Wieso Gras wächst - David Hermann - E-Book

Wieso Gras wächst E-Book

David Hermann

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Beschreibung

Der Berliner Privatdetektiv Francis Rickenbacker wird seit einiger Zeit von schrecklichen Alpträumen geplagt. Darin wird er von einem allmächtigen Schriftsteller verfolgt, der scheinbar auch in Rickenbackers realer Welt die Fäden in der Hand hält. Rickenbacker fasst einen Entschluss: Um dem Autor, der sein Leben erdacht hat, zu entkommen, fährt er in das kleine Dorf Werthersheim. Dort hofft er, in Ruhe sein Leben leben zu können. Doch kaum ist er angekommen, geschieht ein Mord. Eine junge Frau wird tot auf ihrem Hotelzimmer gefunden. Offenbar ist es Rickenbacker nicht gelungen, seinem Autor zu entkommen. Also macht er sich daran, den Mord an Helena Richter aufzuklären.

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Über den Autor:

David Hermann wurde 1985 in Gießen geboren. Er studierte Mathematik und Physik und arbeitet seit 2010 als Lehrer an einer Gesamtschule. Zu seinen literarischen Vorbildern zählt er neben Autoren wie Michael Crichton und Stephen King auch den Komiker Heinz Erhard und den Videospielentwickler Sam Lake.

Über das Buch:

Der Berliner Privatdetektiv Francis Rickenbacker wird seit einiger Zeit von schrecklichen Alpträumen geplagt. Darin wird er von einem allmächtigen Schriftsteller verfolgt, der scheinbar auch in Rickenbackers realer Welt die Fäden in der Hand hält. Rickenbacker fasst einen Entschluss: Um dem Autor, der sein Leben erdacht hat, zu entkommen, fährt er in das kleine Dorf Werthersheim. Dort hofft er, in Ruhe sein Leben leben zu können. Doch kaum ist er angekommen, geschieht ein Mord. Eine junge Frau wird tot auf ihrem Hotelzimmer gefunden. Offenbar ist es Rickenbacker nicht gelungen, seinem Autor zu entkommen. Also macht er sich daran, den Mordfall aufzuklären.

Für meine Klasse. Ihr seid grandios!

Inhalt

Diagnose

Abreise

Ein Engel macht eine Entdeckung

Ankunft

Kaffee am See

Eine Blume am See

Ein Drink zu viel

Eine Leiche zum Frühstück

Der Engel erscheint

Ein weiterer Kaffee

Gespräche am See

Eine zweite Leiche am Abend

Die Blume verwelkt

Unfall und Tauchgang

Es kommt anders

Der Sinn der Gräser

Hinweise des Autors

Danksagungen

Diagnose

Der Mann geht durch dunkle Gassen. Die Nacht ist schwarz. Doch nicht aufgrund fehlenden Lichtes, sondern aufgrund anwesender Schwärze. In der Ferne hämmern Schuhsohlen auf den Asphalt. Sie treiben den Mann zu immer schnelleren Schritten an. Schon nach kurzer Zeit das gleiche Geräusch im gleichen stakkatoartigen Takt wie die Schuhe in der Ferne. Tock, tock, tock. Der Mann weiß, dass es keine Schuhe sind, die da auf den Asphalt hämmern. Es sind die Hebel einer Schreibmaschine, die auf das Papier aufschlagen und mit ihrer zerstörerischen Wucht Neues erschaffen, angetrieben von dem Willen des Autoren und dessen wirren Gedanken. Der Mann rennt immer schneller durch die Straßen, die Schaufenster der Läden fliegen links und rechts an ihm vorbei, das Klacken der Schreibmaschine wird immer lauter. Bald schon wird es ihn ganz eingeholt haben. Das Herz des Mannes pocht laut, als er an einer Häuserecke stehen bleibt, sein Atem geht stoßweise. Kraftlos stützt er sich an der glatten Fläche des Schaufensters ab. Er weiß, dass es vor dem Autor kein Entrinnen gibt. Früher oder später wird er ihn einholen, ihn überschütten mit Leichen, mit den Gräueltaten der Menschen und den hilflosen Blicken der Frauen, die zu ihm kommen und von ihm verlangen, er möge sie beschützen vor dem Ungeheuer, das einst ihr Ehemann war. Der Mann spürt, dass es sinnlos ist, sich weiter vor dem Werk des Autors zu verstecken. Er blickt sich um und starrt auf die Auslage im Schaufenster. Dort stehen – aufgereiht wie Zinnsoldaten – Gipsbüsten von Schiller, Goethe, Fontane und Büchner. Der Mann geht weiter zum nächsten Schaufenster. Dort sind es Agatha Christie, Sir Arthur Conan Doyle und Friedrich Dürrenmatt. In der übernächsten Auslage starrt ihn eine Delegation der Horrorliteraten an: Stephen King, H. P. Lovecraft und weitere Namen, die ihm nichts sagen. Dem Mann gefällt nicht, welche Richtung die Geschichte nimmt.

