Der große Rausch - Helena Barop - E-Book

Der große Rausch E-Book

Helena Barop

0,0
17,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ein Buch so spannend wie ein Mafiafilm, exzellent recherchiert, hochaktuell und absolut süchtig machend

Nominiert für den Preis für das beste Wissenschaftsbuch des Jahres 2024


Wer Anfang des 19. Jahrhunderts in der westlichen Welt Drogen kaufen wollte, ging in die Apotheke. Wer Anfang des 21. Jahrhunderts in der westlichen Welt Drogen kaufen wollte, musste zu seinem Dealer. Wie es dazu kam, dass Medikamente zu Rauschmitteln, Rauschmittel zu Rauschgift und aus Rauschgift illegale Drogen wurden, erklärt uns Helena Barop in dieser fantastisch geschriebenen Geschichte der Drogenpolitik. Die Historikerin zeigt, wie vor allem die US-amerikanische Drogenpolitik ihren Weg nach Deutschland und in den Rest der Welt fand und Drogen vielerorts zu einem gesellschaftlichen Problem erklärte. Fesselnd schildert Barop, wie die Angst vor Drogen sich zuverlässig in politisches Kapital umwandeln ließ und lässt. Dabei räumt sie mit Vorurteilen und Halbwahrheiten auf und verdeutlicht an zahlreichen Beispielen: Die Geschichte der Drogenpolitik ist eine Geschichte der schillernden Ambivalenzen – und es ist an der Zeit, sie neu zu sortieren.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 383

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Ein Buch so spannend wie ein Mafiafilm

Wer Anfang des 19. Jahrhunderts in der westlichen Welt Drogen kaufen wollte, ging in die Apotheke. Wer Anfang des 21. Jahrhunderts in der westlichen Welt Drogen kaufen wollte, musste zu seinem Dealer. Wie es dazu kam, dass Medikamente zu Rauschmitteln, Rauschmittel zu Rauschgift und aus Rauschgift illegale Drogen wurden, erklärt uns Helena Barop in dieser fantastisch geschriebenen Geschichte der Drogenpolitik. Die Historikerin zeigt, wie vor allem die US-amerikanische Drogenpolitik ihren Weg nach Deutschland und in den Rest der Welt fand und Drogen vielerorts zu einem gesellschaftlichen Problem erklärte. Fesselnd schildert Barop, wie die Angst vor Drogen sich zuverlässig in politisches Kapital umwandeln ließ und lässt. Dabei räumt sie mit Vorurteilen und Halbwahrheiten auf und verdeutlicht an zahlreichen Beispielen: Die Geschichte der Drogenpolitik ist eine Geschichte der schillernden Ambivalenzen – und es ist an der Zeit, sie neu zu sortieren.

Helena Barop, geboren 1986, studierte in Freiburg und Rom Geschichte und Philosophie. Ihre Doktorarbeit »Mohnblumenkriege. Die globale Drogenpolitik der USA, 1950 – 1979« hat viel Beachtung in den Medien gefunden und wurde mit gleich drei renommierten Preisen ausgezeichnet: mit dem Deutschen Studienpreis der Körber-Stiftung (2. Platz Geistes- und Kulturwissenschaften), dem Gerhard-Ritter-Preis der Universität Freiburg und dem Preis der AG Internationale Geschichte im Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands. Helena Barop lebt in Freiburg und arbeitet seit 2021 als freie Autorin.

www.siedler-verlag.de

Helena Barop

Der große Rausch

Warum Drogen kriminalisiert werden

Eine globale Geschichte vom 19. Jahrhundert bis heute

Siedler

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright © 2023 by Siedler Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt

Umschlagabbildung: © csphoto / Getty Images

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-30648-9V002

www.siedler-verlag.de

Inhalt

Bröckelnde Drogenverbote

1   Vom Heilmittel zum Rauschgift

Dichte Dichter: Wie die Romantik den Rausch neu entdeckte

Heroin, Coca-Cola, Aspirin: Die wilde Suche nach neuen Wirkstoffen

2   Vom Rauschgift zur Sünde

Die Angst vor der Opiumhöhle: Drogenverbote als Folge von antichinesischem Rassismus

Sucht und Sühne: Wie Drogen in moralischen Verruf gerieten

3   Von der Sünde zum Verbot

Der Missionar von Manila: Wie Opium ein Thema der Weltpolitik wurde

Gute Drogen, böse Drogen: Die Geburtsstunde der Prohibition

4   Vom Verbot zum Verbrechen

Die Erfindung der Nüchternheit: Wie die Alkoholprohibition Drogenverbote und ihre Missachtung selbstverständlich machte

Verschärfte Gesetze und ein neuer Chef: Drogenpolitik im Schatten der Alkoholprohibition

5   Vom Verbrechen in die Panik

Guter Hanf und böses Haschisch: Warum Cannabis verboten wurde

Reefer Madness: Anslingers erste Angstkampagne und das amerikanische Verbot von Marihuana

Junkie oder Wirkstoff: Wer ist schuld?

Kefauver-Fieber: Wie mit Anslingers Hilfe vor laufender Kamera die Mafia erfunden wurde

Mafia-Mythen: Wie die Angst vor der Drogenmafia die Prohibition stabilisierte

6   Von der Panik zum Protest

Konsens und Konsum: Anpassungszwänge in der Vorstadtgesellschaft der Fünfzigerjahre

Beat: Rauschhafte Rebellion der Poeten

7   Vom Medikament zur Erleuchtung

Psychedelische Medikamente: Die Entdeckung von LSD und Co.

Die große Bepilzung: Timothy Leary und die psychedelische Revolution

8   Von Protest und Erleuchtung in die Krise

Drop out, Hippies! Drogen als Symbol und Instrument der Revolte

Armut, Ausgrenzung, Abhängigkeit: Die Heroinkrise in den afroamerikanischen »Ghettos«

Backlash: Das Ende der psychedelischen Hoffnungen

9   Von der Krise in den Drogenkrieg

Richard Nixon: Drogen als politischer Joker

Böse, böser, Schedule I: Wie Nixon die Drogen neu sortierte

High im Dschungel: Der Drogenkonsum der Vietnamsoldaten

War on Drugs: Warum Nixon Drogen den Krieg erklärte

10   Von Amerika nach Deutschland (und in fast alle Welt)

Opiumgesetz ohne Drogenproblem: Der Import der Prohibition nach Deutschland

Neue, erste deutsche Welle: Westdeutscher Drogenkonsum seit den Sechzigerjahren

Betäubungsmittelgesetz: Die Bundestagsdebatte um ein deutsches Drogengesetz nach amerikanischem Vorbild

Mythen, Märchen und Gerüchte: Die verdrehten Grundannahmen der westdeutschen Drogenpolitik

Die »Heroinwelle«: Wie das Zerrbild des deutschen Junkies entstand

Endstation Bahnhof Zoo: Westdeutschland gewöhnt sich an eine Drogenpolitik der Ausgrenzung und Desinformation

Export der Prohibition: Amerikanische Drogenpolitik als Außenpolitik

11   Vom Drogenkrieg in die Sackgasse

Kollateralschäden: Die verheerenden Nebenwirkungen des War on Drugs

Gegenbewegungen: Alternative Drogenpolitik und ihre Folgen

Kann das weg?

Über dieses Buch

Dank

Personenregister

Substanzregister

Literaturverzeichnis

Anmerkungen

Bröckelnde Drogenverbote

Wer zu Beginn des 19. Jahrhunderts in der westlichen Welt Drogen kaufen wollte, ging in die Apotheke. Drogen, das waren allerhand obskure Wässerchen, Pillen, Pülverchen und Tinkturen, die Heilung oder Schmerzstillung versprachen, Schönheit oder ein langes Leben, frischere Lebensgeister oder Ruhe vor den inneren Dämonen. Was die Drogisten in den Drogerien da frei über die Theken verkauften, wussten sie oft selbst nicht so genau. Die Etiketten mussten nicht auf die Inhaltsstoffe verweisen. Verschreibungspflichten waren noch nicht erfunden, es gab keine einheitlichen Regelungen dazu, ob und wie ein Heilmittel getestet werden müsste, und niemand interessierte sich dafür, wie viel die Käufer*innen zu Hause von ihren frisch erworbenen Produkten löffelten. Zwischen Medikamenten und Drogen gab es keinen Unterschied. Bei Risiken und Nebenwirkungen hofften alle Beteiligten auf einen kompetenten Schutzengel.

