Haus Marianne - David Hermann - E-Book

Haus Marianne E-Book

David Hermann

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Beschreibung

Ein Anruf stellt das Leben von Felix Mandel komplett auf den Kopf. Sein früherer Nachbar und Hoteleigentümer Hans Ewald ist seit über einem Jahr verschwunden und er erhält jetzt dessen Hotel als Erbe. Zusammen mit Mia, der Nichte des Verschwundenen, beschließt er, das Hotel zu renovieren und neuzueröffnen. Doch ein mysteriöses Manuskript von Hans gibt ihnen Rätsel auf. Gemeinsam begeben sich Felix und Mia auf eine Reise in die Vergangenheit und stoßen auf Geheimnisse in Hans' Vergangenheit. Schnell ist klar, dass etwas nicht stimmt: Entweder mit Hans oder mit dem Hotel oder mit beiden. Aber auch Mia und Felix sind nicht ehrlich miteinander.

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Über den Autor:

David Hermann wurde 1985 in Gießen geboren. Er studierte Mathematik und Physik und arbeitet seit 2010 als Lehrer einer an Gesamtschule. Zu seinen literarischen Vorbildern zählt er neben Autoren wie Michael Crichton und Stephen King auch den Komiker Heinz Erhard und den Videospielentwickler Sam Lake.

Über das Buch:

Ein Anruf stellt das Leben von Felix Mandel komplett auf den Kopf. Sein früherer Nachbar und Hoteleigentümer Hans Ewald ist seit über einem Jahr verschwunden und er erhält jetzt dessen Hotel als Erbe. Zusammen mit Mia, der Nichte des Verschwundenen, beschließt er, das Hotel zu renovieren und neuzueröffnen. Doch ein mysteriöses Manuskript von Hans gibt ihnen Rätsel auf. Gemeinsam begeben sich Felix und Mia auf eine Reise in die Vergangenheit und stoßen auf Geheimnisse in Hans’ Vergangenheit. Schnell ist klar, dass etwas nicht stimmt: Entweder mit Hans oder mit dem Hotel oder mit beiden. Aber auch Mia und Felix sind nicht ehrlich miteinander.

Inhalt

Prolog

Teil 1 – Das Haus

Kapitel 1 – Die Beerdigung

Kapitel 2 – Der Brief

Kapitel 3 – Das Hotel

Kapitel 4 – Die Jagd

Teil 2 – Das Manuskript

Kapitel 1 – Der Koffer

Kapitel 2 – Das Krankenzimmer

Kapitel 3 – Untersuchungen

Kapitel 4 – Das Geständnis

Teil 3 – Die Wahrheit

Kapitel 1 – Die Suche

Kapitel 2 – Mias Idee

Kapitel 3 – Der Gast

Kapitel 4 – Das Ende

Epilog

Für i, k, l und m.

Danke für alles.

Prolog

Martin Stolz hasste, was er tun musste. Ebenso hasste er, was er getan hatte, und er fürchtete sich vor dem, was noch zu tun sein würde. Er saß in seiner Adler-Limousine und blickte immer wieder auf die Flasche auf dem Beifahrersitz. Normalerweise trank er nicht viel, doch die Ereignisse der letzten Jahre zwangen ihn dazu. Jede Nacht erwachten die schlechten Gedanken und Schuldgefühle, die sich wie eine uralte Lebensform in den unergründlichen Tiefen seines Verstandes ausgebreitet und eingenistet hatten. Wie ein Pilz, der einen gesunden Baum befällt. Er musste diese Gedanken abtöten. Sie durften keinen Platz einnehmen, wenn er seinem Plan folgen wollte.

Martin Stolz wollte hoch hinaus. Und dazu würde er – dessen war er sich sicher – über Leichen gehen müssen. Aber er war noch nicht bereit, damit anzufangen. Keinesfalls sollte die erste Leiche auf seinem Weg die seines Freundes und Geschäftspartners Simon Steinberger sein. Martin konnte damit leben, dass er Simon und seine Familie um all ihren Besitz gebracht hatte. Aber er wusste nicht, ob er es ertragen konnte, wenn sie wegen ihm ins Konzentrationslager verfrachtet würden. Er musste Simon warnen. Doch das würde bedeuten, dass er seinen Freund mit einer Wahrheit konfrontieren musste. Mit einer Wahrheit, die dieser nicht ertragen würde.

