, daß er sie direkt ansprach. „Nehmen wir an, daß unser Feind deine Bautechnik anwendet“, fuhr er nachdenklich fort. „Welche Möglichkeiten haben wir, dagegen vorzugehen?“ Olgwana war sich unsicher, ob sie antworten sollte, doch die lange Pause forderte von einem der Anwesenden, daß er das Wort ergriff. Und da nur sie in der Lage war, eine Antwort darauf zu geben, erhob sie notgedrungen ihre Stimme. „Ich muß die Mauer höher bauen als unser Gegner seinen Wall“, sagte sie schlicht. Lorasar und Mahrzun sahen sich kurz an, dann wieder zu Olgwana. „Und wie hoch, glaubst du, werden sie diesen Wall errichten?“ fragte der König besorgt. „Wenn ich an ihrer Stelle wäre, würde ich diese Staumauer etwa zwei Schritte höher bauen, als unsere Stadtmauer im Augenblick ist“, gab die Baumeisterin zurück. „Was bedeutet“, wollte sie fortfahren, doch Mahrzun fiel ihr ins Wort. „Was bedeutet, daß unsere Stadtmauer mindestens vier Schritte höher werden muß als jetzt.“ Olgwana nickte, ohne den Hohepriester anzusehen.
„Gibt es da ein Problem?“ fragte Lorasar. „Ja, mein König“, antwortete die Ministerin ohne Umschweife. „Eine so hohe Mauer gibt es bislang nicht in unserem Reich. Zumindest keine freistehende Mauer, die nicht Bestandteil eines Gebäudes ist.“ „Wenn das so ist“, verfügte Lorasar schlicht, „wirst du die erste davon bauen.“ Olgwana sah ihn ein wenig bestürzt an. Zwar traute sie sich diese Aufgabe durchaus zu, doch es war schon eine ziemliche Herausforderung. „Sire, diese Mauer wird dann lediglich dem Wasser standhalten“, warnte sie. „Einem Beschuß von Katapulten haben wir damit nichts entgegenzusetzen. Die obersten drei Schritte können einem Bombarde-ment nicht lange standhalten.“ „Davor schützt uns das“, sagte Mahrzun und deutete auf die schillernde Kuppel über ihnen. „Aber werden sie nicht merken, wenn sie mit ihrer Taktik keinen Erfolg haben?“ gab Olgwana zu bedenken. „Und was dann?“ fragte Lorasar. „Werden sie ihren Damm wieder einreißen und das Wasser ablaufen lassen, um mit ihren Kriegsmaschinen einen sinnlosen Angriff gegen Tiars Schutz zu führen?“ Das war unwahrscheinlich. Wesentlich naheliegender war, daß sie als Antwort darauf ihre Staumauer noch weiter aufstocken würden, was Olgwana einen neuen Auftrag einbringen würde, um zu kontern. Doch die Höhe der gegnerischen Staumauer war lediglich eine Schätzung von Olgwana. Möglicherweise würden sie diese von Anfang an so hoch bauen, daß ihnen nichts in die Quere kommen konnte bei ihrem Vorhaben. Aber wenn nicht? Wenn sie recht hatte mit ihrer Vermutung? Dann würden die Quatarr im Augenblick ihres vermeintlichen Triumphes erkennen, daß sie doch noch nicht gesiegt hatten. Und mit einem erzwungenen Ausbau deren Staumauer würden die Arlia enorm viel Zeit gewinnen. Mit etwas Glück sogar einen ganzen Zyklus, bis zur darauffolgenden Schneeschmelze. Wenn ihre Vorräte so lange reichten.
Damit stand Olgwanas Ziel deutlich vor Augen. Sie würde die Stadtmauer in der gewünschten Höhe errichten und sich bereits jetzt Gedanken darüber machen, wie man die Höhe noch weiter übertreffen konnte. „Ich werde die Mauer entsprechend planen“, versicherte sie mit einer tiefen Verbeugung, wenngleich ihr tausend Zweifel durch den Kopf gingen. „Wir vertrauen auf deine Fähigkeiten“, sagte Mahrzun, „und auf deine Verschwiegenheit.“ Damit hatte er Olgwanas Kenntnis über die Schwachstelle in Tiars Schutz gemeint. Das war es jedoch nicht, was ihr gerade im Kopfe herumspukte. Je höher sie die Mauer baute, umso weniger würde sie dem Wasserdruck von außen standhalten. Wenn der Pegel tatsächlich über einen Schritt weit über die derzeitige Höhe der Mauer anstieg, konnte sie nicht garantieren, daß sich das Wasser nicht einen Eingang in die Stadt aufbrach. Wenn das geschah, wären all ihre Anstrengungen binnen weniger Atemzüge umsonst gewesen.
