Der Hacker - James Douglas - E-Book

Der Hacker E-Book

James Douglas

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Beschreibung

Hochbrisanter Thriller um einen gefährlichen, den Westen bedrohenden Hacker Der Superhacker Gladio mit Zugriff auf Quantencomputer knackt die geheimsten Codes, bricht Blockchains auf und raubt Millionen. Die Chinesen jagen ihn, um sein bahnbrechendes Talent für ihre Cyberangriffe auf die westliche Wirtschaft zu gewinnen. CIA und NSA haben Alarmstufe rot. Die Mafia versteckt das Genie in Sizilien, und Michael Cooper hat von höchster Stelle die unmögliche Aufgabe, Gladio vor allen anderen zu finden, unschädlich zu machen, um den Kollaps der Systeme zu verhindern. Die packende Handlung läuft rasant vor dem Hintergrund eines raffinierten Plans der Chinesen ab, die sich in Sizilien festsetzen.

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© 2023 Langen Müller Verlag GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Wolfgang Heinzel

Umschlagmotiv: Adimas – stock.adobe.com

Satz und E-Book Konvertierung: VerlagsService Dietmar Schmitz GmbH, Heimstetten

ISBN: 978-3-7844-8461-7

www.langenmueller.de

Dies ist ein Werk der Fiktion. Namen, Personen, Orte und Begebenheiten sind entweder der Fantasie des Autors entsprungen oder werden fiktiv verwendet. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen lebenden oder toten Personen, Ereignissen oder Orten ist rein zufällig.

Inhalt

HAUPTPERSONEN

NÜTZLICHE BEGRIFFE

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EPILOG

HAUPTPERSONEN

Der Shop(Kronos Security)

Ken Cooper, Gründer

Michael Cooper, CEO

Miss Luckytippse, Assistentin

Hans Bieri, CIO (IT)

Zaq Zoller

Vanessa de Sousa

Lia Sachs

Quintus Fisch, Q genannt

Richard Ricky Dixon, Special Agent, von CIA ausgeliehen

Die Chinesen

Jiang Xin, Agent MSS und Vizepräsident der China State Con-

struction Engineering Corporation

Zhen, Frau von Jiang Xin

Yue Fei, Nachrichtenoffizier

Qin Baodong, »Bohnenstange«, Geheimdienstchef

Bo Keqiang, Ingenieur für Bewässerungsprojekte

Ho Zhao, hoher Beamter im Ministerium für Staatssicherheit, Attentatsopfer

Die Sizilianer

Raffaele Toscano, Gouverneur von Sizilien

Luciana Cattini, Bürgermeisterin von Catania

Marco Meloni, Chef Infrastruktur und Verkehr

Giovanni Leone, Vizepräsident Finanz und Wirtschaft

Sophia Luisa Monte-Pagni, CIA-Stationsleiterin

Mario Machini, Medienzar, Chef von Mediaglobe

Camille Colombo, Richter

Tina Mazzini, Carabiniere

Lorenzo Canonica, Commissario

Aldo Montefiore, Verleger

Carlo Craxi, italienischer Auslandsgeheimdienst AISE

John McKenzie, Journalist The Sun.

Brantner-Söldner

Captain Brown

Wolfgang Steiner

Tango und Oscar, Auftragskiller

Snipy, Scharfschütze

USA

Bill Baker, CIA-Direktor

Riff Johnsten, NSA-Agent

Mafia, Cosa Nostra

Benito Bastone, der Don

Vincenzo Bianchi, Consigliere

Marcello und Davide Bastone

Nicole Bastone, leitet die Banesto Baufirma

Antonio, Stellvertreter von Nicole Bastone

Tomba, Bauführer von Banesto

Pater Laurentius, Abt des Mönchsordens Santa Christina

Nützliche Begriffe

ANSA

Agenzia Nazionale Stampa Associata, Nachrichtenagentur

AISE

Italienischer Auslandsgeheimdienst

MSS

Ministry of State Security, Shanghai

NSA

Bundessicherheitsdienst der USA

NORM

Nucleo Operativo Radio Mobile (Mobile Eingreiftruppe der Carabinieri)

DIGOS

Divisione Investigazioni Generali e Operazioni Speciali, Abteilung der italienischen Staatspolizei für Sonderoperationen gegen Terrorismus

101 Overseas

Bezeichnung der chinesischen Polizeistationen in Italien

Quantencomputer

können alle Verschlüsselungen in kürzester Zeit knacken.

PQC

Post-Quantum-Kryptographie, Maßnahmen zum Schutz vor Hacks durch Quanten-Computing

Blockchain

Blockkette von Datensätzen, die hintereinander abgespeichert werden, wodurch eine Datensatzkette entsteht. Die bekannteste Anwendung sind Kryptowährungen wie Bitcoin und Ethereum.

Waffen

Kalaschnikow; Glock 17, 19, 20, 45; Scharfschützengewehr Sako Trg 42; Norinco 320, chinesische MP; chinesisches Sturmgewehr 95

Milit. Fahrzeuge

Z-20, neuester Helikopter der chinesischen Volksbefreiungsarmee; Super-Puma Helikopter; Hummer Geländefahrzeug

1

Bern, Bundesstadt

Der Bulle lauert, grummelt … heult jäh auf, prescht aus der Deckung. Hinaus in die unbelebte Quartierstraße, rammt den noblen Personenwagen seitlich, genau in der Mitte. Es ist 11.05 Uhr vormittags, die hohe Schnauze der Sattelzugmaschine furchterregend. Die Wucht des Aufpralls schleudert die elegante Limousine über den Gehsteig, als hätte sie nicht mehr gewogen als das Benzin im Tank. Im Park kracht sie aufs Dach, die Räder laufen aus, Rauch quillt, Dampf zischt, der Motor verstummt.

Die sechsrädrige Zugmaschine setzt ruppig zurück, kurvt knirschend vorwärts und entschwindet mit Gedröhn hinter den grauen Fassaden des ruhigen Viertels.

Zoller liegt platt auf der Erde. Seine Hände krallen sich ins Gras. Irgendein Gegenstand hat ihn haarscharf gestreift. Als er sich schließlich aufzuschauen getraut, blickt er in ein verzerrtes Gesicht. Ein starrer Blick aus einem dunkelbraunen Auge erschaudert ihn. Das andere ist vom Blut aus der hässlichen, in die hohe Stirn gefurchten Schramme verklebt. Zoller wälzt sich heran, legt zwei Finger an den Hals des Reglosen. Kein Puls. »Der ist mause …« Kniend betrachtet er die grauenvolle Szene angewidert. Den Kerl hat es aus dem Wageninneren geworfen, jetzt liegt er halb verdreht auf dem Rücken, seine Beine hat es im aufgerissenen Schlag des gerammten Wagens verklemmt. Zoller glotzt auf den dunklen Anzug, die rot gestreifte Krawatte, das blutverschmierte, blau gesprenkelte Hemd. »Keiner von uns.« Das ist ihm klar. Ein Asiate, scheint ihm, etwa Chinese? »Das werden wir gleich herausfinden«, keucht er, späht nach allen Seiten. Kein Mensch in Sicht. Ein schwarzgrauer Himmel drückt auf die Stadt. Kein Spazierwetter. Die Meteo hat für den Vormittag Regenschauer angesagt. Vorsichtig tastet er den Sakko des Toten ab, greift schließlich in seine Brusttasche, wo er etwas spürt und eine Brieftasche hervorklaubt. Er betrachtet den Fund. Eine schwarze Emporio Armani. Hübsch, aber nicht extravagant. Und sie ist leicht gealtert, mit ein paar Schrammen und Kerben im Leder.

Zoller fummelt in der Brieftasche, zieht Geldscheine, etwa zweihundert Euro heraus, dann das Foto einer jungen Frau. Aber findet nichts, was auf die Identität des Mannes hinweist. Er klopft nochmals die Jacke ab, spürt ein Smartphone, das er einsteckt. Gut.

Zoller erhebt sich keuchend mit seiner Beute, starrt entgeistert auf den Unterboden des umgeworfenen Fahrzeugs, die lange, eingedrückte Kühlerhaube. Eine Limousine der besseren Sorte. Eine Staatskarosse vielleicht. Seinen Migros-Einkaufswagen hat es umgeworfen. Er springt hin, stellt ihn auf, sammelt hastig seine zerstreuten Habseligkeiten ein. Dabei stolpert er. »Was zum Teufel ist das? Ein Aktenkoffer!« Er schmeißt ihn zum andern Krempel im Einkaufswägelchen, als er Motorengeräusch hört. Es kommt rasch näher. Er späht zur Straße. Hastig bringt er sich hinter dichten Hecken, vermutlich Eiben, in Deckung. Jedenfalls hat er Sichtschutz, und als er ein paar Zweige zur Seite schiebt, sieht er auf der anderen Straßenseite den schweren Range Rover. Er hält kreischend an, ist keine noble Version mit schimmerndem Mattlack. Die Karosserie ist zerkratzt, ein älteres Modell, registriert Zoller automatisch, kann weder besondere Merkmale ausmachen noch das Kfz-Kennzeichen erkennen.