Martin Stolz stieg aus dem Adler und ging auf das große alte Haus zu. Aus der Ferne hörte er das Meer rauschen.

Er umrundete das Haus und trat an die Hintertür. Als er anklopfte, hoffte er, er würde Simon allein antreffen.

Er wusste nicht, ob er die Kraft besaß, Elias, dem Sohn seines besten Freundes, gegenüberzutreten.

Er wurde enttäuscht. Vor ihm stand zwar Simon, doch im Hintergrund konnte Martin Elias sehen, der mit verweinten Augen am Küchentisch saß und seine Hände schützend um einen Kaffeebecher geschlungen hatte. Er hatte immer noch blaue Flecken von letzter Nacht. Neben ihm stand seine Mutter Maria.

Als Elias den Kopf hob und Martin erblickte, begann er zu schreien. Simon verstand sofort und schrie Martin ins Gesicht: „Wieso hast du meinem Sohn so etwas angetan? Wieso hast du das getan?“

Maria, die sofort verstand, was hier vor sich ging, stellte sich schützend vor ihren Sohn. Ihre rechte Hand griff nach dem Fleischermesser, das neben dem Herd lag, während ihre linke Hand den Sohn festhielt. „Nein, nein, nein.“ Mehr brachte sie nicht heraus.

Martin hob abwehrend seine Hände hoch und redete ruhig auf Simon ein: „Ihr müsst verschwinden Simon. Es sind mehrere Truppen unterwegs, um euch alles wegzunehmen.“

„Du hast mir bereits alles weggenommen!“, schrie Simon, „Zuerst die Firma und jetzt meinen Sohn!“ Er schlug auf Martin ein, der einige Schritte zurückwich. „Was hast du mit ihm gemacht? Hast du ihn nur geschlagen, oder hast du ihn auch noch gefickt, du krankes Schwein?“

Wieder schlug er nach Martin, traf jedoch nur ins Leere.

Martin zog seinen Mantel aus und legte ihn zusammen. Darunter kam die rote Hakenkreuzbinde der Nationalsozialisten zum Vorschein. „Ich habe mich nur ein wenig vergnügen wollen.“ Er legte den Mantel auf einen der Stühle. „Und wenn ihr jetzt nicht sofort hier verschwindet, dann werden ihm noch ganz andere Freuden bereitet werden“ Er legte den Hut neben seinen Mantel. „Und deiner Frau.“

Simon schrie, so laut er konnte, und rammte Martin seine Faust in den Magen.

Dieser stieß geräuschvoll die Luft aus. „Simon, ich bitte dich, lass das.“ Es kostete ihn deutlich Kraft, diese Worte herauszupressen. „Du machst alles nur noch schlimmer. Viel schlimmer.“

Aber Simon wollte nicht auf seinen ehemals besten Freund hören. Er schlug wieder und wieder auf ihn ein, bis er in einen Rhythmus verfiel, der ihn an die alten jüdischen Gebete erinnerte, die er früher mit seinem Vater samstags in der Synagoge hatte aufsagen müssen.

Teil 1 – Das Haus

Kapitel 1 – Die Beerdigung

Ich erinnere mich nur noch dunkel an den Tag, an dem ich den alten Mann zum ersten Mal traf; aber ich erinnere mich noch genau an den Tag, an dem ich ihn zum letzten Mal sah.

Es war der Tag, an dem Marianne, Hans Ewalds Frau, beerdigt wurde. Sie war drei Tage zuvor nach einer kurzen, aber schmerzvollen Krebserkrankung gestorben. Ihre Leidenszeit war nicht nur für sie und ihren Mann nervenaufreibend gewesen, sondern stellte auch für mich eine besondere Belastung dar. Ich hatte während meiner Semesterferien meinem alten Freund Hans geholfen, sein Bauprojekt voranzutreiben. Er hatte die fixe Idee, ein altes heruntergekommenes Haus an der Ostseeküste zu einem kleinen Hotel umzugestalten. Zwar verfügte er über die nötigen finanziellen Mittel, alle Arbeiten von einem Bauunternehmen durchführen zu lassen, dennoch wollte er unbedingt selbst Hand anlegen, wohl nur, um noch ein wenig mehr Kontrolle über den Baufortschritt zu haben.

