Entwurzelt - David Hermann - E-Book

Entwurzelt E-Book

David Hermann

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Beschreibung

Der Autor Ignatius Reichenbach schreibt das Theaterstück seines Lebens. Doch noch während er MORD OHNE SINN schreibt, geschehen seltsame Dinge. Immer mehr verschwimmen für ihn Fiktion und Realität. Reichenbach sieht nur noch einen Ausweg: Er nimmt sich das Leben. 60 Jahre später soll MORD OHNE SINN in einem kleinen Theater aufgeführt werden. Aber dann geschieht ein grausamer Mord. Der Verdacht fällt sofort auf das Ensemble des Theaters. Der Regisseur Hillenberger setzt alles daran, das Stück trotz des tragischen Vorfalls auf die Bühne zu bringen. Doch die Hürden für die Aufführung nehmen zu und damit Hillenbergers Verzweiflung. Liegt gar ein Fluch auf dem Stück?

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Seitenzahl: 249

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Über den Autor:

David Hermann wurde 1985 in Gießen geboren. Er studierte Mathematik und Physik und arbeitet seit 2010 als Lehrer an einer Gesamtschule. Zu seinen literarischen Vorbildern zählt er neben Autoren wie Michael Crichton und Stephen King auch den Komiker Heinz Erhard und den Videospielentwickler Sam Lake.

Über das Buch:

Der Autor Ignatius Reichenbach schreibt das Theaterstück seines Lebens. Doch noch während er MORD OHNE SINN schreibt, geschehen seltsame Dinge. Immer mehr verschwimmen für ihn Fiktion und Realität. Reichenbach sieht nur noch einen Ausweg: Er nimmt sich das Leben.

60 Jahre später soll MORD OHNE SINN in einem kleinen Theater aufgeführt werden. Aber dann geschieht ein grausamer Mord. Der Verdacht fällt sofort auf das Ensemble des Theaters. Der Regisseur Hillenberger setzt alles daran, das Stück trotz des tragischen Vorfalls auf die Bühne zu bringen. Doch die Hürden für die Aufführung nehmen zu und damit Hillenbergers Verzweiflung. Liegt gar ein Fluch auf dem Stück?

Inhalt

Szene 1 – Auf der Straße

Der Nachlass

Das Stück

Reichenbachfall

Die Gruppe

Das Opfer

Der Streit

Besessen

Verwurzelt

Tor zur Mitternacht

Chekhov’s Knife

Der Traum

Ein zweites Messer

Matheo

Identifikation

Inspiration

Entwurzelt

Wien

Demaskiert

Szene 13 – In der Kammer

Hinweise und Danksagungen

»Jede Nacht nähren wir unsere Träume mit Schlaglichtern der Realität. Da scheint es nur gerecht, dass eines Tages die Traumwelt in die wirkliche Welt hineinblutet. Und wenn es so weit ist, stellen wir fest, dass die schlimmsten Monster, die wir schufen, nicht die in unseren Träumen sind, sondern jene, die in uns selbst schlummern.«Auszug aus dem Tagebuch von Ignatius Reichenbach.

Szene 1 – Auf der Straße

Die Bäuerin steht auf der Straße. Die arme Frau kommt des Wegs.

BÄUERIN: Grüß Gott. So spät noch unterwegs?

ARME FRAU: Muss mich beeilen. Die Läden schließen bald. Wird schon dunkel.

BÄUERIN: Drüben höre ich schon die Wachleute. Sie schicken die Leut’ nach Haus. Hoffentlich schnappen sie den Halunken bald.

ARME FRAU: Ich würd’ ihn eher ein Monster nennen. Letzte Nacht hat er den Thomas erwischt. In der Badewanne.

BÄUERIN: Im eignen Haus. Da fragt man sich doch, was das mit der Sperrstund soll, wo dem Monster nicht einmal die eignen vier Wände etwas entgegenzusetzen haben. Gott sei Dank ist der Kommissär im Dorf. Er wird ihn schon schnappen.

ARME FRAU: Hab gehört, er ist mit seiner Frau ins Wirtshaus gezogen. Weiß Gott, wieso er seine Frau mitgebracht hat. Es wird ihr noch zum Unglück sein.

Das kleine Mädchen tritt auf. Es kommt die Straße entlanggeschlendert, in der Hand ein Körbchen.

BÄUERIN: Liebes, was machst du denn noch so spät hier auf der Straße? Weißt du denn nicht, dass es für Kinder besonders gefährlich ist?

KLEINES MÄDCHEN: Ihr seid doch selbst noch hier.

ARME FRAU: Werd’ bloß nicht frech. Geh lieber schnell nach Hause.

Das Mädchen nickt und geht um die Hausecke. Ein spitzer Schrei erschallt. Das Mädchen kommt wieder auf die Straße getorkelt. Ihr Hemd ist blutgetränkt. Die beiden Frauen weichen erschrocken zurück. Das Mädchen spricht zum Publikum.