Der Kerl, der aussteigt, wirkt einschüchternd. Kräftig gebaut, rundes Gesicht, kahl rasierter Schädel, schwarzer Anzug, Sonnenbrille. Er rennt über die Straße zum rauchenden Wrack. Zoller verkriecht sich tiefer in die Eiben. Atemlos beobachtet er, wie der Kerl sich duckt, durch die Scheiben späht, zum Fahrer vermutlich.

Rasch richtet er sich wieder auf, geht um die Limousine herum, beugt sich über den reglosen Asiaten, prüft den Puls am Hals, durchwühlt seine Taschen. Obszön fluchend kniet er sich vor dem aufgerissenen Schlag hin, taucht mit dem Kopf in den Fond. Zoller läuft es eiskalt den Rücken hinunter. Habe ich etwa das Zeugs gefunden, das der Kerl sucht? Wenn er jetzt gesehen würde, weiß der Himmel, wie er mit diesem Spinner fertigwürde. Geduckt hält er sich bockstill, während der dubiose Kerl wieder zum Vorschein kommt, frustriert die Arme verwirft. Dann macht er ein paar Schritte weiter in den Park hinein, hält das Mobiltelefon am Ohr, sucht konzentriert den Boden rundherum ab, fotografiert. Schließlich gibt er mit Schulterzucken auf.

Da sieht Zoller hinter einem der breiten Platanenstämme unvermittelt eine junge Frau auftauchen, und eine Faust schlägt ihm das Herz bis in die Kehle. Das darf doch nicht wahr sein! Nichts ahnend schiebt sie einen Buggy vor sich her. Zoller möchte ihr zurufen, aber er bringt keinen Ton heraus. Die Ahnungslose bleibt jetzt stehen, hebt mit beiden Händen das Handy vor ihr Gesicht.

Sie fotografiert die Unglücksstelle … nachvollziehbar, aber dumm.

Der Kahle realisiert, was sie vorhat, geht rasch auf sie zu. Zoller beobachtet ihn von hinten, starrt auf seinen Rücken, bemerkt, wie er die Arme nach vorne streckt, und hört, was er befürchtet – eine rasche Folge von Schalldämpferpuffen. Die entsetzliche Szene würde er nie im Leben vergessen. Die Frau erstarrt mit weit aufgerissenen Augen, torkelt von den Schüssen getroffen rückwärts, stürzt und bleibt verrenkt auf dem Gehweg liegen.

Wut kocht in Zoller. Er muss sich beherrschen, dem feigen Täter nicht an die Gurgel zu springen, doch Vernunft nimmt überhand, er sieht keine Chance, das fiese Schwein zu überwältigen. Er hält sich still, beobachtet wutentbrannt, wie der Killer zu seinem Opfer springt, ihr Handy aufsammelt, kehrtmacht, über die Leiche des Asiaten zurück zum Range Rover hastet. Der Motor heult auf, der bullige Wagen schnellt auf die Straße, rast davon. Das Geräusch des Diesels verklingt in der Ferne.

2

Im Pädagogen Park

Unheimliche Stille senkt sich über die Unfallstelle. Einzig eine Krähe krächzt: »Tod, Tod.« Nur langsam erwacht Zaq Zoller aus seiner Erstarrung. Er hat schon Schlimmeres gesehen. Seine Lehre hat er in den Wirren zwischen Serben und Albanern im Kosovo abgeschlossen und gelernt, wie man mit Sprengsätzen, Minen und Heckenschützen fertigwird. Da, mitten in der friedlichen Hauptstadt der sicheren Schweiz, ist gerade ein kaltblütiger Mord geschehen. Terror. Angewidert, zornig nähert er sich dem Opfer, das reglos neben seinem Buggy liegt. Einfach unfassbar. War die Frau auf ihrem Baby-Spaziergang ein schlechter Mensch? Sicher nicht, sie war eine ehrbare Mutter, zur falschen Zeit am falschen Ort. Sie liegt auf dem Rücken, die offene, blaue Regenjacke entblößt ihre Brust. Blut befleckt die lila Bluse. Zoller erkennt rasch, dass jede Hilfe zu spät kommt. Er drückt ihr die Lider zu. Mehr ist nicht zu tun. Das Baby im Buggy schläft, gottlob. Zoller rennt zurück, packt seinen Einkaufswagen fest an den orangenen Griffen und macht sich hastig in Richtung der nördlichen Parkseite davon.

Er versucht, seine wirbelnden Gedanken zu ordnen, als er an der Statue von Meister Pädagoge vorbeihastet, der ein Buch in der Hand hält. Des Meisters Wirken beruhte auf seinem leidenschaftlichen Interesse an Menschen und neuen Lehrmethoden für Kinder. Welch krasser Gegensatz: hier ein Wohltäter, da ein brutaler Killer.

Erste Regentropfen klatschen auf Zollers schwarzes, struppiges Haar. Da rennt ihm ein junger Mann entgegen, ruft: »Mensch, was ist passiert?« Zoller hält den Kopf gesenkt, sagt nichts. Erst als er die Unterführung erreicht, atmet er wieder regelmäßig und schaut reflexartig auf seine Armbanduhr. Zwanzig vor zwölf zeigt sie ihm an. Was ist in den vergangenen Minuten passiert? Er versucht, das Geschehen zu rekonstruieren. Die Zugmaschine ohne den zehnrädrigen Anhänger auf dem Sattel ist in der Tat ein schnell einsetzbarer Rammbock gewesen. Vorne am hohen Kühlergrill klebten drei metallene, matte Buchstaben, M.A.N., darunter eine Rammplatte, sonst erinnert sich Zoller an keine Merkmale. Er muss beeindruckt zugestehen, dass die Täter den Angriff schnell und unglaublich präzis ausgeführt haben. Wie aus dem Nichts ist das Monster aufgetaucht. Aber was ist es, wonach der skrupellose Killer gesucht hat? Zoller hofft, eine Antwort zu bekommen, wenn er erst einmal seine Beute gesichtet hat. Worüber er sich in seinem blanken Entsetzen mit etwas Befriedigung Rechenschaft gibt, ist der Umstand, dass der Plan offenbar erfolglos blieb, weil der Kerl mit seiner heimtückischen, barbarischen Aktion dem mysteriösen Passagier offensichtlich nicht abnehmen konnte, wonach er gesucht hat. Nichts gefunden, Ziel verpasst.

Hauptsache war für Zoller im Moment, dass er davongekommen ist. Um ein Haar hätte ihn die fortgeschleuderte Limousine unter sich begraben.

Jedenfalls, sagt er sich, muss ich mich mit der Situation gründlich befassen. Wenn es ein Botschaftswagen war, der auf das Dach krachte, war im Wageninneren womöglich eine Kamera montiert, und wenn es dumm läuft, hat eine sein Gesicht erfasst.

Nun, er war nicht zufällig im Park, was die Sache komplizierte.

Hat ihm der verehrte Menschenfreund auf dem Sockel etwa eine Chance gegeben? Zoller ist sich klar, dass er gerade in eine neue Schleife seiner Karriere katapultiert worden ist, deshalb denkt er scharf voraus, überlegt die übliche Vorgehensweise und nimmt die fernen Sirenen von Polizei und Rettung kaum noch wahr. Das Gesicht des Killers hat er sich hingegen fest eingeprägt und im Geist nach allen Regeln der Kunst ein Signalement erstellt. Polizei und Nachrichtendienste könnten daran interessiert sein. Aber er verwirft den Gedanken, laut sagt er, als sei es ihm eben eingefallen: »Das ist definitiv ein Fall für Ken Cooper.«

Etwas erleichtert reibt er sich das Kinn, als er sich wenig später auf dem Gehsteig dem mehrstöckigen, grauen Gebäude mit einer schlaff heraushängenden Fahne nähert. Da weckt ihn eine kühne Idee auf. Warum nicht die Frau anrufen, die einmal mit dem Anwalt zusammenlebte, der wie Meister Pädagoge hieß, ihn dann abservierte und irgendwie einsam sein könnte. Lia, meine Güte, war die eine Sünde wert. Lia Sachs, die femme fatale, was macht sie bloß heute …?

Nach gut fünfzig Metern bleibt er vor der Tür mit der Aufschrift Ladezonenicht versperren stehen, öffnet sie und schiebt seinen Obdachlosenwagen durch einen dunklen Gang, wo am Ende eine vergitterte Glühlampe den Eingang zur Suppenküche der Heilsarmee beleuchtet.

3

In der chinesischen Mission

Es ist schon spät in der Nacht – oder früh am Morgen – im Empfangsraum im Erdgeschoss der Botschaft der Volksrepublik China in Bern, am Kalcheggweg 10. Der drahtige Jiang Xin, der auf der Gästeliste der Botschaft als Vizepräsident der China State Construction Engineering Corporation aufgeführt ist, unterdrückt ein Gähnen.

