Der Gott in der Höhle - David Hermann - E-Book

Der Gott in der Höhle E-Book

David Hermann

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Beschreibung

Christoph Tränker verliert durch einen Unfall seine Ehefrau. Als er auf einem Therapiehof Hilfe sucht, lernt er den mysteriösen Clément Pittelout kennen. Er als einer der Hofbewohner auf grausame Art stirbt, bemerkt Christoph, dass Pittelout ihn manipuliert hat. Gelingt ihm die Flucht oder wird ihn das Leben niemals in Ruhe lassen?

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Über den Autor:

David Hermann wurde 1985 in Gießen geboren. Er studierte Mathematik und Physik und arbeitet seit 2010 als Lehrer an einer Gesamtschule. Zu seinen literarischen Vorbildern zählt er neben Autoren wie Michael Crichton und Stephen King auch den Komiker Heinz Erhard und den Videospielentwickler Sam Lake.

Über das Buch:

Christoph Tränker verliert durch einen Unfall seine Ehefrau. Als er auf einem Therapiehof Hilfe sucht, lernt er den mysteriösen Clément Pittelout kennen. Er als einer der Hofbewohner auf grausame Art stirbt, bemerkt Christoph, dass Pittelout ihn manipuliert hat. Gelingt ihm die Flucht oder wird ihn das Leben niemals in Ruhe lassen?

Inhalt

Zwei Welten

Der Unfall

Therapie

Der Hof

Toni

Monsieur Pittelout

Der Weg durch die Wüste

Die Waffe

Der Gott in der Höhle

Tonis Geschichte

Flucht

Köder

Hinweise des Autors

Danksagungen

(»Wieso lässt uns das Leben nicht in Ruhe?«)

Zwei Welten

Die Welt in Clément Pittelouts Kopf ist geordnet. Er ist der Herrscher dieser Welt. Die Welt außerhalb seines Kopfes ist ein heilloses Durcheinander. Pittelouts Ziel ist es, die beiden Welten einander anzugleichen.

Der Unfall

1

Die Dinge sind immer komplexer, als es auf den ersten Blick scheint. Heute hat Christoph Tränker zum ersten Mal seit langem einen Grund, ein echtes Lächeln zu zeigen. Ein Lächeln aus seinem Inneren. Chris hat sich nie für einen depressiven Menschen gehalten, sondern eher für nachdenklich. Er kann gut in sich hineinlachen, wenn er mit einer Situation zufrieden ist. Seine Kollegen, die immer mit einem breiten Lächeln im Gesicht durch die Büroräume laufen, sind ihm zuwider.

Aber Chris ist nicht nur ein nachdenklicher Mensch. Das entspräche nur einem Teil der Wahrheit. Chris hat Tage, an denen seine Frau Annette denkt, er habe mal wieder eine depressive Phase. Sie erträgt es dann, wenn er mit nichts zu begeistern ist, wenn er für kleinste Entscheidungen eine ausführliche Begründung liefert, als müsse er sich vor einem Ausschuss dafür rechtfertigen, Erdbeereis statt Schokoeis genommen zu haben. Sie erträgt es auch, wenn er tagelang in Grübeleien versunken ist. Er wirkt dann abwesend. Geistert durchs Haus, geht auf die Arbeit und kommt abends übermüdet wieder nach Hause.

Die Dinge sind oft komplex. Das weiß Chris durch seine Arbeit als Analyst. Das weiß er auch, wenn er sich über all die Fröhlichkeit in der Welt aufregt: All die Fröhlichkeit, mit der einen die Werbung erdrückt, die einem jede Bedienung in jedem Café entgegenbringt – fast so, als sei man gut befreundet. Die Fröhlichkeit, die alle auch von ihm erwarten, doch er wird sie ihnen nicht geben, da er ihren Sinn nicht versteht. Auf einer rationalen Ebene versteht er sehr wohl, dass Fröhlichkeit und Freundlichkeit das soziale Miteinander stärken und dadurch die Produktivität steigern. Doch wieso muss dieser Frohsinn so allgegenwärtig sein? Es gibt Tage, an denen Chris zu sehen glaubt, dass selbst die Männchen auf den Verkehrsschildern an den Fußgängerüberwegen fröhlich wirken.

Für solcherlei Frohsinn hat er nichts übrig, hatte er noch nie etwas übrig. Chris freut sich nur, wenn es einen triftigen Grund dafür gibt. Und den hat ihm seine Frau an diesem Morgen gegeben.

2

»Ich bin jetzt schon zwei Wochen drüber«, hat Annette an diesem Morgen gesagt. Jetzt starrt sie auf den Schwangerschaftstest in ihrer Hand. Die Verfärbung soll nach etwa einer Minute eintreten.

»Es ist gleich soweit!«, ruft sie aus dem Badezimmer.

Chris hat sich in den Flur zurückgezogen. In seinem Kopf will er alle Eventualitäten durchgehen. Wie bei Schrödingers Katze, die gleichzeitig tot und lebendig sein kann, gibt es zurzeit noch zwei Realitäten: Annette ist schwanger oder auch nicht. In wenigen Sekunden wird aus zwei Möglichkeiten eine, die wiederum zwei gebiert: Behalten oder nicht? Enttäuscht sein oder nicht? Chris versucht die Kosten durchzukalkulieren, kommt jedoch immer wieder ins Stocken. Sein Hirn springt einfach nicht an. Er kommt nicht an den Schalter, der den Denkprozess in Gang setzt.

»Er ist blau!«

»Und was heißt das?«

Annette kommt aus dem Badezimmer. Ihre leicht rundliche Figur ist für einen kurzen Moment als Silhouette im hellen Schein der Badezimmerlampe zu sehen.