KLEINES MÄDCHEN: Jetzt hat’s mich erwischt. Dabei bin ich doch noch so jung. Das Grauen macht vor niemandem Halt. Jeden kann der Tod ereilen, so wie das Dunkel jeden ergreifen kann. Ich bin nur froh, dass es mich nicht befallen hat, dass ich nicht zum Mörder wurde, so wie jener, der mich erstach. Ich habe ihn gekannt und er hat mich gekannt. Wer’s gewesen ist, kann ich trotzdem nicht sagen. Der Anstand gebietet es mir, Ihnen die Spannung nicht zu rauben. Ich bin nur froh und dankbar, dass es nicht mein eigner Vater war.

Der Nachlass

Laurianne Reichenbach hat aufgehört zu zählen, wie viele Kisten sie gepackt und wie viele Schubladen, sie durchwühlt hat. Es kommt ihr vor, als seien es unzählbar viele. Die meisten Bücher ihres verstorbenen Mannes hat ein Antiquar aufgekauft. Gemeinsam mit Olaf Steiger hat sie die Anzeige geschaltet und schon am nächsten Tag haben sich ein Dutzend Buchhändler, Privatsammler und Antiquare bei ihr gemeldet. Laurianne hat sich für den erstbesten entschieden: Herr Luckenbach, Besitzer eines Buchantiquariats. Laurianne hat bisher noch nicht einmal geahnt, dass es Menschen gibt, die mit alten Büchern handeln. Wozu sollte man auch ein altes Buch kaufen, wenn es doch so viele neue gibt.

Jetzt macht sie schon seit Tagen nichts anderes, als die alten Bücher ihres Mannes zu katalogisieren.

Die Bücher ihres verstorbenen Mannes.

Wobei es »verstorben« nicht wirklich trifft.

Ignatius Reichenbach, der erfolglose Bühnenautor, hatte sich vor über einem Jahr freiwillig in den Tod gestürzt. Im wahrsten Sinne des Wortes ein echter Reichenbachfall. Laurianne hat beinahe gelacht, als sie beim Durchstöbern der Bücher auf diese Sherlock Holmes Geschichte gestoßen ist.

Mittlerweile kann sie das wieder: Lachen. In den ersten Monaten nach Ignatius’ Freitod war sie komplett erschüttert und hat die meiste Zeit katatonisch in ihrem Atelier gesessen und die Wand mit all ihren Fotos angestarrt. Diese Zeit hat sie wahrscheinlich nur überlebt, weil Olaf Steiger sich um sie gekümmert hat.

Olaf Steiger war Ignatius’ Freund und Literaturagent. Er hat dafür gesorgt, dass die Theaterstücke, die Ignatius verfasste, an Verlage verkauft wurden.

Nach einem halben Jahr des Schweigens hat Steiger Laurianne dann endlich angesprochen. Ob sie wisse, wovon sie in Zukunft leben werde. Laurianne musste sich eingestehen, dass sie sich darüber noch keine Gedanken gemacht hatte. Sie hatte von dem Ersparten und den Einkünften, die sie mit ihren Bildern verdiente, gelebt. Doch Steiger hatte natürlich recht. Die Maisonette, die Laurianne mit Ignatius bewohnt hatte, war für eine Person zu teuer und zu groß. Laurianne hatte schon immer den Wunsch gehabt, ihr Leben mit Kindern zu füllen. Doch es hatte nie geklappt. Jetzt gähnt sie die Leere der Wohnung fast so laut an, wie Ignatius’ Bücher sie angeschrieen haben. Deshalb ist sie froh gewesen, als Steiger die Idee geäußert hatte, sie könne den Nachlass ihres Mannes veräußern und in eine kleinere Wohnung ziehen. So hätte sie wenigstens eine Aufgabe.

Anfangs ist Laurianne sich noch wie eine Verräterin vorgekommen, doch mit der Zeit hat sie gemerkt, dass all die Bücher, Briefe, Manuskripte und Entwürfe ihres Mannes sie zu erdrücken schienen. Also hat sie mit Steigers Hilfe begonnen, den Nachlass ihres Mannes zu verwalten.

Jetzt sitzt sie an dem wuchtigen Holzschreibtisch, an dem ihr Mann sonst gearbeitet hat. Seine Olympia-Schreibmaschine steht nach wie vor an ihrem Platz. Sogar ein Blatt ist noch eingespannt. Laurianne tippt vorsichtig das Wort ENDE. Die vier Buchstaben prangen so unumkehrbar und endgültig auf dem weißen Papier, wie Ignatius’ Freitod für immer in ihrem Leben stehen wird. Laurianne spürt, wie ihr wieder die Tränen kommen. Hastig – beinahe wütend – reißt sie den Bogen aus der Maschine, zerknüllt ihn und wirft ihn in den Papierkorb.

Sie steht auf und macht sich wieder ans Werk. Drei Schubladen hat sie noch nicht durchgesehen.