Eine der Büsten im Schaufenster beginnt zu reden: »Diese Geschichte wird Sie bei lebendigem Leib verschlingen!«

Der Mann wendet sich vom Schaufenster ab und eilt wieder die Straße entlang. Wie von Zauberhand ist die Stadt auf einmal dicht bevölkert. Dem Mann kommen unzählige Leute entgegen. Auf den ersten Blick bemerkt er nur, dass alle im Takt der immer noch hämmernden Schreibmaschine gehen und alle dieselbe Dunkelheit ausstrahlen, die scheinbar die ganze Welt verschlingt.

»Diese Geschichte ist ein Monster!«, schreit die Büste im Schaufenster hinter dem Mann.

Jetzt erkennt der Mann, dass alle Leute um ihn herum Leichen sind. Einer älteren Frau mit grauen Haaren ragt ein Fleischerbeil aus der Stirn. Das Blut links und rechts der Klinge ist bereits geronnen, die Augen der Frau sind tot – und doch lebt sie noch. Langsam wie eine unaufhaltsame Kraft kommt sie auf den Mann zu. Der wendet sich endgültig von den Schaufenstern ab und eilt wieder die Straße hinunter. Den Ruf der Büste – »Monster tragen viele Masken!« – hört er schon nicht mehr. Und dennoch weiß er, dass die Büste ihm diesen Satz hinterhergerufen hat.

An der nächsten Straßenecke liegen zwei Frauen und ein Mann mit Einschusslöchern in der Stirn. Eine der Frauen ist die Baronin. Das weiß der Mann, obwohl er nicht weiß, wer die Baronin ist. Die drei Leichen beobachten angestrengt den Sternenhimmel. Der Mann folgt ihren Blicken und stellt entsetzt fest, dass auch die Sterne nichts als tiefste Schwärze ausstrahlen.

Der Mann reißt seinen Blick von den Gestirnen los und ist verwundert darüber, welche Anstrengung ihn diese kleine Bewegung kostet. Er will weitereilen, die Straße hinunter, nur noch fort von dem unaufhaltsamen Hämmern der Schreibmaschine, doch er kann sich nicht mehr bewegen. Seine Beine sind eingefroren, ebenso wie die Zeit. Mit einem letzten unheilvollen Hammerschlag rastet das Uhrwerk des Universums ein und alles versinkt in absoluter Dunkelheit. Der Mann weiß, was jetzt passieren wird. Er weiß es, weil er es wissen soll, weil dieses Wissen für ihn vorherbestimmt ist, wie überhaupt alles – jedes kleinste Rädchen in der riesigen Maschine, die man Leben nennt.

Am Ende der Dunkelheit entsteht langsam ein Riss und ein helles Licht breitet sich aus und in diesem Licht erkennt der Mann eine Frau. Ihr Körper wird umrahmt von einem Lichterkranz. Der Mann kennt den Namen der Frau. Sie ist ein Engel und sie wird ihn erlösen. Sie kommt auf ihn zugeflogen. Der Lichterkranz erhellt die Dunkelheit und zum ersten Mal kann der Mann sich selbst erkennen. Seinen dunklen Anzug und seine glänzenden Lederschuhe. Er sieht noch eine Weile an sich herunter, dann merkt er, dass die Frau etwas sagen will. Er sieht ihr ins Gesicht und weiß sofort, dass er nicht hören will, was sie ihm zu sagen hat.

»Francis, hör mir zu«, sagt der Engel.

Der Mann blickt in das Gesicht des Engels und kneift aus einem Reflex heraus die Augen zu.

»Ich habe all diese Menschen getötet! Ich habe alle umgebracht.«

Die Stimme des Engels wird immer lauter. Jedes seiner Worte wird begleitet von einem Hebelanschlag. Der Mann weiß, dass es der Autor ist, der dem wunderbaren Engel all diese Worte in den Mund legt.