»Das heißt, dass wir ab Januar zu dritt hier wohnen werden.«

Chris hat erwartet, dass er bei dieser Nachricht kraftlos in sich zusammensinken würde. Er hat immer gedacht, er sei noch nicht bereit für ein Kind. Sie seien noch nicht bereit. In seiner Vorstellung wäre er auf den Boden gesunken und hätte tief ein- und ausgeatmet. Doch er überrascht sich selbst.

»Wir bekommen ein Baby?«

»Ja!«

Annette schreit die Antwort heraus. Mit ihrem ganzen Körper. Alles an ihr strahlt. Sie wirft ihre Haare nach hinten und lacht laut und Chris lacht mit. Zunächst nur zögernd, dann immer lauter, und es befreit ihn, setzt irgendetwas in ihm frei, dessen er sich noch nicht einmal bewusst gewesen ist.

3

Chris schlendert die Straßen entlang. Er hat ein breites Grinsen im Gesicht, zumindest glaubt er das. Er kann nicht mehr länger nur in sich hineinlächeln. Er lächelt allen zu. Und alle lächeln zurück. Nur die Männchen auf den Verkehrsschildern nicht. Sie starren stur geradeaus und konzentrieren sich darauf, beim Überqueren des Zebrastreifens immer auf die weißen Streifen zu treten und nie auf die schwarzen Zwischenräume.

»Was kann ich für Sie tun?«, fragt die Konditorin überaus freundlich.

Chris überlegt einen Moment. Zum ersten Mal in seinem Leben hat er sich auf dem Weg zur Konditorei keine Gedanken darüber gemacht, was er kaufen will.

»Ich hätte gerne zwei Stücke Kirschtorte.«

»Aber gern, darf es sonst noch etwas sein?«, fragt die Verkäuferin und packt die zwei Stücke ein.

»Danke, das war alles.«

»Das macht dann genau acht Euro.«

Chris zählt das Geld ab. Dann fällt ihm schlagartig ein, dass Annette keinen Alkohol mehr trinken darf. Da er sich nicht sicher ist, ob die Kirschtorte mit Kirschwasser zubereitet ist, sagt er noch schnell: »Ich hätte gerne doch noch etwas. Ein Stück Apfeltorte.«

»Macht nochmal dreifünfzig«, sagt die Verkäuferin, immer noch lächelnd.

Chris bezahlt und geht nach draußen in die warme Frühlingsluft. Er geht langsam zur Wohnung zurück. Er möchte nicht den Eindruck erwecken, als habe ihn die Schwangerschaft seiner Frau verändert. Er weiß, dass er sich nur selbst etwas vormacht und dass er sich schon längst verändert hat. Chris mochte, wie er war, doch er gesteht sich ein, dass er sich wahrscheinlich zum Besseren gewandelt hat.

4

»Wie wäre es mit Brecht? Oder doch lieber Goethe?«

Annette sitzt mit ihrem Smartphone auf dem Sofa und scrollt durch die Programme der Berliner Theater. Sie hat beschlossen, dass sie heute Abend schick ausgehen. Sie hat verkündet: »Ich möchte noch einmal mein Kleid tragen, solange ich noch reinpasse«.

»Weder noch. Ich möchte heute nicht über die Welt nachdenken«, antwortet Chris.

Annette ist verblüfft. Wann wollte Chris das letzte Mal nicht über irgendetwas nachdenken?

»Wie wäre es hiermit: Im Deutschen Theater läuft ›Der Hauptmann von Köpenick‹«, fragt Annette und tippt auf ZU DEN TICKETS.

»Damit könnte ich leben.«

»Ich habe das Gefühl«, sagt Annette, »dass du heute Abend gar nicht schick ausgehen willst.«

»Doch, doch«, versichert Chris. In ihm ist jetzt wieder der Grübelmotor angesprungen. Die anfängliche Euphorie hat nachgelassen. Chris hätte nicht gedacht, dass das so schnell geht. Es sind doch erst sechs Stunden vergangen, seit sie von Annettes Schwangerschaft wissen.

»Soll ich vorher noch einen Tisch reservieren?«, fragt Annette, »Oder willst du mich bekochen?«

Chris stellt den Motor ab. Grübeln kann er auch später noch.

»Ich werde für dich kochen. Und während ich am Herd stehe, kannst du dich in das engste Kleid zwängen, das du im Schrank hast.«

5

Annette hat ein wirklich enges Kleid herausgesucht. Es ist grau, mit schwarzen Streifen und reicht ihr bis knapp über die Knie. Chris hat ebenfalls versucht, sich in Schale zu werfen. Er verflucht seine Schuhwahl schon jetzt, da ihm bereits nach wenigen Schritten die Fersen wehtun.

Das Taxi steht an der Straße und Chris hält Annette galant die Tür auf. Als sie sich gesetzt und er ihr den Gurt gereicht hat, geht er um den Wagen herum und setzt sich hinter den Fahrer auf die Rückbank.

6

Ottmar Franke ist 55 Jahre alt und schon seit seiner Zeit bei der Bundeswehr Fernfahrer. Er fährt hauptsächlich für zwei Speditionen Lebensmittel durch Deutschland. Seine Wohnung ist die Autobahn. Er liebt es, stundenlang bei eingeschaltetem Tempomat immer geradeaus zu fahren und dabei Hörbüchern oder Radiosendungen zu lauschen.

Früher hat er immer laute Schlagermusik gehört, doch seit er einmal das Inforadio eingeschaltet hat – er weiß schon selbst nicht mehr, wieso er das getan hat –, hat er es am liebsten, wenn er einen Beitrag über ein gesellschaftlich relevantes Thema hört. »Lasterfahren bildet«, sagt er dann immer.