Wer zu Beginn des 21. Jahrhunderts in der westlichen Welt Drogen kaufen wollte, zog die Kapuze tiefer ins Gesicht, sah sich verstohlen um und machte sich auf den Weg zu seiner Dealerin. Heroin, Kokain, Crack, LSD, Cannabis, MDMA, Crystal, Speed, Magic Mushrooms – der Katalog der gängigen illegalen Drogen war Allgemeinwissen. Die Folgen von Drogenkonsum und die Methoden der Drogenmafia füllten die Plots der Kriminalgeschichten und Dokumentationen in Film und Fernsehen und zementierten in den Köpfen der Zuschauer*innen alte Bilder von Drogenelend und Mafia-Glamour. Wer sich beim Drogennehmen erwischen ließ, riskierte je nach Land, Droge, Warengewicht, Laune des diensthabenden Polizeibeamten und leider auch oft je nach ethnischer Zugehörigkeit: Verwarnung, Ordnungsgeld, Strafprozess, Bewährung, Gefängnis, Stigmatisierung, Verlust der Arbeitsstelle, gesellschaftliche Ausgrenzung. Dass Drogen verboten waren und verboten gehörten, war für die allermeisten Menschen in der westlichen Welt zu dieser Zeit so selbstverständlich, dass der Begriff »illegale Drogen« ihnen tautologisch vorkommen musste.

Es war eine behagliche Selbstverständlichkeit, mit der sich vor allem diejenigen in der Drogenprohibition eingerichtet hatten, die selbst keine Drogen nahmen. Kopfschüttelnd, naserümpfend und vielleicht mit der angenehmen Gänsehaut einer Geisterbahnbesucherin, ließen sie sich von den Nachmittagstalkshows die Horrorgeschichten der Junkies erzählen und erhoben sich über diejenigen, die es einfach nicht lassen konnten, ihr Leben mit Drogen zu ruinieren. Dann zuckten sie mit den Schultern, dachten: Selber schuld. Und nahmen noch einen Schluck von ihrem Feierabendbier, machten einen Schokoriegel auf oder gönnten sich noch eine kleine Zigarette vor dem Abendbrot.

Mit dieser Selbstverständlichkeit ist es seit einigen Jahren vorbei. In vielen Ländern der westlichen Welt gerieten um die Jahrtausendwende die ersten Drogenverbote langsam spürbar ins Wanken. 1994 begann die Schweiz, »Fixerstübli« einzurichten, in denen Heroinabhängige ihren Stoff unter ärztlicher Kontrolle vom Staat bekommen konnten. 2001 wurden in Portugal sämtliche Drogen entkriminalisiert – anstatt die Konsument*innen und ihre Dealer*innen zu verfolgen, hilft seither der portugiesische Staat denjenigen, die unter ihrer Drogenabhängigkeit leiden. Immer mehr Forscher*innen beschäftigten sich in den Folgejahren mit dem möglichen medizinischen Nutzen von Substanzen, die seit Jahrzehnten verboten gewesen und deshalb weitgehend unerforscht geblieben waren: Sie erprobten und erproben den Einsatz von psychedelischen Drogen wie LSD, MDMA oder Psilocybin (»Magic Mushrooms«) als Psychopharmaka. Sie fragten, ob Heroin nicht in der Palliativmedizin eingesetzt werden könnte. Und sie testeten Cannabis – das sich vor allem in der Schmerztherapie und bei der Bekämpfung von Übelkeit und Muskelkrämpfen als wertvoll erwies.

Doch dabei blieb es nicht. Besonders im Umgang mit der Hanfpflanze setzte ein grundsätzliches Umdenken ein. Nachdem die Niederlande schon seit den Siebzigerjahren den Verkauf von Cannabis in Coffeeshops erlaubt hatten, ohne dabei jedoch Anbau und Handel zu legalisieren, wurde der Umgang mit dieser illegalen Droge nun auch in vielen anderen Ländern deutlich liberaler. In den USA begannen einzelne Bundesstaaten zunächst, Weed zu entkriminalisieren, den Konsum also nicht mehr strafrechtlich zu verfolgen. Seit 2012 wurde das Kiffen dann in einigen Bundesstaaten vollständig legalisiert – auch als Freizeitbeschäftigung.

Zeitversetzt folgte die deutsche Drogenpolitik dem gleichen Muster: 1994 stellte die Bundesrepublik die Strafverfolgung beim Besitz von Cannabis ein, wenn es sich um eine »geringe Menge« für den Eigenbedarf handelte. Wie groß genau eine solche Menge sei, blieb dabei offen. So schuf die deutsche Rechtsprechung eine Grauzone, in der das Kiffen zwar nicht legal ist, aber vielfach unter dem Radar der Behörden bleibt und so weniger staatliche Kosten und weniger gebrochene Biografien produziert. Nach dieser selektiven Entkriminalisierung folgte ein erster Schritt in Richtung Legalisierung: Seit 2017 darf in Deutschland Cannabis wieder als Medikament verschrieben und in der Apotheke erworben werden. Im November 2021 ließen die Ampelparteien während der Koalitionsverhandlungen dann durchsickern, dass sie den Konsum von Cannabis nun auch hierzulande für den Freizeitgebrauch legalisieren wollen. 2022 stellte sich aber heraus, dass das nicht ohne Weiteres mit dem geltenden EU-Recht vereinbar ist. Die Regierung plant deshalb nun eine schnelle Dekriminalisierung des Cannabiskonsums, während der freie Verkauf von Marihuana in lizenzierten Geschäften zunächst wieder in eine unbestimmte Zukunft verschoben wird. Trotzdem ist die Drogenpolitik insgesamt in Europa und den USA so sehr in Bewegung, wie sie es im gesamten 20. Jahrhundert nicht gewesen ist.

Kommt nun also der große Rausch? Werfen die liberaleren Gesellschaften der westlichen Welt ihre Drogengesetze über Bord und stürzen sich in den psychoaktiven Taumel? Es sieht nicht so aus. Während an manchen Stellen umgedacht und reformiert wird, sind die Horrormeldungen über Drogen keineswegs von den Bildschirmen verschwunden. Seit den frühen Nullerjahren werden in den USA zunehmend Opioide missbraucht, also Heroin und eine Reihe von hochwirksamen, opiumbasierten oder opiatähnlichen Schmerzmitteln. Jährlich sterben seither immer mehr US-Bürger*innen an Überdosen: Waren es im Jahr 2000 noch ungefähr 20 000 Tote jährlich, stieg die Zahl der Todesopfer im Pandemiejahr 2020 auf über 90 000 an. Politische Maßnahmen, die dieser Entwicklung merklich entgegenwirken könnten, sind momentan nicht in Sicht.

So drastisch ist die Lage in Europa nicht. Im Bericht der Europäischen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht von 2022 wird zwar betont, dass fast überall in Europa so gut wie jede psychoaktive Substanz auf dem einen oder anderen Weg zu haben sei, doch die Zahlen sind deutlich weniger dramatisch als in den USA. So starben in der EU 2020 weniger als 6000 Menschen im Zusammenhang mit ihrem Drogenkonsum. Jeder einzelne dieser Todesfälle ist tragisch – doch von einer krisenhaften Situation wie in den USA ist Europa aktuell weit entfernt. Während in den USA 2020 eine*r von ungefähr 3600 Bürger*innen einen Drogentod starb, war es in der EU nur eine*r von über 74 000.