»Ich habe alle getötet, weil du es so bewiesen hast, weil du die Indizien so gedeutet hast. Du hast alles so verdreht, dass ich die Mörderin war!«

Der Mann will noch etwas sagen, doch er wird aus der Welt gerissen.

Francis Rickenbacker erwachte schweißgebadet in seinem Bett. Der Traum sickerte aus seinem Bewusstsein. Rickenbacker setzte sich auf und starrte die weiße Wand vor sich an. Das Bild einer Eule, das noch am Abend dort gehangen hatte, war heruntergefallen. Rickenbacker fand es auf dem Fußboden liegend. Er überlegte einen Moment, ob er es aufheben sollte, doch das Weiß der Wand hielt ihn davon ab. Wie eine Filmprojektion sah er Bilder seines Traumes vor sich aufblitzen. Er hatte diesen Traum schon die dritte Nacht in Folge gehabt.

Was willst du mir sagen, fragte Rickenbacker seinen Verstand, doch der blieb ihm eine Antwort schuldig.

Das störende Ticken seiner Taschenuhr auf dem Nachttisch bewegte ihn dazu, doch aufzustehen. Es war bereits kurz nach sieben. Höchste Eisenbahn für Rickenbacker. Er ging ins Badezimmer und duschte heiß. Als er sich anschließend vor dem Spiegel rasierte, erwartete Rickenbacker beinahe, darin die Gipsbüste dieses ihm unbekannten Autors zu finden, die verkündete, dass die Geschichte nicht das sei, was er sich von ihr erhoffte. Doch da war nichts. Nur Rickenbacker selbst, der so aussah, als hätte er seine besten Tage hinter sich.

Vergeudete er sein Leben? Herausfordernd blickte er sein Spiegelbild an.

Da er keine Antwort erwarten konnte, machte er sich wieder daran, sich zu rasieren. Anschließend schlüpfte er in seinen Bademantel und ging zurück ins Zimmer.

Rickenbacker wohnte bereits seit vier Jahren im Hotel. Anfangs hatte er sich dort nur einquartiert, weil es in seiner Wohnung einen Wasserrohrbruch gegeben hatte, was zur Folge hatte, dass der ganze Boden aufgerissen und sämtliche Rohre neu verlegt werden mussten. Als sein Vermieter nach einem Monat gemeint hatte, er könne wieder zurück in seine eigenen vier Wände, hatte Rickenbacker dankend abgelehnt. Seitdem war sein Wohnsitz das Bourbon – ein kleines Hotel in Berlin, in dessen Bar es bis zu Rickenbackers Einzug nur Bourbon Whiskey gegeben hatte. Mittlerweile servierten sie dort auch Scotch, sehr zu Rickenbackers Freude.

Rickenbacker griff zum Telefonhörer und rief die Rezeption an. »Hallo Melville, schicken Sie mir doch bitte einen Kaffee und ein kleines Frühstück rauf aufs Zimmer.«

Nach dem Frühstück fand Rickenbacker endlich die Energie, sich anzuziehen und nach unten zu gehen. Er drehte wie jeden Morgen eine kurze Runde um den Block und kaufte sich an einem Kiosk eine Zeitung. Dann kehrte er zum Hotel zurück und setzte sich mit einem zweiten Kaffee in die kleine Lobby. Er überflog die Zeitungsartikel. In der Welt war nichts von Bedeutung geschehen, die Nachrichten versuchten nach wie vor krampfhaft, ihre Leser in Panik zu versetzen. Das Telefon an der Rezeption schellte, die Tür zur Straße ging auf und zu, auf und zu, und jedes Mal brüllte der Straßenlärm in die Lobby hinein. Auf dem Sofa neben Rickenbacker unterhielten sich zwei Frauen angeregt über die Geburt eines Kindes und irgendwann mischte sich noch das Geplapper eines Rentners in die Kakophonie um ihn herum ein.

Wieder schrillte das Telefon und diesmal kam Melville hinter seinem Tresen hervor und ging auf Rickenbacker zu. »Verzeihung, der Herr, es ist für Sie. Frau Melanie Engel ist am Apparat.«

Rickenbacker faltete die Zeitung zusammen und klemmte sie sich unter den Arm. Dann stand er auf. »Vielen Dank Melville. Können Sie das Gespräch auf Apparat zwei legen?«

»Sehr wohl.«

Der Rezeptionist wandte sich ab und ging zurück an seinen Arbeitsplatz. Rickenbacker ging nach hinten Richtung Bar zum zweiten der drei Telefone. Es handelte sich um Modelle aus den Sechzigern, wie überhaupt vieles im Bourbon an die gute alte Zeit erinnerte. Die Ausstattung war mit ein Grund für Rickenbacker gewesen, sich für dieses Hotel zu entscheiden. Rickenbacker war fasziniert von allem Altmodischen.