In der obersten liegen einige Zeitungsartikel. Normalerweise hat Ignatius nichts auf seine Veröffentlichungen in der Zeitung gegeben. Er hat immer gesagt, seine Artikel seien nur ein billiger Abklatsch seines Könnens. Doch einigen Artikeln konnte er trotzdem etwas abgewinnen. Meistens wanderten sie in ein dickes Album, das jetzt im Regal hinter Laurianne steht. Die drei Zeitungsausschnitte, die sie in der Schublade findet, wird sie später Ignatius’ Sammlung hinzufügen.

In der zweiten Schublade findet Laurianne einen Stapel handbeschriebener Papiere. Die meisten Seiten sind durchgestrichen. Laurianne weiß, dass ihr Mann fast nie von seiner Arbeit überzeugt war. Ein Phänomen, das sie als Malerin nur zu gut kennt. Das schlechte Gefühl, das jeder Kreative kennt, wenn andere die eigene Arbeit loben, und man selbst weiß, dass man alles noch so viel besser hätte machen können.

Laurianne überfliegt die Papiere. Es handelt sich offensichtlich um den Versuch, eine Kurzgeschichte oder vielleicht sogar einen ganzen Roman zu schreiben. Laurianne legt die Blätter auf den Stapel anderer Romananfänge, die sie in anderen Schubladen des Schreibtischs gefunden hat. Sie wird später alles sorgfältig lesen. Vielleicht kann Steiger irgendetwas davon noch zu Geld machen.

In der letzten Schublade, die sie sich für heute vorgenommen hat, liegt ein weiterer Stapel Papiere. Doch anders als all die Manuskripte und Skizzen, die sie bisher gefunden hat, ist dieses Dokument mit der Maschine geschrieben. Laurianne nimmt es heraus und liest den Titel: MORD OHNE SINN. Etwas an diesem Titel spricht sie an und Laurianne beschließt, den Text jetzt gleich zu lesen. Es sind etwa hundert Seiten und es handelt sich – wie sie auf den ersten Blick sieht – um ein Theaterstück. Laurianne beschließt, Steiger später anzurufen und ihn zu fragen, ob Ignatius dieses Stück bereits eingereicht hat. Außerdem wird sie in der Bibliothek nachsehen, ob es einen Roman mit dem Titel MORD OHNE SINN gibt. Vielleicht handelt es sich, wie zu vermuten wäre, um die Bearbeitung eines Romans für die Bühne.

Jetzt geht sie mit dem Stapel nach unten in die Küche. Sie hätte sich auch in Ignatius’ Lesezimmer in einen der Sessel setzen können, doch sie erträgt die Stille dort nicht. In der Küche hört sie wenigstens die Uhr ticken.

Laurianne setzt sich einen Kaffee auf und beginnt zu lesen. Sie spürt von der ersten Seite an, dass dieses Stück Ignatius’ Meisterwerk ist. Und dass es dafür verantwortlich ist, dass er sich in den Tod gestürzt hat. Jede Dialogzeile ist durchdrungen von Verzweiflung. Die Charaktere sind getrieben von der Angst, sie könnten von dem grausamen Mörder umgebracht werden, oder noch schlimmer, der freundliche Nachbar von nebenan könnte der Unhold sein.

Laurianne erkennt ihren Mann in einigen Charakteren wieder. Und sich selbst auch. Die Frau des Kommissärs hat Ignatius eindeutig an sie angelehnt. Laurianne liest ununterbrochen, bis sie am Ende von Szene 4 ins Stocken gerät. Der Dialog zwischen der Wirtin und dem Pfarrer endet mitten im Satz. Der Rest der Seite ist leer. Laurianne blättert um zur nächsten Seite. Die beginnt mit der Überschrift SZENE ACHT – AUF DER STRASSE.

Verwundert blättert Laurianne den Papierstapel durch. Der Rest des Stücks geht scheinbar normal weiter. Es folgen noch fünf Szenen. Laurianne liest sie in einem Rutsch durch. Eine halbe Stunde und zwei Tassen Kaffee später geht sie wieder hinauf ins Arbeitszimmer ihres Mannes. Sie durchwühlt alle Schubladen und Kisten, kann jedoch die fehlenden Szenen nicht finden. Laurianne überlegt, was sie tun soll. Das Stück ist großartig. Es ist das Beste, was ihr Mann je geschrieben hat. Und es ist vor allem seines. Keine Romanumsetzung. Das hat sie sofort gespürt. Jede Textzeile stammt von ihm. Jeder Gedanke ist seiner.

Diese Erkenntnis lässt Laurianne zweifeln. MORD OHNE SINN ist zweifelsohne ein Teil ihres Mannes – gewissermaßen ein Blick in seine Seele. Sollte sie wirklich Profit daraus schlagen? Würde sie so nicht auch Ignatius’ Selbstmord … ausschlachten?

Laurianne fasst einen Entschluss. Sie wird versuchen, das Stück zu verkaufen. Ignatius hätte gewollt, dass es irgendwann einmal aufgeführt wird. Sie greift zum Telefon und ruft Olaf Steiger an.