Als der Rarrach vor einer neuen Rampe zum Stehen kam, dankte Dendril ihrem Vater mit zahllosen stummen Gebeten. Der Tunnel hier war wesentlich größer als an ihrem Startpunkt. Mehrere Rarrach tummelten sich an den Wänden und an der Decke, und inmitten der gewaltigen Ausmaße dieses Tunnels erschienen die Insekten beinahe winzig. Diese kopfüber hängenden Tiere waren freilich ohne Reiter, hätten diese doch hilflos und falsch herum in ihren Spinnfäden hängen müssen, was sicherlich auch für einen Gadarai unangenehm wäre. Daneben stampften noch vier weitere Rarrach ungeduldig mit den Füßen, deren Sättel vollbesetzt waren und die darauf warteten, daß der Tausendfüßler mit den Arlia an Bord endlich seine Reisenden absetzte, damit sie zum Zuge kamen. Gerade noch sahen sie einen anderen Rarrach in einer Staubwolke in der entgegengesetzten Richtung des Tunnels verschwinden, just als sie endlich von den Helfern von den Spinnfäden, Gurten, Helmen und Seilen befreit wurden.
Die Gadarai aus ihrer Reisegruppe wandten sich einem Wassertrog zu, wo sie sich die Hände, den Hals und das Gesicht wuschen. Mit einem Blick auf Darak und Talaris erkannte Dendril auch sofort, weshalb. Der Staubwirbel, den ihr Reittier verursacht hatte, tauchte allem voran ihren Hals in eine dicke Dreckschicht, die es abzuwaschen galt. Die Lage Spinnseide, die über ihre Schultern gelegt worden war, hatte den größten Teil des übrigen Schmutzes aufgefangen und wurde jetzt von den Helfern aufwendig gereinigt, wobei der Rarrach auf eine Warteposition zusteuerte, um anderen Tieren die Möglichkeit zum Anlegen an der Rampe zu geben. Auch im Tunnel selbst waren viele Gadarai unterwegs, welche die Füße der Rarrach einzeln kontrollierten und den Tieren einen Trog mit den Dendril wohlbekannten violetten Knödeln brachten. Sie untersuchten den langen Reitsattel gründlich und kontrollierten jeden einzelnen Lederriemen und alle Spinnfäden auf ihre Festigkeit.
Rarrach gab es in unterschiedlicher Größe. Derjenige, auf dem sie unterwegs gewesen waren, gehörte keineswegs zu den großen Tieren. Diese trugen einen Sattel, auf dem bis zu dreißig Gadarai Platz fanden. Aber es gab auch kleinere. Alles in allem war der Tunnel angefüllt von unterschiedlich lauten Donnern ankommender und abreisender Rarrach, von Stimmengewirr und dem Treiben der zahllosen Gadarai zwischen den Tieren. An der gegenüberliegenden Wand war ein breiter markierter Streifen, wo sich nichts und niemand aufhielt. Allerdings rauschten häufig Rarrach vorbei, welche wohl auf ihrer Reise keinen Stopp in Thurrkaschal einlegten. Sie durchquerten diese Haltestelle nur langsam. Würden sie mit voller Geschwindigkeit hindurchrasen, wäre der Raum im Nu angefüllt mit Staub und Dreck. Auf einer großen Tafel über ihnen schienen die Abreisezeiten der einzelnen Rarrach zu stehen, und welchen Ort sie ansteuern würden. Ein Gadarai hing in einer Art Gurtsystem genau vor dieser Tafel und war pausenlos damit beschäftigt, Aktualisierungen vorzunehmen. Bewaffnet mit einem Eimer Wasser, einem Schwamm und jeder Menge Kreide, brachte er die Anzeigetafel unermüdlich auf den -neusten Stand. Von oben drang auch die verzerrte Stimme eines Gadarai herunter, der durch ein trichterförmiges Teil brüllte. Dabei las er beständig von der Tafel vor und informierte die Reisenden darüber, welcher Rarrach als nächstes mit welchem Ziel startete. Er kommentierte jede Änderung, welche der -Gadarai, der an der Tafel klebte, vornahm.