Jetzt meldete er sich am Telefon. »Rickenbacker hier, was gibt’s?«

»Hallo Francis«, sagte Melanie Engel am anderen Ende.

Sie war eine von wenigen Personen, die ihn bei seinem Vornamen nannten. Rickenbacker arbeitete schon eine halbe Ewigkeit mit ihr zusammen. Sie war gewissermaßen seine Assistentin, obwohl sie das Zeug dazu hatte, eine eigene Detektei zu eröffnen. Doch Rickenbacker war froh darüber, dass sie sich dazu entschieden hatte, mit ihm zusammenzuarbeiten. Er bemühte sich redlich, sie als seine Partnerin zu bezeichnen.

»Ich wollte dich nur an deinen Termin erinnern.«

»Welchen meinst du?«

»Du hast heute eine weitere Sitzung mit diesem Doktor.«

»Mit Doktor Schiller«, sagte Rickenbacker.

»Genau.«

Rickenbacker konnte durch das Telefon spüren, dass es Melanie unangenehm war, mit ihm über seinen Geisteszustand zu sprechen.

»Wie geht es dir heute?«, fragte sie.

»Gut, denke ich.« Rickenbacker musste kurz schlucken. Dann fügte er hinzu: »Ich hatte wieder diesen Traum.«

»Habe ich wieder all diese Leute ermordet?«

Rickenbacker schwieg. Schließlich sagte er: »Findest du es nicht seltsam, dass der einzige verfügbare Therapeut den Namen eines großen deutschen Dichters trägt?«

»Das ist genauso seltsam, wie dass du den gleichen Namen hast wie diese Gitarrenmarke aus den USA. Menschen tragen nun mal irgendwelche Namen.«

»Vielleicht hast du Recht«, sagte Rickenbacker. Dann fragte er: »Erinnerst du dich noch an den Fall der Baronin?«

»Nein«, antwortete Melanie. »Welche Baronin genau?«

»Weiß ich auch nicht mehr. Ich habe sie nur heute Nacht gesehen und wusste sofort, dass ich ihren Fall gelöst habe. Und heute Morgen ist da nichts mehr. Nicht der Funke einer Erinnerung.«

»Da war auch nie etwas. An einen Fall mit einer Baronin würde ich mich erinnern.«

»Vermutlich«, sagte Rickenbacker. »Wann genau ist mein Termin?«

»Um zehn Uhr. Kommst du im Anschluss noch einmal ins Büro?«

»Bestimmt.«

Dr. Schiller war ein altmodischer, in Stein gemeißelter Koloss, der hinter einem wuchtigen Schreibtisch thronte. Rickenbacker hatte ihn vom ersten Moment an gemocht. Er war ein aus der Zeit gefallener Dinosaurier der Seelenheilkunde.

Wie schon die Male zuvor saß Rickenbacker verunsichert auf dem grünen Sessel und überlegte, ob er das Gespräch eröffnen oder lieber Dr. Schiller diese Aufgabe überlassen sollte.

Endlich fing der Therapeut an: »Wann …«, Schiller hielt kurz inne, dann setzte er erneut an. »Wann hatten Sie zum ersten Mal dieses Gefühl?«

»Ich fürchte, dass ich Ihnen das nicht beantworten kann.«

»Wieso?«

»Es ist so, dass ich mich nicht mehr recht an den Anfang erinnern kann. Ich habe immer geglaubt, alles hätte angefangen, nachdem ich den Mörder von Lutz Zimmermann gefasst hatte. Doch mittlerweile bin ich mir nicht einmal mehr sicher, ob ich nicht schon vorher so gefühlt habe.«

»Können Sie mir noch einmal Ihre Gefühle schildern?«

Rickenbacker seufzte tief und fuhr mit den Fingern über den Samtbezug des Sessels. Wieso sollte er nur wieder und wieder darüber reden? Glaubte wirklich irgendjemand, ein Problem würde sich durch Gespräche in Luft auflösen?

