Wer nicht loslässt - David Hermann - E-Book

Wer nicht loslässt E-Book

David Hermann

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Beschreibung

Nach einem Jahr in der Psychiatrie kehrt Vitali an seine alte Schule zurück und muss sich wieder in seinem Alltag zurechtfinden. Dabei hilft ihm seine Klassenkameradin Monica. Mit der Zeit entsteht eine tiefe Bindung zwischen den beiden. Doch Vitali kämpft immer noch damit, die Schatten seiner Vergangenheit loszulassen. Wird ihm der Neuanfang gelingen?

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Seitenzahl: 266

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Über den Autor:

David Hermann wurde 1985 in Gießen geboren. Er studierte Mathematik und Physik und arbeitet seit 2010 als Lehrer an einer Gesamtschule. Zu seinen literarischen Vorbildern zählt er neben Autoren wie Michael Crichton und Stephen King auch den Komiker Heinz Erhard und den Videospielentwickler Sam Lake.

Über das Buch:

Nach einem Jahr in der Psychiatrie kehrt Vitali an seine alte Schule zurück und muss sich wieder in seinem Alltag zurechtfinden. Dabei helfen ihm seine Klassenkameradin Monica und sein neuer Deutschlehrer Martin Sailer, die ihn ermutigen, Texte für eine Schulveranstaltung zu schreiben. Durch die gemeinsame Liebe zum Schreiben entsteht eine tiefe Bindung zwischen Vitali und Monica.

Doch seine konservativen Eltern begegnen Vitalis literarischen Ambitionen mit Skepsis und Vitali kämpft damit, die Schatten seiner Vergangenheit und seine frühere Freundin Alex loszulassen.

Auch Deutschlehrer Martin Sailer hat ein dunkles Geheimnis und hofft auf einen Neuanfang.

Wird ihnen beiden der Neuanfang gelingen?

Allen, denen ich auf dem Weg begegnet bin.

Buen Camino!

Wir stehen nicht im Mittelpunkt der Welt. Auch, wenn wir uns das manchmal wünschen.

Franzis Rickenbacker

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

HINWEISE DES AUTORS

DANKSAGUNGEN

1

Vitali stieg aus dem Taxi, den leichten Rucksack in der Hand, ein schweres Herz in der Brust. Sein Vater stand vor der Haustür, als hätte er auf ihn gewartet. Bestimmt saß die Mutter in der Küche am Fenster und sah ihrem Sohn entgegen, ein stilles Gebet auf den Lippen.

Der Fahrer öffnete den Kofferraum und hievte die prallgefüllte Reisetasche auf die Straße. Vitalis Vater trat zum Taxi und griff sich die Tasche. Seinen Sohn sah er nicht an. Vitali blickte starr auf den Asphalt. Er kramte den Wisch der Krankenkasse aus seinem Geldbeutel und reichte ihn dem Fahrer. Der Unterschrieb, nickte Vater und Sohn zu und stieg in seinen Wagen.

»Jetzt bist du wieder zu Hause«, sagte Vitalis Vater.

Vitali ging stumm auf die Haustür zu.

Er war vielleicht wieder in dem Haus, in dem er aufgewachsen war. Doch er war nicht wirklich zu Hause. Ein Zuhause würde es für ihn nicht mehr geben – nicht ohne Alex.

2

Martin Sailer war kurz verwirrt, als er am Morgen erwachte. Wo war die billige Plastikblume, die auf der Kommode des Hotelzimmers stand? Wo war das Geräusch der Klimaanlage, das ihn die letzten Wochen immer in den Schlaf gebrummt hatte? Dann wurde ihm klar, wo er war: Nicht mehr in der billigen Absteige in Augsburg, sondern in seiner neuen Wohnung in Laubach, irgendwo im Nirgendwo in Mittelhessen. Hinter dem Ort kam gar nichts mehr. Nichts und ein großer Wald, nichts und ein See und noch mehr nichts.

Die Einöde wird dir guttun, sagte er sich. Wenigstens weiß hier niemand Bescheid und pisst dir ans Bein.

Wenn es nur das gewesen wäre, was ihm in seiner Heimat passiert war. Das hätte er ausgehalten. Doch irgendwie war innerhalb weniger Wochen sein ganzes Leben auseinandergebrochen. Und alle hatten ihm erklärt, dass es das Beste für ihn wäre, wenn er einfach irgendwo neu anfinge. »Die besten Chancen haben Sie über das Ländertauschverfahren«, hatte sein ehemaliger Schulleiter gesagt. Martin hatte sich eingebildet, die Last sehen zu können, die von Ranzigers Schultern gefallen war, als er seinen Versetzungsantrag gestellt hatte.