Nicht nur manche Konsument*innen – in den USA und überall auf der Welt – leiden jedoch an den Folgen des Drogenkonsums. Damit sie ihre Drogen nehmen können, müssen diese Drogen angebaut und weiterverarbeitet oder synthetisiert, dann geschmuggelt und zuletzt vertrieben werden. Entlang der Lieferketten richten sie verheerende Schäden an, die Unbeteiligten großes Leid zufügen und viele Menschenleben kosten.

Weil Drogen fast überall auf der Welt illegal sind und weil viele Drogen über nationale Grenzen hinweg verkauft werden, sind Drogenmärkte immer Teil der globalen Schattenwirtschaft. Zwar beteiligen sich an den illegalen Transaktionen im Untergrund immer auch kleinkriminelle Einzelunternehmer*innen, doch die Kontrolle über diese Märkte liegt überwiegend in der Hand großer, brutaler verbrecherischer Organisationen. Das Geld und die Macht, die diese Organisationen mithilfe des Drogengeschäfts anhäufen, geben ihnen in manchen Weltgegenden ein Gewicht, mit dem selbst staatliche Institutionen kaum noch konkurrieren können. Mexiko, Afghanistan und Kolumbien sind nur die bekanntesten Beispiele für Länder, in denen es den Regierungen in den vergangenen Jahrzehnten teilweise kaum noch gelang, Kontrolle auszuüben und die eigenen Bürger*innen vor der Gewalt der Drogenunternehmen zu schützen.

Dass die Menschheit keine Drogenprobleme mehr hätte, kann vor diesem Hintergrund nicht behauptet werden. Doch nachdem fast ein ganzes Jahrhundert lang Einigkeit darüber bestand, wie diese Probleme zu lösen wären, bröckelt nun der Konsens. Der War on Drugs ist gescheitert. Die Drogenbekämpfung mit den unterschiedlichsten Mitteln der Repression im In- und Ausland läuft zwar in den meisten Bereichen weiter, doch sie verliert mehr und mehr den politischen Rückhalt. Inzwischen haben sich die Bürgerschaften vieler westlicher Länder bereits daran gewöhnt, dass drogenpolitische Liberalisierungsideen in den Parteiprogrammen auftauchen. Als die Ampelkoalition im Herbst 2021 ihre Cannabispläne leakte, kam reflexhafter Widerspruch von der Polizeigewerkschaft, doch der Rest der Gesellschaft blieb zunächst überraschend unbeeindruckt. Da soll ein Verbot gekippt werden, das bald hundert Jahre alt wird – und für viele ist diese Nachricht nicht mehr als old news. Die angehende Koalition muss das geahnt haben, sonst hätte sie nicht ausgerechnet diesen Plan als Erstes durchsickern lassen.

Im Krisenjahr 2022 verfestigte sich dann der Eindruck, dass es sich bei der Cannabislegalisierung nicht um einen politischen Aufreger handelt. Zwischen all den Horrormeldungen von Ukrainekrieg bis Klimakrise waren Politik und Medien froh, zwischendurch auch über etwas Harmloses, Amüsantes, ja Hoffnungsvolles sprechen zu können. Ein Höhepunkt dieser Karriere von Cannabis als Pausenclown im Weltuntergangsgeschehen war vielleicht der Moment, als Tina Hassel im ARD-Sommerinterview von einem schmunzelnden Bundeskanzler Scholz wissen wollte: »Wann Bubatz legal?« Mit der Dämonisierung des Kiffens schien es in Deutschland spätestens in diesem Moment im Juli 2022 vorbei zu sein. Erst im April 2023, als Lauterbach seine Legalisierungspläne zurücknehmen musste und durch ein weniger weitreichendes Programm der Dekriminalisierung ersetzte, wurden plötzlich die kritischen Stimmen lauter. Nun äußerten auch die Vertretungen der Kinderärzt*innen Bedenken, und die CSU begann sich plötzlich mit alten Halb- und Unwahrheiten als harte Hand gegen das Drogenübel zu profilieren.

Die Prohibition funktioniert nicht, Drogen machen weiterhin Probleme, und viele Menschen haben große Angst vor Abhängigkeit und Drogenkriminalität: Die alte Drogenpolitik steckt in der Sackgasse, und im Sommer 2023 ist völlig offen, in welche Richtung sich dieses so lange vernachlässigte Politikfeld weiterentwickeln wird. Viele teilen inzwischen das diffuse Gefühl, dass es so wie bisher nicht mehr weitergehen kann. Manche sehen die geplante Dekriminalisierung von Cannabis ab 18 Jahren kritisch. Andere rutschen unruhig auf ihren Stühlen herum, die neuen Pläne von Karl Lauterbach kommen ihnen bestenfalls halb gar vor. Sie wollen endlich grundsätzlich etwas verändern. Aber was? Und wie? Was ist jetzt zu tun? In einem Moment, in dem die Drogenpolitik in Deutschland und dem Rest der Welt zum ersten Mal seit Jahrzehnten merklich in Bewegung gerät, stellen viele sich diese Fragen neu.

Wer sich mit diesen Fragen auseinandersetzen will, muss als Erstes verstehen, was Drogen überhaupt sind. Die Antwort darauf erschien noch am Anfang des Jahrhunderts so einfach: Drogen? Na, Heroin, Koks, Gras. Ecstasy, Speed, Acid, Crystal. Designerdrogen, Halluzinogene. Kennt man doch. Aber schon bei der Frage, welche gemeinsame Eigenschaft all diese Stoffe zu Drogen macht, wird es kompliziert. Deshalb lohnt es sich, den bunten Strauß an möglichen Kriterien einmal auseinanderzunehmen.

Drogen, das sind Stoffe, die das Bewusstsein verändern und in unsere Wahrnehmung eingreifen – könnte man meinen. Wäre das das Kriterium, gehörten LSD (»Acid«) und andere halluzinogene Drogen wie Meskalin, Psilocybin und Ayahuasca ganz oben auf die Liste, und auch Cannabis wäre eindeutig eine Droge. Bei Kokain und Heroin könnte man sich schon streiten, ob sie tatsächlich die Wahrnehmung verändern oder vielleicht eher die Stimmung, denn Wahrnehmungsverzerrungen oder gar Visionen, wie sie bei den psychedelischen Drogen vorkommen, sind beim Konsum dieser Stoffe nicht zu erwarten. Wer sie trotzdem als wahrnehmungsverändernd gelten lassen wollte, müsste sich als Nächstes fragen lassen: Was ist dann mit Alkohol? Nikotin? Zucker, Sport, Meditation, Sex? Was ist mit Kunst, Literatur, Bildung, Schwangerschaft oder Verliebtheit? Je nachdem, wie eng man es sehen möchte, gibt es kaum Einflüsse und Erfahrungen, die nicht irgendeinen Effekt auf das menschliche Bewusstsein haben. Wo also die Grenze ziehen? Wer soll entscheiden, wie stark eine Wahrnehmungsveränderung sein darf, damit sie legal ist? Wie soll der Gesetzgeber damit umgehen, dass Drogen teilweise auf die einzelnen Konsument*innen sehr unterschiedlich wirken – abhängig von den persönlichen körperlichen und seelischen Voraussetzungen, den Konsumumständen und den Erwartungen an den jeweiligen Trip? Wer entscheidet, was die »richtige«, »normale« und damit legale Wahrnehmung sein soll, an der die Illegalität einer Droge gemessen würde? Und warum soll es eigentlich schädlich sein, die Wahrnehmung zu verändern, wenn wir uns inzwischen doch immer einiger darüber werden, dass jede*r Einzelne von uns eine ganz eigene Perspektive auf die Welt hat und sich deswegen unsere Wahrnehmungen zwangsläufig unterscheiden? Wo vor hundert Jahren noch eine Ordnung herrschte, in der eine »richtige« Wahrnehmung vorgeschrieben werden konnte, scheint sich die Bewusstseinsveränderung heute als gemeinsames Kriterium für Drogen nicht mehr zu eignen.