»Steiger am Apparat. Wer spricht dort?«

»Olaf, ich bin’s, Laurianne.«

Eine Pause, dann: »Wie geht es dir?«

»Gut. Aber, das ist es nicht, weshalb ich dich anrufe.«

Laurianne sieht auf das Manuskript vor ihr.

»Wie kann ich dir helfen?«

»Ich habe etwas gefunden.«

»Du hast etwas in den Sachen deines Mannes gefunden?«

»Ja, es ist ein Stück fürs Theater. Es ist gut, glaube ich.«

»Soll ich vorbeikommen?«

Wieder sieht Laurianne auf den Titel des Stücks. MORD OHNE SINN. In Gedanken fügt sie hinzu SELBSTMORD OHNE SINN.

»Würdest du es lesen? Vielleicht ist es ja so gut, dass man es veröffentlichen kann.«

»Das wird sich zeigen. Ich habe hier noch zu tun, aber ich könnte in drei Stunden bei dir sein.«

»Das wäre lieb von dir.«

Sie verabschiedet sich und legt auf.

Laurianne ärgert sich, dass sie Steiger nicht gleich die ganze Wahrheit gesagt hat. Er wird schließlich sowieso herausfinden, dass in der Mitte des Stücks auf Szene 4 Szene 8 folgt. Insgeheim hegt Laurianne die Hoffnung, dass in den handgeschriebenen Notizen ihres Mannes der Rest von MORD OHNE SINN schlummert.

Das Stück

Marek Hillenberger hatte große Mühe, sich zu beherrschen. Seit einer halben Stunde wartete er vergebens auf seine Dramaturgin Katherina Batke. Sie waren für acht Uhr morgens verabredet gewesen, um über die Lücke zu sprechen. Jetzt war es bereits kurz nach halb neun. In einer Stunde kämen die Schauspieler. Dann war für Hillenberger nicht mehr an die Arbeit im Büro zu denken. Dann musste er zur Bühne und Anweisungen geben. Und er musste dafür sorgen, dass die Truppe das Stück nicht verhunzte.

Es war schon schwer genug, die Schauspieler davon zu überzeugen, sich auf ein unfertiges Stück einzulassen. Doch jetzt musste er auch noch mit Batke zusammen das Unmögliche schaffen und einen kompletten Mittelteil schreiben. Wieso hatte er sich nur für dieses Stück entschieden?

Hillenberger wusste natürlich, wieso er MORD OHNE SINN für diese Saison ausgewählt hatte.

Zum einen hatte er das Stück seit seinem Studium einige hundert Mal gelesen und auch sonst jeden Text des Autors verschlungen. Dazu noch alles, was er über Ignatius Reichenbach aus Wien hatte finden können. Das war beileibe nicht viel gewesen, da es sich um ein verkanntes Genie handelte, dessen bedeutendstes Werk erst posthum veröffentlicht worden war.

Zum anderen war da die Sache mit den fehlenden drei Szenen. Eine Szene im Wirtshaus brach mitten im Satz ab. Die Zählung der Szenen deutete darauf hin, dass drei weitere Szenen komplett fehlten. Niemand wusste, ob Reichenbach diese Szenen jemals geschrieben hatte oder ob sie bis zu seinem Tod nur als Ideen in seinem Kopf umherschwirrten.

Hillenberger hatte sieben Jahre damit verbracht, das Stück zu studieren. Er hatte einmal eine Aufführung in einem kleinen Theater in Berlin gesehen und war sofort begeistert gewesen von dem Stoff. Später hatte er es im Studium wieder und wieder analysiert und sich darüber den Kopf zerbrochen, wie man es aufführen könnte, ohne – wie in der Berliner Aufführung geschehen – eine Lücke zu lassen.

Und dann hatte die Theaterleitung des Heigeltheaters ihn gefragt, welches Stück er als Nächstes inszenieren wolle. Es war das erste Mal gewesen, dass ihm nicht von oben herab diktiert worden war, die hundertste Inszenierung von FAUST aufzuführen. Nein, diesmal durfte er frei entscheiden, welches Stück das Ensemble in der nächsten Saison spielen würde. Und endlich hatte er nach all den Standardwerken, die sie in den vergangenen fünf Jahren aufgeführt hatten, den Mut gefunden, sich für Reichenbachs unvollendetes Meisterwerk zu entscheiden.

Für Hillenberger war von Anfang an klar gewesen, dass sie die fehlenden Szenen irgendwie würden ersetzen müssen. Ihm war nur nicht klar gewesen, wie schwer es war, eine Theaterszene auf dem Niveau zu schreiben, wie es Reichenbach beherrscht hatte.

Hillenberger hatte in seinem Leben überhaupt erst ein Drehbuch verfasst. Damals an der Uni hatten sie die Aufgabe gehabt, eine Bühnenfassung für einen literarischen Text ihrer Wahl zu schreiben. Hillenberger hatte gegen einen Kommilitonen einen Abend zuvor eine Wette verloren – er war nach dem elften Kräuterschnaps eingeknickt – und musste nun, einer Abmachung folgend, die Romanvorlage verwenden, die ihm sein Studienfreund Gerard vorgab.