Da ich in diesem Semester keine Hausarbeiten mehr abzugeben hatte, meinte meine Mutter, ich könne mich jeden Morgen gemeinsam mit Herrn Ewald auf den Weg nach Brodten machen und ihm bei seiner Arbeit helfen.

Wir waren schon beinahe fertig mit der Renovierung, als Marianne zusammenbrach. Gott sei Dank war sie an diesem Tag ausnahmsweise einmal mit auf die Baustelle gekommen, um sich mit den Bewerbungen des zukünftigen Personals auseinanderzusetzen. So war es möglich, dass Elsa, die bis dahin einzige Angestellte des Hotels, sofort zu Hans eilte und ihm berichtete, was mit seiner Frau passiert war.

Hans und Marianne fuhren direkt zurück nach Lübeck, um bei ihrem Arzt vorzusprechen. Ich blieb auf der Baustelle zurück, um in der Zwischenzeit die Arbeit der Tapezierer und Schreiner abzunehmen. Hans würde mich später am Abend wieder abholen. Das dachte ich zumindest.

Als um 18 Uhr die Arbeiter ihre Werkzeuge niederlegten und mit ihren kleinen Transportern nach Hause fuhren, wartete ich immer noch ungeduldig. Da Hans sich offenbar verspätete, malte ich mir aus, sie hätten beim Arzt zu lange warten müssen. Ich ging hinunter in die Empfangshalle und steuerte auf das Telefon hinter der Rezeption zu. Als ich den Hörer abnahm, kam kein Freizeichen. Die Leitung war offensichtlich noch nicht freigeschaltet. Ich legte den Hörer wieder auf die Gabel und ging nach hinten in die Küche, um zu sehen, ob es noch etwas Essbares im Kühlschrank gab. Ich entdeckte etwas Obst und Brot und machte mir damit ein Abendessen.

Mit der dürftigen Mahlzeit setzte ich mich vor das Hotel auf die Steinstufen, die zur Eingangstür hinaufreichten. Dort saß ich, aß und wartete. Als später am Abend die Sonne unterging, realisierte ich, dass man mich offenbar vergessen hatte. Dies konnte ich nicht mehr auf eine lange Wartezeit beim Arzt zurückführen, sondern nur auf eine niederschmetternde Diagnose. Ich stand auf, stieg die Stufen hinauf und betrat das Hotel. Ich würde der erste Mensch sein, der hier seit langem übernachtete. Ich schloss hinter mir die Tür und verriegelte sie mit dem Generalschlüssel, den Hans mir anvertraut hatte, damit ich überall Zugang hatte und den Handwerkern behilflich sein konnte. Ich wusste, dass ein Zimmer bereits vollständig eingerichtet worden war, um für die Reisekataloge entsprechende Werbefotos zu erstellen.

Ich ging also hinauf ins erste Obergeschoss und vorsichtig die noch leere Galerie entlang. Es war mittlerweile so dunkel geworden, dass ich nicht mehr genau sehen konnte, wohin ich trat. Am Ende der Galerie befand sich Zimmer Nr. 1, in dem ich die Nacht verbringen wollte. Ich öffnete die Tür mit meinem Schlüssel und trat in das dunkle Zimmer. Da ich nicht unnötig viel Schmutz in das Zimmer hineintragen wollte, zog ich meine Kleider noch in der Tür aus und legte sie vorsichtig auf einen Stuhl.

Erschöpft ließ ich mich ins Bett fallen und zog die dünne Decke hinauf bis unter mein Kinn. Ich war kaum eingeschlafen, als ich schon wieder durch das Geräusch eines herannahenden Autos geweckt wurde. Ich stand auf, zog mich an und ging über die Galerie zurück zur Treppe. Als ich den oberen Treppenabsatz erreicht hatte, wurde unten die Eingangstür aufgeschlossen. Die Tür öffnete sich und Hans Ewald trat ein.