Er sah auf die Uhr. Die Konferenz an seiner neuen Schule begann in drei Stunden. Da er keine Lust hatte, direkt am ersten Tag unpünktlich zu kommen, schälte er sich aus dem Bett und trottete in die Küche, nur um festzustellen, dass er sich noch eine Kaffeemaschine kaufen musste. Sein teurer Vollautomat stand nach wie vor in der Küche seiner Exfrau. Er zückte sein Smartphone, um direkt auf Amazon eine Kaffeemaschine zu kaufen, entschied sich dann jedoch dafür, nach der Konferenz in den Nachbarort Werthersburg zu fahren. Dort musste es einen Elektronmarkt geben.

Dann nahm er sich eine Schale mit Müsli und setzte sich an den viel zu kleinen Esstisch, den er vor zwei Tagen mit seinem Bruder Josef gekauft und aufgebaut hatte.

»Was machst du, wenn du mal Besuch hast?«, hatte Josef ihn gefragt, als sie nach getaner Arbeit zu zweit an dem Tisch gesessen und Bier getrunken hatten.

»Wer soll mich schon hier besuchen?«

»Na, vielleicht deine neuen Kollegen.«

»Mit Sicherheit nicht.«

»Ich verstehe dich nicht«, hatte Josef gesagt.

Du hast mich nie verstanden, hatte Martin gedacht. Das hatte vermutlich nie jemand, nicht einmal er selbst.

Martin und Josef Sailer waren so verschieden wie Tag und Nacht. Der eine ein Eigenbrötler, der andere fühlte sich in jeder Gesellschaft wohl. Martin war Sportfanatiker, Josef kam schon ins Schwitzen, wenn er im Fernsehen ein Fußballspiel verfolgte. Martin hatte geheiratet, Josef war Single geblieben. Zwei Seiten eines Spiegels, hatte Martin einmal gesagt.

Josef war trotz der zwei Bier am Abend noch nach Hause gefahren. Die vollen fünf Stunden. Martin war es vorgekommen, als hielte sein Bruder es nicht einmal für eine Nacht bei ihm aus.

Diese Erinnerung verstimmte ihn genauso wie das fade Müsli ohne Kaffee. Er ging ins Bad, duschte kalt und zog sich an, packte seine Sachen und ging durchs Treppenhaus nach unten zu seinem Wagen. Vor der Tür der Nachbarin blieb er kurz stehen und lauschte, ob er irgendetwas von ihr hörte. Nichts. Typisch für diesen Winkel in Gottes bunter Welt.

Martin stieg in den Polo – noch etwas, worin er sich von seinem Bruder unterschied: Josef war stolzer Besitzer eines SUV, während Martin Autos egal waren – und fuhr zum Supermarkt. Dort kaufte er sich beim Bäcker ein belegtes Brötchen und einen Kaffee. Nach diesem mageren Frühstück fuhr er weiter zur Schule. Als er dort ankam, war der Parkplatz bis auf zwei Autos noch leer. Martin sah auf die Uhr: Er war eine Stunde zu früh.

Trotzdem stieg er aus, packte seine Tasche und ging die endlos lange Zufahrt zum Schulhof hinauf. Der Weg war so steil, dass Martin ganz außer Atem war, als er den Schulhof erreicht hatte. Den Weg zur Verwaltung und zum Schulleiterbüro kannte er bereits von seinem Vorstellungsgespräch in den Sommerferien. Da er nicht wusste, wo die Konferenz stattfand, ging er zum Sekretariat. Dort wurde er von einer kugelrunden Grauhaarigen begrüßt. »Sie sind bestimmt der neue Kollege. Ich bin die Claudia. Kannst Claudi sagen. Sagen eigentlich alle. Und du bist der Martin.«

Wahnsinn, dachte Martin, in nur drei Sekunden vom Sie zum Du.

»Richtig. Martin Sailer. Wo finde ich denn hier das Lehrerzimmer?«

»Gleich da, wo du reingekommen bist. Aber auf der linken Seite. Also von hier aus eher geradeaus. Ich habe schon Kaffee angestellt. Dürfte demnächst durch sein. Ich füll’ die Kanne dann in die Thermoskanne um und stelle direkt den nächsten Kaffee an. Hast du schon deine Schlüssel?«

»Nein. Vielleicht können Sie mir sagen, wo ich die bekomme.«

»Du kannst ruhig du sagen. Die gibt’s beim Hausmeister. Der Henner ist aber noch in der Aula und stellt den Beamer ein. Soll ich den schnell anrufen?«

»Nein, nein. Ich kann mir die Schlüssel bestimmt auch noch nachher abholen.«

»Nachher wird das hier ziemlich hektisch. Ich rufe den Henner gleich mal an. Moment.« Die Sekretärin hob einen vom Sonnenlicht ausgebleichten Telefonhörer an ihr Ohr und bedeutete Martin mit erhobenem Zeigefinger, er möge einen Augenblick warten.

»Hallo Hase, kannst du mal schnell rüberkommen? Der Neue ist da. Er hat nach seinen Schlüsseln gefragt.« Sie legte auf und sah Martin an: »Henner kommt jeden Moment.«

Dann warte ich eben noch auf Hase, dachte Martin und stellte seine Tasche ab.

»Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich darf Sie alle zur ersten Konferenz des Schuljahres 2015/2016 willkommen heißen. Ich hoffe, Sie konnten sich alle gut erholen und haben viel Kraft getankt für das kommende Schuljahr.« Der Direktor der Schule – er hatte sich Martin beim Vorstellungsgespräch als Dr. Reimund Rus vorgestellt – stand gestikulierend vor dem Kollegium, das sich auf drei lange Tischreihen verteilte. »Bevor nun Frau Siebert einige Worte zur Bussituation und zum Stundenplan sagen wird, möchte ich noch kurz den neuen Kollegen, Herrn Martin Sailer, begrüßen. Stehen Sie doch mal bitte auf, damit alle Sie sehen können.«

Martin stand auf und lächelte verlegen. Er kam sich vor wie ein Tier im Zoo.

»Herr Sailer kommt aus Bayern zu uns. Er wird die Fächer Deutsch und Religion unterrichten. Wenn ich mich recht erinnere, haben wir ihn unter anderem in deiner Klasse eingesetzt, Madeleine. Vielleicht könnt ihr euch nach der Konferenz kurz austauschen.«

Martin folgte dem Blick des Schulleiters und bemerkte die Kollegin, die ihm kurz zuwinkte.

»Nun denn, kommen wir zum Stundenplan des neuen Schuljahrs.«

Martin setzte sich rasch wieder hin und schaltete sein iPad ein. Er öffnete seine Notiz-App und versuchte angestrengt, mitzuschreiben. Eigentlich war doch eine Schule wie die andere. Was stellte er sich so an? Die Antwort auf diese Frage war einfach: Es war seine zweite Chance. Ein Neustart. Er durfte ihn nicht versemmeln. Wenn er hier durchfiel, konnte er das Lehrerdasein ganz aufgeben. Dann konnte er sich irgendeinen Bürojob im Schulamt suchen und den ganzen Tag in einem Kellerloch Akten hin- und herschieben und vielleicht mal die ein oder andere Fortbildung besuchen. Nein, er musste seine zweite Chance nutzen. Musste allen zeigen, wie er wirklich war; dass alles nur ein dummer Ausrutscher gewesen war.

Mittlerweile referierte die stellvertretende Schulleiterin über die Pausenaufsichten und die Handynutzung. Martin schrieb eifrig mit. Dann stand der Direktor wieder auf und erklärte die Konferenz für beendet. Sofort wurde überall geredet. Die Kollegin neben Martin drehte sich um und lächelte ihn an. Er lächelte zurück und streckte ihr die Hand entgegen.

»Hallo, ich bin die Llana«, sagte sie und schüttelte seine Hand. »Llana mit LL am Anfang. Ich unterrichte Kunst und Religion. Wir werden uns also noch begegnen.«

»Hallo Llana mit LL, ich bin der Martin. Wie kommst du zu dieser exotischen Schreibweise, wenn ich fragen darf?«

»Mein Vater ist Spanier. Meine Mutter wollte gerne, dass ich Jana heiße. Mein Vater bestand aber darauf, eine spanische Schreibweise zu wählen.«

»Sprichst du denn auch Spanisch?«

»Leider nein.« Llana lächelte verlegen und wischte sich mit einer übertriebenen Geste imaginären Schweiß von der Stirn. »Ich kann mir noch nicht einmal einen Kaffee auf Spanisch bestellen, geschweige denn nach dem Weg fragen.«

»Könntest du mir denn auf Deutsch sagen, wo ich meinen Stundenplan bekomme?«, fragte Martin und lachte innerlich über seinen dummen Witz.

»Hast du etwa eben den Ausführungen der Schulleitung nicht gelauscht?« Llana lachte und zog eine Augenbraue nach oben.

»Da muss ich wohl gerade mit den Gedanken woanders gewesen sein. Tut mir leid.«

»Hast du deinen Schulaccount schon bekommen?«

Martin nickte. »Der kam heute früh per Mail.«

»Damit loggst du dich einfach auf der Schulhomepage ein. Dann kannst du dort alle Stundenpläne einsehen. Es ist ein bisschen unübersichtlich. Einfacher ist es, wenn du nachher ins Sekretariat gehst und Claudi ihn dir ausdruckt.«

»Danke für den Tipp. Ich mache mich dann mal auf die Suche nach Madeleine.«

»Das Kränzchen ist bestimmt schon hoch in ihren Klassenraum gegangen. Classroommanagement wird bei ihr groß geschrieben.« Llana zwinkerte ihm zu, dann drehte sie sich um und beugte sich zu einem anderen Kollegen rüber.

Martin packte seine Sachen zusammen und machte sich auf den Weg nach draußen. Da er nicht wusste, wo sich der Klassenraum seiner Kollegin befand, ging er ins Sekretariat. Die Sekretärin war voll in ihrem Element. Wie es aussah, telefonierte sie, während sie parallel am Computer schrieb und eine Schülerakte durchlas.