Darak, Dendril und Talaris wurden von ihrer Eskorte in die Mitte genommen, und Ährrig steuerte einen großen Durchgang neben der Rampe an, um sie von dem aufgeregten Treiben wegzuführen. Zahlreiche Gadarai blieben beim Anblick der Arlia stehen und begannen wilde Gespräche mit den Umstehenden. Nicht alle Wortfetzen, die Dendril aufschnappen konnte, waren freundlicher Natur. Doch sie entschied sich, das zu ignorieren. Ihr blieb auch keine andere Wahl, denn als sie durch den Durchgang in die dahinterliegende Höhle traten, verschlug es den Arlia allesamt den Atem.
Vor ihnen breitete sich eine Höhle aus, die so gewaltig war, daß sie ihre Decke nicht ausmachen konnten. Und das, obwohl es hier drinnen hell erleuchtet war. Zahlreiche Fackelständer spendeten Licht, und gewaltige Flächen der Höhlenwände waren mit Leuchtflechten überzogen. Im Zentrum jedoch erhob sich Thurrkaschal. Die Hauptstadt der Gadarai war aufgebaut wie eine Torte mit mehreren übereinanderliegenden Ebenen. Auf jedem freien Platz sprossen Lälaschpilze in die Höhe, selbst auf den verschiedenen Terrassen von Thurrkaschal. Überall waren zahllose Gadarai zu sehen, beinahe wie wenn man vor einem riesenhaften Ameisenhaufen stand. Die einzelnen Gebäude waren kaum voneinander zu unterscheiden, reihten sie sich doch in eine Art zusammenhängendes Riesengebäude ein, aus dem die ganze Stadt zu bestehen schien. Eine breite Treppe führte schnurgerade vom Boden dieser pyramidenartigen Konstruk-tion bis zu deren Spitze. Es war die einzige direkte Verbindung nach oben. Alle anderen Treppen verbanden nur einen Teil der Ebenen. Schon auf den ersten Blick war zu erkennen, daß das meiste Leben im mittleren Drittel dieser Stadt pulsierte.
„Willkommen in Thurrkaschal“, raunte Ährrig zu Dendril hinüber, die neben ihm ging. „Ich bin“, zögerte die Gromrar, „überwältigt.“ Der Priester lächelte. „Die Stadt ist eigentlich recht einfach aufgebaut“, erklärte Ährrig. „Im unteren Drittel sitzen die Händler, die ankommende Ressourcen abnehmen und verteilen. Der mittlere Teil gehört den Handwerkern. Dort werden die verschiedenen Materialien zu den -unterschiedlichsten Produkten verarbeitet. Diese gehen dann entweder wieder ins untere Drittel zum Abtransport oder weiter nach oben. Dort sitzen die Verwaltung, die Kaserne, das Kraftwerk und die großen Schmieden. Ebenso befinden sich dort die Anlagen zur Rohstoffbeschaffung.“
Dendril sah Ährrig mit gerunzelter Stirn an. Damit konnte sie recht wenig anfangen, und der Priester verstand ihren Gesichtsausdruck. „Das werde ich euch später erklären“, flüsterte er. „Das Gebäude ganz oben war einst der Tempel des Tiar, doch er wurde zur Gildenhalle umfunktioniert.“ Just in diesem Moment hatten sie die große Treppe erreicht, die sie bis an die Spitze von Thurrkaschal führen würde. Von weitem hatte sie wie eine ganz normale Treppe ausgesehen, doch hier offenbarte sich, daß sie nur für Gadarai angelegt worden war. Die Arlia mußten Obacht geben, auf den engen Stufen nicht zu stürzen, während sie Ährrig folgten.