Doch in letzter Zeit geschieht etwas Seltsames mit ihm. Wie man beim Lesen eines Buches manche Sätze nur überfliegt und gleichzeitig doch ihren Sinn erfasst, so dass man gar nicht merkt, dass man in der letzten Stunde drei Kapitel gelesen hat, überfliegt Ottmar auch einige Straßen. Er ist einfach plötzlich am Ziel, ohne zu wissen, wie er dorthin gekommen ist. Er schläft nicht während der Fahrt ein; das ist ihm nur einmal als Fahranfänger passiert und er hat prompt den Mercedes seines Vaters zu Schrott gefahren. Doch als Erwachsener hatte er noch nie Probleme, am Steuer wachzubleiben. Aber manchmal erinnert er sich einfach nicht mehr daran, bestimmte Strecken gefahren zu sein.

Ottmar hat es mit allem Möglichen probiert: Kaffee, eiskaltem Wasser, Energydrinks oder auch mit saurer Zitrone. Auf diese Weise haben sie sich immer bei der Bundeswehr wachgehalten, wenn mal wieder eine Nachtwache im Biwak anstand.

Seiner Frau gegenüber hat er zunächst nichts von seinen Aussetzern erzählt. Sigrid hätte sich nur wieder unnötige Sorgen gemacht.

Während der letzten Untersuchung beim Firmenarzt hat er auch nichts gesagt. Er wurde gründlich durchgecheckt, abgehorcht und an allen möglichen und unmöglichen Stellen begrabscht, doch gefunden wurde nichts. Beim Fragebogen musste Ottmar natürlich ein wenig schummeln. Er wollte zwar selbst herausbekommen, worin die Ursache für seine Unkonzentriertheit liegt, doch er wollte um alles in der Welt nicht seinen Job verlieren.

Vielleicht ist das ja auch der Grund für sein Problem: Er ist finanziell von seinem Beruf abhängig. Doch, wer ist das nicht? Selbst die reichen Idioten, die mehr Geld verdienen, als er je ausgeben könnte, haben sich an einen Lebensstandard gewöhnt, der dafür sorgt, dass sie auf ihren Job angewiesen sind. Ottmar ist zweimal in seinem Leben arbeitslos gewesen und beide Male waren eine Tortur für ihn und seine Frau.

Seine jetzigen Jobs sind beide zwar nicht gut bezahlt, doch sie sind sicher. Das glaubt Ottmar zumindest. Er weiß, dass es viele junge Leute gibt, die gerne seinen Job hätten. Er darf die Jobs nicht verlieren, darf auf keinen Fall aussortiert werden.

Vielleicht macht Ottmar sich aber auch einfach selbst zu viel Druck. Und dieser Druck schadet seiner Konzentration.

Oder es liegt ganz einfach am unzureichenden Schlaf. Ottmar liegt nachts oft wach und starrt die Decke an. Irgendwann steht er dann immer auf, um sich vor den Fernseher zu legen. Dort sieht er sich irgendwelchen Schwachsinn an und schläft meistens spät in der Nacht auf dem Sofa ein.

Einmal hat Ottmar sich einem Kollegen anvertraut. Manni liest jeden Tag irgendwelche Wissensmagazine und sieht sich im Netz nur Dokus an. Er war überzeugt, Ottmar leide an einer neuronalen Hirnerkrankung, was auch immer das heißen mochte.

Ottmar hatte schließlich gelernt, mit seinen Aussetzern zu leben.

Jetzt sitzt Ottmar hinter dem Steuer seines LKW. Eben hat er eine Ladung Lebensmittel zu einem Supermarkt gefahren. Im Radio läuft eine Sendung über die bevorstehende Klimakatastrophe und irgendwelche wildgewordenen Klimaschutzaktivisten. Ottmar hört nur mit einem Ohr zu. Er muss wieder raus aus der Stadt, auf die Autobahn. Vor ihm ist eine Baustelle. Ottmar blinkt, wirft einen Blick in den Spiegel und umfährt die Baustelle. Grüne Ampel, Ottmar fährt durch. Häuserzeilen fliegen an ihm vorüber. Ottmar schaut auf sein Navi, um zu sehen, wie die Straße heißt, auf der er sich befindet: Torstraße.

7

Annette hat es sich auf der Rückbank des Taxis bequem gemacht. Chris hält ihre Hand. Er spielt verträumt mit ihren Fingern. Annette lässt ihre Gedanken schweifen. Sie freut sich auf die Theateraufführung. Sie haben zwar keine guten Plätze mehr reservieren können (seitlich auf der Empore, Annette befürchtet schon jetzt, dass sie die nächsten drei Tage Nackenprobleme haben wird, weil sie die ganze Zeit den Kopf drehen muss), doch da es der erste Theaterbesuch seit Jahren ist, kann sie damit leben.

Früher, noch während des Studiums, ist sie öfter mit ihren Freundinnen ins Theater oder in die Oper gegangen. Mit Chris war sie nur vier- oder fünfmal dort. Er wollte immer ins Kino. Umso mehr freut sich Annette, dass er für diesen Abend einfach so zugesagt hat.

»Ab wann kann man feststellen lassen, ob es ein Junge oder ein Mädchen wird?«, fragt er jetzt gedankenverloren.

»Weiß nicht. Ich denke so ab dem dritten Monat.«

Chris will sein Smartphone aus dem Jackett ziehen, um diese Frage zu recherchieren, doch Annette legt ihre Hand auf seinen Arm.

»Lass uns uns heute Abend nur auf uns konzentrieren«, sagt sie und denkt: Nur wir beide. Wahrscheinlich das letzte Mal nur wir beide.

Sie beugt sich zu ihm rüber und gibt ihm einen Kuss. Er erwidert den Kuss und lässt sein Smartphone wieder in die Tasche gleiten.

In diesem Moment wird das Taxi gepackt, zusammengedrückt und brutal zur Seite geschleudert. Annette knallt ruckartig nach hinten. Vorne explodiert der Fahrerairbag. Chris prallt gegen die Tür. Etwas knackst so laut, dass es das Knirschen des Metalls übertönt. Ein stechender Schmerz durchzuckt seine Seite. Der Wagen kommt zum Stehen. Danach ist alles schwarz.