Nächster Versuch einer Definition: Drogen sind Rauschmittel. Es geht also darum, den Rausch zu verbieten. Rausch »bezeichnet einen emotionalen Zustand der Ekstase, der jemanden über seine normale Gefühlslage hinaushebt«, definieren Wikipedia und Duden. Es ginge dann also nicht um Wahrnehmung, sondern um Gefühle. Heroin, Kokain, Crack, Cannabis, Crystal: check. Sie alle beeinflussen die Stimmung und können euphorische Zustände hervorrufen. Bei den Psychedelika wird es schon schwieriger, denn auch ihr Konsum verändert zwar im Normalfall die Gefühlslage, aber eine emotionale Ekstase ist keineswegs garantiert. Unlogisch wird es dann wieder beim Alkohol, der bei diesem Kriterium verboten sein müsste. Und wieder gibt es eine lange Reihe von Aktivitäten, die ebenfalls Ekstase hervorrufen und die (zum Glück) nicht verboten sind. Überhaupt wäre in diesem Fall die Frage: Was haben unsere Gesetzgeber*innen gegen Ekstase? Sollte Rausch an sich verboten sein?

Dritter Versuch: Drogen, das sind gefährliche Substanzen. Rauschgifte! Sie sind gesundheitsschädlich, giftig. Deshalb sind sie verboten. Wenn das der Grund wäre, müssten allerdings wieder Alkohol und Nikotin ebenfalls verboten sein, denn sie töten jährlich weltweit ein paar Millionen Menschen – und kosten damit mehr Leben als alle illegalen Drogen zusammengenommen. Zu viel Fett und zu viel Zucker, Extremsport und extreme Faulheit, zu viel Arbeit, zu wenig Arbeit, Kinderkriegen, Klettern ohne Seil, Basejumping, Autofahren ohne Tempolimit – es gibt sehr viele Substanzen und Angewohnheiten, die ebenfalls nachgewiesenermaßen hohe Gesundheitsrisiken aufweisen und trotzdem erlaubt bleiben, denn in Deutschland ist die Verletzung und Gefährdung des eigenen Körpers nicht strafbar. Gleichzeitig gibt es einige Drogen, die im Körper deutlich weniger Schaden anrichten, als ihr Ruf das nahelegt. LSD und psilocybinhaltige Pilze zum Beispiel hinterlassen zwar psychische Spuren, aber so gut wie keine messbaren körperlichen Schäden, müssten also legal sein, wenn es nur um den Giftgehalt einer Substanz ginge. Und auch Heroin erzeugt zwar bei langfristigem Konsum eine Toleranzbildung, aber giftig ist es nicht. Wer unter kontrollierten Bedingungen reines Heroin konsumiert und die Toleranzbildung unter Kontrolle hält, kann mit diesem Hobby jahre- und jahrzehntelang leben, ohne die eigene Gesundheit zu beschädigen.

Folglich muss es dann wohl das Abhängigkeitspotenzial sein, das eine Droge definiert. Drogen sind »Suchtmittel«, oder? Wieder falsch. Wäre die Vermeidung von Abhängigkeiten das Ziel, müssten neben Heroin, Methamphetamin, Cannabis und Kokain auch Alkohol, Nikotin, Zucker, Glücksspiel, das Internet und das Smartphone verboten sein. LSD, Zauberpilze, Meskalin und Ayahuasca hingegen müssten legalisiert werden, denn abhängig wird man davon nicht.

Wenn es um die Regulierung von Drogen geht, spricht man in Deutschland vom »Betäubungsmittelgesetz«. Vielleicht liegt der Definition von Drogen also die betäubende Wirkung der Stoffe zugrunde? Auch das kann nicht sein, denn viele Drogen, die unter das Betäubungsmittelgesetz fallen, sind gar keine Betäubungsmittel. Weder die psychedelischen Drogen noch die Amphetamine betäuben das Nervensystem. Alkohol hingegen schon.

Je länger man auf diese Weise nach einer Gemeinsamkeit sucht, die auf alle illegalen Drogen zutreffen könnte, desto größer wird die Verwirrung. Das hat einen schlichten Grund: Es gibt kein einheitliches Kriterium, das Drogen von anderen Substanzen unterscheidet. Um es mit Marlene Mortler (CSU) zu sagen, die von 2014 bis 2019 Drogenbeauftragte der Bundesregierung war: »Cannabis ist illegal, weil es eine illegale Droge ist.«

Welche Substanzen als Drogen verboten werden und welche nicht, ist das Ergebnis von Politik, also das Ergebnis einer ganzen Reihe von politischen Entscheidungen. Viele dieser Entscheidungen wurden im Lauf des 20. Jahrhunderts getroffen, manche auch noch früher, und die meisten von ihnen wurden zuerst in Parlamenten und Amtsstuben jenseits des Atlantiks gefällt. Um sie zu verstehen, hilft kein Handbuch zu den pharmakologischen Eigenschaften der Drogen. Wer hier sucht, findet nur Widersprüche, denn das Expert*innengremium, das systematisch auf wissenschaftlicher Grundlage Kriterien dafür aufgestellt hätte, welche Stoffe staatlich kontrolliert werden sollten, gab es nie. Eine Antwort auf die Frage, was Drogen sind und warum sie kriminalisiert wurden, findet sich deshalb nur mit einem Blick in die Geschichte der Drogenpolitik und in die Kontexte, in denen sich diese Politik entwickelte. Diese Kontexte entfalteten sich zuerst in den USA, und so ist die Geschichte der Drogenverbote in erster Linie eine amerikanische Geschichte, die jedoch voller globaler Bezüge steckt und irgendwann unter anderem auch zu einer deutschen Geschichte wird. Es ist diese Geschichte, die hier erzählt werden soll.

Im gegenwärtigen Moment der bröckelnden Gewissheiten lohnt sich ein solcher Blick in die Vergangenheit. Die Drogenpolitik steckt in der Sackgasse. Sie muss zurücksetzen, wenden und einen Ausweg suchen aus ihrer Misere, ohne dabei alte Fehler zu wiederholen. Dabei kann es sehr hilfreich sein zu wissen, warum die Entscheidungsträger*innen der Vergangenheit falsch abgebogen sind, was sie zu wissen glaubten, wo sie sich irrten, wovor sie Angst hatten und was ihre Hoffnungen waren.

Besonders wichtig ist es dabei, zu verstehen, wie Drogen zu einem Problem wurden und worin genau dieses Problem aus der Perspektive der Zeitgenoss*innen bestand. Denn das Drogenproblem ist eine (amerikanische) Erfindung. Es ist das Produkt einer langen, verwickelten Deutungsgeschichte und besteht aus einem ziemlich undurchsichtigen Bündel von Annahmen, Behauptungen, Ängsten, Schreckbildern und Klischees. Als solches ist es sehr eng an die Zeit gebunden, in der es entstand.

Die Umstände dieser Erfindung genauer zu untersuchen, macht »das Drogenproblem« zunächst einmal merkwürdig fremd. Fälschlich wird heute häufig angenommen, Drogen seien primär aus Gründen des Gesundheitsschutzes verboten. Im historischen Rückspiegel zeigt sich aber, dass die ersten Drogenverbote mit Gesundheit nur wenig zu tun hatten. Viele der Gründe, die es in der Vergangenheit ratsam erscheinen ließen, Drogen und ihren Konsum zu verbieten, haben in der Gegenwart fast keine Relevanz mehr. Sobald wir bereit sind, diese überholten Beweggründe historischer politischer Entscheidungen auszusortieren, wird der Blick frei für eine evidenzbasierte Analyse der Drogenprobleme der Gegenwart und damit wahrscheinlich auch für neue Lösungen.

Sollte es uns gelingen, in den kommenden Jahren in der Drogenpolitik neue Wege einzuschlagen, die die bisher bekannte Faktenlage möglichst nüchtern einbeziehen und uns damit aus der Sackgasse führen, dann gibt es eine Chance, dass wir sehr vielen Menschen eine Menge Leid ersparen können. Wer am Anfang des 23. Jahrhunderts Drogen kaufen will, wird dann vielleicht zurückschauen und staunen: darüber, wie lange die Menschen einst an einer Drogenpolitik festhielten, die nicht funktionierte und viel Schaden anrichtete. Und darüber, dass es ihnen im Lauf des 21. Jahrhunderts gelungen ist, besonders die schwächsten, randständigsten Mitglieder ihrer Gesellschaft von dieser Drogenpolitik zu befreien.

