Der große Trip zu dir selbst - Cheryl Strayed - E-Book
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Der große Trip zu dir selbst E-Book

Cheryl Strayed

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  • Herausgeber: Kailash
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2016
Beschreibung

Das neue Buch von Cheryl Strayed – Autorin des Nr.-1-Bestsellers »Wild – Der große Trip«

Cheryl Strayed begeisterte Millionen Menschen mit ihrem Weltbestseller »Der große Trip«. Doch wir brauchen uns nicht in die Wildnis zu begeben, um uns selbst zu finden, das Leben fordert uns jeden Tag heraus: Wir verlieren einen geliebten Menschen, werden betrogen, können Rechnungen nicht bezahlen. Oder: Wir ergattern den Traumjob, haben den besten Sex unseres Lebens, schreiben die erste Zeile unseres Romans. Cheryl Strayed beantwortete jahrelang Fragen von Online-Lesern zu Liebe, Sex, Freundschaft, Arbeit und Sinn. Dieses Buch versammelt das Herzstück ihrer Ratschläge zum Selbstfindungsabenteuer Leben – unverblümt, offen, mitfühlend und herzzerreißend ehrlich.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 490

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Cheryl Strayed, geboren 1968, veröffentlichte nach ihrem Studium der Literatur zahlreiche Beiträge u.a. in der New York Times, Washington Post und Vogue. Ihr autobiografisches Buch »Wild – Der große Trip« avancierte zu einem beispiellosen Erfolg in den USA, wurde von und mit Reese Witherspoon höchst erfolgreich verfilmt und stand auch in Deutschland auf Platz 1. der deutschen Bestsellerliste. Cheryl Strayed lebt mit ihrem Mann, dem Filmemacher Brian Lindstrom, und ihren beiden Kindern in Portland, Oregon.

Auch für »Der große Trip zu dir selbst« ist eine Verfilmung geplant, als HBO-Serie, produziert von Reese Witherspoon und Laura Dern.

Cheryl Strayed

Der große Trip zu dir selbst

Ungeschminkter Rat für die Liebe, das Leben und andere Katastrophen

Aus dem amerikanischen Englisch von Maria Zettner

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel »Tiny beautiful things« bei Vintage Books, a division of Random House Inc., New York, USA

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

1. Auflage

Deutsche Erstausgabe

© 2016 der deutschsprachigen Ausgabe Kailash Verlag, München

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Neumarkter Str. 28, 81673 München

© 2012 by Cheryl Strayed

Lektorat: Claudia Alt Umschlaggestaltung: ki 36, Sabine Krohberger Editorial Design, München unter Verwendung folgender Motive: Corbis/2/Ryan McVay/Ocean; iStockphoto/Adisa, PeopleImages; Shutterstock/Alexander Mak

Satz: EDV-Fotosatz Huber/Verlagsservice G. Pfeifer, Germering

ISBN 978-3-641-18679-1V001

www.kailash-verlag.de

Für Stephen Elliott und Isaac Fitzgerald

und für all die Menschen, die mir geschrieben haben

Inhalt

Vorwort zur deutschen Ausgabe

Teil eins

Es waren immer nur wir selbst

Wie ein Gongschlag

Wie man sich befreit

Die hemmungslos ausgelassene Parade

Ein Motorrad ohne Fahrer

Bilanz ziehen

Da ist ein Bündel auf deinem Kopf

Schreib wie ein Arschloch

In einem neuen, differenzierteren Licht

Kumpel im Wald

Abstoßende Gedanken machen mich an

Hilfe annehmen

Teil zwei

Der geheimnisvolle Stern, der euch hierhergeführt hat

Der kleine Vogel

Geh! Geh! Geh!

Die schwarze Rundung

Die Hölle, das sind die Freunde der anderen

Klatsch, klatsch, klatsch!

Die Frau in der Sackgasse

Sperma ist kein Hexenwerk

Die irren Sexbeichten

Die Zukunft hat ein altes Herz

Scheinheilige Herumdruckserei

Was den Menschen zum Menschen macht

Teil drei

Das Gießen musst du schon selbst übernehmen

Die Schöne und das Biest

Ich habe mich für van Gogh entschieden

Die andere Seite des Beckens

Die Wahrheit, die dort wohnt

Zu viel Farbe

Kleine Revolutionen

Nicht genug

Nein ist Gold wert

Liebe ist kein Wettkampfsport

Ein großartiges Leben

Die bekannten Unbekannten

Auf deiner Insel

Teil vier

Meinetwegen musst du nicht lädiert sein

Der Zauber des Sein-Wollens

Etwas wunderbar Neues

Ein dunkler Tunnel, der dich aufweckt

Wie die echte Arbeit getan wird

Das Schwesterschiff, das uns nicht an Bord hatte

Dein unsichtbarer innerer Dämon

Neben dem Telefon

In uns allen steckt ein Barbar

Das quirlige Weibsbild

Die schlimmen Dinge

Geschmeidig

Die ausgelöschte Stelle

Teil fünf

Steck es in eine Kiste und warte ab

Ein kleiner Fleck auf deinem Schatz

Wir sind hier, um unser Haus zu bauen

Die leere Schüssel

Wachse über dich hinaus

Ein schillerndes Stück deiner geheimnisvollen Bestimmung

Das Wunderbare im Alltag

Wir nennen es eine Riesenscheiße

Bist du meine Mutter?

Zehn zornige Jungs

Kleine Freuden

Dank

Vorwort zur deutschen Ausgabe

Im Februar 2010 landete in meinem Posteingang eine E-Mail von meinem Bekannten und Schriftstellerkollegen Steve Almond. Steve wollte mir etwas vorschlagen. Das vergangene Jahr über hatte er in unregelmäßigen Abständen einen anonymen Beratungsblog für eine neue Literatur-Website mit Namen The Rumpus geschrieben, und jetzt hatte er keine Lust mehr. Der Blog hatte keine große Fangemeinde, und der Job brachte auch nichts ein, wie er mir erklärte, bevor er mich fragte, ob ich nicht vielleicht seine Nachfolge antreten wolle.

Ich sagte unverzüglich Ja, um dann genauso unverzüglich meine Antwort zu bereuen.

Mir wäre nie eingefallen, eine Ratgeberkolumne zu schreiben. Ich las solche Sachen nicht mal. Und wie konnte ich mir anmaßen, anderen Leuten zu sagen, was sie tun sollten? Ich hatte ja nicht mal am College einen Kurs in Psychologie belegt und mich erst recht noch keiner Therapie unterzogen. Ich war zweiundvierzig, eine einmal geschiedene, wiederverheiratete Mutter von zwei kleinen Kindern, glücklich, aber vollkommen ausgelastet mit all den Mühen, Konflikten und Problemen des Alltagslebens. So etwas wie Weisheit ging mir völlig ab. Für Antworten war ich der falsche Ansprechpartner, die suchte ich ja selbst. Damit nicht genug, ich hatte zwar schon einen Roman auf dem Markt und eine Autobiografie in Arbeit und zur Publikation angesetzt (mein Buch Der große Trip – Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst), aber das Bezahlen der Rechnungen war immer noch ein ständiger Kampf. Mich zu diesem Zeitpunkt in meinem Leben auf eine unbezahlte Tätigkeit einzulassen – dazu würde mir kein Ratgeber in irgendeinem Beratungsblog raten.