8

Ottmar fährt. Grüne Ampel. Fußgänger. Er fährt. Radiosendung über irgendwas. Er fährt. Rote Ampel.

Ottmar erwacht.

9

Ulli isst eine Currywurst aus dem Imbiss gleich neben dem Supermarkt. Er liebt Currywurst, obwohl sie ihm selten schmeckt. Seiner Meinung nach sorgen die türkischen Gastarbeiter dafür, dass die Würste immer schlechter schmecken, damit sich ihre Dönerbuden – von denen es sowieso schon zu viele gibt –, vermehren wie die Karnickel.

Die Currywurst in seiner Hand jedenfalls schmeckt ihm. Eine Ausnahme. Aber Ausnahmen bestätigen ja die Regel, wie es so schön heißt. Ulli schlendert durch die Straßen. Er ist auf dem Weg zur nächsten Bushaltestelle. Ein Laster überholt ihn. Es gibt einen lauten Knall und danach das hässliche Geräusch, wenn Metall auf Metall trifft.

Ulli reißt den Kopf hoch und dann sieht er die Katastrophe: Der Laster ist über eine rote Ampel gerast und hat ein Taxi erwischt. Frontal.

Ulli lässt die Currywurst fallen und rennt auf die beiden Fahrzeuge zu. Der Motor des Lasters läuft noch einen Moment, dann säuft er ab. Der Fahrer sitzt wie versteinert hinter seinem Lenkrad. Ulli lässt den Laster links liegen und geht auf das Taxi zu. Der Anblick, der sich ihm bietet, raubt ihm den Atem.

Die Motorhaube ist auf der Beifahrerseite völlig eingedrückt. Die hintere Tür ebenfalls. Ulli sieht bereits von außen, dass es um die Frau auf der Rückbank nicht gut steht. Mit zittrigen Händen zieht er sein Smartphone aus der Hosentasche. Mit seinem Daumen hinterlässt er einen Fingerabdruck aus Currysauce. Das Handy fällt runter. Als er es wieder aufhebt, ist das Display zersprungen. Ulli entsperrt das Smartphone, dann wählt er die 112.

»Notrufeinsatzzentrale, was kann ich für Sie tun?«

»Hier hat es einen Unfall gegeben«, sagt Ulli.

In der vierten oder fünften Klasse haben sie einmal einen Ersthelferkurs gemacht. Da Ulli keinen Führerschein hat, hat er seitdem keinen Kurs mehr belegt. Jetzt kramt er in seinem Gedächtnis nach allem, was er aus dieser grauen Vorzeit noch weiß. Weiß. Wie. W. Es gab fünf Ws.

»Hier spricht Ulli Dröger«, sagt er schnell hinterher.

»Herr Dröger, können Sie mir sagen, was genau vorgefallen ist?«, fragt der Mann am Telefon.

»Ein LKW ist hier einfach in ein Taxi reingerast. Das Taxi ist ziemlich hinüber.«

W, W, W … Wie lauteten gleich noch diese verdammten Ws?

»Dem Fahrer des Lasters geht es gut«, sagt Ulli. Doch dann verbessert er sich. »Also, er ist nicht verletzt. Sieht zumindest nicht so aus. Es könnte aber sein, dass er einen Schock hat.«

»Wo genau befinden Sie sich?«, fragt der Mann am Telefon.

Ulli, der schon immer gewusst hat, dass einen die Smartphones ausspionieren, ist ein wenig verblüfft, dass er diese Frage überhaupt noch beantworten muss. Er sieht sich kurz um, dann sagt er: »An der Kreuzung ›Torstraße – Schönhauser Allee‹. Aber warten Sie einen Moment. Ich guck mal nach den Leuten im Taxi.«

Ulli geht um das Taxi herum. Keine der Türen lässt sich öffnen. Er späht durch die Fenster.

»Im Taxi sitzen der Fahrer und ein Pärchen. Ich krieg die Türen nicht auf.«

»Okay, bleiben Sie ruhig und warten Sie auf weitere Anweisungen. Wir schicken sofort jemanden zu Ihnen.«

Ulli stellt sein Handy auf Lautsprecher. Dann versucht er noch einmal, die Türen zu öffnen. Mittlerweile sind noch weitere Passanten zur Unfallstelle gekommen. Eine Frau mit einer giftgrünen Jacke steht neben Ulli und schüttelt den Kopf.

»O Mann, o Mann, o Mann«, murmelt sie immer wieder vor sich hin.

Ulli blickt wieder rüber zu dem LKW. Der Fahrer hat mittlerweile die Tür geöffnet. Er steigt langsam und unbeholfen die Leiter herab. Dann setzt er sich auf den Asphalt und kratzt sich am Kopf. Ulli geht zum Fahrer und beugt sich zu ihm herunter.

»Geht es Ihnen gut?«

»Wieso? Ich bin doch gefahren.«

Ulli packt den Fahrer an der Schulter und rüttelt ihn. Der Fahrer schlägt mit seiner Hand nach Ullis Arm.

»Können Sie mir sagen, wie Sie heißen?«, fragt Ulli.

»Ich weiß gar nicht, was passiert ist. Das Radio hat doch gesagt, das Klima sei in Gefahr.«

Ulli wedelt mit seiner Hand vor den Augen des LKW-Fahrers. Als das nichts bringt, hebt er wieder sein Handy ans Ohr.

»Hallo, sind Sie noch dran?«

Ulli wartet einen Moment. Schließlich meldet sich der Mann von eben.

»Herr Dröger, es ist bereits ein Rettungswagen zu Ihnen unterwegs. Bitte sorgen Sie dafür, dass die Sanitäter freie Fahrt haben.«

»Okay. Aber hören Sie: Dem LKW-Fahrer geht es überhaupt nicht gut. Der brabbelt nur unverständliches Zeugs.«

»Okay, Herr Dröger. Ich werde diese Information an den Notarzt weitergeben. Können Sie die Beine des LKW-Fahrers irgendwie hochlegen?«

»Wie?«, fragt Ulli.