Diese angebliche Party sollte schon vor über einer Stunde zu Ende sein, aber die Gäste aus Libyen wollen immer noch nicht gehen. Es sind politische Führer, Vertreter der Ölwirtschaft und militärische Offiziere, bunt gekleidet in Uniformen, Streifen und Orden – sie rauchen, trinken und unterhalten sich noch immer mit ihren geduldigen Gastgebern in verschiedenen Ecken des Raumes.

Jiang Xin entdeckt den smarten Botschaftssekretär im Gespräch mit einem breitschultrigen, mit der Zigarre herumfuchtelnden General, der ihn vermutlich mit Fragen über die Verstärkung der Brantner-Söldner in Libyen löchert. Die Libyer haben wahrlich etwas zu feiern, denn die Privatarmee Brantner hat in ihrem Land die Gleichgewichte zu Gunsten Chinas verschoben, indem Sicherheit und Ordnung in Ölindustrie und Handel wieder gewährleistet sind. Die Generäle und Funktionäre von Chinas Gnaden profitieren und machen Kasse. »Okay, für mich«, brummelt Jiang, »hoffe nur, dass ich ein Brantner-Kontingent in Sizilien zur Verfügung haben werde.« Er hat den entsprechenden Antrag für die privaten Sonderkräfte gestellt, um die Bauführung der Bewässerungsprojekte durch seine Construction andEngineering Corporation vor unliebsamen Störungen chinafeindlicher Aktivisten zu schützen.

Ruhig beobachtet er weiter, wie seine Landsleute tapfer für das Zhōng guó – das Reich der Mitte – eintreten, indem sie lächeln, über die dummen Humorversuche lachen und ihre überdrehten Gäste unterhalten. Die Libyer sind doch Barbaren, denkt Jiang Xin. Selbst als die Lichter gedämpft und die Speiseteller sowie die Schnaps- und Bierflaschen – Heineken und Tsingtao – entfernt wurden, verstehen die grobschlächtigen Wüstenbewohner nicht die Botschaft, nach Hause zu gehen.

Jiang Xin zieht eine Schachtel Zhonghua-Zigaretten aus der zugeknöpften, parteikonformen Jacke und zündet sich eine an. Allein zwischen zwei großen Topfpflanzen stehend, schaut er in die vernebelte Runde, wer mit wem spricht, wer den Kellnerinnen zu nahe kommt, wer vom Botschaftspersonal sich undiszipliniert benimmt. Es ist gut, im Voraus informiert zu sein.

Ein Junge namens Han in einem schlecht sitzenden schwarzen Anzug kommt von der anderen Seite des Bankettsaals herein und nähert sich Jiang, der einen letzten Zug an der Zigarette nimmt, sie in die Erde der nächstgelegenen Topfpflanze drückt und wartet. Han kommt zu ihm, verbeugt sich leicht, entschuldigt sich und sagt, dass Jiangs Anwesenheit im Untergeschoss erwünscht sei.

»Die Pflicht ruft, nicht wahr?«, grölt ein stämmiger Libyer und versperrt Jiang Xin den Weg. »Pflicht ja … ich muss sagen, eure Anwesenheit in meinem Land hat uns viel gebracht. Vor allem die Italiener, aber auch die Franzosen und Briten, die Katarer … Sie alle haben versucht, uns zu beherrschen, uns unsere Ressourcen zu rauben. Wer hätte gedacht, dass die gelbe Rasse um die halbe Welt reist, um uns mit ihrer Weisheit und ihrem Wissen zu beglücken?«

Jiang kann sich kaum beherrschen – die gelbe Rasse, in der Tat – und ist versucht, den Mann herumzuwirbeln, zu verstauchen und ihm das Genick zu brechen. Stattdessen lächelt er weiter, drückt die Hände des Mannes und sagt: »Wenn ich das nächste Mal nach Peking zurückkehre, werde ich dafür sorgen, dass Ihre Dankesworte an unseren Präsidenten weitergeleitet werden.«

»Danke, Sir, und wir schätzen es über alles, auf neutralem Boden der Schweiz zu verhandeln, anstatt in Drecklöchern wie …«

Jiang Xin hört den Rest nicht mehr, geht zügig davon. Die Pflicht. Jiang kann nicht umhin, wieder an die großen Projekte, die er betreut, zu denken. Sein Land hat unter der Führung des großen Präsidenten im Rahmen des Programms Belt and Road Investitionen in Libyen und in anderen armen Ländern der Welt getätigt. In der Öffentlichkeit verbreitet die Regierung geschickt das Mantra, dass es für China als wachsende Weltmacht nur eine Möglichkeit ist, seinen Wohlstand und sein Wissen mit anderen Völkern zu teilen. Jiang wäre jedoch nicht Jiang, wenn er das wahre Ziel seines Präsidenten nicht kannte: die Sicherung von Bodenschätzen und künftigen Militärstützpunkten, damit China nie wieder isoliert und gedemütigt werden kann, wie es in seiner langen Geschichte so oft geschehen ist.

Jiangs Gedanken schweifen in die wogenden libyschen Wüsten, in denen vor Jahrzehnten die Deutschen und Briten verzweifelt kämpften und Montgomery schließlich seinen Gegenspieler Rommel in El Alamein besiegte. Davon zeugen heute noch zerstörte Panzer, die aus dem unverzeihlichen Sand ragen.

»Jetzt ist es die große Volksbefreiungsarmee, die mit Söldnertruppen, Panzern, Helikoptern in Tripolis aufmarschiert«, klopft sich Xin befriedigt auf die Brust.

4

In der Einsatzzentrale

Jiang öffnet die Tür zum Untergeschoss, geht an einem Botschaftswächter mit einer Pistole im Halfter vorbei, das kaum von seinem schwarzen Anzug verdeckt wird, und kommt zu einer schweren Stahltür, die mit einem Handabdrucklesegerät ausgestattet ist. Jiang drückt seine rechte Hand darauf, die Stahltür schwingt auf, und er steht in der angenehm kühlen, rund um die Uhr besetzten Einsatzzentrale des chinesischen Ministeriums für Staatssicherheit.

Der Raum ist vollgestopft mit Aktenschränken, Schaltpulten, Arbeitstischen mit Monitoren, auf denen CNN, BBC und der chinesische CCTV-13-Nachrichtensender laufen. Yue Fei sitzt am Kopf des Konferenztisches. Er ist ein großer, taff aussehender Geheimdienstoffizier und schaut zu den drei 60-Zoll-Plasmabildschirmen an der Wand, auf denen das Mittelmeer mit topografischen Ansichten von Nordafrika, Malta und Sizilien zu sehen sind. Auch fünf seiner Mitarbeiter sitzen in dieser Nacht in respektvollem Abstand am Tisch – wachen Blicks, die Finger über den Tastaturen ihrer Laptops gespreizt.

»Die Amerikaner führen etwas im Schilde«, bemerkt Fei.

Jiang setzt sich auf den freien Sessel. »Tun sie das nicht immer? Was ist es denn dieses Mal?«

»Eines der amphibischen Schiffe der Siebten Flotte dümpelt vor der Südküste Taiwans.«

Jiang weiß, wovon Fei spricht. Die Siebte Flotte hat vier Amphibienschiffe, und er fragt: »Wissen wir, welches es ist? Das größte davon ist das amphibische Angriffsschiff USS America.«

»Wir haben es noch nicht eindeutig identifiziert. Der Schiffstyp ist jedoch nicht unsere primäre Sorge.« Fei dreht sich um, streckt eine Hand zum großen Bildschirm. »Ich glaube, dass wir es mit Landemanövern zu tun haben, und Taipeh macht bei den Übungen mit. Die Amerikaner spielen mit dem Feuer, Genosse Xin.«

Jiang Xin betrachtet mit der Hand am Kinn eine Trägergruppe, die sich zu nähern scheint. Eine solche Ansammlung militärischer Macht vor Taiwan hat er noch nie gesehen. Aber es passt irgendwie in seine Beurteilung. Während seiner Zeit in Washington hatte er die geopolitischen Absichten der USA gründlich studiert. Sich räuspernd sagt er, »wir haben es mit einer Provokation zu tun«.

Als Fei nur die Schultern zuckt, fährt er fort: »Wenn Sie gestatten, meine Sicht der Dinge?«

Fei zeigt ihm zwei ausgebreitete Hände. »Meinetwegen. Fassen Sie sich kurz.«

»Es geht bei meiner These zunächst um Wladimir Putins Invasion. Wenn nicht gezielt provoziert, so haben die USA diesen Angriff auf die Ukraine bewusst riskiert. Russland soll in der Ukraine dauerhaft gebunden bleiben und derart geschwächt werden, dass es nie mehr einen Nachbarn überfallen kann.«

»Worin besteht die Provokation?«

»Nun, es ist so, seit 2014 machte Washington das Land de facto immer mehr zu einem Mitglied des westlichen Militärbündnisses …«

»Ich verstehe«, unterbricht Fei, »und damit in den Augen Moskaus zu einer existenziellen Bedrohung.«

»Haargenau.« Jiang nickt mehrmals. »Es ist faszinierend. Putin war den USA schon länger ein Dorn im Auge, und nach seinem Einmarsch in die Ukraine will der US-Präsident ihm und Russland nun den Rest geben.«

Ein Operateur mit randloser Brille räuspert sich und zeigt auf den Plasmabildschirm. »Diese Aufnahme haben wir gerade von unserer KJ-600 erhalten«, sagt er.