Als sie Martin sah, lächelte sie. »Du, ich muss jetzt hier Schluss machen. Der Neue ist da und er sieht so aus, als müsste ich ihm helfen.« Sie legte auf und klappte die Schülerakte zu. »Was kann ich für dich tun, mein Hase?«

Martin schmunzelte. Offenbar hieß jeder bei ihr Hase.

»Du willst sicherlich deinen Stundenplan haben. Guck mal in dein Postfach.« Sie deutete hinter ihn. »Ich hab ihn eben ausgedruckt und reingelegt. Außerdem habe ich dir deine Kopierkarte dazugelegt.«

Martin drehte sich um und suchte unter den vierzig Fächern seines.

»Mitte links, zweite Reihe von oben«, wies die Sekretärin ihn an.

Martin zählte die Reihen und wanderte dann mit dem Blick nach links. Dort war es. Und natürlich war sein Name falsch geschrieben. »Ah, hier ist es ja. Und der Stundenplan liegt auch drin. Aber könnten Sie …« Er hielt inne. »Könntest du vielleicht das Namensschild noch einmal ändern? Mein Name wird mit AI geschrieben.«

»Klar, mach ich, Hase. Ich muss nur erst noch hier die Akten umsortieren. Aber bis Montag hast du ein neues Schild.«

»Kannst du mir vielleicht bei noch etwas helfen?«

»Klar. Was solls denn sein?«

»Ich suche eine Kollegin. Eine gewisse Madeleine.«

»Steht direkt hinter dir«, sagte eine helle Stimme hinter Martin.

Er drehte sich um. Dort stand die Kollegin, die ihm während der Konferenz zugewinkt hatte. Sie trug einen auffallend dicken Ring an der Hand und war sehr bunt gekleidet. Grüne Hose, roter Pullover und eine blaue Perlenkette. Doch irgendwie passte alles zusammen.

»Herr Dr. Rus meinte, Sie könnten mir ein wenig die Schule zeigen.«

»Erst einmal duzen wir uns hier alle. Also sagst du bitte Madeleine zu mir.«

»Martin.«

»Ich weiß. Außerdem muss ich dich für heute leider enttäuschen. Ich räume noch ein wenig in meinem Klassenzimmer. Wenn du also was wissen willst, musst du mitkommen. Aber rundführen kann ich dich heute nicht mehr.«

»Okay. Dann helfe ich dir.«

Sie verließen das Sekretariat. Madeleine ging voran, Martin folgte ihr und lächelte all seinen neuen Kollegen freundlich zu.

»Wo das Lehrerzimmer ist, weißt du ja. Dort hinten ist der Kopierraum. Da stehen zwei Kopierer. Beide werden dich in den Wahnsinn treiben.« Madeleine fasste sich theatralisch mit beiden Händen an den Kopf und schnitt eine Grimasse, was Martin mit einem Lächeln quittierte. Sie gingen weiter den Flur entlang, bis sie vor der Eingangstür standen. Madeleine hielt Martin die Tür auf und sie gingen über den Schulhof. »Dort links ist die Mensa. Direkt vor uns sind die Klassenräume. Da hinten rechts ist das Gebäude mit den Fachräumen. Also Kunst, Musik und natürlich die Naturwissenschaften.«

Sie betraten das Gebäude mit den Klassenzimmern und gingen einen langen Flur entlang. Ganz am Ende schloss Madeleine eine Tür auf. »Das ist mein Klassenraum. Hier wirst du Deutsch unterrichten. Ich habe eine ganz schnuckelige zehnte Klasse. Gerade mal 18 Schülerinnen und Schüler.«

»Irgendwelche Spezialfälle?«

»Bestimmt. Aber die sollst du noch selbst kennenlernen. Zwei lerne ich selbst erst am Montag kennen, beziehungsweise kenne ich den einen schon. Aber er kommt neu in meine Klasse. Und das ist ja immer was Besonderes, wenn man irgendwo neu hinkommt.«

»Das hast du auf den Punkt gebracht.«

Auf dem Weg nach Hause fuhr Martin einen kleinen Umweg über den Elektromarkt in Werthersburg und kaufte den erstbesten Vollautomaten. Außerdem hielt er am Supermarkt an, um Kaffeebohnen zu kaufen. Mechanisch packte er noch eine Flasche Wein in seinen Einkaufswagen.

Zu Hause baute er die Kaffeemaschine auf und füllte den Behälter mit Bohnen. Er überlegte, ob er sich direkt eine Tasse kochen sollte, entschied sich dann aber doch für den Wein. Er goss sich ein Glas ein und setzte sich mit Friedrich Dürrenmatts Das Versprechen aufs Sofa.