»Es ist schwierig zu beschreiben«, fing er an. »Es ist, als sei man gleichzeitig Teil dieser Welt und dann wieder nicht. Ich bin schon noch real. Es ist aber so, dass nicht ich in der Welt existiere, sondern die Welt um mich herum. Und zwar aus einem einzigen Grund: Ich soll Kriminalfälle aufdecken, Mörder fassen und Schwindler überführen. Und wenn es nach dem Autoren ginge, täte ich das in immer abstruser werdenden Fällen.«

»Sie sind also Teil einer großen Inszenierung?«

Rickenbacker zuckte innerlich zusammen. Schon seine Mutter hatte immer zu ihm gesagt, er wirke oft wie ein Schauspieler in einem Theaterstück, der nur eine Rolle spielt.

»Ich denke eher, dass ich eine Figur in einem Roman bin.«

»Und welche Rolle ist in diesem Werk mir zugedacht?« Schiller lächelte süffisant.

Rickenbacker sah den Therapeuten an. Konnte er ihm die schmerzende Tatsache wirklich zumuten? Er wusste, dass Schiller ihm nicht glauben würde. Dabei war sein Name doch schon Beweis genug.

»Sie sind nur ein Komparse. Wenn es dem Autor beliebt, dürfen Sie etwas zur Welt betragen, aber ansonsten sind Sie nur ein Stichwortgeber.«

Schiller schien die Worte auf sich wirken zu lassen. Nach einem schier endlosen Moment der Stille sagte er: »Lassen Sie uns über diesen Autor reden.«

Rickenbacker spürte, dass ihm mit einem Male unwohl wurde. Vor seinem inneren Auge sah er die staubige Gipsbüste, die gleich neben der von Stephen King gestanden hatte. »Diese Geschichte ist nicht das, was Sie erwarten«, hatte der Autor gesagt. Sollte sich vielleicht alles zu einer Horrorgeschichte entwickeln?

»Ich habe keine Ahnung, was der Autor von mir will.«

»Ich glaube auch nicht, …« Wieder legte Schiller eine Pause ein. »Ich glaube nicht, dass das von Belang ist.«

»Wieso fragen Sie dann?«

»Ich möchte Ihre Einschätzung zur Figur des Autors erfahren.«

Rickenbacker überlegte, was der Therapeut gerne hören würde und was zu sagen, er bereit wäre.

»Glauben Sie an Gott?«, fragte Schiller unvermittelt.

»Nennen Sie ihn, wie Sie wollen: Gott oder das Schicksal oder das Universum. Ich weiß nur, ich will von ihm loskommen.«

»Reden Sie jetzt von Gott oder von diesem Romanautor?«

Rickenbacker schüttelte den Kopf und schwieg. In die Stille hinein mischte sich das leise Ticken der Wanduhr. Tock, tock, tock. Wie das Klacken der Schreibmaschine. Der Doktor ertrug diese Stille, Rickenbacker machte sie wahnsinnig.

»Er ist der Einzige, der meinem Dasein Sinn verleiht. Einen wirklichen, tiefen, wahren Sinn, verstehen Sie?«

»Dann seien Sie doch froh darüber, dass es diesen Autor gibt. Die meisten Menschen würden sich freuen, wenn ihr Leben einen Sinn hätte. Etwas, worauf sie zusteuern.« Doktor Schiller wartete ab, ob Rickenbacker etwas erwidern würde. Schließlich fügte er hinzu: »Vielleicht brauchen Sie einfach einen ausgiebigen Urlaub. Haben Sie daran schon einmal gedacht?«

»Alles ist vorherbestimmt«, sagte Rickenbacker und fuhr erneut mit den Fingern über den Samtbezug.

Abreise

Melanie tippte nervös auf der Computertastatur herum. Immer wieder begann sie einen Satz zu schreiben, nur um ihn dann sofort wieder zu löschen. Schon zum dritten Mal an diesem Morgen sah sie auf die Uhr. Es war bereits kurz nach elf. Rickenbacker hätte längst in seinem Büro sein müssen. Noch während Melanie überlegte, ob sie ihren Chef – sie nennt ihn so, obwohl er sie als Partnerin ansieht – anrufen soll, hörte sie Schritte auf dem Flur. Ein Regenschirm wurde an der Garderobe aufgehängt, dann ein Mantel. Rickenbacker trat ein.

»Guten Morgen, Francis«, begrüßte Melanie ihn.

»Morgen, Frau Engel«, sagte Rickenbacker. Er wirkte abwesend.