1   Vom Heilmittel zum Rauschgift

Dichte Dichter: Wie die Romantik den Rausch neu entdeckte

Die Geschichte des Drogenproblems beginnt im Jahr 1804 in London. Ein Student aus Oxford liegt im Bett und schläft einen unruhigen Schlaf, bis er schließlich von heftigen Zahnschmerzen geweckt wird. Schlaftrunken setzt er sich auf und kommt auf die Idee, die Schmerzen seien eine Folge seiner Nachlässigkeit: Ein paar Tage lang hat er es versäumt, seinen Kopf mit kaltem Wasser zu waschen, wie es sonst seine tägliche Gewohnheit ist. Kurz entschlossen steht er auf, taucht den Kopf in die Waschschüssel, legt sich mit nassen Haaren zurück in die Kissen und schläft weiter.

Nun wundert er sich nach dieser wenig professionellen zahnärztlichen Behandlung nicht sehr, als er am nächsten Morgen mit entsetzlichen Kopfschmerzen erwacht. Doch auch drei Wochen später geht es ihm nicht besser, und so betritt er eines trüben, regnerischen Sonntags eine Apotheke in der Oxford Street und bestellt ein Fläschchen Laudanum: Eine Tinktur aus Opium, das in Alkohol gelöst ist und dem geplagten Patienten schnelle Linderung verspricht.

Der Student aus Oxford hieß Thomas De Quincey und war weder der erste noch der einzige Schmerzpatient, der zu Beginn des 19. Jahrhunderts auf die Idee kam, seine Pein mit Opium zu lindern. Opium wird aus Schlafmohn hergestellt und wurde im Mittelmeerraum schon über 5000 Jahre vor unserer Zeitrechnung angebaut. Jahrtausendelang war es das wirksamste Schmerzmittel, das der Menschheit zur Verfügung stand. Doch De Quincey war der Erste, der über die Folgen des Opiumrausches einen Klassiker der romantischen Literatur schrieb. 1821, also vor etwas mehr als 200 Jahren, erschien seine autobiografische Schrift mit dem Titel Bekenntnisse eines englischen Opiumessers, in der er die Genüsse und leidvollen Nebenwirkungen seines jahrzehntelangen Opiumkonsums im plastischen Detail ausbreitete. Eindrücklich beschrieb er darin die Leiden seiner Opiumabhängigkeit, aber auch seinen ersten Opiumrausch und die Euphorie, die das Mittel immer wieder bei ihm auslöste:

»Natürlich war ich mit der Kunst und den Mysterien des Opiumessens nicht vertraut, und was ich zu mir nahm, nahm ich also auf jede Gefahr hin. Doch ich nahm es, und nach einer Stunde, o Himmel, welch ein Umschwung, wie erhob sich mein innerster Geist aus seinen untersten Tiefen empor, welche Apokalypse der Welt in mir! Dass meine Schmerzen verschwanden, erschien mir jetzt ganz nebensächlich; diese negative Wirkung ging in der Unendlichkeit jener positiven Wirkungen unter, die sich mir in dem so plötzlich aufgetanen Abgrund der göttlichen Freuden erschlossen hatten. […] Hier war das Geheimnis der Glückseligkeit, über das die Philosophen so vieler Jahrhunderte gestritten hatten, auf einmal enthüllt. Nun konnte man für einen Penny die Glückseligkeit kaufen und in der Westentasche bei sich tragen. Verzückungen waren transportabel geworden und ließen sich in kleinen Flaschen verkorken, und Seelenfrieden konnte die Post nun in ganzen Gallonen verschicken.«[1]

Wer die Wirkung von Opium noch nicht am eigenen Leib erlebt hatte, wurde durch solch eindrückliche Beschreibungen vielleicht neugierig gemacht. De Quincey war dabei zwar der Erste, der seinen Opiumkonsum öffentlich behandelte und damit nebenbei den literarischen Durchbruch schaffte, doch er blieb nicht der Einzige: Samuel Coleridge, Percy Shelley, John Keats, George Byron, August Wilhelm Schlegel, Novalis, E.T.A. Hoffmann, Charles Baudelaire, Edgar Allan Poe – die Liste der nachweislich opiumaffinen Literaten liest sich wie ein Who’s Who der Romantik. Nur wenige gingen dabei in ihren Beschreibungen so sehr ins Detail wie De Quincey, doch vielleicht waren die geheimnisvollen Andeutungen seiner Kollegen fast noch verlockender als dessen explizite Bekenntnisse. In seinem Band Blumen des Bösen veröffentlichte zum Beispiel Charles Baudelaire 1857 ein Gedicht mit dem Titel »Das Gift«:

»Das Opium vermehrt, was ohne alle Schranken,

Dehnt die Unendlichkeit,

Höhlt der Genüsse Rausch, vertieft den Strom der Zeit,

Mit finstrer Lust und Nachtgedanken

Füllt und erschöpft es schier der Seele Faßbarkeit«[2]

Dass gerade die romantischen Dichter sich für den Rausch zu interessieren begannen, ist an sich nicht überraschend. In Abgrenzung zu den ehrgeizigen Zielen und der betont nüchternen Ästhetik der Aufklärung machten sie das Irrationale und Unergründliche zum Gegenstand ihrer Kunst. In ihren Bildern und Texten geht es um Traum und Dunkelheit, Geheimnisvolles und Unheimliches, um Übersinnliches und um den Tod. Stoffe, die derart intensive Empfindungen hervorrufen konnten wie Opium, machten für diese Künstler greifbar, dass Wahrheit und Wirklichkeit vielleicht weniger unumstößlich sein könnten, als es die Denker der Aufklärung behauptet hatten. Die drogenunterstützte Suche nach einer romantischen Wahrheit der tiefen Empfindungen war deshalb für viele Romantiker faszinierend – ebenso wie für ihre Leserschaft.

Baudelaire beließ es nicht beim Opium. Mit einigen anderen französischen Künstlern und Intellektuellen wie Alexandre Dumas, Honoré de Balzac, Victor Hugo und Théophile Gautier traf er sich im Paris der 1840er-Jahre regelmäßig mit einem neugierigen Arzt, der die Wirkung von Haschisch erproben wollte. Mit ritueller Ernsthaftigkeit kratzten die versammelten Gäste des Club des Hachichins in einem heruntergekommenen Pariser Stadtpalais teelöffelweise Haschischmarmelade von ihren Untertassen und nahmen hinterher gesalzenen Kaffee zu sich, um die Verteilung der Wirkstoffe im Körper zu beschleunigen.

In seiner Abhandlung über die so bereisten »künstlichen Paradiese« (Les paradis artificiels) beschrieb Baudelaire die Wirkung von Haschisch im Detail: Es steigere Traum und Wirklichkeit, stärke auch das Genie, nehme dem Reisenden während des Drogenabenteuers aber die Kraft, mit diesem Genie irgendetwas anzufangen. Zuerst befalle einen »eine gewisse, lächerliche, unbezwingbare Heiterkeit«, später werde »der Faden, der deine Einfälle verbindet, so dünn, dass nur deine Genossen dich verstehen können«. Danach erschienen die »Hände wie aus Butter«, aber es entwickele sich eine »neue Feinfühligkeit, eine Überschärfung aller Sinne.« In manchen Fällen, so berichtet der Dichter, schwinde sogar das Persönlichkeitsbewusstsein, der Reisende vergesse seine eigene Existenz und gehe ganz in der Betrachtung der äußeren Dinge auf. Auf den Höhepunkt des Rausches, den Baudelaire als halluzinatorische Heimsuchung schildert, folgt in seiner Beschreibung dann eine tröstliche Phase, in der »ruhige unbewegliche Glückseligkeit« sich breitmacht.[3]

Wie De Quincey beließ auch Baudelaire es nicht bei den träumerischen Lobeshymnen. Auch er versah die Berichte über seine Drogenerfahrungen mit der eindringlichen Warnung, welche »moralische Zerstörung« der Konsum mit sich bringe. Ob diese Warnungen die Leser*innen abschreckten oder ob sie noch zur morbiden Faszination für die gefährlichen Gelüste des Rausches beitrugen, kann nur vermutet werden.