Trotz all der stichhaltigen Argumente, die gegen eine Übernahme des Hallo, Cheryl-Blogs sprachen, hat es sich als eine der besten Entscheidungen meines Lebens entpuppt. Die in diesem Buch zusammengetragenen Kolumnen haben mich sowohl als Schriftstellerin als auch als Mensch mehr gefordert als alles andere, was ich jemals geschrieben habe. Nachdem ich einmal mit dem Blog angefangen hatte, wurde mir schnell klar, dass ich mich, entgegen meinen anfänglichen Zweifeln, viele Jahre schon auf diese Aufgabe vorbereitet hatte. Schließlich besteht die Mission eines Schriftstellers doch darin, von Grund auf auszuloten, was es heißt, ein Mensch zu sein. Ein umfassendes Verständnis unserer Geheimnisse, Ängste, Triumphe, Sehnsüchte, Widersprüchlichkeiten und Sorgen ist die notwendige Voraussetzung, um Figuren mit Leben zu erfüllen – ob es sich bei diesen Figuren nun um Erfindungen handelt oder um uns selbst. In die allwöchentlichen Briefwechsel konnte ich alle meine Erfahrungen einbringen, die ich beim Schreiben meines Romans und meiner Autobiografie gewonnen hatte. Bei der Beantwortung der vielen Briefe von Fremden wurde mir zwar allerhand abverlangt – ich sollte Licht in einige der komplexesten Fragen unseres Daseins bringen –, aber so hatte ich es ja auch schon die ganze Zeit über als Schriftstellerin erlebt.

Und die Fragen, mit denen ich mich befasste, betrafen nicht nur die Menschen, die meinen Rat suchten – sie fanden auch einen Widerhall in meinem eigenen Leben. Ich hatte mit vielen der geschilderten Probleme selbst zu kämpfen gehabt. Ich konnte mich gut damit identifizieren. Und das tat ich auch immer wieder. Ich sah meine Aufgabe als Online-Ratgeberin nicht darin, den Leuten aus einer moralischen Überlegenheit heraus ein bestimmtes Verhalten nahezulegen, sondern ihnen aus der Sicht von jemandem beizustehen, der das alles selbst schon mitgemacht hat – beziehungsweise, in manchen Fällen, immer noch mitmacht. In meinen Kolumnen habe ich Rat erteilt, aber ich habe mich auch bemüht, die Anliegen der Absender weiter zu fassen, und häufig tiefer gegraben, hin zu dem, was sich hinter den gestellten Fragen verbarg. Nicht selten habe ich im Zuge meiner Antworten aus meinem eigenen Leben berichtet, von meinen eigenen Fehlern, meinen Zweifeln und meinem Versagen. Ich war freimütig und liebevoll, emotional und aufrichtig, unerschrocken offen und rückhaltlos. Jedem meiner Beiträge lag meine feste Überzeugung zugrunde, dass die Wahrheit zwar manchmal wehtut, uns aber niemals umbringt. Genau genommen kann nur sie allein uns Erlösung bringen.

Es dauerte nicht lange, da hatte der Hallo, Cheryl-Blogeine treue Internet-Fangemeinde. Massenweise kamen die Mails von Ratsuchenden herein – bald gingen sie in die Tausende. Sie stammten von Männern und Frauen jeden Alters. Ich beantwortete Fragen zu Liebe und Sex, zu Geld und Verlust, zu Eltern und Kindererziehung, darüber, wie man schlechte Gewohnheiten ablegt, Traumata und Suchtverhalten überwindet, sich von einem gebrochenen Herzen und einer verkorksten Kindheit erholt. Mal waren die Anliegen amüsant, mal furchtbar traurig. Oft vertrauten mir die Absender Dinge an, die sie noch nie jemandem erzählt hatten. Sie schrieben eindringlich von ihren Ängsten, Geheimnissen, Sorgen. In meinen Antworten ließ ich mich nicht von der Form der Beratungskolumne einschränken. Ich habe den Hallo, Cheryl-Blog mit derselben Hingabe wie meinen Roman und meine Autobiografie geschrieben, und ich habe diese Literaturformen auch in meine Art der Lebenshilfe einfließen lassen. Ich habe in meinen Kolumnen den erzählerischen Ansatz dazu genutzt, die Anliegen der Absender zu erweitern und zu vertiefen, aber auch als Mittel, diese Dinge für mich selbst zu ergründen. Deshalb ist jede einzelne Kolumne für mich zugleich Antwort und Anregung zum Weiterforschen, so wie es bei allem, was ich schreibe, der Fall ist. Ich habe schnell erkannt, dass der Blog für mich nicht einfach nur eine unbezahlte Nebenbeschäftigung war. Er war ein künstlerisches Experiment, das mich eine Menge gelehrt hat über die menschliche Natur, die Macht der Erzählkunst und darüber, wie die Form den Inhalt prägen kann.

Nach zwei Jahren habe ich den Blog bei The Rumpus aufgegeben, die populärsten Beiträge sind nun in diesem Buch versammelt.

In den USA haben Freunde, Lebensgefährten, Expartner, Geschwister, Eltern und ihre erwachsenen Kinder das Buch untereinander weitergereicht. Ich hoffe, dass es auch Ihnen, meine Leserinnen und Leser in Deutschland, Freude bereiten wird.

Cheryl Strayed

Portland, Oregon

November 2015

Teil eins

Es waren immer nur wir selbst

Worum geht es in diesem Buch?

Es handelt sich um eine Auswahl von Hallo, Cheryl-Blogeinträgen. Viele davon erschienen ursprünglich unter Dear Sugar auf TheRumpus.net, andere werden hier zum ersten Mal veröffentlicht. Die Briefe wurden an mich über ein anonymes Formular auf The Rumpus oder direkt an meine E-Mail-Adresse geschickt. Die meisten Menschen, die mir geschrieben haben, wussten nicht, dass ich Cheryl Strayed bin, ebenso wie die meisten Absender auch für mich vollkommen anonym waren. Dieses Buch ist eine Sammlung von vertraulichen Gesprächen zwischen Fremden.

Hast du die Briefe vor der Veröffentlichung überarbeitet?

In einigen Fällen habe ich kleine Eingriffe in Bezug auf Länge und/oder Klarheit vorgenommen, aber die meisten erscheinen hier genau so, wie sie von den Menschen verfasst wurden, die das Bedürfnis hatten, mir zu schreiben.

Welche Art von Briefen beantwortest du?

Jede Art von Brief. In manchen geht es um Liebesdinge, in anderen um Trauer und Verlust und in wieder anderen um Geld oder Ärger in der Familie. Meine Kriterien für die Auswahl von Briefen, die in dem Hallo, Cheryl-Blog erscheinen, sind höchst subjektiv. Ich beantworte alles, sofern es mich interessiert, herausfordert oder bewegt.

Welche Art von Rat erteilst du?

Ich erteile den besten Rat, der mir einfällt.

Wie ein Gongschlag

Hallo, Cheryl!

Nach zwanzig Jahren ist meine Ehe gescheitert. An wem lag’s? An mir? Meiner Frau? An der Gesellschaft? Ich weiß es nicht. Wir waren nicht reif genug für die Ehe, als wir damals in den Achtzigern geheiratet haben. Glücklich waren wir eigentlich nie so richtig, aber das wollten wir beide nicht wahrhaben.

