Der Herr der Flammen - Sven R. Kantelhardt - E-Book

Der Herr der Flammen E-Book

Sven R. Kantelhardt

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Beschreibung

Britannien, 5. Jahrhundert n. Chr.: Der berühmte sächsische Heerführer Hengist soll das Reich des Hochkönigs Vortigern verteidigen. Er bekommt immer mehr Unterstützung, etliche Sachsen und Friesen strömen in das Lager. Doch List und Intrigen treiben einen Keil zwischen die Britannier und ihre Söldner; die Germanen erheben sich gegen ihre Herren. Es beginnt der brutale und vernichtende Kampf um die Herrschaft von Britannien. Teil 2 der zweiteiligen Britannien-Saga von Sven R. Kantelhardt. Der erste Teil "Der Bote des Königs" ist ebenfalls im acabus Verlag erhältlich.

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Sven R. Kantelhardt

Der Herr der Flammen

Britannien-Saga II

Kantelhardt, Sven R.: Der Herr d er Flammen. Die Britanniensaga II. Hamburg, acabus Verlag 2023

Originalausgabe

ePub-eBook ISBN: 978-3-86282-841-8

Print: ISBN 978-3-86282-839-5

Lektorat: Laura Künstler, acabus Verlag

Umschlaggestaltung: © Christl Glatz | Guter Punkt, München unter Verwendung von Motiven von Adobe Stock und iStock/Getty Images Plus

Umschlagmotiv: © Sylphe_7/iStock/Getty Images Plus © solarseven/iStock/Getty Images Plus © cla78/iStock/Getty Images Plus | © Fxquadro/Adobe Stock

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Der acabus Verlag ist ein Imprint der Bedey und Thoms GmbH, Hermannstal 119k, 22119 Hamburg.

© acabus Verlag, Hamburg 2023

Alle Rechte vorbehalten.

http://www.acabus-verlag.de

INHALT

I. Neue Wege

II. Alte Freunde

III. Alte Fehden

IV. Alles ist vorbestimmt

V. Alles kommt ans Licht

VI. Wer Wind sät, wird Sturm ernten

VII. Der Sturm bricht los

VIII. Gegen den Wind

IX. Traurige Heimkehr

X. Abschied

XI. Folgenschwere Fehler

XII. Die nächste Runde

XIII. Nachlese

XIV. Fluch und Flucht

XV. Pläne, die gelingen und Pläne, die scheitern

XVI. Ein hoher Preis

XVII. Strafe

XVIII. Erlösung

XIX. Auch ein Neuanfang ist schwer

XX. Neue Pläne werden geschmiedet

XXI. … doch der Weg ist weit

XXII. Auf zu neuen Ufern

XXIII. … und neuen Taten

XXIV. Häusliche Sorgen

XXV. Die Gastfreundschaft hoher Herren

XXVI. Eine Lösung, die neues Ungemach bringt

XXVII. Die Stunde der Frauen

XXVIII. Dank und Undank

XXIX. Ein Winter voll Kümmernis

XXX. Rückzugsgefechte

XXXI. Überschattete Ankunft

XXXII. Ein letztes Kräftemessen

XXXIII. Erkenntnis

Historische Anmerkungen

Personenverzeichnis

Ortsverzeichnis

Der Autor

Danksagung

I. NEUE WEGE

Ypwinesfleet im Oktober 443

Ordulf

Erstes Eis schimmerte auf den Pfützen von Ypwinesfleet. Hunderte Männer hatten die Wege der überfüllten Siedlung seit Monaten zertreten und der ständige Regen tat sein Übriges. Doch heute versprach der klare Himmel einen trockenen Herbsttag. Die Sonne war im Osten gerade eine Handbreit aus dem grauen Ozean gestiegen und das Laub der Bäume leuchtete ihr in bunten Farben entgegen. Vögel sammelten sich für eine baldige Reise nach Süden.