Jiang starrt auf das Bild mit dem großen Schiff der U.S. Navy, das fast so lang ist wie einer ihrer Flugzeugträger. Die vom Operateur erwähnte KJ-600 ist eine Kopie des amerikanischen Frühwarnflugzeugs E-2 Hawkeye, in der U.S. Air Force auch unter dem Spitznamen Looking Glass geläufig.

Die Luftaufnahmen der KJ-600 sind gestochen scharf. »Es ist die USS America, ohne Zweifel«, sagt Jiang. Fei nickt. Er schätzt Jiangs analytische Fähigkeiten, seine nüchternen Lagebeurteilungen. Seit seiner Rückberufung nach Bern an die Botschaft der Volksrepublik China ist ein knappes Jahr verstrichen. Vorher hat sich Jiang als Assistent des Militärattachés in Washington intensiv mit den amerikanischen Streitkräften befasst und der Staatssicherheit brisante Informationen geliefert. Fei hat ihn um seinen Posten in Washington stets beneidet, und obwohl er Jiangs Expertise schätzt, kann Fei den Argwohn nicht loswerden, Jiang könnte während seiner Tätigkeit in Washington von der CIA abgeworben worden sein.

Er verscheucht den nagenden Gedanken und sagt: »Zurück zu Ihrer Analyse, Genosse. Wie beurteilen Sie, was wir hier sehen.«

Jiang nimmt bedächtig einen Schluck Wasser, bevor er antwortet. »Die Fallensteller in Washington blicken jetzt nach Fernost. Das Kalkül mit der Ukraine ist aufgegangen, jetzt provozieren sie uns, Genosse. Der US-Präsident hat erstmals klargemacht, dass er militärisch intervenieren würde, falls wir einen bewaffneten Angriff auf Taiwan auslösen. Diese Flottenmanöver vor unseren Augen sind Warnzeichen. Zugleich stärkt Washington Taiwans Streitkräfte, liefert modernste Waffen und Ausbilder … Wie gehabt in der Ukraine.«

»Verdammt, und zwingen uns zu aggressiverem Handeln.«

»Sagen wir es so, Genosse. Wie in der Ukraine Russland, so setzt Washington China in Taiwan an unserer empfindlichsten Stelle unter Druck. Reagieren wir darauf genauso wie Moskau, werden auch die Folgen genauso schlimm sein. Oder schlimmer.«

Fei scheint den Gedanken zu verdauen, nickt mehrmals. Wieder hat Jiang ihm eine brillante Analyse gegeben. Ein guter Undercoveragent, vielleicht einer der besten. Geeignet für besondere Missionen. Schon deshalb würde er ihn im Auge behalten.

Dann macht er Jiang mit einer lässigen Geste deutlich, dass er fortfahren soll.

5

Lagebeurteilung

Jiang Xin nimmt einen Laserpointer in die Hand und umkreist mit dem roten Strahl die Landkarte von Taiwan. »Es gibt nicht viele Strände, die meiner Meinung nach für eine Landungsoperation in Frage kommen.« Er deutet auf den Kenting Beach. »Dieser Strand im Süden ist 180 000 Quadratmeter groß und blickt im Westen auf die Taiwanstraße und im Osten auf den Pazifischen Ozean.« Er zirkelt mit dem Laserpointer über die Ostküste. »Hier ist mein Favorit, der Fulong Beach. Er ist drei Kilometer lang und liegt an der östlichen Küstenlinie. Vom Fulong-Strand aus hätten die Amerikaner den besten und schnellsten Zugang zur Hauptstadt Taipeh.«

Fei nickt bestätigend. »Das leuchtet ein. Bitte schreiben Sie ein kurzes Memo über das, was Sie mir gerade erzählt haben, ich werde es nach Peking weiterleiten. Unser Problem sind die Italiener.«

Jiang Xin hat während der Party im Bankettraum die italienische Delegation aus den Augen verloren und sich darüber gewundert.

»Übrigens, es scheint, die Itaker sind früh gegangen«, sagt er.

Yue Fei murmelt Zustimmung. »Sie haben mir eine Einladung überbracht. Sie möchten uns auf ihrem Flugzeugträger Cavour begrüßen, vermutlich auf der Marinebasis Tarent.«

Jiang reibt sich das Kinn. »Ein gutes Omen für unser Projekt, denke ich … Übrigens, Admiral Benedetto vom Logistikkommando der italienischen Armee hat mit drei Zivilisten dicke Zigarren geraucht. Wer waren die anderen?«, fragt er.

»Ach so, der in blauen Hosen und weißem Kittel war der stellvertretende Verteidigungsminister. Der andere, im schwarzen Blazer, war Enrico Rosso, der neue Minister für Infrastruktur.« Fei hebt grinsend die Brauen. »Den Dritten? Der mit dem blonden Toupet, den kennen Sie, natürlich, hab ich recht?«

Jiang erwidert das Grinsen. »Natürlich, der Gouverneur von Sizilien. Raffaele Toscano. Er redete ständig von den Canali.«

Fei nickt. »Ist doch klar, es geht ihm um das Megaprojekt der Bewässerungskanäle. Sizilien ist ausgetrocknet wie die Wüste Gobi. Wo stehen wir mit den Projektierungen, Genosse Xin?«

»Wir arbeiten mit Hochdruck daran, sie sind praktisch fertig, und mein Plan ist, die Projekte dem Gouverneur in den nächsten Tagen zu unterbreiten. Toscano ist die Schlüsselfigur für unsere Projekte.« Jiang macht eine Pause, dann betont er: »Wir geben Schub, indem wir dem Gouverneur die Projekte finanzieren. Ich habe ihm bereits den Entwurf eines Finanzierungsabkommens zugestellt. Noch geheim.«

»Gut«, anerkennt Fei, »ich habe gehört, dass die Sizilianer schlicht und einfach keine Projekte fertigbringen, die inhaltlich und formell die Kriterien der EU erfüllen.«

»So ist es, Genosse Fei, man spottet ja im Norden, die Sizilianer seien nicht gerade mit Scharfsinn gesegnet. Die Mauren haben vor tausend Jahren Sizilien erobert, das Resultat war Mord und Totschlag.«

»Das ist ihnen geblieben«, höhnt Fei. »Die Sizilianer sind heute noch halbe Araber.«

Lächelnd erwidert Jiang, »gewiss, aber wir werden ihnen helfen, die Schmähungen des Nordens mit dem neuen Wohlstand zu beantworten, der vom Himmel fallen wird, wenn wir Geld in ihre marode Wirtschaft pumpen.«

Als ihn nur ein Stirnrunzeln trifft, fährt er fort: »Nun, Sie haben recht, Genosse Fei, in Sizilien fehlen tatsächlich qualifizierte Fachleute, vor allem Architekten und Ingenieure.«

Der Geheimdienstchef legt die Hände an die Schläfen. Alle im Raum blicken gebannt herüber, als er energisch das Kinn reckt und den Operateuren scharf befiehlt, den Raum zu verlassen. Jiang spürt, dass etwas in der Luft liegt, drängt sie zur Eile, schließt die Tür hinter dem Letzten und blickt erwartungsvoll zu Fei, der gleich zur Sache kommt. »Hören Sie, Jiang, Sie sind für die Umsetzung der Prinzipien unseres verehrten Führers Xi Jinping in Sizilien verantwortlich.« Er schaut Jiang durchdringend an.

»Ist mir eine Ehre, Genosse Fei.«

Fei schlenkert ihm die Hand entgegen. »Sie riskieren Kopf und Kragen, wenn es nicht nach Programm läuft.«

Jiang schluckt, sagt nichts.

»Für Sizilien gelten die gleichen drei Phasen, wie sie unser Staatschef überall in unseren Einflusssphären festgelegt hat.« Jiang hört aufmerksam zu, klopft mit den Fingerspitzen auf seine Akte, atmet tief durch und fragt rhetorisch: »drei Phasen?«

Yue Fei streckt ihm eine Handfläche entgegen. »Ich rekapituliere. Also, Phase eins: Wir bauen in Rekordzeit die dringend benötigten Infrastrukturen; in Sizilien sind es die Bewässerungsanlagen, Straßen, und in Agrigento bauen wir den Marinestützpunkt.« Er steht auf, tritt vor den Plasmabildschirm und sagt zum topografischen Ausschnitt Siziliens: »Zu Phase zwei: Wir finanzieren großzügig mit Darlehen, gesichert durch die Infrastrukturanlagen, die im Fall der Insolvenz an uns zurückfallen.«

»Das ist der Köder«, murmelt Jiang. Fei nickt, dreht sich um, nimmt einen Schluck aus der Wasserflasche, dann hebt er bedeutungsvoll die Hand. »In Phase drei haben wir es auf Wirtschaft und Forschung abgesehen. Folgen Sie mir?« Er blickt skeptisch zu Jiang, der prompt antwortet: »Ja, es geht um Hightech und das Knowhow des Westens, das wir ausspionieren, mit unseren Cyberspezialisten absaugen, danach nach Hause schicken und der Volksbefreiungsarmee zur Verfügung stellen. Sehe ich das richtig? Ist es die übliche Vorgehensweise?«

Yue Fei schürzt die Lippen, nickt bloß ein paar Mal.