Sie passierten zahlreiche Ebenen, die um die Stadt herumführten. Überall wo sie hinkamen, blieben die Gadarai stehen, starrten sie an und verwickelten sich in angeregte Diskussionen. Nach wie vor spürte Dendril die grundsätzlich feindliche Haltung ihnen gegenüber, was ihr wenig Mut machte. Andererseits erkannte sie auf jeder Ebene vier Stelen, welche die Treppen untereinander verbanden. Auf ihnen waren Gesetze und Gebote eingraviert, die denen der Arlia gar nicht so fremd waren. Nun, da sie durch das Sprechen der Sprache der -Gadarai all ihre Erinnerungen zurück gewonnen hatte, kam ihr auch die Fähigkeit, diese Runen zu lesen, wieder in den Sinn. Ein Blick nach unten offenbarte ein gewaltiges Loch, welches genau in den Tunnel der Rarrach mündete. Dort kamen Tiere an, die übervoll mit Waren beladen waren. Sie trugen keine Passagiere, und ihre Ladung wurde hier direkt am Fuße von Thurrkaschal gelöscht. Während auf einer Seite die vollbeladenen Rarrach ankamen, um ihre Last loszuwerden, wurden auf der gegenüberliegenden Seite des Steges die Kreaturen beladen. All das erfolgte scheinbar in einem streng aufeinander abgestimmten Zeitplan. Kein Tier stand länger als notwendig an seiner Position, bevor ihm eine neue Aufgabe zugewiesen wurde. Gerade als Dendril Gefallen daran gefunden hatte, dieses Treiben zu beobachten, erreichten sie einen kurzen Gang, an dessen Ende eine übermächtige, zweiflügelige Tür aus Metall prangte, die sich öffnete. Sie traten hindurch. „Denk daran, was ich gesagt habe“, raunte Ährrig. „Überlaßt mir das Reden!“ Damit schlug er eine andere Richtung ein und verließ die Arlia, die von ihrer Eskorte weiterhin geradeaus geführt wurden. Erneut standen sie vor einer mächtigen Metalltür, die sich wie zuvor von ganz alleine öffnete und sie eintreten ließ.
Der Raum, den sie betraten, war kreisrund. In seiner Mitte stand ein steinernes Becken. Es war leer. Die Soldaten führten die Arlia bis an dieses Becken und entfernten sich dann, um am Ausgang Position zu beziehen. Die drei Eindringlinge befanden sich nun im Zentrum unterhalb des eigentlichen Versammlungsraums, und die verschiedenen Gildenführer sahen von unterschiedlich hohen Balkonen auf sie herab. Jeder von ihnen hatte eine ganze Reihe von Beratern und anderen Besuchern dabei, und insgesamt blickten gut zweihundert Augen und damit ebenso viele Gadarai auf die Arlia hinunter. Durch die besondere Konstruktion des Raumes fiel das Gemurmel wie ein Vorhang auf sie herab. Während Darak und Talaris lediglich den Tonfall interpretieren konnten, fing Dendril durchaus interessante Wortfetzen auf. „Was geht hier vor?“ fragte der Prinz ängstlich, dem ihre Situation ganz und gar nicht behagte. „Wir stehen mit Ährrig nicht ganz alleine“, sagte sie aufmunternd. „Es gibt durchaus Gadarai, die uns wohlgesinnt sind.“ Problematisch war im Augenblick nicht die Frage, ob, sondern wie viele Gadarai ihnen wohlgesinnt waren. Und vor allem welche?
„Ich habe diese Versammlung einberufen, und ich nehme das Wort“, erklärte Grundular und trat nach ganz vorne auf ihren Balkon, so daß sie von jedem gesehen werden konnte. Sie mußte einen Rarrach früher genommen haben, und zweifelsohne hatte sie diesen Zeitvorsprung versucht, zu ihren -Gunsten auszubauen. Bereits am Gesichtsausdruck einiger Gadarai war abzulesen, daß sie nur noch auf ein Zeichen Grundulars warteten.
„Als ich mit meinen Sporensammlern in der südlichsten Höhle von Serdek barakesh unterwegs war, sind uns diese Eindringlinge ins Netz gegangen“, erklärte sie. „Wären wir nicht zur Stelle gewesen, wären sie in das Labyrinth eingedrungen, und sie hätten uns vollkommen überrascht.“ Dendril war versucht zu widersprechen. Ohne Grundular hätten sie womöglich den Weg durch dieses Labyrinth nicht gefunden. Sie hatten es ihr zu verdanken, daß sie noch am Leben waren. Und außerdem. Wie konnten drei Arlia, selbst mit allen Waffen Dorodians ausgestattet, ein Volk von zahllosen Tausend überraschen, oder ihm gar Schaden zufügen? Doch ihre Abmachung mit Ährrig stand. Sie schwieg. Und so erhob sich angeregtes Murmeln unter den Anwesenden als Reaktion auf Grundulars Worte. Einige nickten, andere schüttelten den Kopf. Zu gerne hätte Dendril gewußt, welche Gadarai überhaupt noch auf ihre Seite gezogen werden konnten.