Doch das ist Vergangenheit. In den drei Jahren seit der Trennung bin ich mehrere Beziehungen eingegangen. Eine flüchtige, eine ernste und eine aktuelle. Mit der flüchtigen gab es keine Probleme. Ich habe von Anfang an klargestellt, dass ich mich nicht so schnell wieder ernsthaft binden wollte. Die zweite Beziehung begann ebenfalls zwanglos, ich habe sie aber sofort beendet, als meine Geliebte mehr wollte. Aber ohne sie ging es dann doch nicht, und ich versprach ihr, über eine gemeinsame Zukunft nachzudenken. Ich habe ihr auch gesagt, dass ich sie liebe, nachdem ich dieses Wort ein Jahr lang vermieden hatte, weil ich im Grunde genommen nicht verstehe, was das eigentlich bedeutet. Als es an der Zeit war, Farbe zu bekennen, habe ich Reißaus genommen. Mit dieser Frau habe ich nicht nur eine Geliebte, sondern auch eine Freundin verloren.

Jetzt habe ich wieder eine Frau kennengelernt, bei der es gefunkt hat. Seit ungefähr vier Monaten sehen wir uns regelmäßig und schlafen miteinander. Sie macht gerade eine üble Scheidung durch und wollte sich nicht schon wieder binden. Das hörte sich perfekt an, aber letztlich hatte keiner von uns beiden Lust, sich mit mehr als einem Partner einzulassen, also stecken wir jetzt wieder in einer festen Beziehung.

Es sieht ganz so aus, als würde sie sich allmählich in mich verlieben, auch wenn sie es nicht offen zugibt. Ich vermeide das Wort ebenso, aber wir haben es eindeutig beide im Sinn. Ich habe Angst, es laut auszusprechen. Aus Erfahrung weiß ich nämlich, dass das Wort »Liebe« überfrachtet ist mit Versprechungen und Verbindlichkeiten, die äußerst brüchig und nur schwer einzuhalten sind.

Meine Frage an dich ist, wann es richtig ist, den entscheidenden Schritt zu tun und zu sagen: Ich liebe dich. Und was hat es mit dieser ganzen Sache, die wir »Liebe« nennen, überhaupt auf sich?

Gruß, Johnny

Hallo, Johnny!

Das letzte Wort, das meine Mutter zu mir sagte, war »liebe«. Sie war so krank und schwach, dass sie das »ich« und das »du« nicht mehr zustande brachte, aber das spielte keine Rolle. Das kleine Wörtchen kann durchaus für sich bestehen.

Ich war nicht bei meiner Mutter, als sie starb. Niemand war da. Sie starb allein in einem Krankenhauszimmer, und viele Jahre lang fühlte ich mich deswegen innerlich wie gelähmt. Im Geiste bin ich die Abfolge von Ereignissen und Entscheidungen immer wieder durchgegangen, die mich davon abgehalten haben, in ihren letzten Stunden bei meiner Mutter zu sein, aber das Grübeln darüber hat auch nichts genutzt. Darüber nachzugrübeln war wie ein Eintauchen in einen abgrundtiefen Eimer voller Dreck.

Ich werde niemals in ihrer Todesstunde bei meiner Mutter sein. Sie wird nie wieder lebendig sein. Das Letzte, was sich zwischen uns abgespielt hat, wird immer das Letzte bleiben. Dass ich mich über sie beugte, um ihr einen Kuss zu geben, und dass sie sagte: »Bitte nicht«, weil sie keine Berührungen mehr ertrug. Dass ich ihr versprach, am nächsten Morgen wiederzukommen, und dass sie kaum merklich nickte. Dass ich mir den Mantel anzog und sagte: »Ich liebe dich«, und dass sie stumm blieb, bis ich schon fast aus der Tür war, und sie rief: »liebe.« Und schließlich, dass sie immer noch in diesem Bett lag, als ich am anderen Morgen zurückkam, nur diesmal war sie tot.

Das letzte Wort meiner Mutter an mich hallt in mir wie ein Gong, den jemand zur Essenszeit schlägt: Liebe, Liebe, Liebe, Liebe, Liebe.

Vermutlich denkst du dir, das hätte keinen Bezug zu deiner Frage, Johnny, aber es hat einen starken Bezug zu meiner Antwort. Es hat einen starken Bezug zu jeder Antwort, die ich jemals gegeben habe. Es hat damit zu tun, wer ich heute bin. Und es ist das, worum meine Gedanken in den fünf Wochen gekreist sind, seit du mir geschrieben und erklärt hast, du würdest die Definition von »Liebe« nicht kennen.

Es ist nicht so unbegreiflich, wie du vorgibst, Johnny. Liebe ist das, was wir für die Menschen empfinden, die uns sehr viel bedeuten und die wir wertschätzen. Sie kann leichthin sein wie die Umarmung eines Freundes oder schwerwiegend wie die Opfer, die wir für unsere Kinder bringen. Sie kann romantisch, platonisch, familiär, flüchtig, unvergänglich sein; sie kann an Bedingungen geknüpft, bedingungslos, erfüllt von Kummer, entfacht von Sex, befleckt von Missbrauch, verstärkt durch Freundlichkeit, verzerrt durch Verrat sein; sie kann vertieft durch die Zeit, verdüstert durch Probleme, aufgelockert durch Toleranz, bereichert durch Humor und »überfrachtet mit Versprechungen und Verbindlichkeiten« sein, die wir einhalten möchten oder auch nicht. Das Gescheiteste, was du mit deinem Leben anfangen kannst, ist, aus der Liebe das verdammt noch mal Beste rauszuholen. Und in dieser Hinsicht, Johnny, hast du noch einiges vor dir.

Aber bevor wir uns damit befassen, möchte ich Folgendes sagen, mein Lieber: Irgendwie gefällst du mir.

Mir gefällt die Art, wie du mir geschrieben hast und dabei aus deinem suchenden, verängstigten, dämlichen, lässigen, reservierten, kumpeligen Herzen keine Mördergrube machst. Mir gefällt, dass du mich dazu gebracht hast, »kumpelig« zu schreiben, obwohl ich – abgesehen davon, dass es das Wort »kumpelig« eigentlich nicht gibt – dieses ganze Kumpelgerede ablehne. Mir gefällt, dass in fünf langen Wochen kaum ein Tag vergangen ist, an dem ich nicht gedacht habe: Und was ist mit Johnny? Was werde ich Johnny sagen? Mir gefällt, dass ich neulich Abend, als ich neben meinem Liebsten im Bett lag und er den New Yorker las und ich das Brain, Child-Magazin, aufhören und mir die Zeitschrift auf die Brust legen musste, weil ich über dich und deine Frage nachdachte. Und da ließ mein Liebster auch seine Zeitschrift auf die Brust sinken und fragte, was mir durch den Kopf gehe, und ich sagte es ihm, und wir unterhielten uns über deine Probleme, und dann machten wir das Licht aus, und er schlief ein, und ich lag hellwach mit geschlossenen Augen da und feilte so lange in meinem Kopf an meiner Antwort an dich herum, bis ich irgendwann einsah, dass ich sowieso nicht einschlafen würde. Deshalb stand ich auf, ging durchs Haus, nahm mir ein Glas Wasser und setzte mich im Dunkeln an den Küchentisch und schaute aus dem Fenster auf die nasse Straße. Und meine Katze kam und setzte sich neben mich auf den Tisch, und nach einer Weile sagte ich: »Was soll ich Johnny schreiben?«, und sie schnurrte.