»Können Sie seine Beine vielleicht leicht anwinkeln?«

»Mach ich«, sagt Ulli noch, dann stopft er das Smartphone wieder in seine Hosentasche. Er bückt sich runter zum LKW-Fahrer und versucht vorsichtig, ihn auf den Rücken zu legen. Der Fahrer folgt jeder von Ullis Bewegungen. Als er auf dem Boden liegt, hebt Ulli die Beine des Fahrers an und lehnt sie vorsichtig gegen das Vorderrad des Lasters. Dann geht er auf die Passanten zu, die in einem Kreis um das Taxi herumstehen. Es sind mittlerweile vielleicht zehn oder zwölf Leute hinzugekommen. Einige machen Fotos mit ihren Smartphones. Andere versuchen die Türen des Taxis zu öffnen. Die Dame mit der grünen Jacke hockt neben dem LKW-Fahrer und hält seine Hand. Vielleicht versucht sie auch nur, den Puls zu messen.

»Macht Platz, geht zur Seite!«, ruft Ulli laut und in der Ferne hört er bereits die Sirene des Rettungswagens. Kurze Zeit später kommen ein Einsatzwagen der Feuerwehr, ein Polizeiwagen, zwei Rettungswagen und ein Notarztwagen angebraust. Die Menge macht Platz und Ulli ist ein wenig stolz auf sich.

10

Christin Feith ist eine junge Ärztin Mitte dreißig. Sie sitzt auf dem Beifahrersitz des Notarztwagens. Am Steuer sitzt ihr Kollege Holger Schröder. Er überfährt vorsichtig eine rote Ampel. Das Blaulicht und das Martinshorn zeigen ihre Wirkung: Die Kreuzung ist frei. An der nächsten Kreuzung sehen sie schon die verunfallten Fahrzeuge. Hinter dem LKW parkt ein Einsatzwagen der Feuerwehr. Christin wirft einen Blick auf ihr Tablet. Laut Einsatzprotokoll müssen drei Insassen aus einem Taxi befreit werden. Der vierte Beteiligte, der Fahrer des LKW, hat vermutlich einen Schock. Holger parkt direkt neben dem LKW. Christin steigt aus, geht zum Kofferraum und holt ihre Tasche heraus. Holger schultert den schweren Rucksack.

Die Schaulustigen bilden eine Gasse, als Christin auf das Taxi zugeht. Einer der Rettungssanitäter – die Wagen parken rechts auf der Kreuzung – kommt ihr entgegen.

»Es sind drei Schwerverwundete. Eine Frau und zwei Männer. Die Türen auf der Beifahrerseite sind noch nicht auf, aber die Kollegen von der Feuerwehr haben immerhin die Türen auf der Fahrerseite aufgestemmt.«

Christin nickt nur. Sie hat sich im Gehen ihre Handschuhe übergestreift.

»Wie sind die Vitalfunktionen?«, fragt sie den Sanitäter.

»Alle drei normal. Aber der Fahrer des Taxis hat ziemlich viel Blut verloren. Und die Frau …«

Christin sieht selbst, was mit der Frau ist. Die Frau liegt bereits auf einer Trage. Christin schätzt sie auf Anfang dreißig, vielleicht auch jünger. Ihre langen blonden Haare sind blutverklebt. Ihre Augen zucken. Sie ist allem Anschein nach bewusstlos. Christin geht neben der Trage in die Hocke. Der Rettungssanitäter von eben – auf seinem Anzug steht Andreas Schramm – hockt sich neben sie.

»Wir haben bereits alle Vitalfunktionen überprüft, wollten mit dem Abtransport aber noch auf Sie warten.«

Christin wirft einen Blick auf das Display des Messgeräts an der Trage. Dann sieht sie wieder in die Augen der Frau. Sie zucken wild umher, wie bei einem Kind, das schlecht träumt.

»Verdacht auf schweres Schädel-Hirn-Trauma. Die Frau muss sofort ins Krankenhaus.«

Der Sanitäter nickt nur, dann dreht er sich um und ruft seinen Kollegen.

»Auf geht’s Manu. Die Dame kommt ins Bundeswehrkrankenhaus.«

Ein zweiter Sanitäter eilt herbei. Zu zweit heben sie die Trage hoch und schieben sie hinten in den Rettungswagen. Andreas Schramm steigt vorne ein, sein Kollege hinten. Ein Polizist schlägt die beiden Türen zu.

»Wo ist der Fahrer des Taxis?«, fragt Christin den Polizisten.

»Der liegt schon im Rettungswagen. Die Sanitäterin ist bei ihm.«

Christin steuert auf den Rettungswagen zu. Aus den Augenwinkeln sieht sie, wie Holger sich neben einer weiteren Trage niedergelassen hat. Auf der Trage liegt ein Mann. Vermutlich der Fahrgast. Im zweiten Rettungswagen steht eine junge Rettungssanitäterin neben einer Trage. Auf der Trage liegt ein Mann mit bleichem Gesicht und blutgetränkter Kleidung.

»Wie steht es um ihn?«, fragt Christin in den Wagen.

»Sehr schlecht. Wir müssen ihn jeden Moment abtransportieren.«

Christin wendet sich von dem Rettungswagen ab und geht zum dritten Einsatzfahrzeug, das mit einiger Verzögerung am Unfallort angekommen ist. Holger kommt mit einem weiteren Rettungssanitäter. Gemeinsam schieben sie das dritte Unfallopfer in den Wagen.

»Vitalfunktionen in Ordnung. Hat einige Brüche. Innere Blutungen können nicht ausgeschlossen werden.«

Christin sieht sich den Mann an. Er ist ebenfalls Anfang dreißig. Seine rechte Seite ist scheinbar unverletzt, auf seiner linken Seite hingegen zeigen sich schon erste größere Hämatome und Quetschungen. Das linke Knie ist verdreht.