„Erinnert euch daran, was geschehen ist, als wir das letzte Mal Fremde in unserer Mitte willkommen geheißen haben!“, rief Grundular in die allgemeine Ratlosigkeit. Damit hatte sie erwartungsgemäß einen wunden Punkt getroffen. Rufe nach Vergeltung wurden laut und danach, ein wirkungsvolles Exempel zu statuieren. Was immer das auch heißen mochte. Ährrig wollte einschreiten, doch Grundular kam ihm zuvor. „Wie ihr alle wißt, gibt es hier bei jeder Entscheidung Zweifler, die der Wahrheit entschlossen entgegentreten wollen.“ Damit sah sie hämisch zu Ährrig hinunter, der mit seinen Priestern auf einem Balkon unterhalb von Grundular stand. Mit dieser Ansage hatte sie ihm den Wind gänzlich aus den Segeln genommen. Einige Gildenführer blickten bereits erwartungsvoll amüsiert zu Ährrig hinunter, hinauf oder hinüber. Im ersten Moment zögerte Ährrig, doch dann faßte er all seinen Mut zusammen. Er hatte nun einmal gesehen, was er gesehen hatte, und das konnte Grundular mit ihren giftigen Worten nicht kleinreden. Die Gadarai erschrak ob des entschlossenen Blickes, den Ährrig ihr von unten heraufwarf.
„Ich!“ rief Ährrig, bis die Zwischenrufe der anderen vollkommen verstummt waren. „Ich erkläre hiermit den Austritt der Priestergilde aus der Gildenversammlung!“ Zuerst herrschte Schweigen. Etwa für die Zeit eines halben Wimpernschlages wagte niemand, ein Wort zu sagen oder sich zu regen. Dann jedoch brach eine wahre Explosion hervor. Alle, bis auf die -Delegation von Grundular, zankten sich in wilden Diskussionen. Diese trat überrumpelt einen Schritt zurück. Mit diesem Zug von Ährrig hatte sie nicht gerechnet. „Ihr könnt die Versammlung nicht verlassen!“ rief ein Gildenführer von fast ganz oben. „Es würde ein Ungleichgewicht entstehen!“ rief eine Gildenführerin dazwischen. „Das Gewicht der Priestergilde wiegt schon lange nichts mehr!“ rief Ährrig hinauf. „Ihr alle habt seit jeher tatenlos dabei zugesehen, wie unser Glaube verlorenging.“ Ährrig wartete auf eine Reaktion, doch niemand wagte zu widersprechen. „Ich!“ rief er. „Wir! Wir Priester haben unseren Glauben niemals aufgegeben. Ein Glaube, der uns einst aus der Dunkelheit herausgeführt hat und uns Großes in der Zukunft verspricht. Ihr alle seid bereit, das für diesen Akt der Barbarei zu opfern?“ Noch immer wagte niemand zu sprechen. Ährrig wußte nicht, was er als nächstes sagen sollte. Er hätte nicht damit gerechnet, daß ihm die Gildenversammlung überhaupt so lange zuhörte. Doch Grundular half ihm aus der Verlegenheit. Wobei helfen eigentlich der falsche Ausdruck war.
Die Gadarai klatschte betont langsam und laut in die Hände, so daß es alle Anwesenden hören konnten. Dabei schritt sie bis ganz nach vorne an den Rand ihrer Terrasse. Sehr schnell hatte sie die Aufmerksamkeit aller Anwesenden auf sich gezogen, die von Ährrig eingeschlossen. Was hatte sie jetzt vor? Was wollte sie dagegen vorbringen? „Ich bin beeindruckt, wie du diese gefährlichen Fremden dazu benutzt, die Versammlung dazu zu bringen, über Glaubensfragen zu diskutieren. Der Glaube an Tiar steht hier nicht zur Debatte.“ Streng sah sie auf Ährrig hinab, und er fühlte einen kalten Schauder über den Rücken laufen. Seine Strategie hatte nur eine Schwachstelle besessen, und Grundular hatte sie entdeckt.