Eigentlich wusste ich die ganze Zeit, was ich dir schreiben würde. Das war nicht das Problem. Vielmehr grübelte ich darüber nach, wie ich an die unterschwelligen Nuancen gelangen konnte, die in deinem Brief mitschwingen – die Fragen, die du nicht gestellt hast und die so deutlich hinter den gestellten hervorlugen.

Du hast keine Angst vor der Liebe. Du hast Angst vor all dem Gerümpel, mit dem du die Liebe befrachtet hast. Und du hast dir eingeredet, ein kleines Wörtchen der Frau, die du zu lieben glaubst, vorzuenthalten würde dich vor dem Gerümpel schützen. Aber das wird es nicht. Wir sind den Menschen gegenüber verpflichtet, die wir gernhaben und denen wir erlauben, uns gernzuhaben, ob wir ihnen nun sagen, dass wir sie lieben, oder nicht. Unsere wichtigste Verpflichtung ist es, offen zu sein: das Wesen unserer Zuneigung deutlich zu machen, sofern eine solche Verdeutlichung für Klarheit sorgen kann.

Und in deinem Fall wird es das. Du hast mich gefragt, wann die rechte Zeit sei, deiner Geliebten zu sagen, dass du sie liebst, und die Antwort lautet: Wenn du glaubst, dass du sie liebst. Das ist auch der Zeitpunkt, ihr zu sagen, was deine Liebe zu ihr dir bedeutet. Wenn du weiterhin in Liebesbeziehungen an deiner Vermeidungsstrategie festhältst, wirst du nicht nur deinem Glück im Weg stehen, sondern auch deinem Leben.

Ich rate dir, mehr zu tun, als bei deiner Suche nach dem »Schuldigen« am Scheitern deiner Ehe die Achseln zu zucken. Niemand hatte Schuld, Johnny, aber es lässt dich immer noch nicht los. Es würde dir sicher helfen, mal darüber nachzudenken, was in dieser Beziehung gut gelaufen ist und was falsch, zu überlegen, wie du Ersteres in deine gegenwärtigen und/oder späteren Beziehungen übernehmen und Letzteres unterdrücken kannst.

Über Drogenabhängige heißt es, sie würden in dem Alter aufhören, emotional zu reifen, in dem sie mit den Drogen anfangen, und ich kenne genug Süchtige, um zu wissen, dass das stimmt. Ich glaube, das Gleiche kann in einer monogamen Langzeitbeziehung passieren. Vielleicht geht ja einiges von deinem beschränkten Gefühl dafür, was es bedeutet, das Wort »Liebe« auszusprechen, darauf zurück, was es für dich vor all den Jahren bedeutet hat, als du dich auf die Beziehung mit deiner Exfrau eingelassen hast. Das ist, wie du sagst, Vergangenheit, aber ich habe den Verdacht, dass ein Teil von dir dort immer noch feststeckt.

Eine Liebeserklärung ist nicht schon per se »überfrachtet mit Versprechungen und Verbindlichkeiten, die äußerst brüchig und nur schwer einzuhalten sind«. Die Bedingungen, mit denen man sich in jeder beliebigen Beziehung einverstanden erklärt, stehen zwar in Zusammenhang damit, ob man »Ich liebe dich« gesagt hat oder nicht, aber in keinem zwingenden. »Ich liebe dich« kann bedeuten: Ich finde dich toll und schön, und ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um für den Rest meines Lebens mit dir zusammenzubleiben. Es kann bedeuten: Ich finde dich toll und schön, aber im Augenblick bin ich in einer Übergangsphase, also lass uns das mit den Versprechungen sachte angehen und es nehmen, wie es kommt. Es kann aber auch bedeuten: Ich finde dich toll und schön, aber ich bin an einer festen Beziehung mit dir nicht interessiert, jetzt nicht und wahrscheinlich niemals, egal, wie toll und schön du bist oder bleiben wirst.

Der Punkt ist der, Johnny: Du musst es aussprechen. Du musst die Bedingungen für dein Leben festlegen. Du musst die Vielschichtigkeit und die Widersprüche in deinen Gefühlen für diese Frau ergründen und in Worte fassen. Du musst dir diese besondere Art von Liebe nach dem Motto »O Scheiße, ich wollte mich gar nicht verlieben, aber jetzt ist es doch passiert«, die du anscheinend für sie empfindest, bewusst machen. Gemeinsam müsst ihr beiden damit zurande kommen, was es bedeutet, im Schatten ihrer bitteren Scheidung und im noch nicht allzu fernen Fahrwasser deiner langjährigen Ehe eine harmonische, unverbindliche Verbindlichkeit einzugehen.

Trau dich einfach. Das wird deine Beziehung von dem ganzen heillosen Gewirr befreien, das du mit deiner Reserviertheit gesponnen hast. Ist dir klar, dass deine Weigerung, das Wort »Liebe« deiner Geliebten gegenüber auszusprechen, ein eigenes Kraftfeld geschaffen hat? Reserviertheit verzerrt die Realität. Sie macht die Menschen, die sich reserviert geben, abstoßend und kleinherzig. Sie macht die Menschen, denen etwas vorenthalten wird, verrückt und verzweifelt, bis sie sich ihrer Gefühle nicht mehr sicher sind.

Befreie dich davon. Hör auf, zu taktieren oder dich bedeckt zu halten. Das ist etwas für Idioten. Sei mutig. Sei authentisch. Probier das Wort »Liebe« bei den Menschen aus, die du gernhast, damit du es, wenn es am meisten darauf ankommt, klar aussprechen kannst.

Wir müssen alle einmal sterben, Johnny. Schlag den Gong, als wäre Essenszeit.

Deine Cheryl

Wie man sich befreit

Hallo, Cheryl!

Vor ungefähr eineinhalb Jahren wurde ich schwanger. Obwohl uns diese Entscheidung selbst überraschte, entschlossen sich mein Freund und ich, das Baby zu behalten. Die Schwangerschaft war zwar nicht geplant, aber wir freuten uns trotzdem darauf, Eltern zu werden. Das Baby war ein echtes Wunschkind. Im sechsten Monat hatte ich eine Fehlgeburt. Seitdem komme ich morgens nur mit Mühe aus dem Bett.

Kein Tag vergeht, an dem ich nicht darüber nachdenke, was aus dem Kind hätte werden können. Es war ein Mädchen. Sie hatte einen Namen. Jeden Morgen wache ich auf und denke: »Meine Tochter wäre jetzt sechs Monate alt«, oder: »Meine Tochter wäre womöglich heute zum ersten Mal gekrabbelt.« Manchmal kreist immer nur das Wort »Tochter« durch meinen Kopf, wieder und wieder.