Melanie lächelte über die förmliche Anrede, in die ihr Chef manchmal verfiel. Sie überlegte kurz, was sie als Nächstes tun sollte. Wäre es ratsam, ihren Chef direkt auf seinen Geisteszustand anzusprechen und auf die Artikel, die sie im Internet über Realitätsverlust gelesen hatte, oder sollte sie zunächst die Fallakte, an der sie seit Stunden schrieb, zur Sprache bringen.

»Was hast du heute für mich?«, fragte Rickenbacker und nahm ihr die Entscheidung ab.

»Keinen neuen Fall. Nur laufende Sachen. Und diesen einen Bericht.«

»Zeig mal her!«

Melanie zuckte verlegen mit den Schultern. »Ich bin noch nicht ganz fertig geworden.«

»Also hast du ihn noch nicht vorliegen.«

Melanie schüttelte den Kopf. »Aber ich habe noch einmal im Computer nachgesehen nach dieser Baronin, von der du heute Morgen gesprochen hast.«

Melanie bemerkte die Hoffnung in Rickenbackers Blick.

»Da ist nichts.«

»Hmm. Sowas hatte ich befürchtet, obwohl ich Besseres erhofft hatte.«

»Vielleicht stammt dieser Fall ja noch aus der Zeit, als du allein gearbeitet hast, oder aus der kurzen Phase mit Robert.«

Rickenbacker schüttelte den Kopf. »Mit dem Wiesel habe ich nur drei Fälle gelöst: Die Silberbrosche, den Frosch und die alte Dame, die ihren tyrannischen Ehemann um die Ecke gebracht hat.«

Melanie kannte all diese Fälle. Rickenbacker hatte mit seinem alten Partner – in Wahrheit war es eher eine zufällige Arbeitsgemeinschaft gewesen – drei spektakuläre Fälle gelöst, wobei es sich dabei eigentlich nur um einen einzigen Fall gehandelt hatte, in dem sich durch einen dummen Zufall drei Schicksale miteinander verwoben hatten.

»Dann könnte man vielleicht etwas über das Pressearchiv erfahren«, schlug Melanie vor. »Wenn immerhin eine Baronin in den Fall involviert war.«

»Nein. Keine Chance. Ich musste damals äußerst diskret vorgehen. Oder wir mussten diskret vorgehen. Ich weiß es nicht mehr.«

»Also ich war nicht mit von der Partie«, sagte Melanie.

»Und genau das ist es, was mir Sorgen bereitet. Ich bin mir nicht mehr sicher, ob ich einen solchen Fall jemals gelöst habe. Und doch erinnere ich mich noch genau daran. Die verschwundene Baronin. Der kenianische Buttler. Der Taxifahrer, der sich als Polizist entpuppte. Alle Details sind da. Nur bin ich mir nicht mehr sicher, ob ich jemals in einem solchen Fall ermittelt habe.«

»Warst du denn bei Dr. Schiller?«, fragte Melanie, um endlich den Kern ihres Gesprächs anzugehen.

Rickenbacker nickte. »Wie es aussieht, glaube ich eventuell an Gott oder an das Schicksal oder an irgendwelche Kräfte des Universums. Vor allem aber haben wir erfahren, dass der Doktor keine Ahnung davon hat, was genau mein Problem ist, und dass du gehörige Angst davor hast, dir einzugestehen, dass ich entweder nicht mehr alle Latten am Zaun habe, oder du dich in einer echt misslichen Lage befindest.«

»Ich fürchte, ich kann nicht ganz folgen.«

»Das kannst du sehr wohl. Du hast längst begriffen, dass die Welt, in der ich lebe, nur dazu bestimmt ist, dass ich Verbrechen aufkläre. Und alle anderen Menschen – dich eingeschlossen – sind nichts weiter als bloße Statisten, die auf Zuruf ihren Satz aufsagen.«

»Ich habe mein eigenes Leben«, protestierte Melanie. Ihr fiel wieder der Artikel ein, den sie vorhin im Internet gelesen hatte. »Ich lebe mit einem Mann zusammen, der es nur noch schwer vor mir verbergen kann, dass er mir am liebsten einen altmodischen Heiratsantrag machen würde.«

»O, wir haben es also mit einem schriftstellerischen Genie zu tun, das es zustande gebracht hat, selbst den Nebenfiguren noch ein wenig charakterliche Tiefe anzudichten!« Rickenbacker wirkte mit einem Mal aufgebracht. »Ich glaube, es ist besser, wenn ich mir jetzt erstmal die Füße vertrete. Vielleicht komme ich dann wieder auf vernünftige Gedanken und kann mich bei dir entschuldigen.«

Melanie wäre am liebsten aufgestanden und hätte ihren Chef geohrfeigt. Doch sie blieb sitzen und sagte nur: »Du musst dich nicht entschuldigen.«

Rickenbacker verließ das Büro wieder und nahm seinen Hut und Mantel. Melanie blieb noch einen Augenblick sitzen, ehe sie ebenfalls aufstand. Schnell schlüpfte sie in eine andere Jacke, setzte sich eine Brille auf und eilte Rickenbacker hinterher.