Jiang überlegt, ob er die Metapher zitieren soll, die er neulich in der Zeitung der Volksbefreiungsarmee gelesen hat: Blumen pflücken in fremden Ländern, um daraus in China Honig zu machen. Aber er hütet seine Zunge; denn ihm ist klar: Du darfst nicht gescheiter sein als der Chef, du sollst nicht mit besserem Wissen angeben … Laut sagt er: »Die drei Phasen sind ungeschlagen, Genosse Fei. Genau das machen wir in Sizilien.«

Fei schüttelt Jiangs Euphorie ab. Dicke Falten ziehen sich über seine Stirn, als er ernst fortfährt. »Um es klar auszudrücken, von unserer neuen Basis in Sizilien werden wir Regierungsämter, Geschäftspartner, Unternehmen, Infrastrukturen auskundschaften. So können wir Knowhow, Technologien abschöpfen und hinter ihre Absichten kommen.« Feis Gesicht hat sich aufgehellt. »Nötigenfalls können wir stören oder sabotieren, wenn unsere Interessen gefährdet sind.« Nach der Wasserflasche greifend mustert er Jiang mit zugekniffenen Augen, während dieser überlegt. Peking hat einen Militärstützpunkt in Djibouti, in Libyen sind die Chinesen die dominierende, ausländische Macht. Das größte Kontingent der Brantner-Söldner ist in Tripolis stationiert. Mit der Basis in Sizilien würde Peking das östliche Mittelmeer beherrschen, Piräus ist bereits chinesisch, in Montenegro an der Adria haben wir Fuß gefasst. Er räuspert sich. »Ich sehe die strategische Bedeutung Siziliens klipp und klar. Ich werde Sie nicht enttäuschen, Genosse Fei. Mit vollem Einsatz werde ich dafür sorgen, dass die drei Phasen erfolgreich verwirklicht werden.«

»Gut, noch etwas, Genosse Xin.« Fei wartet, bis ihm Xin in die Augen blickt. »Unser Dienstchef Qin Baodong wird Ihnen noch spezielle Instruktionen erteilen. Übrigens, wo wollen Sie sich in Sizilien einrichten?«

»In Agrigento.«

»Das ist gut. Die Zentrale ist da ebenfalls verdeckt vertreten. Ich verschaffe Ihnen den Kontakt.«

Jiang kennt die Projekte der Volksbefreiungsarmee für den Marinestützpunkt Agrigento. Er entsteht nahe der Stadt und soll mit einer Wartungswerkstatt, zwei Piers, einem Trockendock, einer Slip-Anlage und Möglichkeiten für das Anlegen größerer Schiffe ausgestattet werden. Der italienischen Admiralität bietet sich die Gelegenheit, in der Basis die Küstenwache auszubauen und sogar mit dem Flugzeugträger Cavour anzulegen. Sie hat als eine der Gegenleistungen für ihr Einverständnis zur Hafennutzung durch die chinesische Marine verlangt, dass letztere mit adäquaten Mitteln die Flüchtlingsströme aus Nordafrika von italienischem Territorium fernhält.

Als ihn Fei entlässt, schreitet Jiang zur Tür, bleibt abrupt stehen, wendet sich um und fragt, das Thema wechselnd, »sagen Sie mir, Genosse Fei, wer war die Person, die gestern bei dem Autounfall ums Leben kam?«.

Fei durchbohrt ihn mit eiskaltem Blick. »Es war kein Unfall. Sein Auto wurde von einem Laster gerammt. Absichtlich. Eine ungeheuerlich kühne Aktion.«

Jiang kann eins und eins zusammenzählen. Die Bilder, die er in den Nachrichten gesehen hat, verrieten ihm, dass es sich um einen Wagen handelte, wie ihn die Botschaft benutzt. Also war der arme Kerl, der beim Aufprall getötet wurde, wahrscheinlich auf dem Weg in die chinesische Botschaft.

»Wurde der Passagier, den es erwischt hat, von uns erwartet?«, setzt er nach.

Wieder hasst Yue Fei die Frage. Der Anschlag muss erst noch von der Staatssicherheit untersucht werden, da der Mann im gerammten Auto sensible Informationen dabeihatte, die an seinen Vorgesetzten Qin Baodong geliefert werden sollten. Und alle geheimen Dokumente waren verschwunden. Ein schwerer Schlag gegen das Ministerium für Staatssicherheit. Doch Jiang ist ihm zu neugierig, und der Vorfall geht ihn eigentlich nichts an. Oder weiß er mehr darüber? Jiang geht ihm langsam, aber sicher auf die Nerven.

»Hören Sie, Jiang, ich meine, das ist wahrscheinlich einer der schlimmsten professionell geplanten Anschläge auf die Staatssicherheit. Aber das gehört vorläufig nicht zu Ihren Aufgaben. Kümmern Sie sich um Ihre eigenen Angelegenheiten, okay?«

»Natürlich, Genosse.« Das werde ich auch, Genosse Klugscheißer, und Sie werden nichts über meine Angelegenheit erfahren, denn ich habe schließlich in den USA gelernt, wie man Geheimoperationen so führt, dass sie geheim bleiben.

Mit diesen Gedanken geht Xin wortlos hinaus.

6

Jiang Xin

Jiang geht zurück in den leeren Flur. Wenn er sich nach links wenden würde, käme er zurück zur Treppe, die nach oben zum Empfang führt. Stattdessen wendet er sich nach rechts und geht schnell zu seinem Büro am anderen Ende, wo Jiang Xin nicht Vizepräsident der China State Construction Engineering Corporation ist, sondern ein hoher Beamter des Ministeriums für Staatssicherheit MSS.

In seinem großen Büro, das seine Rolle als ranghoher Beamter des MSS für den Mittelmeerraum markiert, sitzt Jiang an seinem Schreibtisch, raucht eine weitere Zhonghua-Zigarette. Er spielt in der Corporation inoffiziell die Rolle des Politkommissars, der für die Linientreue aller Beteiligten verantwortlich ist. An der Technischen Universität Peking hat er nach ein paar Semestern Elektrotechnik bereits mit dreiundzwanzig Jahren in Management und Ökonomie abgeschlossen. Scouts des Ministeriums für Staatssicherheit suchten an den Unis nach Talenten zum charismatischen militärischen Führer oder kaltblütigen Geheimdienstagenten. Der junge Jiang Xin kam ihnen auf den Radar. Es komme auf Willenskraft, Leistungsbereitschaft, Gerissenheit und Vorstellungsvermögen an, erklärte man ihm. Skrupellosigkeit und sklavischer Gehorsam blieben unausgesprochen. Wie auch immer, die spannenden Karriereaussichten sagten ihm zu. Er durchlief zwei harte Jahre in der Volkbefreiungsarmee, lernte, Waffen und Sprengmittel einzusetzen, Nahkampf- und Taktikschulung bildeten einen Schwerpunkt, dann folgte ein achtzehnmonatiges Training in der MSS-Zentrale in Shanghai, wo ihm alle Tricks und Kniffe in den diversen Arten von Nachrichtenbeschaffung eingetrichtert wurden. Der sprachbegabte Jiang hatte eine vereinnahmende Art, wie sie gerade in den USA gut ankommt. Ab nach Amerika, hieß es alsbald. Nach zwei Jahren an der Columbia in New York, wo er Informationstechnik belegte, hielten ihn seine Vorgesetzten für sattelfest genug. So kam er auf seinen ersten Posten in der Botschaft in Washington und wurde im Weißen Haus als Deputy Military Attaché der Volksbefreiungsarmee akkreditiert.

Für den geschäftsführenden Präsidenten der Corporation empfindet Jiang große Achtung. Bo Keqiang ist der geborene Ingenieur, der clevere Bewässerungsmethoden entwickelt hat – oder sie vielleicht den Israeli gestohlen hat. Egal. Er führt seine Kohorten von Ingenieuren, Bauzeichnern, Grafikern und Vermessern von Agrigento an der Südküste aus. Einzigartig ist Zhangs Prototyp einer Tomatenplantage, in der die Früchte verkabelt sind. Jiang hält die Tröpfchenbewässerung, die durch Sensoren gesteuert wird, für ein Weltwunder. Die Befindlichkeit der Früchte werde fortwährend ermittelt. »Der Gemüsebauer kann mit den Pflanzen reden«, schwärmte der Ingenieur. »Seine Tomaten beispielsweise melden, ich habe Durst oder zu viel Wasser, und bei Insektenbefall schlägt die Pflanze Alarm.«

Bo Keqiang hat der Corporation mit seinen innovativen Methoden einen wichtigen Vorsprung auf mögliche Konkurrenten verschafft. Weil Wasser knapp ist, hat er den Wasserbezug auf ein zweites Standbein gestellt, indem er das Abwasser großer Städte wie Palermo, Catania oder Syrakus filtriert, um sie in die neuen oder modifizierten Kanäle abzuleiten.