Ordulfs Weg führte in die gleiche Richtung. Nervös blickte er über die Schulter und was er sah, hätte eigentlich seinen Mut heben sollen: Zwölf Männer folgten ihm, Friesen und Sachsen und allesamt erfahrene Krieger. Seine eigenen Männer – die ersten Ordulfmannen. Es kam ihm so vor, als wären sie bereits eine Ewigkeit mit ihm gezogen, doch in Wahrheit kannte er die meisten erst, seit sie ihm im letzten Jahr geholfen hatten, den Witigishof von den Ebbingemannen zu befreien. Eigentlich gehörte der Hof nicht mehr Witigis, sondern seinem Sohn Hengist, derselbe, der inzwischen über Ypwinesfleet und ganz Canturguoralen herrschte. Doch Hengist hatte sich trotz all der Taten, die Ordulf für ihn vollbracht hatte, von ihm abgewandt, und er ritt nun mit seinen wenigen Getreuen in die Verbannung. Hengist selbst war früh zum Jagen aufgebrochen und hatte ihm nicht einmal ein einziges Abschiedswort gegönnt.

»Ordulf Swænsunu!«, riss ihn da eine unbekannte Stimme aus seinen düsteren Gedanken. Ordulf blickte erstaunt über die Schulter. Ein junger Mann, eine Lanze wie man sie zur Sauhatz verwendete, wies ihn als einen der Jäger aus, kam die schlammige Hauptstraße hinter ihnen her gelaufen. Der gerade angetaute Schlamm spritzte zu beiden Seiten und auf das wollene Gewand des Waidmanns, doch das schien ihn nicht im Mindesten zu stören.

»Ordulf Swænsunu«, wiederholte er atemlos und blieb schwer schnaufend vor Ordulfs Ross stehen.

»Was gibt es denn?«, erkundigte sich Ordulf neugierig und gleichzeitig über die Verzögerung verärgert. Er kannte den jungen Mann nicht, doch dass der junge Bote seine Stimme zu einem vertraulichen Flüstern senkte, stachelte seine Neugier weiter an. Er beugte sich tief im Sattel herunter, um ihn zu verstehen.

»Hengist schickt mich«, wisperte der Jäger geheimnisvoll. »Du sollst sofort zu ihm kommen. Allein – lass deine Männer vorausreiten.«

Ordulf pfiff durch die Zähne. Hatte sich Hengist also doch noch an seine treuen Dienste erinnert? Er richtete sich in den Steigschlaufen auf. »Arfst, bring die Männer über den Sund. Ihr wartet bei den Römerruinen auf mich!« Dort in Regulbium erwartete ihn die nächste Aufgabe, und auch dort würden ihm seine Männer kaum helfen können. Er schüttelte die Gedanken daran ab und wandte sich wieder dem Waidmann zu. »Finde ich Hengist in seiner Halle?«, fragte er.

»Nein, er ist noch auf der Jagd«, entgegnete der Junge kopfschüttelnd. »Ich bring dich zu ihm, er wartet auf einer Lichtung im Wald. Binde dein Pferd hier an, damit du das Wild nicht verschreckst!«

Ordulf glitt aus dem Sattel. Einen Augenblick wunderte er sich, wieso der Mann aus Ypwinesfleet gekommen war, wo Hengist doch im Wald wartete, doch dann zuckte er mit den Schultern, band seine Stute an die Palisade des Ortes und folgte dem Fremden.

Der führte ihn auf schmalen Pfaden rasch in den dichten Wald, der den größten Teil der kleinen Insel Thanet bedeckte. Nach einigen tausend Schritten zweigte ein schmaler Wildwechsel zur Rechten ab. Der junge Mann wies mit seiner scharfen Saufeder dort entlang.

»Hierhinter kommt die Lichtung«, erklärte er. »Ich muss kurz austreten, geh schon mal vor.« Ordulf wunderte sich wieder und konnte ein seltsames Gefühl nicht aus seiner Magengrube verbannen. Aber vermutlich war das nur die Anspannung vor dem Treffen mit Hengist oder dem bevorstehenden Abenteuer in Regulbium. Der Wildwechsel führte durch dichtes Gestrüpp, sodass Ordulf weder zur Rechten noch zur Linken etwas erkennen konnte. Doch zu seinen Füßen entdeckte er frische Wildschweinspuren. Prüfend atmete er durch die Nase und erkannte den scharfen Geruch der Schweine. Kein Zweifel, die Tiere waren in der Nähe. Plötzlich knackte es vor Ordulf. Oder doch hinter ihm?