Den eloquenten Beschreibungen der dichten Dichter war es jedenfalls zu verdanken, dass seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts plötzlich öffentlich darüber gesprochen und geschrieben wurde, was viele Patient*innen im Geheimen schon lange wussten: Es gab Medizin, die nicht nur heilte, sondern auch Spaß machte und deren langfristiger Konsum möglicherweise gewisse Gefahren mit sich brachte. Drogen waren damit nicht mehr nur Heilmittel, sie konnten auch Rauschgifte sein. Drogenkonsum war unter diesem Titel zum ersten Mal zur Freizeitbeschäftigung geworden.

Heroin, Coca-Cola, Aspirin: Die wilde Suche nach neuen Wirkstoffen

Im Jahr 1804, als Thomas De Quincey gerade in London seine ersten Erfahrungen mit Opium machte, forschte in Paderborn ein junger Mann namens Friedrich Wilhelm Sertürner auf seine eigene Weise an ebendiesem Stoff. Er war 21 Jahre alt, hatte gerade erst sein pharmazeutisches Examen abgelegt und arbeitete als Apothekergehilfe. Nach einer Reihe von Experimenten gelang es ihm 1805, aus dem getrockneten Saft der unreifen Schlafmohnkapsel denjenigen Wirkstoff zu isolieren, der für die psychoaktive und sedierende Wirkung von Opium verantwortlich ist. Nach dem griechischen Gott der Träume und des Schlafes nannte er seine Entdeckung »Morphium«.

Morphium erwies sich wie erhofft als überaus wirksames Schmerzmittel, dessen oraler Konsum jedoch ungünstigerweise häufig Brechreiz hervorrief. Erst in den 1850er-Jahren setzte sich Morphium dann in der Breite als Arzneimittel durch, nachdem 1843 ein Instrument erfunden worden war, das dessen genaue Dosierung erleichterte, den Brechreiz vermied und das dessen Wirkung außerdem noch um einiges verstärkte: die Injektionsspritze. Pünktlich zum Ausbruch des Amerikanischen Bürgerkrieges im Jahr 1861 stand mit der Morphiumspritze ein Mittel zur Schmerzbehandlung zur Verfügung, das die grausamen körperlichen Leiden etwas lindern konnte, die durch diesen verlustreichsten aller amerikanischen Kriege hervorgerufen wurden. Für die Verletzten war das ein Segen, doch viele von ihnen kamen nicht nur traumatisiert aus dem Krieg zurück, sondern blieben auch an der Morphiumnadel hängen.

Nicht nur die Bürgerkriegsveteranen gewöhnten sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts allzu sehr an die euphorisierende und beruhigende Wirkung des Opiumwirkstoffs. Auch unter wohlhabenden Damen mittleren Alters sprach sich herum, dass mithilfe von Morphium die Härte und Langeweile des Lebens leichter zu ertragen seien. Neben die Puderdosen und Parfumflakons legten die Damen nun ihr Spritzbesteck auf die biedermeierlichen Kommoden und ließen sich von ihren Hausärzten Nachschub verschreiben, wenn sie merkten, dass sie nach einer Weile regelmäßigen Konsums ohne ihr Morphium nur noch schwer durch die Tage kamen.

Schon bald nach der Isolation des Morphiums gelang die nächste pharmazeutische Entdeckung. In einem Labor in Göttingen isolierte der 24-jährige Chemiker Albert Niemann im Jahr 1860 das aktive Alkaloid der Kokapflanze und nannte es »Kokain«. Zunächst wurde dieser neue Wirkstoff jedoch kaum beachtet. Einige wenige Experimentierfreudige probierten es schon bald in Form eines kokainhaltigen korsischen Weincocktails namens Vin Mariani, dessen Existenz belegt, wie sehr die Sphären von Medizin und Freizeitkonsum zu dieser Zeit miteinander zu verschwimmen begannen.

Doch der Durchbruch von Kokain kam erst in den 1880er-Jahren. Nun war Kokain plötzlich der neueste Schrei, und es zeigte sich, dass es gegen vieles half: Bei Zahn- und Augenoperationen wurde es als Lokalanästhetikum eingesetzt, aber auch als Nasenspray gegen Heuschnupfen wirkte es Wunder. 1884 empfahl es ein aufstrebender Wiener Arzt namens Sigmund Freud in einem Aufsatz mit dem Titel »Über Coca«: Die Wirkung des Mittels bestehe in einer »Aufheiterung und anhaltenden Euphorie«, in einer »Zunahme der Selbstbeherrschung«, man fühle sich »lebenskräftiger und arbeitsfähiger«, während die unangenehmen Nebenwirkungen von Alkohol, Kaffee oder Tee beim Kokainkonsum auf angenehme Weise ausblieben. Außerdem könne man unter Kokaineinfluss essen, müsse es aber nicht, gleichfalls könne man schlafen, aber auch lange ohne Schlaf prima auskommen. Aufgrund seiner psychoaktiven Wirkung empfahl Freud den Einsatz von Kokain als Stimulanzmittel in Situationen von besonderer Anstrengung, zum Beispiel »im Kriege, auf Reisen, Bergbesteigungen, Expeditionen u. dgl.«, in Situationen also, in denen bisher häufig Alkohol eingesetzt werde, obwohl Coca kräftiger und unschädlicher sei.[4]

Während Freud vor allem über die Potenziale von Kokain als Psychopharmakon und Dopingmittel nachdachte, war ein Apotheker in Atlanta, Georgia, eher daran interessiert, Kapital aus Albert Niemanns Entdeckung zu schlagen. Er hieß John Stith Pemberton und verdiente sein Geld – wie übrigens einige seiner Zeitgenoss*innen – mit der Erfindung und Vermarktung neuartiger Heilmittel. In den 1880er-Jahren entwickelte er im Rahmen seiner kreativen Panschereien ein Getränk, das Wein, Kokain und Kolanuss enthielt und dem korsischen Cousin Vin Mariani verdächtig ähnlich war. Angeblich war es gut für Hirn und Körper, machte wach und half gegen Kopfschmerzen und Depressionen. Stolz verkündete ein Werbeposter, Pemberton’s French Wine Coca sei ein »großartiges und sicheres Mittel gegen alle nervösen Störungen«.

Schon wenige Monate nach der Erfindung von Pemberton’s French Wine Coca wurde allerdings in Atlanta versuchsweise die Alkoholprohibition eingeführt. Pemberton ließ sich nicht entmutigen, strich den Alkohol aus dem Rezept, fügte Sodawasser hinzu und begann, seine Erfindung als Temperenz-Getränk zu vermarkten: Es mache fit und helfe, die Finger vom Schnaps zu lassen. Übrig blieb ein Gebräu mit dem Namen Coca-Cola. Die neue belebende Brause wurde ein deutlich größerer Hit als ihre alkoholhaltigen Vorgängerinnen – allerdings erst in den 1890er-Jahren, als Pemberton bereits als Morphinist an Magenkrebs gestorben war. So wurde der Erfinder nicht reich daran, dass die Coca-Cola Company nun ihren Siegeszug antrat. Spätestens mit Beginn der Alkoholprohibition war dieser nicht mehr zu stoppen. Im Lauf des 20. Jahrhunderts entwickelte sich das in Sodawasser gelöste Coca-Medikament zu einem der erfolgreichsten Konsumprodukte in der Geschichte Amerikas.