»Nun, wir werden ja sehen, ob der Gouverneur die Genialität der chinesischen Projekte für sein gebeuteltes Land erkennt«, murmelt Jiang dem Porträt des Großen Führers zu. Der Raum ist karg, mit nur einem Bücherregal und zwei verschlossenen Aktenschränken aus schwerem Metall möbliert. Auf dem Schreibtisch steht neben einem billigen Aschenbecher der Kartenhalter mit dem Bild von Xi Jinping, daneben, schön eingerahmt, lächelt Jiangs Frau Zhen. Er wirft einen kurzen Blick auf das Selfie, geschossen während einer Urlaubsreise nach Zermatt. Im Moment ist Zhen in Shanghai und besucht ihre Eltern. Sie arbeitet für die MSS-Zentrale in der Dongchangan Avenue 14 als Übersetzerin.

Aber selbst Zhen weiß nichts von seinem schlauen Schachzug, sie wäre stolz auf sein Komplott mit dem italienischen Medienzar, brisant, topgeheim, jedenfalls für Jiang, denn das Doppelgesicht spielt mit hohem Einsatz, die Konsequenzen wären grauenhaft, würde er geschnappt, Folter, standrechtlich erschießen oder Gulag … Und Zhen darf unter keinen Umständen hineingezogen werden, was sie nicht weiß, macht sie nicht heiß … Das entscheidende Treffen mit dem Medienzar sollte irgendwann in Sizilien stattfinden. Jiang würde Ort und Zeit aus der La Sicilia entnehmen. In der Freitagsausgabe der weit verbreiteten Zeitung soll es jeweils Kontaktinserate haben. Der Text der Annonce, nach dem Jiang Ausschau halten muss, um die heiße Spur zum Meeting zu finden, enthält das Stichwort Bunga … Okay, er würde es finden, dann vorsichtig das Vorgehen planen, ohne Back-up, keine Mitwisser, kein Support …

Jiang setzt sich auf den bequemen Rollsessel vor dem Computer, drückt eine Taste, nimmt einen Zigarettenzug und bläst den Rauch zum Monitor über einen Ausschnitt der topografischen Karte von Sizilien. Im gesicherten Computersystem des Ministeriums stehen ihm Hunderte von hochwertigen digitalen Karten zur Verfügung, die eine Kaper im Glas des Gouverneurs von Sizilien auf seiner Yacht vor Palermo oder das zum Himmel gewandte Gesicht des Kommandanten auf der Brücke des Flugzeugträgers Cavour zeigen können. Doch seine Gedanken wandern zurück in die Einsatzzentrale. Was die Amerikaner südlich von Taiwan vorhaben, interessiert ihn nicht sonderlich. Er weiß, dass China frühestens in etwa fünf Jahren in Taiwan einmarschieren könnte, dann nämlich, wenn die Modernisierung der chinesischen Armee zu Ende geht, auf jeden Fall mit genügend Abstand zum hundertjährigen Gründungsjubiläum der Volksrepublik China im Jahr 2049. Die Chinesen haben offenbar – so die gängige Meinung im Westen – von den Russen gelernt, weil die Annexion der Krim nach 2014 in politischen Kreisen schon bald kein Thema mehr war. Man hat sich damit abgefunden.

Jiang sagt sich, dass selbst der Angriffskrieg auf die Ukraine in einigen Jahren allmählich in der Erinnerung verblasst, wie andere Kriege in Jugoslawien, im Irak, in Syrien. Jiang dreht sich auf dem Stuhl herum, lockert die Krawatte, öffnet den Kragenknopf und angelt sich die Wasserflasche. Er hält sich an die obligatorische Version des Ministeriums, wonach die freie Welt es sich nicht mit dem lukrativen chinesischen Markt verderben will. Wie hat ihm seine geliebte Zhen kürzlich getextet? »Wir sind eben nicht der Aggressor, wie Wladimir der Schreckliche. Wir helfen der Bevölkerung, bauen in ihren Ländern Brücken, Straßen, Häfen, liefern, was fehlt, und mehren ihren Wohlstand.« Jiang schlägt die Faust auf die Tischplatte. Ja, seine Interessen liegen nicht im Indopazifik, sein Job verlangt, dass er sich voll auf die riesigen Bauprojekte in Sizilien konzentriert, die es der Staatssicherheit erlauben, einen Cyber-Stützpunkt zu errichten. »Wir werden in die Schlüsselbereiche Siziliens eindringen, in die Regionalpolitik, Wirtschaft, Polizei, Carabinieri und … die Cosa Nostra«, ruft Jiang, steht auf, entnimmt dem kleinen Kühlschank ein Tsingtao, öffnet das Bier, steht auf, trinkt auf den Staatschef. »Die drei Phasen … Wir übernehmen Sizilien nach der Kriegskunst des Sun Tzu, die besagt, die beste Strategie sei ein gewaltloser Gewinn.« Er holt Atem, nimmt einen Schluck, rülpst. »Auf Xi Jinping, den großen Steuermann!«

7

In der Suppenküche

Die gleiche Uhr, wie man sie auf Schweizer Bahnhöfen sieht, zeigt Viertel nach zwölf an, als Zoller sich mit dem Aktenkoffer unter dem Arm an einen Tisch setzt. Es gibt in der Suppenküche etwa ein Dutzend davon mit Tischplatten aus hellem Hartholzfurnier und vier blanken Stahlbeinen. Zoller sieht ein Rudel armer Teufel. Wie von Sirenengesang angezogen drängen sie sich vor der Theke, wo es Essen gibt. Er lehnt seinen Koffer an ein Tischbein, fixiert ihn mit dem rechten Fuß, hängt seine verluderte Jacke an die Stuhllehne und überblickt den Raum. Er wirkt mit dem grauen Laminatboden und den dezent hellblauen Wänden einladend. Natürliches Licht fließt von der Straßenseite durch breite Fenster. Ein Sonnenstrahl fällt gerade auf die seitliche Betonwand, wo auf einer bodenebenen Stufe ein verwahrloster, armer Kerl liegt. Über der bronzenen, lebensgroßen Skulptur informiert eine Plakette »Der letzte Obdachlose«.

Am Tisch nebenan sitzt Nolde, wie sie ihn nennen, in ein Kreuzworträtsel vertieft. Das Geplauder der gemischten Gästeschar rundherum, gut zwei Dutzend, mischt sich mit sanfter Popmusik aus dem Hintergrund.

Gute Geister teilen an der Theke Essen und Getränke aus. Gratis.

»Was gibt’s heute?«, fragt Zoller seinen Nachbarn.

»Was? Anderes Wort für Überläufer?«

»Eh … da, Deserteur. Was es zu essen gibt, hab ich gefragt.«

»Aha. Gehacktes, Pasta, Apfelmus. Sag mal, da … Hauptstadt von Kasachstan … ist Almaty?«

Nolde hat einen struppigen Bart, als hätte er drei oder vier Tage vergessen, sich zu rasieren. »Fünf Waagrecht, Geheimdienst mit drei Buchstaben? CIA, NSA …«

Da blitzen Zollers Augen auf. »Lia«, sagt er.

»Lia? Was soll der Nonsens? Ist kein Geheimdienst.«

Zoller rückt näher heran. »Doch, Nolde, Lia, die heiße Braut, die ihrem Partner, diesem Anwalt, Hörner aufgesetzt hat. Gab einen mittleren Skandal, weil Lia im NDB arbeitete. Schweizer Geheimdienst. Fällt der Groschen?«

Nolde steht auf und setzt sich mit seinem Getränk neben Zoller. »Erinnere mich«, flüstert er um sich schauend. »Hat sie mit deinem Einsatz zu tun?«

Zoller schüttelt den Kopf. »Es war ein Kontakt der anderen Art.« Er steht auf und geht wortlos zur Theke. Als er mit einem verpackten Thunfisch-Wrap und einer Apfelschorle zurückkommt, raunt er, »wir können das nicht hier besprechen. Ich habe Material«. Er klopft den Fuß an den Aktenkoffer.

Nolde reckt den Kopf und begreift. »Meine Karre steht draußen, wo immer. Geh vor, ich komme nach.«

»Okay«, sagt Zoller, aber fühlt, dass nichts okay ist.

Noldes Auto steht auf einem blau markierten Parkplatz, ein Kleinwagen von Toyota, der schon ein paar Jahre alt aussieht, aber wer kann das bei Toyotas schon sagen?