»Bin schon wieder da«, meldete sich der junge Mann in seinem Rücken. Ordulf wandte sich um. »Ich hätte schwören können, die Geräusche wären von vorn gekommen …«, begann er, doch ein lautes Knacken ließ ihn wieder herumfahren. Mit schreckgeweiteten Augen sah er, wie ein ungeheurer Keiler den schmalen Pfad entlang auf ihn zu stürmte. Bis auf den kurzen Sax hatte Ordulf all seine Waffen bei dem wartenden Pferd gelassen, und der schmale Pfad ließ ihm keinen Raum, um dem wilden Tier auszuweichen. Entsetzt drehte er sich zu seinem Begleiter um. »Gib mir die Saufeder, schnell …«, rief er. Doch zu seinem neuerlichen Entsetzen hielt der junge Sachse die scharfe Spitze des Spießes geradewegs auf sein Brustbein gerichtet. »Hast du etwa Angst vor deiner eigenen Sippe, Swæn?«, rief er, Ordulfs Geschlechternamen wie »Swien« oder »Schwein« betonend. »Riklef lässt dich grüßen!«

Ordulf prallte zurück. Er war dem Rodbellinger in die Falle gegangen. Jenem Hünen, den er letzten Sommer im Piktenland verwundet hatte, um seine Gefangene zu beschützen! Doch ein wildes Schnauben direkt hinter ihm mahnte Ordulf, sich wieder dem Schwarzkittel zuzuwenden. Der Gestank nach wildem Schwein war beißend, und er konnte schon die kleinen Schweinsaugen erkennen, die ihn wütend anstarrten. Eine blutende Wunde am Rücken erklärte den unbändigen Zorn des Keilers. Nur noch wenige Schritte und die gräulich gelben Hauer würden ihn zerreißen! Gerade bevor ihn der Keiler erreichte, sprang Ordulf mit der Kraft der Verzweiflung nach vorn und riss die Beine hoch. Keinen Augenblick zu früh, ein scharfer Schmerz zuckte von der rechten Wade durch seinen ganzen Körper, während er mit dem Oberkörper bereits auf den borstigen Rücken des Ebers traf und nach hinten in den Schlamm rutschte. Betäubt vom Schmerz und dem schweren Sturz blieb er einen Augenblick liegen. Durch das Dröhnen in seinen Ohren hörte er einen verzweifelten Schrei hinter sich. Es folgte wildes Grunzen und dann weiteres Krachen und Knacken im Geäst. Ordulf schloss einen Moment lang die Augen. Dann fiel ihm der junge Rodbellinger mit seiner scharfen Saufeder wieder ein. Mit einem Ruck sprang er auf, schrie aber vor Schmerz, als er das rechte Bein belastete. Einen Augenblick traute er sich nicht nach unten zu sehen, aus Furcht, das Schwein hätte ihm das Bein abgerissen. Doch dann fiel ihm auf, dass er in diesem Fall wohl gar nicht stehen könnte. Langsam wanderte sein Blick am eigenen Bein herab. Der Keiler hatte ihm die Wade samt Schnürschuh auf voller Länge aufgerissen. Ein zwei bis drei Finger breiter Hautlappen flatterte teils lose in der Luft, teils klebte er an der dreckverschmierten Wunde. Ordulf stöhnte. Wenigstens schien der Knochen ganz geblieben zu sein und es kam kein Lebensblut pulsierend aus der Wunde geschossen!

Ein Heulen vor sich ließ ihn aufblicken. Der junge Mann, der ihn in Riklefs Falle geführt hatte, lag rücklings auf dem Boden. Sein Gesicht war aschfahl und die Stirn mit kaltem Schweiß bedeckt. Mit beiden Händen versuchte er, seine Eingeweide in der aufgerissenen Bauchhöhle zu halten. Von diesem Verräter drohte Ordulf keine Gefahr mehr, und der Keiler war glücklicherweise verschwunden. Er kniete nieder, entfernte den zerfetzten Stoff von seinem Bein und streifte mit dem Finger etwas Dreck aus der Wunde. Es brannte fürchterlich und am Wundgrund konnte Ordulf sein dunkelrotes Fleisch erkennen. Er stöhnte, dann löste er den linken Bundschuh und wickelte den Stoff mit zusammengebissenen Zähnen fest um die rechte Wade. Es blutete nicht heftig, aber doch so stark, dass er die Blutung stillen musste. Als er seine eigene Wunde solchermaßen versorgt hatte, stand er vorsichtig auf. Es schmerzte immer noch, aber schon viel weniger als am Anfang. Nun endlich wandte er sich dem wimmernden Verräter zu. »Das alles hast du dir selbst zuzuschreiben!«, blaffte er ihn an, doch trotz seines gerechten Zorns bedauerte er den tödlich getroffenen Jungen. »Wieso hast du mich in diese Falle geführt?«, fragte er.