Schon flammten wieder die Diskussionen auf den verschiedenen Balkonen auf, und der stetig lauter werdende Lärmpegel animierte auch die übrigen zu angeregten Gesprächen. „Mit der Vernichtung von Dar’tara hat sich Tiar von uns abgewandt!“ nährte sie den Lärmpegel, der daraufhin deutlich anschwoll. „Wir haben ihm einen Altar aus den Steinen jenes Altars dort unten geschlagen, und das Wasser ist seit der Zerstörung versiegt!“ Wieder erschollen laute Rufe von überallher. „Ich habe die Zeichen im Buch der Prophezeiungen gelesen“, rief der Priester, womit wieder etwas Ruhe einkehrte. „Das weibliche Wesen dort unten ist der Gromrar, den Tiar uns angekündigt hat! Wenn es nun darum geht, den Gromrar zu töten, so ist die Diskussion über unseren Glauben hier nicht fehl am Platz!“ Die Streitgespräche ebbten zu Gemurmel ab. Grundular lachte laut auf. „Habe ich es nicht gesagt?“ rief sie den anderen zu. „Habe ich nicht bereits vor Beginn dieser Versammlung gesagt, daß der Priester wieder irgendein Zeichen aus dem Ärmel ziehen würde, welches nur er sieht? Beweise uns, daß das dort unten der Gromrar ist!“ Ährrig stand ratlos da. Hilfesuchend blickte er zu Dendril hinunter. Wenn sie jetzt das Wort ergriff, würde sie zwar gründlich für Verwirrung sorgen, da sie die Sprache der Gadarai verstand, doch das alleine war mitnichten Beweis genug dafür, daß sie Tiars Kind war. Grundular hatte gesiegt. Mit ihrer nächsten Aufforderung würde sie die Gildenversammlung dazu bringen, die Fremden zu töten. Doch sie hatte den gleichen Fehler begangen wie Ährrig. Sie war zu lange auf dem Glauben herumgeritten. Und sie hatte dabei Informationen preisgegeben, die sie besser verschwiegen hätte. „Gib mir deinen Wasserschlauch“, raunte Dendril zu Darak gewandt. „Was willst du damit?“ fragte dieser verstört. „Ein Funke wird das Feuer entzünden“, gab Dendril geheimnisvoll zurück, „nun gib schon her!“ Darak reichte ihr seinen Wasserschlauch, auch wenn er nicht verstand, warum Dendril jetzt ausgerechnet etwas trinken wollte. Und wie ihnen das aus dieser brenzligen Situation helfen sollte, fragte er sich erst gar nicht.
Mit geschlossenen Augen stellte sich die Arlia an das steinerne Becken und rief ihren Vater an. Nachdem der geforderte Beweis ausgeblieben war, schwollen die Wortgefechte unter den Gildenführern wieder an. Viele warfen wütende Blicke auf Ährrig oder auf die Arlia. „Ich stimme dafür, diese Eindringlinge zu töten, damit sie uns nicht noch einmal Schaden zufügen können, wie beim letzten Mal!“ rief Grundular und hob ihre Hand. Andere Hände schossen in die Höhe, weitere folgten zögernd. Voller Panik sah Ährrig zu den Arlia hinunter. Dendril öffnete ihre Augen, schaute ihn direkt an und nickte langsam. „Haltet ein!“ rief Ährrig. Vor Überraschung verstummten die anderen tatsächlich. Der Priester hatte keine Vorstellung davon, was Dendril vorhaben könnte, doch er hoffte inständig, daß sie einen guten Einfall hatte. Ansonsten würde man sie an Ort und Stelle hinrichten. Alle Augen sahen zuerst auf Ährrig, dann zu Dendril hinunter. Als sie der Aufmerksamkeit der Anwesenden gewiß war, ergriff sie das Wort.
„Dar’tara wurde nicht durch Tiar, sondern durch einen fallenden Sternenfunken vernichtet!“ rief die Gromrar. Erstauntes Raunen lief durch alle Balkone bis hinauf zur Spitze. „Mein Vater bedauert zutiefst, was den Gadarai damals in dieser Siedlung widerfahren ist, doch es war mitnichten sein Wille, der das angerichtet hat.“ Niemand wagte einen Ton zu sagen. Mit angehaltenem Atem starrten sie die Arlia an. Selbst Grundular war stumm und zeigte einen mehr als überraschten Gesichtsausdruck. „Wir sind dort gewesen. Wir haben die Ruinen von Dar’tara besucht. Und wir haben euch etwas mitgebracht.“ Mit diesen Worten hielt sie Daraks Wasserschlauch hoch. „Mein Vater will euch damit beweisen, daß er sich nicht von euch abgewendet hat!“ Damit öffnete sie das Behältnis und ließ das Wasser in das leere Becken plätschern. Jetzt erinnerte sich der Prinz wieder. Den Wasserschlauch hatte er in der Essenz Tiars in Dar’tara gefüllt. Das Wasser reichte kaum aus, den Boden des Beckens vollkommen zu bedecken. Als der letzte Tropfen hineingefallen war, herrschte Totenstille. Alle sahen gebannt auf das Becken. Im nächsten Augenblick stiegen Blasen aus dem seichten Wasser auf, bis die gesamte Oberfläche brodelte. Dann hob sich der Wasserspiegel!