Es kommt mir vor, als wären um mich herum alle schwanger, und überall, wohin ich gehe, sehe ich nur noch Babys. Ich muss mich dazu zwingen, mich für die anderen zu freuen, und meine wahren Gefühle verdrängen. Ehrlich gesagt fühle ich überhaupt nicht mehr viel, und doch tut mir alles weh. Die meisten Menschen in meinem Umfeld erwarten, dass ich inzwischen über meine Trauer hinweg bin. Wie einer von ihnen es ausdrückte: »Es war ja schließlich nur eine Fehlgeburt.« Jetzt habe ich also auch noch ein schlechtes Gewissen, weil ich mich so festgefahren habe und viel zu lange um ein Kind trauere, das nie gelebt hat.

Ich spreche nicht viel darüber. Ich tue so, als wäre es nie passiert. Ich gehe zur Arbeit, vertreibe mir irgendwie die Zeit und lächle und benehme mich, als wäre alles in Ordnung. Mein Freund ist mir eine große Stütze, auch wenn ich nicht glaube, dass er begreift, wie schlecht es mir geht. Er möchte, dass wir heiraten und es noch mal mit einem Kind versuchen. Er denkt, das würde mich aufmuntern. Aber das tut es nicht. Vielmehr ist mir danach, auf ihn einzuschlagen, weil er nicht so fühlt wie ich.

Dann geht es auch noch darum, aus welchem Grund ich das Baby verloren habe. Der Arzt im Krankenhaus sagte, das sei kein Wunder, schließlich hätte ich wegen meines Übergewichts eine Risikoschwangerschaft gehabt. Es war ein ziemlicher Hammer, sich anhören zu müssen, dass die Fehlgeburt meine Schuld war. Eigentlich finde ich, dass der Arzt sich wie ein echtes Arschloch benommen hat, und dann wieder denke ich: »Vielleicht hatte er ja recht.« Der Gedanke, dass es meine Schuld gewesen ist, dass ich mir die Fehlgeburt selbst zuzuschreiben habe, macht mich wahnsinnig. Manchmal kriege ich keine Luft, so schuldig fühle ich mich. Als ich aus dem Krankenhaus kam, habe ich mir einen Personal Trainer genommen, eine Diät angefangen und auch abgenommen, aber inzwischen habe ich mich überhaupt nicht mehr im Griff. Manchmal esse ich tagelang gar nichts, und dann wieder stopfe ich alles in mich hinein, was mir in die Finger kommt, und erbreche es gleich wieder. Ich verbringe Stunden auf dem Laufband im Fitnessstudio, bis meine Beine schlappmachen.

Meine Familie und Freunde denken, mit mir wäre alles im Lot, Cheryl, aber das genaue Gegenteil ist der Fall. Mein einziger Gedanke ist, dass ich alles vermasselt habe. Ich fühle mich von allem und jedem überfordert. Mein Verstand sagt mir, dass ich mir ernsthaft schaden werde, wenn ich mich nicht zusammenreiße. Ich weiß das, und trotzdem ist es mir völlig egal.

Ich möchte nicht, dass mir alles egal ist. Ich möchte mich nicht mehr so schuldig fühlen; mich nicht mehr fühlen, als hätte ich mein Baby getötet.

Meine Tochter, sie hatte einen Namen. Sie wurde geliebt. Ich komme mir vor, als wäre ich die Einzige, die das kümmert. Dann wieder fühle ich mich beschissen, weil ich nach fast einem Jahr immer noch solche Trauer empfinde für »nur eine Fehlgeburt«. Ich komme keinen Schritt voran.

Gruß von einer, die sich festgefahren hat

Hallo, Festgefahrene!

Es tut mir so leid, dass deine kleine Tochter gestorben ist. So unendlich leid. Ich kann deinen Schmerz so deutlich nachempfinden, wenn ich deine Zeilen lese.

Dein Schmerz war zu erwarten. Es muss so sein. Auch wenn wir in einer Zeit und einer Gesellschaft leben, die uns etwas anderes weismachen will, müssen wir leiden, wenn uns etwas wirklich Furchtbares zustößt.

Hör nicht auf die, die dir einreden wollen, du müsstest inzwischen über den Tod deiner Tochter »hinweg« sein. Die Menschen, die den Mund am weitesten aufreißen, mussten in der Regel nie selbst über irgendetwas hinwegkommen. Zumindest über nichts, das mit wirklich rasender, alles zermalmender Wucht das Leben aus den Angeln hebt. Manche von diesen Leuten glauben, sie würden dir helfen, indem sie deinen Schmerz kleinreden. Andere sind erschrocken über das Ausmaß deiner Trauer und wollen sie deshalb mit ihren Worten aus der Welt schaffen. Viele von diesen Menschen lieben dich und haben auch deine Liebe verdient, aber sie können dir nicht helfen, den Schmerz über den Tod deiner Tochter zu heilen.

Sie leben auf dem Planeten Erde. Du lebst auf dem Planeten Mein-Baby-ist-tot.

Du scheinst dich mutterseelenallein zu fühlen. Das bist du nicht. Es lesen gerade Frauen diese Zeilen mit Tränen in den Augen. Es gibt Frauen, die ihre Tage damit verbracht haben, lautlos Tochter, Tochter oder Sohn, Sohn vor sich hinzusummen. Frauen, die insgeheim entsetzliche Qualen ausstehen, weil sie etwas getan oder nicht getan haben, das sie für den Tod ihrer Babys verantwortlich machen. Du musst diese Frauen ausfindig machen. Sie sind deine Familie.

Ich weiß das, denn ich habe selbst schon auf einigen Planeten gelebt, die nicht Erde hießen.

Die heilende Kraft schon des allerkleinsten Austauschs mit einer Frau, die auf Anhieb versteht, wovon du redest, weil sie das Gleiche durchgemacht hat, kann man nicht hoch genug einschätzen. Erkundige dich bei den Krankenhäusern und Geburtshäusern in deiner Nähe nach Selbsthilfegruppen für Menschen, die bei, vor oder kurz nach der Geburt ein Baby verloren haben. Such dir eine Online-Community, wo du dich mit Leuten austauschen kannst, ohne dich irgendwie verstellen zu müssen.

Und hör auch auf, deinem netten Freund etwas vorzumachen. Sag ihm ruhig, dass du am liebsten auf ihn einschlagen möchtest, und erkläre ihm ganz genau, wieso. Frag ihn, was er zum Tod eurer Tochter zu sagen hat, und lass dir so verständnisvoll wie möglich von seinen Gefühlen und Erfahrungen erzählen, ohne sie an deinen eigenen zu messen. Ich glaube, du solltest auch einen Therapeuten aufsuchen – sowohl allein als auch zusammen mit deinem Partner. Ich rate dir dringend, heute noch einen Termin zu vereinbaren. Ein Therapeut wird dir helfen, die vielschichtige Trauer, die du so fest in dir verschlossen hältst, auszusprechen und von allen Seiten zu beleuchten. Er (oder sie) wird dir außerdem helfen, mit deiner (vermutlich situationsbedingten) Depression umzugehen.