Er konnte mit den Charakteren im Buch nur allzu gut mitfühlen. Wie es sich wohl anfühlte, wenn man den Verstand verlor, nur weil die eigene Theorie sich nicht bestätigte? Wie es wohl gewesen wäre, wenn man ihm geglaubt hätte und nicht Ramona? Hätte sie dann an ihrer Version der Geschichte festgehalten und vielleicht sogar so etwas wie eine Psychose entwickelt?

Martin spürte, wie die Geschichte des Buches ihn verfolgte und seine Gedanken steuerte. Er legte das Buch zur Seite und griff stattdessen zum Telefon. Er hatte immer noch keine Lust zu kochen. Also bestellte er sich beim Chinesen um die Ecke die Nummer 46, was auch immer das sein mochte.

3

Vitali saß auf seinem Bett und starrte die Wand an. Auf dem Boden vor ihm lag die Reisetasche. Er hatte es immer noch nicht geschafft, seine Klamotten zurück in den Schrank zu räumen. Jedes Mal, wenn seine Mutter in sein Zimmer kam – was zu oft der Fall war –, sah sie ihn auffordernd an. »Glaub bloß nicht, dass ich das für dich machen werde«, hatte sie zuletzt gesagt.

Doch wie sollte Vitali die Kraft aufbringen, seine Sachen in den Schrank zu räumen, wenn er die ganze Zeit daran danken musste, dass in drei Tagen die Schule wieder losging? Würden ihn alle anstarren? Wüssten sie alle Bescheid? »Scheiß doch drauf«, würde Fabio sagen. Wenn das nur so einfach wäre!

Wenn er wenigstens nicht so allein wäre. Vitali sah zu seinem Nachttisch. Außer der billigen Ikea-Lampe war der leer. In der Klinik hatte er neben seinem Bett ein Foto von Alex stehen gehabt. Die Ärzte hatten das toleriert. Hier bei seinen Eltern konnte er so etwas nicht wagen. Sobald seine Mutter das Foto zu Gesicht bekäme, würde sie es ihm abnehmen und ihm einen Vortrag halten, dass Alex sowieso nichts für ihn gewesen sei. Vitali kannte diesen Vortrag in- und auswendig, auch wenn seine Mutter ihn bisher nur in seinem Kopf gehalten hatte. Das Einzige, was sie je über Alex gesagt hatte, war, dass sie ein unchristliches Mädchen sei.

»Scheiß drauf«, hörte Vitali wieder seinen Zimmergenossen aus der Klinik sagen.

Wo er recht hat, hat er recht, dachte Vitali und stellte Alex’ Foto auf seinen Nachttisch. Es war ein Selfie von ihr und ihrem Pferd. Sie hatte es ihm irgendwann einmal per WhatsApp geschickt. Vitali hatte es in der Schulbibliothek ausgedruckt und seitdem in seinem Geldbeutel aufbewahrt. Erst in der Klinik hatte er sich getraut, es offen zu zeigen.

Sanft strich er mit den Fingerspitzen über Alex’ Gesicht. Dann hörte er die Schritte seiner Mutter auf der Treppe. Hastig nahm er das Foto und schob es zurück in seinen Geldbeutel. Dann kniete er sich neben die Reisetasche und holte seine T-Shirts und Jeans heraus.

Ohne anzuklopfen, öffnete seine Mutter die Tür. »Ah, packst du endlich deine Sachen aus? In fünf Minuten gibt es Essen.« Sie blieb noch einen Augenblick in der Tür stehen, als warte sie auf eine Antwort oder wenigstens eine Reaktion ihres Sohnes, dann ging sie wieder runter in die Küche. Die Tür zu Vitalis Zimmer ließ sie offen.

4

Am nächsten Morgen schlüpfte Martin in seine Laufschuhe. Er hatte sich auf Google Maps eine Route zurechtgelegt, die er jetzt ablief. Nach wenigen Metern hatte er bereits die letzten Häuser hinter sich gelassen. Dann kam der Wald und schließlich verschlang ihn das Nichts. Die Luft war noch kühl, was sich aber im Laufe des Tages ändern dürfte. Der Spätsommer zeigte derzeit noch einmal, was in ihm steckte.

Martin joggte über den weichen Boden eines Feldweges. Nach ein paar Kilometern führte ihn sein Weg am Friedhof des Nachbardorfes vorbei. Ab hier begann der Rückweg.

So weit ist es ja gar nicht bis nach Werthersheim, dachte er. Vielleicht könnte er jeden Morgen zur Schule laufen. Er würde es auf jeden Fall einmal ausprobieren.

Nach einer weiteren halben Stunde kam er zurück nach Laubach. Direkt am Ortseingang fand er eine Bäckerei. Das war gut zu wissen, dann musste er nicht jedes Mal in den Supermarkt fahren, um frische Brötchen zu kaufen.