Es kam schlimmer als befürchtet. Marek Hillenberger hatte die zweifelhafte Aufgabe, den Thriller BLUTIGE POST – einen Schundroman aus den USA – zu adaptieren. Er quälte sich durch die Seiten und schämte sich für jedes Wort, das er las. Erst Jahre später erlebte er noch einmal dieses tiefe Gefühl der Scham, als der Hauptdarsteller bei seiner ersten Inszenierung als Regisseur in der alles entscheidenden Szene einen Blackout hatte und kein Wort mehr herausbekam. Hillenberger verlegte die Handlung in BLUTIGE POST vom New York der 2000er ins Berlin der 1980er und übergoss alles mit einer gehörigen Portion »Verarbeitung der Deutschen Geschichte«. Das Drehbuch war so schlecht, dass es Hillenberger nicht wunderte, als ihm der Professor mitteilte, er müsse noch eine Menge Änderungen vornehmen, damit die Arbeit positiv bewertet würde. Hillenberger weigerte sich jedoch und kassierte seine einzige negative Note an der Universität.

Jetzt wollte er also ein Schwergewicht wie MORD OHNE SINN um einige Szenen ergänzen. Hillenberger hatte sich bereits während seines Studiums gewundert, dass offenbar niemand außer ihm dieses Stück kannte und dessen Essenz verstand. Wieso nur wurde dieses Werk so verkannt? Hillenberger sah es als seine Berufung, MORD OHNE SINN den Menschen näherzubringen. Dabei stellte die Inszenierung am Heigeltheater gleichzeitig Traum und Albtraum dar. Zum Glück würde Katherina Batke ihn unterstützen. Wenn sie denn endlich auftauchte.

Hillenberger wollte sie gerade zum vierten Mal in Folge anrufen, als er die Tür hörte. Es war jedoch nicht Batke, sondern die junge Studentin Laura Pracht, die an drei Tagen in der Woche im Theater arbeitete.

»Hallo Marek, ist Katherina noch nicht da?«

Laura war hinreißend. Wie sie sich bewegte, wie sie aussah, wie sie sprach. Selbst, wenn sie sich nur die Jacke auszog. Hillenberger konnte fast nicht hinsehen, ohne innerlich zerrissen zu werden. Er musste sich jetzt auf das Stück konzentrieren. Er dachte an den Dialog zwischen der Wirtin und dem Kommissär, den sie heute vor sich hatten. So wie sie die Sache geplant hatten, ergab das alles keinen Sinn. Doch Katherina hatte ihn überzeugt, dass sie ihrem Protagonisten – dem Star des Stücks: Janosch von Hofen – einige zusätzliche Zeilen schreiben mussten, egal, ob es an dieser Stelle nun passte oder nicht.

»Erde an Marek! Hast du meine Frage gehört?«, riss Laura ihn aus seinen Gedanken.

»Ja, habe ich«, antwortete Hillenberger. »Ich habe versucht, sie anzurufen, aber sie geht nicht dran.«

»Redet ihr von mir?«

Katherina kam zur Tür herein.

»Entschuldigt bitte die Verspätung, aber ich hatte einen Platten.«

»Ich habe versucht, dich anzurufen.«

»Da muss ich wohl gerade mit dem Pannendienst telefoniert haben.«

Laura spürte die Spannung im Raum. Sie wusste, wie wichtig das Theaterstück für Marek war. Wie oft hatte er ihr abends davon vorgeschwärmt. Sie hatte es natürlich auch mehrmals gelesen. Sie musste zugeben, dass es nicht schlecht war. Es war vielleicht sogar gut, doch es wurden jedes Jahr neue Stücke geschrieben, über die man das auch sagen konnte. Und dann gab es ja noch die ganzen Klassiker, denen MORD OHNE SINN zweifellos unterlegen war. Sie konnte nicht so recht verstehen, was Marek an dem Stück so begeisterte. Aber es machte ihr Spaß, an den fehlenden Szenen mitzuarbeiten. Das war etwas anderes, als an der Universität Drehbücher für abendfüllende Filme zu schreiben, die doch nie das Licht der Welt erblicken würden. Hier hatte sie die Gelegenheit, an etwas mitzuarbeiten, das tatsächlich aufgeführt wurde. Dass sie gelegentlich mit dem Regisseur schlief, war für sie nichts als ein netter Zuschlag.

»Jetzt bist du ja da. Möchtest du einen Kaffee?«, fragte Laura.

»Danke, gern.«

Hillenberger sah ungeduldig auf seine Armbanduhr. Sie hatten jetzt wirklich keine Zeit für ein kleines Frühstück unter Kollegen. Doch dann dachte er sich, ein Kaffee habe noch keinem geschadet.