Schon von weitem konnte ich seine Niedergeschlagenheit sehen. Er wirkte zerdrückt, als laste ein großer Stein auf seinen Schultern, dessen Gewicht ihn nach unten zog. Ich eilte die Treppe herunter, um meinen Freund zu stützen, da ich befürchtete, er könne jeden Augenblick zusammenbrechen. Ich sah sein verweintes Gesicht und roch den Alkohol in seinem Atem. Ich führte ihn zur Rezeption und setzte ihn auf einen der beiden Stühle.

„Sie wird sterben.“

Die ersten Worte, die er sagte, nachdem er das Hotel betreten hatte, bestätigten meine Befürchtung.

„Marianne wird sterben. Einfach so. In wenigen Tagen, vielleicht Wochen, wenn wir Glück haben Monaten.“

Ich wusste, dass ich ihn jetzt einfach reden lassen musste und ihm keine Fragen stellen durfte.

„Sie hatte einen Darmdurchbruch. Sie wurde sofort operiert. Der Arzt hat gesagt, sie hätte Glück gehabt. Hätte man sie nicht operiert, hätte man ihren Krebs nie gefunden.“ Hans machte eine lange Pause. „Was ist an Darmkrebs im Endstadium schon glücklich zu nennen? Der Doktor meinte, da könne man nichts mehr machen. Wieso hat man das erst jetzt bemerkt? Das habe ich ihn gefragt.“ Hans sah mich verzweifelt an und erneut rannen Tränen über seine Wangen. „Er hat irgendwas gestammelt, was ich nicht verstehen konnte. Für mich hörte es sich an wie ‚Pech gehabt‘.“

Hans fing jetzt richtig an zu weinen. Ich stand auf, da ich nichts Besseres zu tun wusste. Plötzlich hörte er auf, sah mich an und sagte fast unhörbar: „Vielleicht ist es besser, wenn du fährst.“

Er gab mir den Schlüssel und ich nickte.

Am nächsten Morgen fuhr ich allein auf die Baustelle. Ich lieh mir dazu den Wagen eines Freundes. Da die Bauarbeiter nur danach fragten, wer sie bezahlte, mussten sie auch nicht wissen, wie es um ihren Auftraggeber bestellt war. Ich schloss ihnen alle Räume auf, in denen gearbeitet werden musste, und beschloss, mich der Aufgabe zu widmen, die gestern noch von Marianne übernommen worden war. Ich ging nach hinten in die Büros und nahm mir den Stapel an Briefen vor, der in der Box mit der Aufschrift „Noch nicht bearbeitet“ lag. Ich öffnete einen nach dem anderen und sortierte die eingereichten Bewerbungen nach ihren Tätigkeitsfeldern. Da ich nicht genau wusste, worauf es bei jeder einzelnen Bewerbung ankam, verließ ich das Büro, um nach Elsa zu suchen. Ich fand sie im Büro nebenan.

„Können wir kurz reden?“

Sie sah von ihren Unterlagen auf.

„Natürlich, komm rein.“

Ich betrat ihr Büro mit den Bewerbungen in der Hand. Ich war mir sicher, dass Elsa noch nicht über Hans’ Situation informiert war.

„Marianne wird sterben.“

Diese drei Worte sorgten dafür, dass Elsa augenblicklich ihren Stift weglegte und mir ihre volle Aufmerksamkeit schenkte.

„Wahrscheinlich schon innerhalb der nächsten Wochen“, führte ich weiter aus. „Ich habe Angst, dass Hans jetzt alles hinwirft, dass er das Hotel aufgibt.“

Sie war sprachlos.

„Sie wird an Darmkrebs sterben.“

Ich wartete ab, ob sie etwas sagen wollte. Als sie nach einer langen Pause noch immer nichts gesagt hatte, fuhr ich fort: „Aber es darf nicht dazu kommen, dass Hans daran zugrunde geht. Selbstverständlich muss er trauern, aber er muss auch an diesem Projekt festhalten. Das Projekt wird ihn festhalten. Es wird ihn am Leben halten.“ Ich hoffte, dass sie ebenso tief in die Seele meines Freundes blicken konnte wie ich.