Mit einem Mal erhob sich ein ungeheures Getöse. Alle redeten wild gestikulierend durcheinander. Ährrig warf Dendril ein Lächeln zu und sah dann triumphierend zu Grundular hinauf. Jetzt hatte sie ihren Beweis, und es gab nichts mehr, was sie dagegen unternehmen konnte. Hastig verließen die Gildenführer mit ihren Beratern die Balkone und strömten hinunter in die Halle und zu der Essenz Tiars, die zu neuem Leben erwacht war. Auch die Wächter an der Tür kamen herbeigelaufen. Das Becken füllte sich bis ganz zum Rand, dann ebbte das Brodeln ab, und die Oberfläche kam zur Ruhe. Ährrig war der erste, der sich ehrfurchtsvoll und voller Erwartung vor Dendril hinkniete. Diese verstand und schöpfte mit beiden Händen aus der Essenz Tiars. Sie führte das kühle Naß an Ährrigs Mund und ließ ihn trinken. Eigentlich war das die Aufgabe der -Priester, doch da sie die höchste Präsenz des Glaubens der Gadarai darstellte, würde man die Durchführung dieser Zeremonie nur durch sie akzeptieren. Vor allem jetzt, da sie ihnen Tiars Wasser wieder zurückgebracht und ihr wahres Wesen bewiesen hatte. Ausnahmslos alle Gadarai knieten nun im Staub vor den -Arlia, wobei sich Darak und Talaris ziemlich fehl am Platze fühlten. Einem nach dem anderen wurde das Wasser verabreicht, und Dendril hatte damit nicht nur ihr eigenes Leben und das ihrer Begleiter gerettet, sondern die Macht der Priester und die Wahrheit des Glaubens wiederhergestellt. Nacheinander baten die Gildenführer Dendril um Verzeihung für ihre Anmaßung. Ja, selbst Grundular entschuldigte sich, wenngleich ihr die Worte nur mit Anstrengung über die Lippen kamen.
„Wäre es zu viel verlangt, dich zu bitten, die Zeremonie weiterzuführen?“, bat Ährrig. Dendril schüttelte lächelnd den Kopf. Mit diesen Worten begaben sich alle siebzehn Gildenführer in Richtung des Eingangs und ließen beide Türen öffnen. Draußen stand erwartungsgemäß eine gewaltige, neugierige Traube aus Gadarai, die erschrocken einen Schritt zurückwichen, als die Gildenversammlung geschlossen auf sie zutrat. Einer der Gildenführer machte eine beschwichtigende Geste, und das Raunen und Gemurmel verstummte. „Hört uns an, Gadarai!“ rief er laut. „Ein Wunder ist uns zuteil geworden! Tiar hat sich uns nach so langer Zeit des Wartens endlich wieder offenbart, und noch mehr! Er hat sein eigenes Kind geschickt, unseren alten Bund mit ihm zu erneuern! Seine Essenz ist zu uns zurückgekehrt! Ihr alle kennt die Geschichten über den Gromrar. So macht euch nun bereit, das heilige Wasser aus seinen Händen zu empfangen! Dieses Gebäude soll von nun an wieder Tiars Tempel sein. Geht hinein! Geht, seht das Wunder und das Licht, das unseren Glauben und unsere Hoffnung wieder erneuern will!“ Damit machten die Gildenführer Platz und ließen die Menge in den Tempel strömen.
Dendril war überwältigt von der schieren Anzahl von Gadarai, die ihr ihre Aufwartung machten. Alle wollten das Wasser empfangen, und niemand zeigte auch nur mehr den Hauch einer Anfeindung. Im Gegenteil. Viele Gadarai weinten, als sie das gefüllte Becken sahen oder wenn sie das Wasser empfingen. Dendril hatte einen Flecken in ihrer Seele, der seit so langer Zeit in der kalten Dunkelheit geblieben war, wieder mit Wärme und Licht erfüllt. Ährrig und die anderen Priester gesellten sich zu ihr, und Dendril stellte mit Genugtuung fest, daß die anderen Gildenführer nun der Reihe nach auf Ährrig zugingen, um altes Übel wiedergutzumachen. Alle bis auf Grundular, deren Zwist mit dem Priester wohl sehr tief sitzen mußte. Eigentlich hatte Dendril gehofft, mit ihrer Suche fortfahren zu können, doch im Augenblick mußte sie diese Zeremonie hinter sich bringen. Danach würde genug Zeit sein, um jene Sache zu klären. Nun, da man sie nicht mehr hinrichten wollte.