»Riklef ist das Haupt meiner Sippe«, stieß er trotzig hervor.

»Also bist du auch ein Rodbellinger«, nickte Ordulf mehr zu sich selbst.

Der junge Mann ging nicht darauf ein. »Ich will nicht sterben. Muss ich sterben?«, jammerte er.

Ordulf senkte bedauernd das Haupt. »Ja. Du wirst sterben. Die drei Schwestern haben deinen Lebensfaden abgeschnitten«, gab er unumwunden zu.

»Ich habe Angst und es tut so weh«, wimmerte der Junge mit geschlossenen Augen. »Ich halte die Schmerzen nicht mehr aus, tu doch was, bitte, bitte!« Ordulf schluckte. Hier kam jede Hilfe zu spät und außerdem galt es, keine Zeit zu verlieren, die übrigen Rodbellinger konnten jeden Augenblick auftauchen.

»Es bringt nichts mit Wurd dem Starken zu ringen«, erklärte er und versuchte seiner Stimme einen sanften Klang zu geben. Entschlossen packte er die zu Boden gefallene Saufeder und hob sie über den jungen Rodbellinger. »Selbst die Götter können das Schicksal nicht bezwingen!« Mit diesen Worten stieß er dem Rodbellinger das scharfe Blatt mit aller Kraft bis an die Querstange, die einen gespießten Keiler auf Distanz halten sollte, in die obere Öffnung des Brustkorbs zwischen Schlüsselbein und Hals. Der Junge riss erschrocken die Augen auf, doch bevor er einen Laut hervorbrachte, brach sein Blick und er sackte langsam und leise in sich zusammen.

Ordulf ließ die Waffe in der Brust des Toten stecken und stieg über die Leiche hinweg. Er hoffte inständig, dass der Eber nicht irgendwo im Gebüsch auf ihn wartete, und wo er gerade beim Hoffen war: Hoffentlich warteten auch keine weiteren Rodbellinger auf ihn. Weit konnten seine Feinde aber nicht sein, und so humpelte Ordulf, so rasch er konnte, den Weg zurück, den er gerade gekommen war, in Richtung Ypwinesfleet und seines wartenden Pferdes.

Verulamium im Oktober 443

Ceretic

Es dunkelte bereits, als die müden Pferde Verulamium erreichten. »Ob wir hier den Hochkönig finden?«, fragte Tallanus und rieb sich die Augen. Ceretic betrachtete seinen treuen Freund. Der Diakon und sein Pony machten einen bemitleidenswerten Eindruck. Nass, übermüdet, durchgefroren und über und über mit Schlamm bespritzt. Tallanus hatte die letzten Stunden im Sattel vor sich hin gedöst, doch Ceretic war hellwach. Das bevorstehende Wiedersehen mit Vortigern und Rowena vertrieb jeden Gedanken an Schlaf.

»Ja, ich glaube schon«, beantwortete er die Frage, die noch immer in der Luft hing. »Wir hatten schon genug Pech. Erst in Durovernum, wo der König nicht weilte, dann in Londinium, wo er gerade erst wenige Tage zuvor abgereist war«, bemerkte er heiterer, als ihm zumute war. Die Reise dauerte sonst Wochen, sie hatten die Strecke in drei Tagen bewältigt. Doch er war fest entschlossen, so schnell wie möglich vor Rowena zu treten. Diesmal würde er nicht wieder davonlaufen. »Vortigern erwartet dich wohl nicht so zeitig zurück?«, fragte er Tallanus mit schiefem Grinsen.