Doch an ihrem Blick erkannte ich, dass sie Hans zwar gut kannte, aber nicht gut genug: „Du meinst, wir sollten Herrn Ewald bei der Stange halten, damit er eine Ablenkung hat? Felix, so funktioniert der Mensch nicht. Herr Ewald muss das alles erst einmal verarbeiten. Und so wie ich die Sache überblicke, dauert die Renovierung noch mindestens drei Monate. Die ersten Gäste werden in frühestens vier Monaten einziehen. Außerdem wird sich Marianne in den letzten Tagen, die ihr noch verbleiben, bestimmt nicht um die Einstellung des Personals kümmern wollen.“

Ich legte ihr den Stapel mit Bewerbungen auf den Tisch. „Deshalb dachte ich, wir könnten uns gemeinsam darum kümmern.“ Ich sah sie flehend an. „Ich kann das nicht allein. Außerdem …“

„Außerdem was? Sag mir bloß nicht, dass du dich aus dem Staub machen willst.“

Ich musste schlucken. „Ich weiß es noch nicht. In einem Monat beginnt mein neues Semester. Ich hatte sowieso vor, hier bald die Zelte abzubrechen.“ Ich sah, dass sie zu einer Widerrede ansetzte: „Ich werde natürlich noch bis zuletzt weiterarbeiten, aber über kurz oder lang muss Hans die Sache übernehmen können.“

Wir redeten noch eine Weile, ehe Elsa sich eine kurze Bedenkzeit erbat. Ich gewährte sie ihr und drehte noch eine Runde durch das Hotel, um nach der Arbeit der Handwerker zu sehen.

Am dritten Tag nach der Diagnose kam Hans das erste Mal wieder ins Hotel. Er war unrasiert, machte aber ansonsten einen guten Eindruck. Wir begrüßten uns und er kam direkt zur Sache: „Wir müssen reden Felix. Du, Frau Meiwald und ich. Wir müssen über die Zukunft dieses Projekts reden.“

Ich nickte nur und fragte ihn: „Wie geht es Marianne? Wie geht es dir?“

„Der erste Schock ist verdaut. Aber Marianne kann uns nicht weiterhelfen. Sie bekommt jetzt starke Schmerzmittel und verlässt das Haus nur noch selten. Ihre Schwester ist jetzt bei ihr.“ Er merkte, dass mich seine Antwort nicht befriedigte, deshalb fuhr er fort: „Mir muss es gut gehen. Ich muss jetzt stark sein. Stark sein für Marianne und für das Haus.“

Wir gingen nach hinten in das Büro seiner Frau. Es würde jetzt wohl sein Büro werden. Hans legte seine lederne Aktentasche auf dem Schreibtisch ab und setzte sich auf den wuchtigen Stuhl.

„Elsa und ich sind momentan damit beschäftigt, die Bewerbungen zu sichten“, teilte ich ihm mit. „Wir haben bisher vier Personen ausgemacht, die wir – wenn du einverstanden bist – zu einem Gespräch einladen würden.“

Hans nickte nur.

„Außerdem haben wir den Elektriker bezahlt. Es sind jetzt nur noch die Rechnungen mit den Malern und den Schreinern offen, aber soweit wir das überblicken können, ist genug Geld da.“

Wieder nickte er nur.

„Schwieriger wird es bei den Möbeln“, fuhr ich fort. „Hierfür haben wir meiner Meinung nach zu wenig Geld einkalkuliert.“

Hans atmete tief ein und hielt für einem Moment die Luft an, ehe er sie keuchend wieder ausstieß.

„Außerdem kommen noch die Rechnungen für die Medikamente hinzu. So wie es sich momentan darstellt, muss ich wohl noch einmal mehr an mein privates Geld gehen.“

Er wirkte gefasst und stark, sodass ich neue Hoffnung schöpfte, er könne es schaffen. Jedoch musste ich noch warten, ehe ich ihm eröffnete, dass ich in weniger als fünf Wochen weg müsse und in den nächsten Semesterferien nicht mehr zur Verfügung stände.