»Ich fahre mit Ihnen«, sagt Christin zu dem jungen Sanitäter, der hinten im Rettungswagen sitzt. »Holger, du kommst nach, sobald du dich um den Fahrer des LKW gekümmert hast!«

»Bis gleich!«, ruft Holger und schlägt die Türen zu.

11

Der Knall, das kreischende Metall, der Schmerz, die Schwärze.

Chris merkt, wie er angehoben wird. Stimmen, hektisches Rufen. Immer mal wieder kehrt er an die Oberfläche zurück. Dann sieht er durch den schmalen Spalt seiner Augen die Blaulichter der Einsatzfahrzeuge. Eine Frau redet. Chris versteht sie nicht. Alles geht zu schnell. Er taucht wieder ab. Schwärze.

Ein Knall, eine Vibration, Stimmen, ein Ruck.

»Ich bin in einem Auto«, denkt es in Chris. Er schaukelt hin und her. Dann greifen Finger nach ihm und er wird fixiert.

Chris versucht, die Augen zu öffnen.

Vergebens.

Er taucht wieder ab in die Dunkelheit. Hier ist alles dumpf. Die Geräusche dringen wie durch Watte zu ihm. Und plötzlich wird alles ganz hell – und dann sieht Chris Annette, die sagt: »Wahrscheinlich das letzte Mal nur wir beide.«

Das Baby, denkt Chris und bemüht sich, wieder an die Oberfläche zu kommen.

12

»Hat er was gesagt?«, fragt der junge Sanitäter. Christin blickt von dem Unfallopfer auf.

»Wie?«, fragt sie. »Was gesagt? Nein, er ist zwar stabil, aber immer noch bewusstlos. Ich würde ihn nur ungern während der Fahrt aufwecken.«

»Ich dachte, er hätte was gesagt.«

Sie fahren zügig durch die Stadt. Vor ihnen ist einer der anderen beiden Rettungswagen, bis der plötzlich anhält. Sie überholen den Wagen.

Christin betätigt die Sprechfunktaste, um mit dem Fahrer zu reden.

»Was ist mit dem RTW los?«, fragt sie.

»Komplikationen mit dem Patient. Sie mussten lebenserhaltende Maßnahmen einleiten.«

Der Notarzt darf während eines Patiententransports keine Behandlung am Unfallopfer vornehmen. Christin hofft, dass es dem Unfallopfer in dem Rettungswagen gut geht. Sie wendet sich wieder dem Mann auf der Trage zu. Noch sind alle seine Werte normal.

Der Fahrer meldet sich über Funk: »Wir sind da.«

Der Wagen hält abrupt an. Kurz darauf werden die Heckklappen aufgerissen. Draußen wartet bereits ein junger Arzt mit zwei weiteren Sanitätern.

Die Sanitäter bringen den jungen Mann, den sie aus dem Taxi geborgen haben, rein. Christin folgt ihnen.

13

Wieder Hektik überall. Er bewegt sich jetzt nicht mehr. Dann wieder Stimmen: Kommandotonfall. Dann wieder Ruhe. Jetzt wird er angehoben. Er spürt, wie er durch die Luft gleitet. Es ist wie Fliegen im Dunkeln.

Als Kind ist er einmal mit einer Achterbahn im Dunkeln gefahren.

Komisch, dass er sich an seine Kindheit erinnert, aber vergessen hat, wie er heißt. Immer, wenn er sich auf die Suche nach seinem Namen macht, sieht er nur das Gesicht einer Frau und eines Katzenbabys. Es ist Schrödingers Katze, das weiß er. Wieso ist sie noch am Leben? Müsste sie nicht eigentlich gleichzeitig tot sein?

Da ist wieder die Frau. Sie heißt Annette. Sie sagt zu ihm: »Wahrscheinlich das letzte Mal nur wir beide.« Dann ruft sie seinen Namen. Es klingt zunächst, als würde sie ihn unter Wasser rufen. Er hört nur ein Blubbern. Und dann, ganz deutlich: »CHRIS!«

Er heißt Chris und seine Frau heißt Annette und das Geschlecht des Babys werden sie erst in zwei oder drei Monaten erfahren.

Getragen von der Flut der Erinnerung nimmt Chris alle Kraft zusammen und stößt sich vom Boden der Dunkelheit ab. Er treibt nach oben. Die Stimmen um ihn herum werden immer deutlicher. Er kann ein Piepsen hören. Er nimmt den Geruch wahr, den jedes Krankenhaus verströmt. Er ist.

Er ist wach.

14

Die Sanitäter bringen den Taxifahrer in die Notaufnahme. Der Operationssaal ist schon vorbereitet. Doch auf halbem Wege wird aus dem Herzrasen, das während der Transportfahrt eingesetzt hat, ein Kammerflimmern und schließlich ein Herzstillstand. Die Sanitäter versuchen noch, den Fahrer wiederzubeleben, jedoch ohne Erfolg.

Eine Tür weiter spielt sich Ähnliches ab.

15

Christin Feith geht neben Christoph Tränker her. Sie spürt, wie er langsam zu sich kommt. Seine Vitalfunktionen sind in Ordnung. Die Sanitäter bringen ihn zum Operationssaal. Die beiden Not-OPs sind belegt. Von dort hört Christin wieder hektische Rufe. Sie weiß, was das zu bedeuten hat: Einer der Patienten ist verstorben. Oder beide.

Aber bei dem Mann, den sie jetzt in den Operationssaal schieben, hat sie noch Hoffnung. Natürlich muss man auch bei ihm mit schweren inneren Verletzungen rechnen, aber allem Anschein nach ist er mit ein paar Brüchen davongekommen.