Schließlich erreichte er seine Wohnung. Seine Nachbarin hatte er immer noch nicht gesehen. Er warf einen Blick auf das Klingelschild neben der Haustür: Friedrich stand dort. Es wohnte also immerhin jemand hier. Seine Vermieterin hatte irgendwas von einer Puppenherstellerin gesagt. Martin öffnete die Haustür mit seinem Schlüssel und ging dann nach oben. Vor seiner Wohnungstür fand er zwei große Pakete von Amazon: das musste der Fernseher sein, den er online gekauft hatte. Der Postbote musste in seiner Abwesenheit hier gewesen sein und die alte Friedrich hatte ihn reingelassen. Martin schloss die Tür auf und trug die Pakete rein. Endlich hatte er für den Tag eine Beschäftigung.

5

»Natürlich gehst du mit«, sagte seine Mutter. »Wir gehen immer zusammen.«

»Ich habe keine Lust.« Vitali schob seinen Teller von sich weg.

»Johann, sag du doch auch mal was.«

Vitalis Vater stand auf und richtete seine Krawatte. Wie jeden Sonntag trug er seinen besten Anzug. »Wenn er nicht will, können wir ihn nicht zwingen.«

Hatte Vitali sich gerade verhört? Hatte sein Vater sich wirklich seiner Mutter widersetzt?

»Aber es macht mich trotzdem traurig, dass du nicht mit in den Gottesdienst kommen willst«, fügte der Vater nun hinzu.

Das war ja klar. Jetzt versuchten seine Eltern es über die emotionale Schiene. Aber er würde standhaft bleiben. Wenn er eins in der Klinik gelernt hatte, dann dass er selbst über sein Leben bestimmen konnte.

»Es ist nicht gut, wenn der Junge von Gott fernbleibt«, sagte seine Mutter und stand auf.

»Er muss ja erstmal wieder richtig zu Hause ankommen.«

»Dann kann er wenigstens das Geschirr spülen.«

»Das macht er bestimmt«, sagte der Vater und sah seinen Sohn auffordernd an.

Vitali wich dem Blick aus. Würde er eben das Geschirr spülen. Hauptsache, er musste nicht mit zu dieser beschissenen Sekte, die seine Eltern ihre Kirche nannten.

»Wir sehen uns dann später«, sagte der Vater und verließ die Küche. Vitalis Mutter blieb noch einen Moment in der Tür stehen, ehe sie ihrem Mann folgte. Vitali stand auf und räumte den Tisch ab. Als er die Haustür ins Schloss fallen hörte, ging er nach oben in sein Zimmer und setzte sich auf sein Bett. Er nahm das Foto von Alex aus seinem Geldbeutel und legte es vor sich auf die Bettdecke. Wie gern würde er sie besuchen. Doch so weit war er noch nicht.

»Bald«, sagte er. »Bald komme ich zu dir.«

Er schloss die Augen und dachte an den letzten Sommer. Ihren letzten Sommer. Den besten und schrecklichsten Sommer seines Lebens.

6

Martin schob seine Vorbereitungen für die erste Unterrichtswoche zur Seite. Drei Stunden hatte er sich Notizen gemacht. Mittlerweile war es draußen dunkel. Wieder war er sich vorgekommen wie ein Student im ersten Semester. Herrgott, er war doch schon seit 15 Jahren Lehrer, woher kam nur diese Unsicherheit?

Die Antwort auf diese Frage lag auf der Hand: Er durfte nicht scheitern.

Er stand auf. Sein Kopf hämmerte. Er sah auf die Uhr. Verdammt, es war bereits kurz vor acht. Er hatte nicht nur die Zeit vergessen, sondern auch noch nichts gegessen. Er ging zum Kühlschrank und holte die Reste vom Mittagessen heraus, stellte sie in die Mikrowelle und wartete. Nach dem Essen öffnete er eine Flasche Wein – die zweite an diesem Wochenende – und setzte sich aufs Sofa. Er schaltete seinen neuen Fernseher ein und startete Netflix. Doch eigentlich hatte er keine Lust eine weitere Folge dabei zuzusehen, wie ein blinder Superheld böse Jungen verdrosch. Also schaltete er den Fernseher wieder aus. Stattdessen griff er zum Telefon und wählte die Nummer seiner Eltern. Wieder ging niemand ran. Enttäuscht legte er auf und wählte stattdessen die Nummer seines Sportkameraden Eduard. Schon nach dem dritten Läuten ging die Mailbox ran. War ja klar! Eduard war nach dem Spiel bestimmt mit den anderen aus der Mannschaft im Sportheim und trank Bier.

Martin ging noch ein paar Kontakte durch, erfolglos. Schließlich gab er es auf, weitere Freunde anzurufen. Er scrollte durch sein Adressbuch, bis die einzelnen Namen vor seinen Augen verschwammen, dann schaltete er das Smartphone aus. Mit einem Zug leerte er sein Weinglas und ging ins Badezimmer, um sich die Zähne zu putzen. Es war Zeit, schlafen zu gehen. Morgen musste er alles geben. Er musste seine Chance nutzen.