Sie steigen ein, und Nolde fährt los. »Wo geht’s hin?«

»Zum Parkhaus, wo ich in meinen PW umsteige. Da vorne rechts, dann sage ich, wo’s langgeht.«

Nolde nickt, manövriert durch die Fußgängerzone und fragt Zoller, ob ihn das Radio störe, und als Zoller verneint, stellt Nolde einen Softrock-Sender ein. »Magic Milk ist cool«, grinst er, als die Musik erklingt. Dann sagt er, »Lia wurde doch damals mit einer Nutte verwechselt, erinnerst du dich? Das ist irgendwie lustig, wenn man keine MeToo-Tussi ist.«

Zoller kommt der Vergewaltigungsversuch, der die People-Zeitschriften füllte, wieder in den Sinn. Er sagt nichts. Nolde will dann wissen, was heute passiert ist, aber Zoller winkt ab. »Wir reden später darüber.« Abgesehen davon, dass Nolde eine Fahrerin beschimpft, die ihm die Vorfahrt abschneidet, gibt es keine weitere Unterhaltung.

Sie erreichen das neben dem Parkhaus gelegene Hotel Bellevue Palace nach knapp einer halben Stunde.

Zollers Telefon klingelt mit einer SMS. Er schaut hin und klickt sie weg. Der Absender ist Ken Cooper.

Nolde hält auf der Hotelvorfahrt. »Ich bleibe dann auf Empfang«, sagt er.

»Okay … und beschaffe mir die Kontaktdetails von Lia.«

»In Ordnung.« Nolde beobachtet amüsiert, wie Zoller in seinen Lumpen wie ein Penner zum Eingang des Parkhauses schlurft, setzt dann den Toyota in Bewegung, schaltet reflexartig das Radio auf News. »... nach Polizeiangaben handelt es sich bei dem heute Morgen von einem Lastwagen gerammten Fahrzeug um eine Botschaftslimousine. Die zwei nicht identifizierten Insassen kamen ums Leben. Einzelheiten zur laufenden Untersuchung des gravierenden Unfalls werden laut Polizeisprecherin zu einem späteren Zeitpunkt erwartet …«

Nolde reibt sich das bärtige Kinn und macht sich seinen Reim auf die Nachricht.

Etwas später erreicht Zoller in seinem grauen Cinquecento, eigentlich ein populäres Frauenauto, die sich über die Aare spannende Brücke, um seinen Unterschlupf zu erreichen.

Dieser ist keine Villa, kein Landsitz, sondern eine wie von einer unsichtbaren Faust niedergedrückte Hütte. Das breite Giebeldach ist gut gebaut, die Fenster zwischen schiefen alten Holzwänden intakt. Das einstige Bauernhaus mutet Zoller an wie eine Gruselshow, umgeben von wilden zweitausend Quadratmetern Gras, Unkraut, Büschen, Mischwald auf der einen, der Rand einer Kiesgrube auf der anderen Seite. Er fährt den Fiat in den offenen Unterstand, früher mal der Schweinestall, steigt aus, schließt das Tor und betritt sein Obdach durch die massive Vordertür.

In der Küche legt er den Aktenkoffer auf den langen Brottisch, der so heißt, weil zwei große Schubladen ausziehbar sind, in denen die Bäuerin den Teig lange schlummern ließ, damit das Brot locker und luftig wurde. Dann zieht er seine Perücke ab und glättet mit etwas Speichel seinen hellbraunen Bürstenschnitt.

Aus einer Teigschublade holt er den Laptop hervor, öffnet ihn und aktiviert WLAN, indem er sein iPhone als Hotspot benutzt. Sogleich ist er online. Danach inspiziert er den erbeuteten Aktenkoffer. Er ist schwarz, flach, hat die Breite von Zeitungen im Kioskformat, ideal für Dossiers. Er angelt mit dem Fuß die Werkzeugkiste heran, nimmt den Roadrunner heraus und bestrahlt mit dem batteriebetriebenen Detektor Zahlenschloss, Verschlüsse und alle Stoffteile. Kein Pieps, keine Anzeige, keine Sprengfalle. Gut.

Dann sperrt er mit Zange und Cutter den Koffer auf.

Er hebt sorgfältig den Deckel und blickt auf ein weißes Blatt Papier, darunter ein Aktendeckel aus rotem Karton. Er zögert, lässt seine Finger von der Akte, lehnt sich im Stuhl zurück, um gleich wieder aufzustehen.

Über dem Spülbecken ist die Bar versteckt. Er holt eine Flasche heraus, gießt sich Scotch ein und nimmt einen kräftigen Schluck. Wohltuend ächzend schaut er sich im Spiegel an, streift mit zwei Fingern über die alte Narbe unter dem rechten Auge. Sie ist gerötet … Im Eimer unter dem Spülbecken findet er Handschuhe, streift sie über und setzt sich mit dem Drink an den Brottisch.

Er legt die Brieftasche des toten Chinesen, wenn es denn einer war, und das ebenfalls erbeutete Smartphone auf den Tisch.

Jetzt untersucht er die Brieftasche gründlich. Er zieht die Geldscheine, das Foto umsichtig heraus, dabei spürt er eine kleine Erhebung im Inneren des Emporia-Armani-Lederetuis. Darunter etwas Hartes. Er schneidet mit dem Cutter die Stelle auf – und findet einen kleinen USB-Flashdrive.

»Okay, schon besser«, knurrt er und legt den Fund neben die anderen Gegenstände.

Er nippt am Whiskey und überlegt. Soll er den Flashdrive in seinen Laptop stecken? Die Neugierde drängt ihn, aber die professionelle Vorsicht warnt vor übereiltem Handeln. Dasselbe gilt für das Smartphone, weiß Zoller.

Da klingelt sein Handy. Er nimmt ab.

»Wo sind Sie, Zaq?« Es ist Ken Cooper.

»Zu Hause. Misserfolg. Kein Kontakt.«

»Wir haben die Nachrichten gesehen. Das muss in Ihrer Nähe gewesen sein.«

»Ich habe alles gesehen.«

»Sind Sie verletzt?«

»Nur in meinem Ego, ich war nahe dran.«

»Okay, Zoller, berichten Sie mir dann. Ende.«

Zoller atmet aus. Er ist heilfroh, dass Cooper nicht weiter gebohrt hat, so kann er seinen Fund einstweilen geheim halten. Aber eines ist klar: Smartphone, Flashdrive und rote Akte müssen analysiert werden, und er braucht professionelle Hilfe.

Er geht hinaus, bleibt beim Steinbrunnen gedankenvoll stehen, sein Blick schweift über die Zufahrtstraße zu den braunen Dächern der tiefergelegenen Stadt mit der schönen Münsterspitze, dem Fluss, der sie umarmt, ein vertrautes Postkartenbild. Zoller atmet tief durch.

Sein Telefon klingelt erneut. Cooper? Nicht schon wieder. Er zieht es aus der Hosentasche. Es ist Nolde.

»Hey, Zoller, ich habe Lia gefunden«, sagt er, als hätte er Zollers Sorgen gespürt. »Es ging schneller, als ich dachte …«

»Mach es kurz, ja.«

»Okay, okay. Ich schicke dir ihre Koordinaten. Auf das sichere Handy, eh … weißt du was?«

»Komm schon, du bist doch auf kurz und bündig gedrillt.«

Nolde lässt sich etwas Zeit, dann sagt er: »Also, Lia Sachs ist wieder voll drin im Nachrichtendienst des Bundes für Humint und Sigint.«

»Das ist genial, Nolde.« Zoller weiß, dass Lia in ihrem früheren Job mit Informationsbeschaffung aus menschlichen Quellen und Signal Intelligence, das heißt dem Abhören von Funksignalen, zu tun hatte.

Nolde scheint ruhelos. »Sag etwas, wie ist der Plan, Zoller? Hast du das Material, das du gefunden hast, wie du mir gesagt hast, schon gesehen?«

»Nein, ist zu heikel. Deshalb Lia. Wenn ich ihre Kontaktdaten habe, sehen wir weiter. Bleib auf Empfang.«

»Was denkst du denn, was ich die ganze Zeit mache?«

»Schon gut. Over.«

8

Chinesische Botschaft, Bern

Jiang Xin befindet sich im Kellerbüro seines Vorgesetzten Qin Baodong, in einem Betonkubus ohne Fenster und Ausgänge, in den kein Geheimdienst oder privater Sicherheitsdienst eindringen könnte, um an Informationen zu gelangen. Der Raum ist warm und mit Teppichboden ausgelegt, mit falschen Pflanzen, gesicherten Aktenschränken und einem Metallschreibtisch, und Qin, der groß und hager ist, scheint sich in dieser Umgebung wohlzufühlen.

Er trägt ein grün gestreiftes gelbes Hemd, das unter den Achseln durchgeschwitzt ist, eine rote Krawatte und schwarze Hose. Seine Farben würde man eher bei einem Papagei erwarten, denkt Jiang bei sich, hütet sich aber, diesen Mann zu unterschätzen.

Er hat ein schmales Gesicht, das durch die nach hinten gegelten Haare und die goldumrandete Brille betont wird.

Unter den Geheimdienstmitarbeitern wird Qin heimlich als dòu gān – die Bohnenstange – parodiert.

Doch hinter seinem hageren, kantigen Gesicht stecken ein messerscharfer Verstand und eine Haltung, die schon mehrere unterdurchschnittliche Geheimdienstler in den Niger oder nach Nordkorea geschickt hat.