Und mit dem schweren Verlust. Falls die junge Frau seine Frau war – wovon Christin stark ausgeht –, und falls die junge Frau stirbt – wovon Christin ebenfalls ausgeht.

Neben ihr bewegt sich etwas. Sie sieht nach unten. Der Mann hat die Augen geöffnet.

»Wie geht es …«

»Psst, seien Sie ruhig. Wir bringen Sie schon wieder auf die Beine.«

Christin ist klar, dass der Mann fragen wollte, wie es seiner Frau geht. Aber er braucht jetzt Kraft, um die Operation zu überstehen. Und in einem solchen Fall kann er keine Schreckensnachricht vertragen. Außerdem ist Christin jetzt zu müde, um ihm die traurige Botschaft zu überbringen. Sollen das doch die anderen morgen früh machen. Falls der Patient bis dahin wieder aufgewacht ist.

Sie sieht wieder nach vorne. Die übernächste Tür ist die richtige.

Wieder greift der Patient nach ihr. Da sie den Operationssaal erreicht haben, bleiben sie stehen. Christin blickt nach unten in das fragende Gesicht des Mannes.

»Wie geht es dem Baby?«, fragt er, und schlagartig wird Christin klar, was los ist.

In dem Taxi waren vier Menschen.

Die junge Frau war schwanger.

Therapie

1

Christoph Tränker erwacht. Sein Mund ist so trocken wie die Wüste Gobi. Die Augen zu öffnen kostet ihn Kraft. Über sich sieht er eine hell erleuchtete weiße Decke. Chris erahnt neben sich einen Schatten. Er versucht den Kopf zu drehen, schafft es jedoch nicht.

Piep … Piep …

Von links hört Chris die mechanischen Geräusche einer Pumpe. Wird er beatmet? Er tastet mit seiner rechten Hand nach seinem Gesicht. Dort ist nichts. Das Piepen wird lauter. Chris fällt wieder in einen tiefen Schlaf.

Sekunden später weckt ihn das Geräusch von Metall auf Metall.

»Ah, endlich sind Sie wach«, sagt eine Stimme neben ihm. Eine dicke Schwester beugt sich über ihn.

Natürlich, er ist im Krankenhaus. Der Unfall. Das Theater. Das Essen, das er gekocht hat. Annette. Das Baby.

»Wie … Wie geht es meiner Frau und dem Baby?«, fragt er.

Die Krankenschwester blickt zur Seite.

»Ich glaube, es ist besser, wenn ich den Arzt rufe«, sagt sie, klopft auf Chris’ Kopfkissen und geht raus.

Piep … Piep … WUMMS!

Chris wird im Taxi an die Tür geworfen. Annettes Kopf schlägt brutal gegen die Nackenstütze. Die Fensterscheiben zerspringen. Das ganze Auto wird auf unnatürliche Weise zur Seite geschoben. Dann folgt Schwärze.

»Guten Tag Herr Tränker, wie geht es Ihnen?«

Ein alter Arzt steht neben dem Bett und beugt sich so, dass er in Chris’ Gesichtsfeld ragt. Chris hat nur zwei Gedanken im Kopf: Wie geht es meinem Baby? Wie geht es meiner Frau?

Beinahe hätte er gefragt: »Wie geht es Schrödingers Katze?«

Das Bild lässt ihn nicht los, und Chris weiß, dass er jetzt in einer ähnlichen Situation ist, wie ein Paar, das erfahren möchte, ob das Kind ein Junge wird oder ein Mädchen. Nur ist seine neue Situation viel perfider. Leben oder nicht Leben, das ist hier die Frage!

»Wie geht es meiner Frau? Was ist mit dem Baby?«, fragt er den Arzt.

Dieser atmet einmal tief durch, bevor er antwortet: »Herr Tränker, es tut mir aufrichtig leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass Ihre Frau bereits vorgestern ihren Verletzungen erlegen ist. Das erlittene Schädel-Hirn-Trauma war zu groß.«

Er macht eine Pause, ehe er den Satz sagt, den Chris schon so oft in irgendwelchen Fernsehserien gehört hat: »Wir konnten nichts mehr für sie tun. Es tut mir leid.«

Sein trockener Mund ist ihm egal. Seine Verletzungen sind ihm egal. Er will nicht wissen, wie es jetzt weitergeht. Er will nur noch weinen. Doch seine Augen füllen sich nicht mit Tränen. Sie bleiben so trocken wie die Wüste Gobi.

2

Dr. Simon, der Arzt, ist gegangen. Die Krankenschwester – Schwester Elisabeth – bleibt noch einen Moment im Zimmer. Ebenso das Piepen. Dann, nach einer Ewigkeit, umhüllt Chris eine tiefdunkle Wolke. Die Geräusche von außerhalb dringen kaum noch zu ihm durch. Er liegt in seinem Bett und verspürt Frieden. Und Schmerz.

3

Als Chris erwacht, ist es dunkel im Zimmer. Er sieht sich – so weit es geht – um. Sein linker Arm steckt in Gips. Aus dem rechten ragen Schläuche. Sein linkes Bein liegt in einer Schlaufe. Vor ihm baumelt ein Notrufknopf von der Decke. Er wird ihn später drücken. Jetzt sehnt er sich nur noch zurück in die Dunkelheit.

Doch die Tür wird geöffnet und herein kommt eine weitere Krankenschwester. Sie hat einen Beutel dabei, den sie an den Ständer irgendwo über oder neben Chris hängt. Chris versucht den Namen auf ihrem Shirt zu lesen, doch es ist zu dunkel.

»Können Sie …«, versucht er zu sagen, doch alles was er zustande bringt, ist ein unverständliches Röcheln.

»O, Sie sind wach?«, fragt die Schwester. »Sie sollten aber jetzt wirklich schlafen.«

Chris will den Kopf schütteln. Erfolglos.