Kurz nachdem die Schwestern hinter dem Horizont verschwunden waren, fanden sich die drei Knüpfer und Naliiha im obersten Turmzimmer ein. Freilich hatte noch nicht jeder von ihnen alle vier Bücher gelesen, die sie zum Grundwissen über elementare Magie bestimmt hatten, doch es war an der Zeit, sich über die bisherigen Erkenntnisse zu unterhalten.
„Wir sind von Anfang an falsch vorgegangen“, erklärte Hordian. „Die Foki, welche wir versucht haben herzustellen, waren allesamt viel zu groß. Die Abbildungen in ‚Beschwörung der Elemente‘ waren lediglich vergrößerte Darstellungen. In ‚Elementarfoki‘ heißt es, daß ein Fokus nicht größer als eine Erdbeere sein sollte.“ „Aber mit den größeren Gebilden tun wir uns für den Anfang trotzdem leichter“, warf Nordar ein. „Wenn wir einmal soweit sind, daß wir problemlos eine Figur auf der magischen Ebene abbilden können, ist noch genug Zeit, sie zu verkleinern.“ „Das stimmt zwar, doch ihr solltet auf keinen Fall den Fehler begehen und an das entsprechende Element denken“, warf Hordian warnend dazwischen. „Das war genau der Fehler, den Gorinius gemacht hat. Tatsächlich soll man sich nach der Herstellung eines Fokus das betreffende Element vorstellen, doch der Fokus sollte dabei so klein sein, daß maximal fünf bis zehn magische Fäden hineinpassen. Der Fokus, den Gorinius hergestellt hat, war ausreichend, um mehrere Hundert Fäden einzuspannen. Das war auch der Grund für die unvorhersehbare Reaktion.“ „So einfach ist das?“ fragte Naliiha. „Einfach nur an das entsprechende Element denken, wenn man den Fokus fertig hat?“ Hordian nickte. „Allerdings ist es etwas komplizierter“, ergänzte er. „Die elementare Kraft, die man ruft, orientiert sich daran, was man sich vorstellt. Denkt man bei Wasser beispielsweise an eine Sturmflut, wird man die zerstörerischen Kräfte dieses Elements herbeirufen. Denkt man an einen ruhigen See, erhält man die Macht über weit weniger gefährliche Kräfte.“ „Also kann man die Mächte bereits vor ihrer Beschwörung schon in gewisse Bahnen lenken?“ sinnierte Tanirias. Hordian nickte. „So steht es hier zumindest geschrieben.“ „Und worauf konzentriert man sich, wenn man ein Za’rajah bilden will?“ fragte Nordar. „Nun, an eine angemessene Menge des entsprechenden Elements, steht in ‚Elementare Präsenzen‘“, gab Tanirias zurück. „Ich schätze, das Wort ‚angemessen‘ bezieht sich darauf, welche Entität man rufen will?“ vermutete Hordian. „Für einen kleinen Feuerwurm dürfte ein Lagerfeuer genügen, für eine Wesenheit, die ganze Landstriche verbrennt, wird man an einen Vulkanausbruch denken müssen.“ „Wie funktioniert das überhaupt mit diesem Za’rajah?“ fragte Naliiha neugierig. „Alle vier Zaubernden müssen ihren Fokus herstellen“, erklärte Tanirias. „Anschließend konzentriert man alle vier Foki in einem bestimmten Punkt, wodurch eine Art Tor geöffnet wird. Dann überläßt man dem Zaubernden das Feld, der eine Entität rufen will. In seinen Händen alleine liegt es dann, sowohl die Stärke der Kreatur als auch ihre Aufgabe auszuwählen.“ Die anderen nickten aufmerksam. „Was uns noch fehlt, ist eine Art Übersicht über die verschiedenen Möglichkeiten“, warf Nordar ein. „Ich meine, im Augenblick können wir uns nur vorstellen, was wir mit dieser Macht anfangen könnten. Es wäre ungemein hilfreich, über einige Beispiele zu lesen.“ „Nun, da ist sicherlich noch etwas dabei“, entgegnete Hordian und deutete auf den Stapel Bücher, der inzwischen zu ihnen heraufgebracht worden war.