Allerdings wurde 1903 das Rezept erneut geändert: Statt Kokain enthielt es fortan nur noch das Koffein der Kolanuss und einen Extrakt aus entkokainisierten Kokablättern, der vermutlich bis heute auf dem streng geheimen Rezept steht. Das Koka verschwand aus der Cola, weil nach dem großen Kokarausch der 1880er- die US-amerikanische Gesellschaft in den 1890er-Jahren von einem kollektiven Kater heimgesucht worden war. Der Hype um Kokain wurde nun als »Kokainepidemie« umgedeutet. Die Zahl der Menschen, die regelmäßig kokainhaltige Produkte konsumierten, stieg wellenartig an. 1902 schätzten Experten, dass 200 000 Amerikaner*innen kokainsüchtig seien. Immer häufiger traten nun Überdosierungen auf, und so stieg auch die Zahl der Todesopfer. Um die Jahrhundertwende erreichte die Kokainwelle ihren Höhepunkt: 1906 konsumierten die 90 Millionen US-Amerikaner*innen Schätzungen zufolge elf Tonnen Kokain pro Jahr.

Im Vergleich mit den Zahlen von heute sind elf Tonnen Kokain nicht besonders beeindruckend – so wurden 2020 in Deutschland allein elf Tonnen Kokain beschlagnahmt, was darauf schließen lässt, dass deutlich größere Mengen der Droge im Umlauf sind, und darauf, dass sich die Experten um die Jahrhundertwende möglicherweise verschätzt haben. Die US-amerikanischen Konsumzahlen von 1902 sind nämlich – falls sie denn realistisch sein sollten – durchaus mit der aktuellen Situation in Deutschland vergleichbar. Hier konsumierten laut Epidemiologischem Suchtsurvey im Jahr 2021 etwas mehr als 800 000 Personen Kokain, wobei 205 000 von ihnen mit problematischem Konsum zu kämpfen hatten.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts verbreitete sich angesichts der steigenden Konsumzahlen in den USA zum ersten Mal Angst vor Kokain. Immer häufiger tauchten nun Berichte über Abhängigkeiten und Überdosierungen auf – pathologische Phänomene, die seit der Rückkehr der morphiumabhängigen Bürgerkriegssoldaten zwar langsam in den Fokus der Wissenschaft gerieten, dabei aber noch kaum erforscht oder erklärt waren und den Ruf des einstigen »Wundermittels« Kokain stark beschädigten.

Vor allem aber wurde Kokain nun immer häufiger für Gewalt und Kriminalität verantwortlich gemacht. In den von systematischem Rassismus geprägten Südstaaten der USA gerieten vor allem männliche Afroamerikaner in den Verdacht, durch Kokain zu gewalttätigen Monstern zu werden. Eine erste kollektive Drogenpanik trieb absurde Blüten, die darin gipfelten, dass 1914 die New York Times behauptete, Kokainkonsum mache immun gegen Schusswaffen. Allen Ernstes wurde berichtet, die Polizei habe sich in den Südstaaten bereits Waffen mit größerem Kaliber angeschafft, um weiter gegen kokainisierte afroamerikanische Kriminelle vorgehen zu können.

Kaum war die Karriere des Kokains als Allheilmittel vorbei, erschien die nächste Wunderdroge auf dem Markt. 1893 entdeckte Heinrich Dreser von der Firma Bayer zufällig einen wissenschaftlichen Artikel aus dem Jahr 1874. Dessen Verfasser C.R. Alder Wright hatte mit Morphium experimentiert und dabei einen Stoff namens Diacetylmorphin hergestellt. Allerdings hielt er den Stoff für giftig, der Legende nach hatte sein Hund den versuchsweisen Konsum des Mittels fast nicht überlebt. Dreser ließ sich davon jedoch nicht abschrecken und beauftragte seinen jungen Kollegen Felix Hoffmann mit der Rekonstruktion des Experiments. Der 25-jährige Pharmazeut und Chemiker machte sich im Bayer-Werk in Wuppertal-Elberfeld an die Arbeit. Drei Jahre später ließ Bayer sich die Formel von Diacetylmorphin als Schmerz- und Hustenmedikament patentieren, füllte es in Glasfläschchen und nannte das Produkt »Heroin«. Wer den neuen Hustensaft zu sich nahm, hatte kurz darauf vermutlich seine Erkältung vergessen – die neue Arznei wurde ein Kassenschlager.

Um einiges wirksamer und euphorisierender als Morphium löste Heroin schon bald den älteren, aber schwächeren Verwandten aus der Familie der Opiate ab. Wieder stiegen in den USA die Konsumzahlen, und wenige Jahre später schätzten Experten die Zahl der süchtigen Amerikaner*innen auf über 300 000. Daraufhin wurden kritische Stimmen laut, Ärzte hörten auf, Heroin als Hustenmedikament zu empfehlen, doch sowohl Patient*innen als auch Neugierige konsumierten die Substanz weiter – ob nun aufgrund ihrer hustenstillenden oder aufgrund ihrer euphorisierenden und angstlösenden Wirkung. Spätestens jetzt hatte sich ein Muster etabliert, das sich im 20. Jahrhundert noch mehrfach wiederholen sollte: Eine neue psychoaktive Substanz wird entdeckt und als Wundermittel gepriesen, dann verbreitet sie sich, erste ungewollte Nebenwirkungen wie Sucht und Überdosierung treten auf, und es folgt die medienverstärkte Panik. Die US-amerikanischen Historiker David Courtwright und David Musto beschreiben in ihrer Forschung dieses Muster und belegen dessen regelmäßige Wiederkehr.

In einer Gegenwart, in der die Entwicklung neuer Arzneimittel streng reguliert ist, wirkt es wie ein fahrlässiges Experiment an den Leibern Tausender nichtsahnender menschlicher Versuchskaninchen, dass die Wirkung neuer Medikamente wie Morphium, Kokain und Heroin nicht vor der Vermarktung sorgfältig getestet wurde. Doch dass es heute Gesetze gibt, die die Testung, Etikettierung und Qualitätskontrollen von Medikamenten regeln, ist ein Ergebnis der Erfahrungen, die im 19. Jahrhundert mit den ungewollten Folgen der neuen Entdeckungen gemacht wurden.

Das 19. Jahrhundert war das Jahrhundert der Erfindungen. Alle paar Wochen gelang in dieser Zeit irgendwo jemandem ein Durchbruch, der das Leben von Millionen Menschen in den kommenden Jahren mehr oder weniger tiefgreifend verändern sollte. Erfunden wurden in dieser Zeit in rasendem Rhythmus unter anderem die Dampfmaschine und der Kühlschrank, die Glühbirne und das Plastik, aber auch Dynamit, die Zündkerze, das Auto, die Konservendose, der Zement, das vulkanisierte Gummi, der Blitzableiter, das Telefon und der Röntgenapparat. Diese und viele weitere Erfindungen verwandelten den Alltag der Menschen besonders im Westen in einem Tempo, bei dem es kaum möglich war, auf dem Laufenden zu bleiben. Das galt auch für die Pharmaindustrie. Dass so schnell so viel Neues erfunden und entdeckt wurde, war beispiellos, und die Gesellschaften, über die die Moderne in Gestalt all dieser Umwälzungen förmlich hereinbrach, hatten noch keine Regeln entwickelt, um sich vor möglichen Gefahren zu schützen, die mit diesen Neuheiten einhergehen konnten.

Dass es so wenig Regulierung gab, hatte zwar einige unangenehme Effekte. Andererseits wurde so die fieberhafte Neuerfindung des Lebens im 19. Jahrhundert stark beschleunigt und vielleicht überhaupt erst ermöglicht. Häufig lagen nämlich Glück und Unglück in den Laboren und Tüftlerwerkstätten eng beieinander. So experimentierte zum Beispiel derselbe Felix Hoffmann in Wuppertal-Elberfeld nach der Entwicklung von Heroin weiter mit dem chemischen Verfahren der Acetylierung, das aus Morphium Diacetylmorphin gemacht hatte. Schon bald stellte er dabei Acetylsalicylsäure her, besser bekannt unter dem Markennamen »Aspirin«. Dass heute in Wuppertal eine Straße nach Felix Hoffmann benannt ist, ehrt ihn wohl eher für diese zweite große Erfindung.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts hatte sich das Verständnis davon, was Drogen eigentlich sind, in der westlichen Welt bereits sehr gewandelt. Drogen, Drugs, drogue, droghe, drogas, das waren nun nicht mehr einfach Medikamente, die man in der Drogerie seines Vertrauens erwarb und dann nach Gutdünken schluckte. Durch die Experimente und Träumereien der romantischen Dichter hatten Drogen nun den mysteriösen Ruf, Visionen und Bewusstseinszustände hervorzurufen, die das gewöhnliche Erleben veränderten und den Weg in zauberhafte, ja transzendente Zustände wiesen. Die rauschhafte Flucht aus der Realität war zu einer Verheißung geworden: In Form von Drogen kostete nun das Glück nur noch Pfennige und ließ sich in der Westentasche tragen, wie Thomas De Quincey es formulierte. Die Romantiker und ihre Schriften hatten Drogen von Medikamenten in Rauschmittel verwandelt.