7

Der Wecker hatte bereits vor einer Viertelstunde geklingelt, doch Vitali lag immer noch im Bett und starrte an die Decke. Wie jeden Morgen fühlten sich seine Beine an, als seien sie aus Blei, und seine Arme wie mit schwerem Lehm übergossen. Nur der Kopf funktionierte, plante die Zukunft, verdrängte die Eltern, erinnerte sich an die Vergangenheit. Vitali sah hinüber zum Kleiderschrank. Dort hing der Hut. Niemand steht im Mittelpunkt, rief Vitali sich in Erinnerung und wälzte sich aus dem Bett. Sobald er aufgestanden war, fühlte er sich besser. Seine Arme und Beine spielten mit.

Er sah auf die Uhr. Die erste Stunde würde er ohnehin verpassen. Also konnte er auch noch duschen. Er schlich ins Bad. Seine Mutter war offenbar noch nicht wach, der Vater schon auf der Arbeit. Vitali duschte heiß. Anschließend rasierte er sich vor dem Spiegel. Wie sehr hatte er dafür kämpfen müssen, dass ihm seine Eltern erlaubten, sich wieder einen Nassrasierer zu kaufen. Verdammt, nicht einmal ein totaler Volltrottel, der es darauf anlegte, würde es zustande bringen, sich mit so einem Teil ernstlich zu verletzen.

Nachdem er sich angezogen hatte, packte er seinen Rucksack und machte sich auf den Weg zum Fahrrad-schuppen. Kurz vor der Haustür fiel ihm ein, dass am ersten Schultag bestimmt die Zeugnisse kontrolliert würden. Sein Zeugnis lag noch oben in seinem Zimmer. Allerdings enthielt es ohnehin nichts anderes als Sternchen und den Vermerk, dass der Schüler die fehlende Bewertung nicht zu verantworten hätte, was eine absurde Lüge war. Wer, wenn nicht er, war für die fehlende Benotung verantwortlich? Alex? Seine Eltern? Dreher? Nein verdammt, das war er selbst gewesen.

Vitali ließ das nutzlose Zeugnis da, wo der Pfeffer wuchs, und machte sich auf den Weg zur Schule. Mit dem Rad brauchte er gerade mal zehn Minuten. Der Schulhof war menschenleer, was daran lag, dass alle anderen im Unterricht waren. Da Vitali nicht wusste, wo sich sein Klassenzimmer befand, ging er ins Sekretariat.

Frau Füllrich war mal wieder voll in ihrem Element. »Guten Morgen, Junge, wie kann ich dir helfen?«

»Ich«, begann er, doch die Sekretärin war der Meinung, dass er jetzt Sendepause hätte.

»Du bist doch der Vitali. Der Junge, der letztes Schuljahr …« Sie ließ den Satz unbeendet. »Du willst sicher wissen, wo du jetzt hinmusst. In welche Klasse gehst du denn?«

»R10b«, antwortete Vitali möglichst tonlos.

»Also in die Klasse von Frau Kranz. Das ist der Raum B015. Weißt du, wo das ist?«

Vitali nickte und drehte sich um. Er erinnerte sich nur zu gut daran, wie schnell einen Frau Füllrich in ein Gespräch verwickeln konnte. Er ging über den Schulhof, betrat den gegenüberliegenden Gebäudetrakt und schlenderte den Flur entlang. Er merkte, wie seine Schritte sich immer mehr verlangsamten. Er kratzte sich kurz am Arm und beschleunigte dann wieder. Er musste sich zusammenreißen.

Schließlich stand er vorm Klassenzimmer. Bevor sein Herz wild zu klopfen anfangen konnte, klopfte er lieber selbst. Sofort kam von der anderen Seite ein freundliches »Herein«. Vitali öffnete die Tür und trat ein. Drei Reihen von Schülern und eine Lehrerin in knallbunten Klamotten starrten ihn an.

»Guten Morgen, entschuldigen Sie bitte die Verspätung«, sagte er und schlich zu dem einzigen freien Platz neben einer blonden Schönheit.

»Guten Morgen Vitali«, sagte die Lehrerin. »Ich weiß nicht, ob du dich noch an meinen Namen erinnerst: Ich bin Frau Kranz, deine Klassenlehrerin für dein letztes Schuljahr hier an der Goetheschule. Wir haben gerade die Vorstellungsrunde beendet. Wenn du magst, kannst du noch ein paar Sätze zu dir sagen.«

»Eigentlich …«

»Du musst nicht.«

Vitali erinnerte sich sofort an die Vorstellungsrunden in der Klinik. Dort hatte er immer zu stottern begonnen, bis ihm ein anderer Patient den Tipp gegeben hatte, einfach anzufangen. Nicht nachdenken, einfach reden. Denken konnte er später immer noch.

»Mein Name ist Vitali und ich …« Er hielt inne. »Ich schreibe gerne«, sagte er schließlich.

»Prima. Kommen wir zum Stundenplan.« Die Lehrerin schrieb den Stundenplan an die Tafel. Die Schülerinnen und Schüler schrieben ihn gehorsam ab.