»Für mich bitte auch einen.«

Laura ging zur Maschine und goss drei Tassen Kaffee ein.

»Welche Szene ist heute dran?«, fragte Katherina.

»Das Wirtshaus. Szene sechs.«

»Irgendwelche Ideen?«

Katherina rührte in ihrem Kaffee. Laura schwieg.

»Das Mädchen könnte noch einmal auftreten«, sagte Katherina.

»Was?«, fragte Hillenberger.

»Wir lassen das Mädchen noch einmal auftreten. Es kommt als Geist ins Wirtshaus und prophezeit, wer noch alles zum Mörder wird. Vielleicht sagt es auch dem Kommissar auf den Kopf zu, dass er seine Frau in Gefahr bringt.«

»Was soll der Scheiß?«

Hillenberger wäre im Normalfall über seine Wortwahl erschrocken gewesen, doch nicht an diesem Morgen, denn obwohl er seinem Ärger Luft gemacht hatte, war seine Wut über Batkes Verspätung immer noch nicht ganz verraucht.

»Es war doch nur so eine Idee.«

»Es war eine schlechte Idee. Reichenbach hat seine Stücke immer geradlinig erzählt. Keine Zeitsprünge, keine Rückblenden und auch keine Geister, die mitten im Stück auftauchen und das Ende verraten.«

»Es war, wie gesagt, nur eine Idee, dem Mädchen noch eine Szene zu schreiben, damit sie ein wenig mehr Spielzeit bekommt.«

»Wir müssen uns immer vor Augen halten, was Reichenbach mit MORD OHNE SINN sagen wollte«, sagte Hillenberger

»Der Mensch verliert seine Unschuld.«

»Nein«, widersprach Hillenberger Batke , »er ist besessen von einer Idee, einer Ideologie. Diese Idee frisst sich wie ein Krebsgeschwür in seine Gedanken, bis er von ihr beherrscht wird.«

Hillenberger sah, wie Batke die Augen verdrehte. Er wusste, dass sie es für einen Fehler der Geschäftsleitung gehalten hatte, ihn das neue Stück für die kommende Saison selbst aussuchen zu lassen. Doch er würde es ihr schon noch zeigen. Für Reichenbachs Stück würde er sich ins Zeug legen. Es würde die beste Inszenierung des Heigeltheaters werden. Jetzt musste er Batke nur noch dazu bringen, mit ihm gemeinsam die verschollenen Szenen zu schreiben.

»Vergiss bitte nicht die Sache mit dem ‚kein Weg zurück‘«, mahnte Batke.

»Ja, das Problem, dass es ab einem gewissen Punkt in der Geschichte keinen Weg mehr zurück gibt.«

Laura Pracht stand auf und goss sich eine weitere Tasse Kaffee ein.

»Wie wäre es«, sagte sie, »wenn wir den Bauern erkennen lassen würden, dass er langsam wahnsinnig wird. Er könnte darüber monologisieren, dass er den Pfarrer zur Strecke bringen muss. Dann hätte Oskar auch direkt etwas mehr Text und würde sich nicht mehr darüber beschweren, dass er nur zwanzig Sätze im ganzen Stück zu sagen hat.«

»Eine fabelhafte Idee«, sagte Hillenberger. Er stand auf und ging zur Tür.

»Die Truppe dürfte mittlerweile da sein. Wie wäre es, wenn ihr beide euch noch ein paar Gedanken macht und wir uns nach der Mittagspause wieder zusammensetzen?«

Er wartete nicht auf eine Antwort, sondern ging einfach nach draußen.

Hillenberger eilte über den dunklen Flur und ging über die Treppe nach hinten auf die Bühne. Hillenberger war keineswegs davon ausgegangen, dass er hier bereits jemanden anträfe, er wollte nur allein sein mit seinen Gedanken. Doch die ersten zwei Schauspieler waren bereits da. Oskar Tobias Steidle, der den Bauern spielte, der im Verlauf der Handlung den Pfarrer tötete, und Janosch von Hofen, der den Kommissar geben würde.

Auf von Hofen musste Hillenberger aufpassen. Er war ein junger, engagierter Schauspieler aus einer alten Schauspielerfamilie. Er hatte bereits auf fast allen großen Bühnen Deutschlands gespielt und sogar in New York studiert. Zuletzt war er im Fernsehen in einem Kriminalfilm zu sehen gewesen. All das wussten seine Kollegen. Und Janosch wusste, dass sie es wussten. Er war zweifelsfrei ein guter, vielleicht sogar ein großartiger Schauspieler, doch Hillenberger befürchtete, dass sein Ego die Truppe – die größtenteils aus Amateuren bestand – sprengen könnte.

»Guten Morgen Herr Hillenberger«, sagte Steidle zu ihm und er klang dabei fast wie ein Schüler, der seinen Lehrer begrüßt.

»Guten Morgen die Herren. Ist sonst noch wer da?«

»Teresas Wagen habe ich schon gesehen. Die anderen kommen bestimmt gleich«, sagte Steidle.