Vier Tage vor Mariannes Tod fasste ich endlich den Mut, vor Hans alle Karten offen auf den Tisch zu legen. Ich fuhr nachmittags mit dem Bus ins Krankenhaus, in dem Marianne mittlerweile stationär behandelt wurde und fragte mich zu ihrem Zimmer durch. Kurz nachdem ich angeklopft hatte, öffnete Hans die Tür. Erstaunt sah er mich an und fragte beinahe etwas barsch: „Was machst du denn hier?“

„Ich muss mit dir reden“, antwortete ich knapp und fuhr direkt fort: „Können wir kurz unten reden? Es wird bestimmt nicht lange dauern.“ Als er zögerte, schob ich nach: „Wenn es gerade unpassend ist, kann ich auch später wiederkommen.“

Hans sah kurz über die Schulter nach hinten, dann trat er vor die Tür und schloss sie leise. „Marianne schläft gerade. Wir haben also etwas Zeit, sollten uns aber beeilen. Ich will bei ihr sein, wenn sie wieder aufwacht.“

Schweigend gingen wir nebeneinander her den Gang hinunter, durch das Treppenhaus in das kleine Café im Eingangsbereich des Krankenhauses. Es war noch ein Tisch frei, so dass wir uns setzen konnten. Ich ging zur Bedienung und bestellte zwei Tassen Kaffee. Mit den Getränken in der Hand ging ich zum Tisch zurück. Bevor ich etwas sagen konnte, fing Hans an zu reden: „Marianne hat mir erzählt, dass sie bereits seit einiger Zeit mit starken Bauchschmerzen zu kämpfen hat. Sie hat es auf den Stress geschoben.“ Hans machte eine Pause und blickte ins Leere. „Wären wir nur etwas eher zum Arzt gegangen.“ Wieder Schweigen. Die Pause wurde unerträglich lang, da ich ein schlechtes Gewissen hatte, ihn bald allein zu lassen. Plötzlich sah er mich direkt an: „Was wolltest du mir sagen?“

„Nun,“ ich riss die Kaffeesahne auf und verrührte sie mit zwei Würfeln Zucker im Kaffee, „ich habe beschlossen, in einer Woche wieder zurück nach Köln zu fahren, um dort mein Studium fortzusetzen. Ich werde dich nicht mehr bei deinem Projekt unterstützen können.“

Ich trank einen Schluck Kaffee. Hans rührte nur mit leerem Blick in seinem schwarzen Kaffee herum.

„Ich werde dir natürlich in dieser Woche weiterhin helfen, wo es nur geht, aber ich muss im nächsten Jahr unbedingt mein Studium beenden.“ Ich suchte nach den richtigen Worten, um meinen Plan zu rechtfertigen. Mir fiel jedoch nichts Rechtes ein und so sagte ich schlicht: „Ich muss meinen eigenen Weg gehen.“

Hans sah mich traurig an. „Nun, ich hatte gehofft, du würdest dein Studium zunächst einmal pausieren und mir dabei helfen, das Hotel zum Laufen zu bringen. Ich würde dich gut bezahlen. Das weißt du.“ Er hörte auf in seiner Tasse zu rühren und trank vorsichtig einen Schluck. „Ich habe mir wohl zu oft vorgestellt, wie es wäre, wenn wir beide zusammenarbeiteten. Natürlich habe ich immer gewusst, dass du irgendwann wieder studieren würdest. Ich habe nur die ganze Zeit gehofft, dieser Moment käme nicht so bald.“

Hans nahm jetzt doch ein Tütchen Zucker und gab es in den Kaffee. Als er den Zucker verrührt hatte, durchbrach er endlich wieder die Stille: „Aber natürlich respektiere ich deinen Wunsch. Du weißt, dass ich dich zum Teilhaber gemacht hätte. Du hättest mir helfen können, all den Bürokram zu erledigen, und nebenbei noch die ein oder andere handwerkliche Kleinigkeit reparieren können.“

„Ich weiß, dass du mir das angeboten hättest, aber ich denke, es ist Zeit für mich, meinen eigenen Weg zu gehen. Du musst dich um deine Frau kümmern und die Bauarbeiten leiten. Elsa wird dir bei allem anderen helfen. Ich muss mein Studium beenden. Was danach kommt, weiß ich noch nicht.“

Hans rührte immer noch in seinem Kaffee. Schließlich sagte er: „Dann ist das wohl so. Ich danke dir für deine Offenheit. Komm morgen Abend noch einmal zu mir, damit ich dich bezahlen kann.“ Sprach’s und stand auf.