»Nein, wahrhaftig nicht«, pflichtete der ihm bei. »Ein Jahr lang hat niemand etwas von dir gehört oder gesehen. Kein Mensch hat auch nur geahnt, wo du dich aufhältst. Doch kaum komme ich nach Ypwinesfleet, um nach dir zu suchen, steigst du eben dort vom Schiff. Das hätte ich nicht einmal zu hoffen gewagt!«

»Eine merkwürdige Fügung, allerdings«, pflichtete Ceretic seinem Freund bei. »Wäre nicht Hengists Sohn auf seiner Irlandfahrt eben an jenem Dorf vorbeigekommen, in dem ich mich verkrochen hatte, dann hätten weder du noch Vortigern mich jemals gefunden!«, behauptete er. Doch so war es dem jungen Diakon nicht schwergefallen, Ceretic zu überreden, ihn an den Königshof zu begleiten. Wenn er in dem einen Jahr, das er im Exil an der sturmumtosten Küste des fernen Kernow verbrachte, eines gelernt hatte, dann war es schlicht und einfach das: Solange er atmete, könnte er Rowena niemals vergessen. Und wenn er sie schon nicht besitzen durfte, so würde er wenigstens über sie wachen. Eine gerechte Strafe dafür, dass er sie vor einem Jahr im Stich gelassen hatte, als sein König überraschend um ihre Hand angehalten hatte.

Inzwischen waren sie am Tor des alten Hauptortes der Catuvellaunen angelangt. »Was seid ihr denn für zwei Vagabunden?«, begrüßte sie der Wachhabende, denn auch Ceretic starrte vor Schmutz. Nach längerem Pallaver gelang es Tallanus schließlich, den jungen Krieger von ihrer Identität zu überzeugen. »Und, wo finden zwei müde Wanderer eine Herberge?«, fragte er noch, als sie ihre erschöpften Pferde durch das bereits halb geschlossene Tor in die Stadt führten.

»Dort die Gasse entlang bis zum Wasser. Linker Hand seht ihr dann eine Herberge für euch und die armen Gäule«, gab der Mann mürrisch Auskunft. Tallanus schlug als Segenszeichen das Kreuz über ihm und schritt rasch in die angegebene Richtung.

»Wollen wir es nicht lieber gleich hinter uns bringen und Vortigern aufsuchen?«, drängte Ceretic. Er fürchtete, im letzten Moment den Mut zu verlieren. Doch der kleine Diakon gähnte und schüttelte bestimmt den Kopf.

»Wir reiten in die Herberge, schlafen aus und nehmen ein Bad. Morgen können wir dann eine Audienz beim Hochkönig erbitten. Die Torwachen hatten zwar ein Einsehen, aber so wie du aussiehst, kommst du ganz bestimmt nicht in den Palast hinein. Außerdem sollten wir, bevor wir zu Vortigern gehen, noch dem Schrein mit den Reliquien des heiligen Alban unsere Referenz erweisen.«

Und so musste Ceretic seine Ungeduld eine weitere schlaflose Nacht lang bezwingen. Seine Sorgen vor dem kommenden Tag wuchsen mit den zäh dahinschleichenden Stunden der Nacht.

Am nächsten Morgen begaben sich die beiden Reisenden in aller Frühe zur Basilika des heiligen Alban. »Bei dem Treffen mit Vortigern kannst du die Fürsprache des Heiligen gut gebrauchen«, behauptete Tallanus. »Immerhin hast du dich ohne die Erlaubnis des Hochkönigs von seinem Hof entfernt, und das, wo er dich gerade dringender brauchte als je zuvor. Du bist einfach so verschwunden, ein ganzes Jahr!«, fügte er tadelnd hinzu, doch wie immer, wenn die Sprache auf die Ursache seiner Flucht kam, schwieg Ceretic verbissen.

Im entlegenen Kernow gab es weder eine Kirche noch einen Priester des wahren Gottes. Lediglich den unheimlichen Druiden auf der vorgelagerten Insel, und so beugte Ceretic willig die Knie vor dem weithin für seine Wundertätigkeit gerühmten Schrein.