Ihr Chef war bereits auf der Straße und schlenderte den Fußweg entlang. Melanie ging so unauffällig wie möglich hinter ihm her. Dabei zog sie stets ihren rechten Fuß nach, als habe sie sich den Knöchel verstaucht – eine Technik, die Rickenbacker ihr beigebracht hatte, schließlich sollte er sie nicht aus den Augenwinkeln an ihren Bewegungen erkennen.

Rickenbacker schlängelte sich im Slalom durch den morgendlichen Verkehr auf Berlins Gehwegen. Melanie hatte Schwierigkeiten, mit ihm Schritt zu halten. An einer Kreuzung wäre sie beinahe mit einem Mann zusammengestoßen, der einen Kinderwagen vor sich her schob. Sie sah dem Mann kurz ins Gesicht, murmelte eine Entschuldigung und drehte sich wieder nach vorne um. Gerade noch konnte sie sehen, wie Rickenbacker um eine Ecke bog. Offensichtlich war er auf dem Weg zurück ins Bourbon.

Melanie folgte ihm. Sie ließ sich etwas weiter zurückfallen – jetzt, wo sie sein Ziel kannte. Rickenbacker ging zielstrebig zum Hotel. Als er an einer Gruppe von Menschen vorbeikam, beschleunigte er seinen Gang und blickte starr zu Boden. Offensichtlich versuchte er, Menschenansammlungen zu vermeiden.

Plötzlich hielt Rickenbacker an. Melanie wechselte die Straßenseite und mischte sich in den regen Fußgängerverkehr. Was hatte ihren Chef dazu bewogen, stehen zu bleiben? Melanie stellte sich neben einen Kiosk und sah zu dem Gebäude, vor dem Rickenbacker stehen geblieben war. Es handelte sich um eine kleine Buchhandlung. Ihr Partner war nirgends zu sehen. Er musste den Laden betreten haben.

Melanie überquerte ein weiteres Mal die Straße und betrat die Buchhandlung. Als die Tür sich hinter ihr schloss, ertönte eine kleine Glocke. Melanie zuckte zusammen, fasste sich aber sofort wieder. Sie ging zielstrebig zur Kochbuchabteilung. Hier würde Rickenbacker sie nicht finden. Wahrscheinlicher war es, dass sie hier ihrem Freund begegnet.

Melanie entdeckte Rickenbacker vor dem Regal mit Horrorromanen. Er zog wahllos Bücher heraus, schlug sie auf, warf einen Blick hinein und stellte sie wieder zurück. Wonach suchte er? Eine Verkäuferin trat zu ihm und fragte: »Kann ich Ihnen bei Ihrer Suche behilflich sein?«

»Wie?«, fragte Rickenbacker nervös.

Melanie stand weiterhin vor einer Auswahl an Kochbüchern und blätterte scheinbar interessiert in einem Buch über vegane Grillgerichte. Doch all ihre Konzentration galt der Unterhaltung zwischen Rickenbacker und der Verkäuferin. Gott sei Dank, war es in dem Laden ansonsten still wie in einer Kirche.

»Was suchen Sie?«, fragte die Verkäuferin erneut.

»Ich suche einen bestimmten Autor für Horrorliteratur. Aber Sie haben nichts von ihm da.«

»Sind Sie sich sicher?«

»Jedenfalls finde ich in keinem der Bücher hier ein Foto, das passt.«

Rickenbacker wirkte jetzt ganz nervös. Er zog immer schneller einzelne Bücher aus dem Regal und stellte sie nach einer kurzen Inspektion wieder zurück, manche von ihnen verkehrtherum. Melanie wäre am liebsten zu ihm hinübergegangen, doch dann hätte sie sich verraten.

Verdammt, eigentlich verrate ich ihn, dachte sie. Den eigenen Chef, der ganz offensichtlich ernste Probleme hat.

»Ich nehme dieses hier.« Rickenbacker hielt der Verkäuferin ein Buch hin, das er wahllos aus dem Regal zog.