Ich spürte, dass er von mir enttäuscht war, wollte jedoch nicht von meinem Plan abweichen. Ich würde ihm meine Beweggründe noch einmal erklären, vielleicht würde ich das auch nur per Brief tun.

Auf dem Friedhof war es totenstill. Nur ein paar Vögel waren zu hören. Vorne neben dem Grab stand der dunkle Sarg. Darauf lagen Blumen und zwei große Blumenkränze. Die Trauergemeinde saß in einem Halbkreis auf alten wackligen Bänken um das Grab herum. Der Pfarrer faselte irgendwas von einer Wiedergeburt. Hans sah mit versteinerter Miene ins Leere. Neben ihm saß seine Nichte Mia, die vor zwei Tagen angereist war. Allen liefen Tränen über die Wangen.

Ich kannte Mia von früher, als Mia noch jung und ich unschuldig war und wir noch nicht an Dinge wie Tod oder Darmkrebs dachten.

Mia hatte jung geheiratet – einen Arzt oder Anwalt – und war dann mit ihrem Mann nach Hamburg gezogen. Das war das Letzte, was ich von ihr gehört hatte. Sie selbst hatte früher immer davon geschwärmt, einmal Tierärztin zu werden, aber welches kleine Mädchen tut das nicht. Soweit ich mich erinnerte, hatte sie eine Ausbildung zur Erzieherin gemacht und übte diesen Beruf auch aus.

Der Pfarrer war jetzt über den Umweg des „vom Leid erlöst Seins“ am Ende seiner Ansprache angelangt. Als Nächstes würde Hans etwas sagen wollen. Er atmete tief ein, stand auf und ging mit sicheren Schritten zu dem kleinen mobilen Rednerpult.

„Ich möchte nicht viele Worte über meine Frau verlieren. Jeder von euch kennt sie anders, als ich sie gekannt habe. Jeder von euch hat sein eigenes Bild von ihr. Ich für meinen Teil werde ihr Andenken immer bewahren. Sie war für mich immer mehr als nur meine Ehefrau. Sie war meine Begleiterin, mein Kompass und meine Partnerin. Und um ihr Andenken zu wahren, werde ich das von uns beiden restaurierte Hotel umbenennen in HAUS MARIANNE.“

Kapitel 2 – Der Brief

Ich komme zu spät. Und das alles nur, weil heute offensichtlich die halbe Stadt ihre Brötchen in meiner Stammbäckerei kaufen will. Aus den üblichen zehn Minuten Fußweg und Anstehen für die Brötchen sind mittlerweile beinahe 30 geworden. Und um allem noch die Krone aufzusetzen, ist in der Zwischenzeit die Kaffeekanne in der Maschine – die ich immer einschalte, bevor ich zum Bäcker gehe – geplatzt. Diese Ereignisse hätten sich jeden anderen Tag aussuchen können, aber sie mussten ausgerechnet diesen wählen. Ich versuche in meinem Büro anzurufen und Michaela mitzuteilen, dass ich mich verspäte, aber die Leitung ist belegt. Wahrscheinlich telefoniert sie bereits mit Senheimer, der aus der Sitzung heraus anruft, um zu fragen, wo zum Teufel ich denn nun bliebe.

Ich kann es kaum erwarten, dass mein Taxi endlich zum Stehen kommt. Die Tür hat sich noch nicht ganz geöffnet, als ich schon nach draußen auf den Bürgersteig springe. Ich hetze die zweihundert Meter zum Hauptgebäude der MEDIA-1-Gruppe entlang und hoffe inständig, dass ich nicht ins Schwitzen gerate. Ich will keinen schlechten Eindruck in der Chefetage hinterlassen. Ich nicke dem Pförtner zu, eile die Treppe hinauf und gehe zielstrebig auf mein Büro zu. Michaela sitzt an ihrem Schreibtisch und tippt einen Brief ab. Ich werfe mein Jackett auf den Kleiderhaken und nehme mir ein Glas Wasser.