Als solche bahnten sie sich bald ihren Weg in die Konsumkultur. In Europa wie in den USA kamen nun Produkte auf den Markt, die äußerlich als klassische Genussmittel auftraten, dabei aber psychoaktive Wirkstoffe enthielten, die auch in der Apotheke zu haben waren. Kokainhaltige Weinschorlen und ähnliche Gebräue wurden schick und erfüllten oft mehrere Zwecke gleichzeitig: Sie schmeckten, sie halfen gegen die nervösen Leiden, die die beschleunigte Moderne mit sich zu bringen schien, sie machten leistungsfähig, und sie machten Spaß.

Die psychoaktiven Inhaltsstoffe dieser Produkte, die irgendwo zwischen Genussmittel und Heilmittel flimmerten, wurden dabei zunehmend potenter. Die Erfindungswelle der Hochindustrialisierung führte dazu, dass vor allem die Konsument*innen in den USA, von denen es besonders viele gab, immer häufiger unter gefährlichen Nebenwirkungen wie Abhängigkeit und Überdosierung zu leiden begannen. So kippte dort die Stimmung, und auf den großen Rausch folgte schon bald der erste große Kater. Aus Rauschmitteln wurden so Rauschgifte. Besonders in der US-Gesellschaft verbanden immer mehr Menschen diffuse Ängste und Schreckbilder mit Drogen und ihrem Konsum. Diese Ängste standen unter anderem in Verbindung mit ersten wissenschaftlichen Erkenntnissen darüber, wie Drogen wirkten, welche Nebenwirkungen sie hatten und wie Substanzabhängigkeit funktioniert. Noch wichtiger für die sich verbreitende Verteufelung des Drogenrausches waren jedoch andere Ängste und Assoziationen, die mit wissenschaftlich belegbaren Fakten nichts zu tun hatten. Ihren Ursprung hatten diese Ängste nicht in medizinischen Fachzeitschriften oder pharmazeutischen Laboren – sondern in Chinatown.

2   Vom Rauschgift zur Sünde

Die Angst vor der Opiumhöhle: Drogenverbote als Folge von antichinesischem Rassismus

Obwohl es die psychoaktiven Substanzen Morphium, Kokain und Heroin waren, deren Konsum sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den USA ausbreitete, und obwohl zu allen drei Stoffen nach und nach erste mehr oder weniger nachvollziehbare Warnungen auftauchten, war es eine andere Droge, der das erste amerikanische Drogenverbot galt: Opium. Genauer gesagt verbot San Francisco 1875 das Opiumrauchen. Betroffen waren von diesem Verbot also weder die morphiumabhängigen Bürgerkriegsveteranen noch die morphiumaffinen Damen der Oberschicht noch die Fans von Vin Mariani,Coca-Cola oder heroinhaltigen Hustensäften. Betroffen war vielmehr eine Bevölkerungsgruppe, die ohnehin am Rand der US-amerikanischen Gesellschaft stand, nämlich die (überwiegend männlichen) chinesischen Einwanderer.

Sie waren in die USA gekommen, weil sie zu Hause keine rosige Zukunft sahen. Das Chinesische Reich steckte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts tief in der Krise. Die jahrhundertealte Qing-Dynastie lag in den letzten Zügen, der Taiping-Aufstand erschütterte die innere Stabilität des Landes und die sozialen und ethnischen Auseinandersetzungen nahmen kein Ende. Seit den verlorenen Opiumkriegen, von denen noch die Rede sein wird, hatten die westlichen Großmächte China zwangsweise in ihr globales Wirtschaftssystem integriert und mithilfe der sogenannten Ungleichen Verträge ihren geostrategischen und ökonomischen Interessen unterworfen. Daraufhin machten sich viele junge Männer aus dem quasikolonisierten Reich der Mitte auf, um in anderen Teilen der Welt zu arbeiten und ein besseres Leben zu finden – oder sie wurden unter Zwang als sogenannte »Kulis« ins Ausland verkauft, wo sie als Tagelöhner arbeiten mussten. In vielen Gegenden der Welt entstanden in dieser Zeit große chinesische Communitys. So auch im Westen der USA, wo Goldrausch und Eisenbahnbau viel ungelernte Arbeit erforderten und günstige Arbeitskräfte gebraucht wurden. Doch während die amerikanische Wirtschaft von der Arbeitskraft der chinesischen Migranten abhängig war und profitierte, war die lokale Gesellschaft nicht bereit, die fremden Neuankömmlinge zu integrieren. So wohnten sie unter häufig dürftigen Bedingungen in ihren segregierten Wohnvierteln, arbeiteten hart für wenig Lohn und erlebten im Kontakt mit den US-Amerikaner*innen vor allem Ausgrenzung, Diskriminierung und Rassismus. Dass auch die amerikanische Gesellschaft im Westen der USA ganz überwiegend aus Eingewanderten bestand, die oder deren Eltern erst wenige Jahre zuvor auf Ellis Island zum ersten Mal den Kontinent betreten hatten, verstärkte eher noch die Ablehnung der neuen Fremden, denn gerade die Migrant*innen in erster und zweiter Generation waren oft selbst sehr arm, und so traf sie die Konkurrenz der billigen Arbeitskräfte aus Fernost besonders hart.

Ausgeschlossen vom öffentlichen Leben, hausten die chinesischen Migranten in ihren Wohnvierteln, in denen sie gemeinsam angesiedelt wurden und überwiegend unter sich blieben: in den Chinatowns. Manche von ihnen verbrachten ihre spärliche Freizeit mit der Opiumpfeife. Die Gewohnheit des Opiumrauchens hatten sie von zu Hause mitgebracht, wo sie im späten 19. Jahrhundert weitverbreitet war.

Das wiederum hatte wenig mit der chinesischen Kultur zu tun und viel mit den imperialen Marketingstrategien europäischer Händler: Bis ins 16. Jahrhundert war Opium in China (wie in vielen Teilen der Welt) als eines der wenigen wirklich wirksamen Heil- und Schmerzmittel bekannt gewesen. Es half gegen Husten und Durchfall und rettete damit unzählige Leben. Im 16. Jahrhundert jedoch kamen niederländische und portugiesische Händler nach China. Sie brachten Tabak mit, machten die chinesische Bevölkerung mit der Kulturtechnik des Rauchens vertraut und zeigten ihnen, dass auch Opium in der Pfeife geraucht werden kann. Bereits 1729 wurde dann das Opiumrauchen in China zum ersten Mal per kaiserlichem Edikt verboten, 1813 folgte ein weiteres Verbotsgesetz. Lange bevor der moderne Drogenbegriff entstand, hatte es hier also erste Verbote gegen bestimmte psychoaktive Substanzen gegeben. Diese Verbote wiederum störten seit dem 19. Jahrhundert das britische Empire.

Großbritannien beherrschte zu dieser Zeit mit seiner Flotte, seinen Handelskompanien und seinem kolonialen Verwaltungsapparat große Teile der Welt. China gehörte jedoch um 1800 nicht zum britischen Einflussbereich. Das wurde mehr und mehr zum Problem, denn chinesische Produkte wie Porzellan, Seide und vor allem Tee entwickelten sich in dieser Zeit in den britischen Oberschichten zu absoluten Must-haves