Auf diese Weise kannst du dich befreien. Du streckst die Hand aus und blickst nach vorn. Nicht, um dich von der Tochter zu entfernen, die du geliebt hast, sondern damit du dein Leben leben kannst – das den traurigen Verlust deiner Tochter mit einschließt, aber nicht davon ausgebremst wird. Ein Leben, das dich am Ende an einen Ort führt, an dem du nicht nur um sie trauerst, sondern dich auch freust, dass du sie lieben durftest. Dieser Ort echter Heilung ist ein stürmischer Ort. Es ist ein gigantischer Ort. Ein Ort ungeheuerlicher Schönheit und endloser Düsternis und schimmernden Lichts. Und du musst sehr, sehr, sehr hart daran arbeiten, dorthin zu gelangen, aber du kannst es schaffen. Du bist eine Frau, die so weit kommen kann. Das weiß ich. Deine Befähigung dafür spricht zu mir aus jedem Wort deines hell leuchtenden Sterns, als den ich deinen Brief betrachte.

Der Hallo, Cheryl-Blog ist manchmal ganz schön belastend. Er macht mir Spaß, er fasziniert und interessiert mich, aber von Zeit zu Zeit nistet sich eine der an mich gerichteten Fragen in meinem Kopf ein, so, wie es mir mit Figuren oder Szenen aus meinen anderen Texten geht, und ich werde sie nicht mehr los. Ich beantworte die Frage, aber da ist noch etwas, ich weiß es, und ich kann meine Antwort erst abschließen, wenn ich herausgefunden habe, was es ist. Ich spüre es, so, wie die Prinzessin unter zwanzig Matratzen und zwanzig Federbetten die Erbse spürt. Solange sie nicht weg ist, finde ich keine Ruhe. So ist es auch mit deiner Frage, meine Liebe. Und obwohl es sehr wichtig ist, dass du dir Gleichgesinnte suchst, mit deinem Freund redest und einen Therapeuten aufsuchst, gibt es da etwas noch Wichtigeres, was ich dir mit auf den Weg geben muss, und das ist Folgendes.

Vor einigen Jahren arbeitete ich in einer Mittelschule mit Mädchen, die so gerade eben im Teenageralter waren. Die meisten waren weiße Jugendliche aus ärmlichen Verhältnissen in der siebten oder achten Klasse. Keine einzige hatte einen Vater im herkömmlichen Sinn. Die waren entweder unbekannt, im Gefängnis, drogenabhängig oder vergriffen sich an ihren Töchtern. Ihre Mütter waren junge, misshandelte oder missbrauchte, von Drogen und Alkohol gezeichnete Frauen, die häufig ihrerseits misshandelten. Die etwa zwanzig Mädchen, die mir als Gruppe und auch einzeln zugeteilt waren, wurden vom Lehrerkollegium der Schule als »hochgradig gefährdet« eingestuft.

Meine Berufsbezeichnung lautete Jugendarbeiterin. Meine Herangehensweise war vorbehaltloses Verständnis. Mein Auftrag war, den jungen Mädchen zu helfen, ihr Leben in den Griff zu kriegen, trotz des unsagbar grauenvollen Albtraums, in dem sie ihr Leben lang feststeckten. In diesem Kontext hieß das, vor dem Highschool-Abschluss weder schwanger zu werden noch in den Knast zu wandern. Es hieß, am Ende längerfristig einen Job als Kellnerin oder an der Supermarktkasse zu behalten. Nur das! Es war so wenig und doch so ungeheuerlich. Es war wie der Versuch, mit dem kleinen Finger einen Sattelschlepper anzuschieben.

Eigentlich wäre ich gar nicht als Jugendarbeiterin infrage gekommen. Ich hatte noch nie mit Jugendlichen gearbeitet oder irgendeine Beratungstätigkeit ausgeübt. Ich hatte weder Pädagogik noch Psychologie studiert. In den Jahren davor hatte ich die meiste Zeit als Kellnerin gejobbt und bei jeder sich bietenden Gelegenheit Geschichten geschrieben. Doch aus irgendeinem Grund wollte ich diese Stelle und habe mir so lange den Mund fusselig geredet, bis ich sie hatte.

Die Mädchen durften nicht wissen, dass ich ihnen helfen sollte, ihr Leben in den Griff zu kriegen. Ich sollte sie heimlich, still und leise stärken, indem ich sie Dinge machen ließ, die sie noch nie gemacht hatten, an Orten, an denen sie noch nie gewesen waren. Ich nahm sie mit in eine Kletterhalle, ins Ballett und zu einer Dichterlesung in einem alternativen Buchladen. Der Hintergedanke war, dass sie, wenn sie Spaß daran fanden, dass ihre aufblühenden Mädchenkörper ein Felsimitat mit Hand- und Fußstützen aus Plastik hochhievten, sich womöglich nicht schwängern ließen. Wenn sie sich für live erlebte Kunst begeistern konnten, würden sie nicht mit fünfzehn Jahren schon Crystal-Meth-süchtig werden, Brieftaschen klauen und im Jugendknast landen.

Stattdessen würden sie erwachsen werden und einen Job im Supermarkt bekommen. Das war die Hoffnung, das Ziel, der Grund, warum ich mein Gehalt bekam. Und während wir all diese aufbauenden Dinge unternahmen, sollte ich mit ihnen über Sex und Drogen, Jungen, Mütter und Beziehungen, über ordentlich gemachte Hausaufgaben und ein gesundes Selbstwertgefühl sprechen, alle ihre Fragen ehrlich beantworten und jeder Geschichte, die sie mir erzählten, mit vorbehaltlosem Verständnis begegnen.

Anfangs haben sie mir Angst gemacht. Mich eingeschüchtert. Sie waren dreizehn, und ich war achtundzwanzig. Fast ausnahmslos hatten sie einen von drei Namen: Crystal, Brittany oder Desiré. Sie waren abweisend und spöttisch, unsicher und missmutig. Sie kleisterten sich über und über mit Lotionen und anderen Schönheitsmittelchen zu, die allesamt rochen wie Erdbeerkaugummi. Sie hassten alles, und alles war öde und ätzend und entweder total cool oder total schwul, und ich musste ihnen erklären, warum sie das Wort »schwul« in der Bedeutung von »übel« nicht verwenden sollten. Sie fanden, ich sei ja voll die Tunte, weil ich glaubte, dass sie mit »schwul« tatsächlich schwul meinten. Und dann musste ich ihnen sagen, dass sie nicht »Tunte« zu mir sagen sollten, und wir mussten alle lachen, und nach einer Weile teilte ich Zeitschriften aus, die ich für sie gekauft hatte.

»Dürfen wir die echt behalten?«, kreischten sie laut und freudig im Chor.

»Ja«, antwortete ich. »Schlagt sie mal auf.«

Ich bat sie, drei wahre Dinge über sich aufzuschreiben und eine Lüge. Dann lasen wir sie reihum laut vor und mussten raten, was die Lüge war, und schon als wir ungefähr bis zur Hälfte gekommen waren, liebten sie mich alle heiß und innig.

Nicht mich persönlich. Sondern viel mehr die, die ich für sie verkörperte. Oder nein, nicht die, die ich verkörperte, sondern die Art und Weise, wie ich sie behandelte – ernsthaft und mit vorbehaltlosem Verständnis.

Noch nie war ich das Objekt von so viel Begierde gewesen. Wenn ich eine Schmuckspange im Haar trug, wollten sie sich die in ihr eigenes Haar stecken. Wenn ich einen Stift in der Hand hielt, fragten sie, ob ich ihnen den schenken würde. Wenn ich ein Sandwich aß, wollten sie mal abbeißen. Wenn ich eine Handtasche dabeihatte, wollten sie sehen, was drin war. Aber vor allem wollten sie mir etwas erzählen. Alles. Jedes kleinste Detail aus ihrem Leben. Und das taten sie auch.