»Können Sie den Arzt rufen?«

»Der Doktor kommt morgen erst wieder. Schlafen Sie jetzt einfach weiter.«

Sie nimmt den Notrufknopf in die Hand und hält ihn Chris vors Gesicht. »Wenn Sie starke Schmerzen haben, drücken Sie einfach auf diesen Knopf.«

Chris versucht es noch einmal: »Mein Mund ist schrecklich trocken.«

»Ich bringe Ihnen gleich ein Glas Wasser.«

Die Schwester geht nach draußen. Chris wartet, bis sie wiederkommt. In der Hand hat sie ein Glas mit Wasser, das sie neben Chris auf den Tisch stellt.

»Ich kann nicht …«

»O, klar, ich helfe Ihnen sofort.«

Die Schwester hebt das Glas an Chris’ Mund. Er trinkt es vorsichtig aus. Mit jedem Schluck geht es ihm besser.

Als die Schwester gegangen ist, kann Chris endlich weinen.

4

»Guten Morgen Herr Tränker!«

Die Schwester kommt ins Zimmer gestürmt und reißt die Fenster auf. Es muss die Erste sein, da sie dicker ist als die Krankenschwester, die zuletzt nach Chris gesehen hat. Sie hebt die Bettdecke hoch und sieht nach dem Katheter. Chris hatte ihn bis dahin noch gar nicht bemerkt.

»Wie geht es Ihnen heute?«, fragt sie. Chris möchte ihr von den Schmerzen erzählen, die er in der Hüfte verspürt, aber die Krankenschwester plappert einfach weiter: »Dr. Simon kommt heute zu Ihnen und erklärt Ihnen, was Sie sich alles gebrochen haben. Mögen Sie Hähnchen?«

Chris versteht den Zusammenhang nicht. Doch dann begreift er, dass sie ihn nach seinem Wunschessen gefragt hat.

»Ja«, gibt er zur Antwort. »Wann kommt der Doktor?«

»Gleich nach dem Frühstück.«

Schwester Elisabeth schließt die Fenster wieder und marschiert zur Tür hinaus. Gedämpft kann Chris hören, wie sie das Nachbarzimmer mit einem fröhlichen »Guten Morgen!« erstürmt.

Chris sieht sich erneut im Zimmer um. Er kann mittlerweile auch den Nacken drehen. Er liegt allein im Zimmer. (Sein Versicherungsvertreter hat ihm schon vor Jahren eine Zusatzversicherung angedreht, mit der er ein Anrecht auf ein Einzelzimmer und eine Behandlung durch den Chefarzt hat.) Die piepsende Maschine neben ihm ist verstummt. Auf einem Herzmonitor springt eine Linie zum Takt seines Pulses. Am Tropf hängen zwei Behälter. Auf dem einen steht »NaCl«: Kochsalz.

Chris dreht den Kopf zur anderen Seite. Links von ihm am Fenster steht Annette. Auf ihrem Arm wiegt sie ein Baby. Sie lächelt Chris an und er lächelt zurück. Plötzlich fängt das Baby an zu weinen. Es schreit und schreit, immer höher und schriller, bis es sich anhört wie Metall, das verbeult wird. Chris schießen die Tränen die Augen. Mit einem Mal hat Annette eine riesige Platzwunde an der Stirn. Sie zuckt hin und her. Dann sind die beiden weg.

Der Apparat neben Chris hat wieder begonnen, zu piepsen. Jetzt springt die Linie wild umher. Die Tür geht auf und die Schwester, die Dicke, kommt hereingestürmt. Sie bleibt kurz vor dem Bett stehen, da sie gesehen hat, dass Chris weint. Die Linie auf dem Herzmonitor beruhigt sich wieder. Schwester Elisabeth drückt auf einen Knopf und der Apparat verstummt.

»Können Sie bitte den Arzt rufen?«, fragt Chris.

Schwester Elisabeth nickt nur. Dann verlässt sie das Zimmer.

Die Zeit bleibt stehen. In seinem Kopf zählt Chris die Sekunden (»einundzwanzig, zweiundzwanzig…«), bis der Arzt kommt. Chris ist gerade bei 900 angelangt, als die Tür sich öffnet und der Alte von gestern – war es wirklich gestern? – hereinkommt.

»Guten Morgen Herr Tränker, was kann ich für Sie tun?«, fragt er in freundlichem Tonfall.

»Können Sie mir sagen, was mir fehlt? Wann kann ich hier raus?«

»Sie werden uns wohl noch eine Weile beehren müssen, Herr Tränker. Ihre linke Körperseite wurde durch den Aufprall stark in Mitleidenschaft gezogen.«

Dr. Simon klappt sein Klemmbrett auf.

»Die schlimmsten Verletzungen sind wohl Ihr gebrochener Beckenknochen und das gerissene vordere Kreuzband. Aber das ist nichts, was sich nicht wieder beheben ließe. Sie hatten Glück: Ihre Wirbelsäule hat den Unfall völlig unbeschadet überstanden.«

Ich hatte Glück, denkt Chris und sogleich schießen ihm wieder die Tränen in die Augen und Magensäure steigt in seinem Hals auf.

»Würden Sie es wirklich als Glück bezeichnen, wenn Ihre Frau umkommt?«, fragt er laut.

Dr. Simon räuspert sich. Nach einem kurzen Moment des Schweigens, in dem er über seine Wortwahl nachzudenken scheint, sagt er: »Was mit Ihrer Frau passiert ist, tut mir aufrichtig leid. Aber Sie sollten dennoch froh sein, dass Sie noch leben. Sie haben eine zweite Chance erhalten. Irgendwann werden Sie noch dankbar sein, dass es Sie nicht auch erwischt hat.«

Chris spürt, wie eine Mischung aus übermächtiger Trauer und Zorn in ihm anwächst. Er schluckt beides herunter und mit ihnen auch die Magensäure. Schließlich fragt er: »Was ist mit meinem Arm?«