»Wie ich sehe, gehen Sie gerade die Verhörszene durch. Machen Sie ruhig weiter.«

Steidle und von Hofen setzten sich wieder an den Tisch, der provisorisch auf der Bühne stand. Die eigentlichen Bühnenrequisiten waren noch nicht fertig. Punkt 107 auf Hillenbergers Liste der Probleme.

»Sie haben doch noch Blut an Ihrem Hemd, also geben Sie’s endlich zu!«, donnerte Janosch.

»Nichts gebe ich zu«, stammelte Oskar. »Ich habe mich beim Rasieren geschnitten.«

»Sie haben sich seit Wochen nicht mehr rasiert. Sehen Sie sich doch an!«

Hillenberger betrachtete die Szene. Er musste sich beherrschen, den beiden nicht ins Wort zu fallen. Steidle übertrieb mal wieder und überzeichnete seine Rolle und von Hofen schien noch nicht ganz bei der Sache zu sein. Aber Hillenberger hatte gelernt, dass man Schauspielern etwas Zeit geben musste, um mit einer Szene warm zu werden.

»Wollen Sie mir etwa weismachen, Sie hätten nichts mit dem Mord an Pfarrer Reichert zu tun? Sie waren es doch, der ihn zuletzt besucht hat!«

Marek verwarf seinen guten Vorsatz. Er hielt es nicht mehr aus. Janosch gab hier eindeutig den Kommissar aus dem Fernsehkrimi.

»Stopp! Entschuldigt, aber ich muss hier unterbrechen.«

Die beiden Schauspieler legten ihre Textbücher zur Seite und sahen ihn an.

»Herr von Hofen, Sie sind kein Kommissar aus dem 21. Jahrhundert. Unser Stück spielt in der Vergangenheit. Der erste Weltkrieg ist gerade vorüber, die Leute leben in der Hoffnung, dass alles wieder besser wird. Bitte legen Sie etwas mehr Epoche in Ihre Sprache.«

Janosch nickte höflich, obwohl man ihm ansah, dass er nicht recht wusste, was Hillenberger mit Epoche in der Sprache meinte. Er überflog noch einmal den Text, dann begann er von Neuem. Mit viel Epoche in der Sprache.

Nach fünf Stunden Probe, die von einer Mittagspause unterbrochen wurden, wurden die Schauspieler endlich von Hillenberger in den Feierabend entlassen. Für Laura Pracht ging es jetzt erst richtig los. Sie hatte den halben Vormittag und den ganzen Nachmittag mit Katherina Batke an den verlorenen Szenen gearbeitet. Jetzt galt es, sich zu dritt an den Tisch zu setzen und die tagsüber neugeschriebenen Dialoge zu besprechen.

Laura Pracht und Katherina Batke warteten in Hillenbergers Büro auf den Regisseur. Endlich ging die Tür auf und ein völlig übermüdeter Hillenberger kam herein und ließ sich auf den Schreibtischstuhl fallen.

Laura wusste, dass Hillenberger sich selbst keine Pause gönnen würde. Also legte sie ihm gleich zu Beginn die neuen Textpassagen vor.

»Wir haben uns dazu entschieden, einen Dialog zwischen dem Pfarrer und der Wirtin zu schreiben«, sagte Katherina.

»Die beiden könnten über den Tod des Mädchens spekulieren. Sie könnten darüber diskutieren, wen sie für den Mörder halten.«

Hillenberger schüttelte den Kopf.

»Der Tod des Mädchens soll bis zum Schluss ungeklärt bleiben. Jeder muss es gewesen sein können. Wir müssen uns davon verabschieden, dass Reichenbach hier ein Kriminalstück inszeniert hat. Es geht vielmehr darum, dass alle und zugleich niemand Schuld an dem ganzen Drama hat.«

»Aber, denkst du nicht, dass die Zuschauer wissen wollen, wer der Mörder ist?«, fragte Laura.

»Nein. Ich erwarte, dass die Zuschauer klug genug sind, sich selbst einen Reim auf die ganze Sache zu machen. Wir dürfen das Stück nicht übererklären.«

»Wie wäre es denn«, warf Katherina ein, »wenn wir die beiden über die Polizei im Allgemeinen reden ließen? Sie könnten über die Sinnhaftigkeit der Ausgangssperre diskutieren. Oder über die Frage, ob die Polizeikontrolle schon ausreicht.«

Sie hielt ihren Kugelschreiber, mit dem sie sich während der vergangenen vier Stunden unzählige Notizen gemacht hatte, krampfhaft fest. Laura fiel auf, dass Katherinas Fingerkuppen sich durch das aufgestaute Blut dunkelrot färbten.

Hillenberger blickte nachdenklich zur Decke. Dann nickte er langsam.