»Ihr habt gleich Deutschunterricht bei einem neuen Kollegen. Seid nett zu ihm.«

Sie besprachen noch ein paar Unwichtigkeiten, Frau Kranz teilte einen Stapel Zettel aus, sah sich die Zeugnisse an und notierte, dass Vitali seines nicht dabei hatte. Als es zur Pause läutete, fingen alle Schüler an miteinander zu reden. Alle bis auf Vitali und seine bildhübsche Sitznachbarin.

Wie Synchronturner standen sie gleichzeitig auf, nahmen ihre Frühstücksdosen aus dem Rucksack und verließen im Gleichschritt das Klassenzimmer. Auf dem Flur gingen sie eine Weile nebeneinander her, doch auf dem Pausenhof ging jeder seinen eigenen Weg. Vitali wusste nicht einmal, wie das Mädchen hieß.

Er setzte sich mit seinem Pausenbrot auf eine Bank und ließ seine Gedanken kreisen. Wenn er richtig gerechnet hatte, musste er nur noch 200 Tage lang diese Schule besuchen. Dann würde er nach Werthersburg auf das Gymnasium wechseln und sein Abitur machen und danach konnte er endlich studieren.

»Erstmal weiterlaufen«, hörte er eine Stimme in seinem Kopf. Sie gehörte Fabio.

Klar, er musste erstmal diesen Tag überstehen und dann den nächsten und so weiter und so fort. Zu viel an die Zukunft zu denken, verwirrte ihn nur. Deshalb hatte Vitali es sich angewöhnt, an das Hier und Jetzt zu denken. Und hier und jetzt interessierte ihn vor allem, wer die Schülerin war, die in der Klasse neben ihm gesessen hatte.

»Hi, darf ich mich setzen?«, fragte eine Stimme vor ihm.

Vitali sah auf. Es war seine blonde Sitznachbarin. Als hätte jemand seine Gedanken gelesen.

Er rückte ein wenig zur Seite und sie setzte sich. Sie roch nach Zigaretten.

»Hast du geraucht?«, fragte er.

»Sag’s nicht weiter.« Sie zwinkerte ihm zu. »Und falls du dich nicht zu fragen traust: Ich heiße übrigens Moni. Eigentlich Monica, aber Moni find ich eleganter.«

»Vitali. Und ich hätte schon noch gefragt.«

»Klar. Bist du auch hierhergezogen?«

Vitali schüttelte den Kopf. »Du etwa?«

Monica nickte. »Wir haben vorher in Frankfurt gewohnt. Dann hat mein Vater einen Rappel bekommen und ist mit uns hierher aufs Land gezogen. Angeblich, weil er hier besser verdient und wir weniger Miete zahlen müssen. Letzteres wird wohl stimmen. Aber dafür wohnen wir jetzt am Arsch der Welt.«

»Ich könnte mir vorstellen, später mal in Frankfurt zu wohnen«, sagte Vitali.

»Und was würdest du dann dort machen?«

»Ich wäre ein berühmter Autor und würde ein Buch nach dem anderen schreiben.« Er lachte.

Gerade, als Monica antworten wollte, klingelte es. Sie standen auf und gingen gemeinsam zurück zum Klassenraum.

»Hier, den solltest du vielleicht nehmen.« Vitali hielt Monica einen Kaugummi hin. »Man riecht es noch.«

»Danke.« Sie schob sich den Kaugummi in den Mund und roch an ihren Händen.

Als sie ihren Klassenraum erreichten, warteten die anderen Schüler bereits in einer Traube vor der Tür. Die ersten Lehrer kamen an ihnen vorbei. Einige erkannte Vitali. Ein Lehrer mit leicht ergrauten Schläfen, den Vitali noch nicht kannte, kam auf sie zu. Er blieb vor dem Klassenraum stehen und schloss die Tür auf.

»Dann mal hereinspaziert«, forderte er die Schüler auf.

Sie setzten sich auf ihre Plätze und verstauten ihre Brotdosen. Ein dicker Junge aus der ersten Reihe biss noch einmal ins Brot und spülte den Bissen mit einem Schluck Fanta runter. Dann sahen alle nach vorne.

»Guten Morgen«, sagte der Lehrer. »Ihr kennt mich noch nicht und ich kenne euch nicht. Das werden wir sofort ändern.« Der Lehrer drehte sich zur Tafel und schrieb seinen Namen an. »Ich bin der Herr Sailer, komme aus Bayern und bin großer Fan des FC Augsburg. Und ich werde euch in diesem Jahr in Deutsch und Religion unterrichten.«

Der Lehrer stand einen Augenblick unschlüssig vor der Klasse, dann setzte er sich. »Wie ich sehe, habt ihr alle noch ein Namensschildchen vor euch. Vielleicht kann mir jemand mit einer schönen Schrift einen Sitzplan anfertigen.«

Eine Schülerin links von Vitali meldete sich.