Schreckliche, schauderhafte, schockierende, traurige, grausame Dinge. Dinge, bei denen ich unwillkürlich die Augen zukniff, als würde ich sie dadurch nicht mehr so deutlich hören müssen. Dinge, derentwegen ich, sobald sie gegangen waren, hinter verschlossener Bürotür Rotz und Wasser heulte. Endlose Geschichten über Missbrauch und Enttäuschung, Verlassenheit und Hoffnungslosigkeit und einen Kummer, der sich so fest zu einem Klumpen totaler Verzweiflung verknäult hatte, dass kein Ausweg mehr erkennbar war.

Eins der Mädchen war eine echte Schönheit. Sie sah ein bisschen aus wie die junge Elizabeth Taylor, nur ohne die kurvigen Hüften. Makellose strahlende Haut, meerblaue Augen, langes, glänzendes schwarzes Haar. Körbchengröße D und ansonsten schlank wie ein Model. Als ich sie kennenlernte, war sie gerade dreizehn geworden. Sie hatte es bereits mit fünf Kerlen getrieben und zehn einen geblasen. Mit elf war sie vom Exfreund ihrer Mutter entjungfert worden, der inzwischen im Gefängnis saß, weil er einen Fernseher geklaut hatte. Ihr derzeitiger Liebhaber war zweiunddreißig. An den meisten Tagen holte er sie vor dem Parkplatz der Schule ab. Ich überredete sie, mit mir zu Planned Parenthood zu gehen, damit sie eine Dreimonatsspritze bekam, doch als wir dort waren, kriegte sie keine Spritze. Sie verweigerte der zuständigen Ärztin die gynäkologische Untersuchung, und ohne diese Untersuchung wollte die Ärztin ihr die Spritze nicht geben. Sie weinte und weinte. Ich sagte tausend tröstende, ermutigende Dinge. Die Ärztin sprach mit beruhigender und doch autoritärer Stimme. Aber dieses Mädchen, das mit dreizehn schon fünf Kerle gevögelt und zehn einen geblasen hatte, wollte sich partout nicht drei Minuten lang in einem hell erleuchteten Raum und in Gesellschaft von zwei Frauen mit den besten Absichten auf den Untersuchungsstuhl setzen.

Ein anderes Mädchen trug einen riesigen Kapuzenpulli, der ihm bis zu den Knien ging, und zog die Kapuze niemals vom Kopf, egal wie warm es war. Vor ihrem Gesicht hing ein dichter Vorhang aus punkig gefärbten Haaren. Es sah aus, als hätte sie zwei Hinterköpfe und kein Gesicht. Um sich zu orientieren, neigte sie unauffällig den Kopf in verschiedene Richtungen und spähte unter ihrem Haarvorhang hervor. Wochenlang sagte sie kein Wort. Sie war die Letzte, die meinen Stift haben wollte. Sie näher kennenzulernen war, als wolle man sich bei einer verwilderten Katze einschmeicheln. So gut wie unmöglich. Ein Schritt vor und tausend zurück. Aber als ich es geschafft hatte – als ich sie gezähmt hatte, als sie ihr Haar auseinanderzog und ich ihr blasses, verletzliches pickelübersätes Gesicht sah –, erzählte sie mir, dass sie nachts meistens in einem baufälligen Schuppen in der Nähe des Wohnblocks schlief, in dem sie mit ihrer Mutter lebte. Das machte sie, weil sie es drinnen nicht aushielt, wo ihre Mutter herumtobte, eine psychisch kranke, regelmäßig zu Gewaltausbrüchen neigende Alkoholikerin. Sie zog die Ärmel ihres Pullis hoch und zeigte mir die Schnittwunden an ihren Armen, wo sie sich immer wieder mit einer Rasierklinge geritzt hatte, weil es sich so gut anfühlte.

Eins der Mädchen erzählte mir von dem Tag, als der Freund seiner Mutter ausrastete, es in den Hof zerrte, den Schlauch aufdrehte und sein Gesicht in den eiskalten Wasserstrahl hielt, bis es beinahe erstickt wäre, und es dann zwei Stunden lang aussperrte. Es war November. Nur ein paar Grad über dem Gefrierpunkt. Es war nicht das erste Mal, dass er das getan hatte. Und auch nicht das letzte Mal.

Ich sagte den Mädchen, dass diese Dinge nicht in Ordnung seien. Dass sie vollkommen inakzeptabel seien. Ungesetzlich. Dass ich jemanden anrufen würde und dass derjenige eingreifen und der Sache ein Ende machen würde. Ich rief bei der Polizei an. Ich rief beim Jugendamt an. Ich rief jeden Tag an, und niemand rührte auch nur einen Finger. Kein einziger. Egal, wie oft dieser Kerl das Mädchen im Hinterhof beinahe mit dem Gartenschlauch ertränkte, wie oft der Zweiunddreißigjährige die Dreizehnjährige mit dem großen BH auf dem Schulparkplatz abholte oder wie oft das Kapuzenmädchen ohne Gesicht in dem baufälligen Schuppen schlief, weil seine Mutter ausrastete.

Ich hatte auch kein behütetes Leben geführt. Ich hatte mein Päckchen zu tragen gehabt. Ich dachte, ich wüsste, wie die Dinge liefen. Aber das machte mich fassungslos. Ich dachte, wenn bekannt würde, dass Kindern Schlimmes angetan wurde, würde etwas dagegen unternommen werden. Doch wie ich feststellen musste, leben wir nicht in einer solchen Gesellschaft. So eine Gesellschaft gibt es gar nicht.

Als ich einmal beim Jugendamt anrief, bat ich die Frau am anderen Ende, mir doch bitte mal genau zu erklären, warum niemand die Kinder beschützte. Sie antwortete mir, dass für Teenager, die sich nicht in unmittelbarer Gefahr befänden, keine Mittel zur Verfügung stünden, weil der Staat pleite sei, weshalb das Jugendamt Prioritäten setzen müsse. Bei Kindern unter zwölf Jahren griffen sie zügig ein, aber bei allen über zwölf schrieben sie Berichte, wenn jemand anrief, und legten diese in einen Aktenordner. Der Name des Kindes würde dann einer langen Liste mit Namen von anderen Kindern hinzugefügt, die irgendjemand vielleicht irgendwann einmal überprüfte, wenn Zeit und Geld zur Verfügung stünden. Falls das je der Fall sein würde. Das Gute bei Teenagern, so sagte sie mir im Vertrauen, sei, dass die für gewöhnlich wegliefen, wenn es zu Hause allzu schlimm wurde, und für Ausreißer gab es mehr Gelder.

Als ich auflegte, hatte ich ein Gefühl, als würde jeden Moment mein Brustbein auseinanderbrechen. Noch bevor ich tief Luft holen konnte, kam das Mädchen herein, das wiederholt beinahe vom Freund seiner Mutter im Hinterhof ertränkt worden wäre. Sie setzte sich auf den Stuhl vor meinem Schreibtisch, auf dem alle Mädchen saßen, wenn sie mir von ihren schockierenden Erlebnissen berichteten, und erzählte mir eine weitere schockierende Geschichte. Dieses Mal gab ich ihr eine andere Antwort.