»Ah, Stephen Kings Dr. Sleep. Eine gute Wahl.«

Rickenbacker ging mit seinem Buch zur Kasse, gefolgt von der Verkäuferin.

»Wollen Sie eine Tüte haben?«

Rickenbacker schüttelte den Kopf. Er klemmte sich das Buch unter den Arm und verließ die Buchhandlung. Melanie wartete noch einen Moment, dann folgte sie ihrem Chef – gerade noch rechtzeitig, ehe die Verkäuferin sie ins Visier fassen konnte.

Rickenbacker kehrte ins Bourbon zurück und ging auf sein Zimmer. Er saß in seinem gemütlichen Ohrensessel und blätterte in dem Buch, das er gekauft hatte, ohne jedoch wirklich zu lesen.

Was stimmte nur nicht mit ihm? Wieso konnte er die Welt nicht wieder so sehen, wie er sie früher gesehen hatte? Vor all dem … bevor die Erkenntnis gekommen war und er einen Blick hinter die Fassade der Welt geworfen hatte.

Während Rickenbacker seinen Gedanken folgte und dabei den Roman durchblätterte, dachte er wieder an die Worte der Gipsbüste. »Diese Geschichte wird Sie bei lebendigem Leib verschlingen!«, hatte die staubige Figur gesagt. Was war, wenn sie recht behielt? Was, wenn diese Geschichte ihn wirklich verschlang, wenn er an seinen Gedanken zugrunde ging? Was, wenn er wirklich verrückt war und die Realität nicht mehr als das akzeptieren konnte, was sie war: schlicht langweilig. Was, wenn er sein Leben nicht selbst in der Hand hatte? Oder schlimmer noch: Was, wenn er sein Leben selbst in der Hand hatte?

Rickenbacker schleuderte das Buch quer durch das Hotelzimmer. Es prallte von der Wand ab und landete aufgeschlagen auf dem Fußboden.

»Wenn dies wirklich das Werk eines Autors ist, dann steht die Lösung all meiner Probleme jetzt auf der aufgeschlagenen Seite«, sagte Rickenbacker laut zu sich selbst.

Er zögerte einen Moment, dann stand er aus dem Ohrensessel auf und näherte sich dem Buch, das da auffordernd auf dem Fußboden lag und ihn anstarrte. Rickenbacker streckte seine Hand aus. Er würde. Oder vielleicht doch nicht? Könnte er?

Tu es endlich, schien das Buch zu schreien. Doch Rickenbackers Hand schwebte reglos einige Zentimeter über dem Buch. Schließlich griff er danach, klappte es zu und warf er es in den Papierkorb.

Er brauchte keine Literatur. Was er brauchte, war Musik. Laute, alles übertönende Musik. Also ging er zu seinem Plattenspieler – seine Plattensammlung war das Einzige, was er außer Kleidung aus seiner Wohnung gerettet hatte – und legte Bruce Springsteens Born in the USA auf.

Die Musik beruhigte ihn, löste seine Gedanken auf, ließ ihn alles vergessen.

Als Rickenbacker schließlich beim letzten Lied der B-Seite angelangt war, wusste er, was er tun würde. Bruce Springsteen sang gerade in My Hometown über seine Heimat und entzündete in Rickenbacker den Funken, der die Geschichte entfachen würde.

Rickenbacker würde dorthin zurückkehren, wo seine Wurzeln lagen. Er war zwar erst einmal dort gewesen, doch was konnte beruhigender und heilsamer sein als das kleine Dorf, in dem seine Großmutter bis kurz nach dem Krieg gelebt hatte? Sie hatte ihm schließlich immer von der Beschaulichkeit des kleinen Ortes vorgeschwärmt. Wieso sie dennoch lieber in Berlin gelebt hatte, hatte sie Rickenbacker nie gesagt. Und hätte Rickenbacker die Zeitung bemerkt, die noch vom Vormittag aufgeschlagen auf dem Nachttisch lag, dann hätte er darauf in großen Buchstaben das Wort »Flüchtlingskrise« gelesen, und er hätte keinen weiteren Gedanken an einen Erholungsurlaub im beschaulichen Werthersheim verschwendet. Er hätte vielmehr über das Offensichtliche geschimpft. Dass nämlich der Autor ihn mit aller Macht dazu bewegen wollte, sich zur Lösung eines neuen Falles auf den Weg ins tiefste Mittelhessen zu machen.