»Das könnte funktionieren. Die Frage nach der Verantwortung. Wenn die Polizei stärker in das öffentliche Leben eingreift, geben die Dorfbewohner ihre Verantwortung ab. Und die Wirtschaft ist der ideale Ort für diese Diskussion.«

Laura konnte deutlich sehen, wie Katherina erleichtert aufatmete. Ihre Finger lockerten sich und der Kugelschreiber fiel ihr aus der Hand auf den Tisch. Es war ihr gelungen, ihm die Ergebnisse der letzten Stunden als spontane Idee unterzujubeln. Hillenberger schien mit ihrer Arbeit zufrieden zu sein. Dann war die ganze Mühe der letzten Stunden wenigstens nicht umsonst gewesen.

»Morgen muss ich den ganzen Tag bei den Proben dabei sein«, fuhr Hillenberger fort. »Am besten wäre es, wenn wir heute Abend schon damit anfangen, den Text zu skizzieren. Dann könnt ihr morgen Vormittag den Dialog ausformulieren. Aber ich bestehe darauf, dass ich das Ergebnis noch einmal lektoriere. Schließlich kennt sich hier niemand so gut mit Ignatius Reichenbach aus wie ich.«

Laura wusste, dass Widerspruch jetzt unangebracht war, und deshalb nickte sie eifrig.

»Dann ans Werk.«

Sie schrieben noch zwei Stunden lang, bis sich niemand mehr konzentrieren konnte. Der Kaffee wurde irgendwann gegen Tee ausgetauscht, dann folgte schließlich Wasser. Hillenberger achtete genau darauf, nach 18 Uhr kein Koffein mehr zu sich zu nehmen.

Katherina Batke hatte vor geraumer Zeit begonnen, sich immer wieder mit den Händen die Augen zu reiben oder langanhaltend zu gähnen. Auch Laura war mittlerweile hundemüde. Endlich verkündete Hillenberger, dass für heute Schluss sei.

»Macht euch nach Hause, ihr zwei. Morgen geht’s wieder von vorne los.«

Katherina stand auf und nahm ihre Handtasche.

»Und was ist mit dir?«, fragte sie.

»Ich überfliege alles noch einmal und fahre dann auch nach Hause.«

Endlich war Hillenberger allein. Nachdem die beiden Frauen sein Büro verlassen hatte, wartete er noch fünf Minuten, dann öffnete er seine Schreibtischschublade. Den Schlüssel dazu verbarg er unter dem Drucker in der Ecke. Kein wirklich originelles Versteck, aber es hatte sich bisher bewährt.

Das Messer lag immer noch in der Schublade, gut verborgen unter einem Stapel Papiere. Hillenberger nahm es heraus und fuhr vorsichtig mit dem Daumen die Klinge entlang. Er betrachtete einen Augenblick sein Spiegelbild im kalten Stahl, dann legte er das Messer wieder zurück. Er verschloss die Schublade und verließ sein Büro.

Hillenberger schloss die Bürotür hinter sich ab und ging nach draußen. Seine Schritte hallten im jetzt dunklen Flur von den Wänden wider. Er brauchte einen Moment, bis er den richtigen Schlüssel für die Eingangstür gefunden hatte. Nachdem er abgeschlossen hatte, ging er zum Parkplatz. Neben seinem Mercedes stand eine Gestalt. Es war Laura Pracht.

»Da bist du ja endlich«, sagte sie. »Ich hatte schon befürchtet, du schläfst in deinem Büro.«

»Was willst du?«

»Ich hab’ keine Lust, zu Fuß nach Hause zu gehen. Ich hatte gehofft, du fährst mich.«

»Steig ein«, sagte Hillenberger.

Laura ließ sich auf den Beifahrersitz fallen und Hillenberger startete den Motor. Lauras Parfüm erfüllte den ganzen Wagen.

»Was hältst du davon, wenn wir bei mir noch ein Gläschen Rotwein trinken?«, fragte er aus einer Laune heraus.

Eigentlich war er zu müde, um am Abend noch ein Glas Wein zu trinken – wenn es denn überhaupt bei einem Glas bliebe –, doch er war sich sicher, dass Laura genau das wollte. Wieso sonst hatte sie an seinem Wagen auf ihn gewartet?

»Ich weiß nicht. Ich bin müde.«

»Ach komm. Nur ein Rotwein«, bettelte Hillenberger.

»Aber wirklich nur ein Glas«, sagte Laura.

Hillenberger warf einen Blick auf die Uhr. Ihm war klar, dass es unvernünftig von ihm war, Laura noch mit zu sich zu nehmen, aber er konnte diese Chance einfach nicht verstreichen lassen. Er hasste sich dafür, gleichzeitig freute er sich auf ihre Nähe. Er wusste, hoffte oder befürchtete, dass es nicht bei einem Glas bleiben würde.

Während der Fahrt – sie dauert nur zehn Minuten – redete Laura ohne Unterbrechung auf Hillenberger ein. Dabei schob sie sich hin und wieder mit der Hand eine Strähne aus dem Gesicht. Diese Geste verfehlte ihre Wirkung nicht: Jedes Mal, wenn Laura zu Hillenberger hinübersah, lächelte der.