Ich sagte ihr, dass es nicht in Ordnung sei, dass es vollkommen inakzeptabel und ungesetzlich sei und dass ich diese neuerliche furchtbare Sache anzeigen würde. Aber ich sagte ihr nicht, dass es aufhören werde. Ich versprach nicht, dass jemand etwas unternehmen werde. Ich sagte, dass es vermutlich so weitergehen werde und dass sie da durchmüsse. Dass sie für sich einen Weg finden müsse, aus dieser ganzen Scheiße nicht nur herauszukommen, sondern sie zu überwinden. Und wenn sie das nicht fertigbringe, werde sie ihr ganzes Leben lang in dieser Scheiße stecken bleiben. Ich sagte ihr, dass es hart werden würde, da herauszukommen, dass sie selbst die Sache in die Hand nehmen müsse, wenn sie nicht das gleiche Schicksal erleiden wolle wie ihre Mutter. Sie musste mehr tun, als nur durchzuhalten, sie musste über sich hinauswachsen. Sie musste es mehr wollen als jemals etwas zuvor. Wie eine Ertrinkende musste sie sich an alles Gute klammern, das sich ihr bot, und wie verrückt von allem Schlimmen wegschwimmen. Sie musste die Jahre verstreichen lassen, erwachsen werden und dann so weit wie möglich über die Brücke, die ihre Sehnsucht nach Heilung geschaffen hatte, in die Richtung ihrer schönsten Träume laufen.

Sie schien mir zuzuhören, wenn auch auf diese halbherzige, desinteressierte Art von Teenagern. Ich sagte jedem Mädchen, das zu mir ins Büro kam und sich auf diesen Stuhl der schlimmen Geschichten setzte, annähernd das Gleiche. Es wurde zu meiner Heilsbotschaft. Es war das, was ich am häufigsten sagte, weil es am häufigsten zutraf.

Es trifft auch auf dich zu, meine Festgefahrene, und auf jeden, dem jemals etwas wirklich Furchtbares zugestoßen ist.

Du wirst niemals aufhören, deine Tochter zu lieben. Du wirst sie niemals vergessen. Du wirst dich immer an ihren Namen erinnern. Aber sie wird für immer tot bleiben. Niemand kann eingreifen und das ändern, und niemand wird es tun. Niemand kann es durch Schweigen rückgängig machen oder mit Worten aus der Welt schaffen. Niemand wird dich vor deinem Kummer bewahren. Du kannst es nicht wegweinen, wegessen, weghungern, wegwandern, wegboxen, ja nicht einmal wegtherapieren. Es ist einfach da, und du musst es überleben. Du musst es aushalten. Du musst es durchstehen und dich damit anfreunden und dann weitergehen und daran gewachsen sein. Und dann musst du so weit wie möglich über die Brücke, die deine Sehnsucht nach Heilung geschaffen hat, in die Richtung deiner schönsten Träume laufen. Therapeuten, Freunde und andere Menschen, die auf dem Planeten Mein-Baby-ist-tot leben, können dir auf diesem Weg zur Seite stehen, aber die Heilung – diese echte, unter Blut, Schweiß und Tränen geschaffene Wandlung – kannst nur du ganz allein vollziehen.

Dieser Job in der Mittelschule war der beste, den ich je hatte, aber ich blieb nur ein Jahr. Es war ein harter Broterwerb, und ich war Schriftstellerin, und so tauschte ich ihn gegen seelisch weniger belastende Tätigkeiten ein, um mehr Zeit zum Schreiben zu haben. Sechs Jahre, nachdem ich gekündigt hatte, aß ich eines Tages nicht weit entfernt von der Schule, in der ich mit den Mädchen gearbeitet hatte, in einem Taco Bell zu Mittag. Ich wollte gerade gehen, als eine Frau in Taco-Bell-Uniform auf mich zukam und meinen Namen sagte. Es war das gesichtslose Mädchen, das in dem baufälligen Schuppen gehaust hatte. Ihr Haar trug sie jetzt in einem Pferdeschwanz. Sie war erwachsen. Sie war zwanzig, und ich war zweiunddreißig.

»Bist du das?«, fragte ich, und wir umarmten uns.

Wir unterhielten uns darüber, dass sie in Kürze zur stellvertretenden Filialleiterin befördert werden solle, zu welchen von den Mädchen aus unserer Gruppe sie noch Kontakt habe und was sie so machten, wie ich sie zum Klettern, ins Ballett und zur Dichterlesung mitgenommen hätte, und dass sie keins von diesen Dingen jemals wieder gemacht habe.

»Ich hab Sie nie vergessen, auch nicht nach all den Jahren«, sagte sie.

»Ich bin so stolz auf dich«, erklärte ich und klopfte ihr anerkennend auf die Schulter.

»Ich hab’s geschafft«, sagte sie. »Oder nicht?«

»Und ob«, erwiderte ich. »Das hast du ganz eindeutig.«

Ich habe sie auch nie vergessen. Ihr Name war Desiré.

Deine Cheryl

Die hemmungslos ausgelassene Parade

Hallo, Cheryl!

Ich bin einundzwanzig und gehe noch aufs College. Obwohl ich Vollzeit arbeite, um wenigstens ein bisschen was zu verdienen, bin ich finanziell immer noch auf meine Eltern angewiesen. Ich benutze auch ihren Wagen. Ich habe kein Problem damit, bei meinen Eltern zu wohnen – das heißt, ich hätte keins, wenn ich nicht schwul wäre. Meine Eltern sind strenggläubige Christen. Sie glauben, Homosexualität wäre eine »Sünde«, mit der man sich herumquält wie mit einer Alkohol- oder Drogensucht, und Schwule sollten Buße tun und sich zu Jesus bekehren.

Meine Eltern wissen, dass ich schwul bin, aber sie wollen es nicht wahrhaben. Sie glauben, ich hätte Buße getan und mich zu Jesus bekehrt. Als ich siebzehn war, hat meine Mom gedroht, mich vor die Tür zu setzen, weil sie mein »krankes Verhalten unter ihrem Dach nicht dulden« wollte. Damit ich weiter bei meinen Eltern wohnen bleiben durfte, musste ich einen christlichen Beratungsdienst aufsuchen und meinem Schwulsein abschwören. Ich bin hingegangen, aber es hat mir überhaupt nichts gebracht. Es hat mich nur noch mehr verunsichert. Ich hasse meine Eltern nicht, aber ich nehme ihnen schon sehr übel, wie sie mich behandeln. Sie gehen davon aus, ich wäre jetzt hetero, aber sie trauen mir nicht. Meine Mom spioniert mir ständig nach. Oft kommt sie in mein Zimmer gestürmt, anscheinend in der Hoffnung, mich bei irgendwas zu ertappen. Wenn ich ausgehe, muss ich meinen Eltern genau erklären, mit wem ich mich treffe, ansonsten geben sie mir das Auto nicht. Sie kappen die Internetverbindung, wenn ich allein zu Hause bin, und verstecken, bevor sie ins Bett gehen, das Modem, weil sie Angst haben, ich würde mir »sündhafte« Sachen anschauen und wieder anfangen, »schwul zu leben«.