Doch als sie wenig später vor den Hochkönig geführt wurden, zitterten Ceretics Knie nichtsdestotrotz. Vortigern saß, gegen die morgendliche Kälte in einen dicken Wollmantel gehüllt, auf seinem Thron. Der Atem kondensierte vor ihm, so kalt war es trotz der verhängten Fenster und der brennenden Fackeln an den Wänden. Die Stimmung im Raum schien um keinen Deut wärmer. Der Hochkönig musterte Ceretic mit finsterer Miene. Seine Flucht vom Hofe war offensichtlich noch nicht vergessen. Doch Ceretic selbst konnte seine Augen nicht von der Königin wenden. Rowena stand mit steinerner Miene neben ihrem Gemahl. Unangenehm lastete das Schweigen auf dem dämmrigen Thronsaal.

Schließlich räusperte Vortigern sich. »So sieht man sich wieder, du treuloser Knecht«, schimpfte er. Doch bevor Ceretic antworten konnte, fuhr er fort: »Um deiner ehemals treuen Dienste willen, werde ich dir noch einmal eine Möglichkeit geben, dich zu bewähren. Ab sofort wirst du meiner Frau jederzeit zur Verfügung stehen, ihr übersetzen und jeden ihrer Wünsche erfüllen«, befahl der Hochkönig mit einer Stimme, die keinen Widerspruch gelten ließ. »Außerdem bist du mir für ihre Sicherheit verantwortlich. Ihr sächsischer Übersetzer und Begleiter hat mich verraten und versucht, die Schwachheit und Einsamkeit meiner Taube auszunutzen!«

Ceretic schluckte, diese Geschichte, die Ordulfs Verbannung vorausgegangen war, hatte ihm Tallanus bereits auf dem langen Ritt von Londinium erzählt. Demnach hatte Ordulf mitnichten um seine Herrin gebuhlt, sondern war einer Intrige von Vortimer, Vortigerns verschlagenem Sohn, der einen geheimen Groll gegen die Sachsen hegte, zum Opfer gefallen. Sein Blick glitt wieder zurück zum steinernen Antlitz der Königin. Wie sollte er nur Tag für Tag vor Rowenas zornigem Blick bestehen? Ihre Gefühlskälte schmerzte ihn mehr, als es Scheltworte oder Wutausbrüche vermocht hätten. Sie hatte mit keiner Geste Wiedersehensfreude oder auch nur ein einfaches Erkennen angedeutet. Doch dann straffte Ceretic die Schultern. Er würde nicht noch einmal davonlaufen, das hatte er sich geschworen. Zumindest musste er mit ihr sprechen und sie über seine wahren Gefühle und Beweggründe aufklären!

II. ALTE FREUNDE

Regulbium im Oktober 443

Ordulf

Ordulf traf seine Gefährten am jenseitigen Ufer des Wantsum Sunds. Sie warteten wie befohlen unter dem alten Römerfort, in dessen Schutz sich das kleine britannische Regulbium entwickelt hatte. Die Römer waren längst verschwunden und nur wenige windgeschliffene Ruinen erinnerten an die Kette einst mächtiger Kastelle, die den Litus Saxonicum, die Sachsenküste, vor Überfällen beschützt hatten. Nun wurde dieselbe Küste von Hengist und den Sachsen in Ypwinesfleet beschützt.

»Was hast du denn so lang getrieben?«, wollte Arfst, Ordulfs engster Freund und Stellvertreter, wissen. Doch Ordulf klebte die Zunge am trockenen Gaumen und er war nicht zum Reden aufgelegt.

»Wir reiten über Regulbium«, befahl er knapp. Arfst grinste wissend. Wenn es um das schwache Geschlecht ging, konnte man ihm nichts vormachen.

Als die Ruinen schließlich den Blick auf das kleine Regulbium freigaben, begann Ordulfs Herz vor Aufregung zu rasen. In einer dieser windschiefen Bauernkaten befand sich Álainn; die vermeintliche Piktin, die er im letzten Sommer von den Sturminseln geraubt und mit der er auf dem Heimweg etliche Abenteuer durchgestanden hatte. Nur um später zu erfahren, dass sie gar keine Piktin, sondern ihrerseits eine verschleppte Britannierin war! Noch dazu eine Bekannte seines Freundes Tallanus, des Diakons, wie er sich nannte. Ordulf wusste nur, dass es sich dabei um eine Art Priester des britannischen Gottes handelte. Doch verärgert stellte er fest, dass ihm die eigenen Gedanken entglitten. Er konzentrierte sich mit einiger Anstrengung wieder auf seine Aufgabe. Bei ihrem letzten Treffen hatte Álainn versprochen, mit ihm zu kommen, wenn er eigenes Land vorweisen könnte. Würde sie ihm nun folgen? Er schluckte wieder und wäre am liebsten umgekehrt, aber vor seinen Männern konnte er sich eine solche Blöße natürlich nicht geben. Entschlossen nahm er die Zügel kürzer. Sein Pferd, eine braune Stute aus sächsischer Zucht, schnaubte verärgert, biss auf den Zaum und senkte den Kopf. Ordulf drückte den Rücken durch und hielt dagegen, so gut es sein lädiertes Bein erlaubte.