»Wir haben eine Situation«, beginnt Qin Baodong ohne Umschweife. »Unser Mann, der gestern getötet wurde, ist Ho Zhao, ein hochrangiger Offizier im Ministerium für Staatssicherheit. Er trug hochgeheime Informationen bei sich, die er mir überbringen sollte.«

Jiang sagt nichts.

Qin pocht mit dem Zeigefinger auf den Tisch. »Wir haben leider keine geeigneten Ermittler, um eine Untersuchung zu führen. Wir unterstützen selbstverständlich Polizei und Staatsanwaltschaft bei der Aufklärung des Anschlages.«

»Hätten wir irgendwelche Anhaltspunkte?«, fragt Jiang.

Qin nickt mehrmals. »Nicht viel«, antwortet er. »Immerhin, im gerammten Botschaftswagen deckte eine Kamera das Wageninnere ab«, erklärt er mit todernster Miene.

»Vermutlich auch eine im Heck, die nach hinten filmt, was draußen passiert«, wirft Jiang ein.

»Die wurde durch den Aufprall zerstört«, sagt Qin unwirsch, geht zum Computerterminal, tippt ein paar Befehle auf der Tastatur und dreht dann den Bildschirm, damit beide sehen können, was auf dem Display erscheint.

Bilder flimmern.

»Schauen Sie … Da, den Fahrer hat’s erwischt. Dann hier …« Er stoppt die Aufnahme. Jiang sieht einen haarlosen Hinterkopf, eine Schulter, der Rest des Mannes ist durch die Sitzlehne abgeschnitten.

»Der Wagen liegt auf dem Dach. Dieser unbekannte Kahlkopf hat offenbar versucht, den Fonds zu durchsuchen, doch mehr sieht man nicht von ihm. Da, er verschwindet wieder aus dem Bild.«

»Spulen Sie mal zurück, Genosse Qin«, sagt Jiang.

Er lässt den Film von der Stelle ablaufen, wo sich der Wagen überschlägt. Die Bilder zucken wirr und verwischt durcheinander, der Kopf des angegurteten Fahrers blockiert die Sicht – unbrauchbar, dann erstarren die Sequenzen.

»Jetzt liegt die Karre auf dem Dach«, kommentiert Qin.

»Moment, bitte nochmals zurück, dann langsam weiter.«

Gebannt starren sie auf das Replay. Nach den verwischten Bildern fällt der Kamerablick plötzlich nach draußen.

»Da, da ist noch einer«, ruft Jiang aus.

Das angehaltene Bild zeigt einen Ausschnitt vom Oberkörper des toten Zhao, auf dem Rücken liegend – und ein anderes Gesicht.

»Verdammt.« Qin zoomt den Kopf eines Mannes mit schwarzen, üppigen Haaren heran. »Definitiv ein anderer. Das ist nicht der kahle Arsch.«

»Wenn Sie nochmals abspielen? Ja … da, stopp! Sehen Sie das? Sieht aus wie ein Teil eines Einkaufswagens.«

Qin überlegt. »Denken Sie, was ich denke? Ein Penner. Lungerte wohl zufällig mit seinem gestohlenen Einkaufswägelchen im Park herum, als es knallte, dann …«

»… raubt er Zhao aus«, ergänzt Jiang.

Qin nickt. Er denke, das sei es, was genau passiert sei. Sie hätten in Zhaos Kleidern nur leere Taschen gefunden. »Keine Brieftasche, kein Handy, auch sein Aktenkoffer fehlte.«

Ein paar Minuten bleibt es so still, dass Xin nur das leise Klappern von Baodongs unruhigen Ledersohlen hören kann.

Jiang hütet sich vorerst, nach den brisanten Geheiminformationen zu fragen, die Ho Zhao abhandenkamen. Es wäre an Qin, ihn darüber aufzuklären, aber Jiang weiß sehr wohl, dass man nicht befördert wird, wenn man Emotionen zeigt und wie ein Klugscheißer dem Vorgesetzten bedeutet, was er besser sagen und machen soll. Er rutscht unruhig auf dem Sessel herum, hebt trotzdem eine Hand, sucht nach Worten.

Qin greift nach einer Bierdose, öffnet sie, behält sie in der Hand, schaut Jiang durchdringend an. »Wir werden diese Videoaufnahmen dem Staatsanwalt übergeben. Mehr können wir leider nicht machen. Teilen Sie meine Auffassung?«

Das ist eine rhetorische Frage, ein Widerspruch wäre dumm, weiß Jiang und sagt: »Meine Priorität ist Sizilien, ich muss die Projekte überwachen und meiner Gesellschaft die Bauaufträge sichern.«

Baodong nimmt einen Schluck Bier, sagt nichts.

Ermuntert wiederholt Jiang, das sei seine Priorität, und er möchte den Gerüchten nachgehen, wonach die Mafia den Superhacker Gladio aus dem Knast von Palermo befreit habe. »Ich will ihn vor der CIA aufspüren, die auf diesen IT-Crack bereits die Jagd eröffnet hat.«

Woher hat der Bursche diese Information?, argwöhnt Baodong im Stillen, dann sagt er: »Ich weiß Bescheid, Sie können sich die Mühe ersparen, mir die Wichtigkeit von Gladio für unseren Geheimdienst zu erläutern.«

Jiang nickt schwach, sagt nichts.

Baodong streicht sinnierend mit dem Finger über den Rand des Bierhumpens. Wenn es stimmt, dass die CIA involviert ist, was ihm Jiang andeutet, möchte er nicht derjenige sein, der eine mögliche Operation behindert. Apropos Priorität, die Staatssicherheit hat an Cyberbelangen ein eminentes Interesse. Er räuspert sich. »Tja, Genosse Jiang, ich kläre ab, ob man an höchster Stelle Ihre Priorität, diesen Hacker unter unsere Kontrolle zu bringen, auch so sieht.«

Damit war die Besprechung zu Ende.

9

Lia Sachs

Zoller würde Lia nichts über den Kontakt sagen, den er am Sockel des versteinerten Meister Pädagoge hätte treffen sollen. Diese Sache ist vermutlich ohnehin Geschichte; denn der Crash der Botschaftskarosse hat den unbekannten Schlapphut verscheucht, oder vielleicht hat er das Erkennungswort »das Backpulver fehlt im Regal« nicht verstanden. Nun, das Treibmittel hat in jedem Fall versagt, und Zoller zweifelt, ob ein neues Geheimtreffen noch drin liegt.

Für das Rendezvous mit Lia braucht er keinen Code, sie kennt den großen Autobahnrastplatz kurz vor Bern, und Grauholz war lange Zeit das heiße Kennwort, um sich im Fernfahrerhotel zu sehen, wo ihr sinnlicher Mund jedes Mal so rubinrot glühte, dass Zoller dachte, wenn er seine Lippen auf ihre lege, würde er sie bis zur Ekstase nicht mehr entfernen. Das Autobahnhotel Grauholz wurde so auch zum Synonym für guten Sex, doch diese Zeit ist passé, hélas, deshalb hat Zoller vor dem Restaurant abgemacht. Es ist kurz vor neun Uhr abends, als er den Cinquecento langsam an den unzähligen, für die nächtliche Sperrzeit geparkten Sattelzügen vorbeilenkt und dabei unweigerlich nach einem roten M.A.N. späht. Doch er macht sich keine Illusionen, den tödlichen Rammbock zu entdecken, der vermutlich längst irgendwo verstaut oder auf einem Schrottplatz geschreddert worden ist.

Lia hat ihm ihr Auto beschrieben. Er sieht den roten Audi vor dem Eingang, fährt einmal daran vorbei, dann parkt er nicht weit daneben, steigt mit seinen Sachen aus, geht hinüber und klopft an die Fensterscheibe.

Lia öffnet ihm die Beifahrertür. Die Begrüßung ist verhalten. »Hallo Zaq, nun, wo brennt’s«, fragt sie mit einem Lächeln, das kurz ihren Mund umspielt.

Zoller setzt sich, hält den Aktenkoffer auf dem Schoß. »Lange nicht gesehen«, macht er auf Konversation.

»Kann man wohl sagen. Von Nolde habe ich erfahren, was du ungefähr von mir willst. Also, schieß los.«

Zoller muss umsichtig vorgehen. »Immer noch für den NDB tätig?«, fragt er.

»Indirekt. Warum? Was geht hier vor?«

Zoller erklärt es ihr, schildert ausführlich den Crash im Park, wie dann einer mit einem SUV heranfährt, aussteigt, im Wrack nach Sachen sucht, die junge Frau erschießt …

Lia unterbricht. »Hör zu, du sagst, es war ein großer Schlitten, eine Limousine, und der Typ, der dir auf den Arsch fiel, ein Chinese?«

Zoller nickt.

»Also gut, Zaq, wir sind in der Bundesstadt, und da gibt es all die Botschaften. Dein Toter und diese Karosse gehören zu einer Botschaft. Rat mal, welche?«

»China?«

»So ist es vermutlich, sie liegt am nächsten zur Unfallstelle, und da wird es ziemlich heiß.« Lia pocht auf Zollers Aktenkoffer.

»Wie meinst du das?«