„Hat Senheimer schon nach mir gefragt?“

„Ja, bereits zweimal. Ich habe ihm gesagt, dass ich versuche Sie zu erreichen, aber Sie sind nicht ans Telefon gegangen.“ Wahrscheinlich hat sie genau in dem Moment versucht, mich anzurufen, als ich beim Bäcker in der Schlange gestanden habe. „Außerdem hat noch ein Notar, ein gewisser Herr Müller, für Sie angerufen.“

„Hat er gesagt, was er will?“ Ich suche meine Papiere zusammen und gehe auf die Bürotür zu. Ich muss schleunigst zu Senheimer, sonst kann ich den Antrag für mein nächstes Projekt begraben.

„Nein, er hat nur gesagt, dass er Sie noch einmal anrufen wird. Ich habe ihm gleich gesagt, dass Sie heute eine wichtige Sitzung haben und dass er Sie frühestens heute Mittag wieder erreichen kann.“

Als Michaela den letzten Satz sagt, bin ich schon zur Tür raus. Diesmal nehme ich doch den Aufzug, obwohl ich nur eine Etage nach oben muss. Ich möchte den kurzen Moment im Fahrstuhl nutzen, mir eine Strategie zu überlegen.

Wahrscheinlich wäre es das Beste, wenn ich Senheimer die Wahrheit sage, mich bei ihm entschuldige und ihm dann meine Idee unterbreite. Aber das würde bedeuten, einzuräumen, ich wäre kein allzu guter Planer. So wie Senheimer tickt, dreht er mir einen Strick daraus, dass ich die lange Schlange beim Bäcker nicht einkalkuliert habe und dass man bei der Betreuung eines solchen Projekts nun mal mit allen Eventualitäten rechnen muss.

Und damit läge er sogar richtig. Es dürfte kein leichtes Unterfangen werden, einen Dokumentarfilm über Republikflüchtlinge zu drehen, sie bei ihren Fluchtvorbereitungen zu begleiten und im besten Falle ihre Flucht zu dokumentieren. Aber – sollte mein Projekt abgelehnt werden – würde das auch bedeuten, dass ich meinem Freund Manni, der vor zwei Jahren schwimmend in die Bundesrepublik geflohen ist, mitteilen müsste, unser Projekt sei gestorben.

Ich erreiche den Konferenzraum, klopfe an und trete direkt ein. Senheimer, Meier, Wern und Giesing, das fiese Wiesel, sehen auf.

„Herr Mandel, schön, dass Sie uns auch noch beehren. Setzen Sie sich bitte.“ Senheimer überrumpelt mich, noch bevor ich mich erklären kann. „Wir sprechen gerade über Giesings Idee, zur diesjährigen Europameisterschaft eine Dokumentation über die Leute in unserem wunderschönen Nachbarland Frankreich zu drehen. Was halten Sie davon?“

Da ich diesen Gesprächsverlauf nicht erwartet habe, bekomme ich nur ein „Klingt toll“ heraus. Welche Eloquenz.

„Finden Sie? Dann macht es Ihnen doch bestimmt nichts aus, wenn ich Ihnen mitteile, dass Ihre Geschichte zunächst einmal auf Eis gelegt ist.“

Dieser Satz trifft mich wie ein Hammerschlag. Ich bekomme kaum noch Luft. „Wieso? Weil ich zu spät zu Ihrer Sitzung erschienen bin?“

„Zu unserer Sitzung. Wissen Sie, Herr Mandel, es gehören immer mehrere Menschen zu einer Sitzung, denn allein kann man sich nicht treffen. Verstehen Sie das? Wenn ich mich zu einer Sitzung verspäte, was noch nie vorgekommen ist, dann gebe ich den entsprechenden Personen Bescheid. Ich lasse meine Vorgesetzten nicht warten. Verstehen Sie das?“

In mir ist während seiner Worte eine unbeschreibliche Wut angewachsen, die jetzt wie ein bleierner Klotz in meinem Magen liegt. Schweiß tritt auf meine Stirn.

„Sie können jetzt gehen“, eröffnet Senheimer mir. „Fürs Erste dürfen Sie weiterarbeiten, aber ich wünsche morgen ein Gespräch mit Ihnen in meinem Büro.“