»RUHIG«, schimpfte er lauter als nötig. Eigentlich war ihm klar, dass es seine eigene Unruhe war, die sich auf das Tier übertrug. Am Eingang des Dorfes kläfften Hunde und schnappten nach den Fesseln des hintersten Pferdes. Doch die sächsischen Pferde waren Schlachtrösser und darauf gedrillt, sich zu verteidigen. Nachdem der erste Hund jaulend davongeflogen war, hielten die Übrigen respektvoll Abstand zu den schweren Hufen. Wieder scheute Ordulfs Pferd, und er musste sich einen Augenblick ganz auf das widerspenstige Tier konzentrieren. Doch dann standen sie vor Álainns angesengter Kate. Mit klopfendem Herzen hielt er an. Unschlüssig, ob er mit dem verletzten Bein den Sattel verlassen konnte. Doch die junge Britannierin musste bereits das Hundegebell oder den Hufschlag gehört haben, denn bevor sich Ordulf zu einem Entschluss durchringen konnte, öffnete sie ihre Tür.

»Álainn«, rief er von ihrem plötzlichen Erscheinen überrumpelt.

»Ordulf«, stellte sie nüchtern fest und blickte verdrossen zu dem Reiter hinauf. »Was bringt einen stolzen Sachsen wie dich hierher?«, fragte sie. Ihr kühler Ton verletzte Ordulf, aber er ließ sich nichts anmerken. Sie konnte ja noch nicht von der guten Nachricht gehört haben.

»Ich … ich bin wieder da«, stammelte er.

»Das sehe ich«, bestätigte die junge Britannierin noch immer reserviert. In Ordulfs Kopf überschlugen sich die Gedanken. Sie konnte den Abend doch nicht vergessen haben, an dem er ihr das Versprechen abgerungen hatte, ihm zu folgen?

»Erinnerst du dich noch an unsere letzte Begegnung, dort oben auf dem Hügel …?«, fragte er lahm.

Sie errötete. »Natürlich habe ich das nicht vergessen«, fiel sie ihm ins Wort. »Aber da haben wir eine Übereinkunft getroffen. Ich komme mit dir. Aber nur unter der Bedingung, dass du dein eigenes Land besitzt und nicht mehr davon lebst, arme Bauern und Fischer auszuplündern! Und die Tatsache, dass du hoch zu Ross mit einer Kriegerhorde ankommst, um mich einzuschüchtern, hilft da auch nicht weiter.« Sie sah ihn herausfordernd an und diesmal war es Ordulf, der errötete.

»Kriegerhorde?«, fragte er verblüfft. Dann schüttelte er abwehrend den Kopf. »Aber nein! Das sind die Männer, die mir folgen, zu meinem Hof. Ein eigener Hof im Süden, am Meer. Horsa hat ihn mir gegeben.« Ordulf musste eine Pause machen, um Luft zu holen, obwohl er Álainn lieber keine Zeit zum Widersprechen gegeben hätte. Doch sie widersprach nicht. Krachend verschloss sich die Tür vor Ordulfs Nase.

»Na, das lief doch prima«, feixte Arfst. Die auf Britannisch geführte Unterhaltung hatte er zwar nicht verstanden, aber das Ergebnis war auch so eindeutig. Ordulf seufzte, nicht einmal ein Funke seines gefürchteten Jähzorns glomm auf.

Doch der Friese behielt Recht. Nach wenigen Augenblicken stand Álainn mit einem Bündel wieder in der Tür. »Na dann los«, sagte sie und drückte sich an der Stute des völlig verdutzten Ordulf vorbei. »Ich hoffe, du hast auch ein Pferd für mich mitgebracht, denn wenn du glaubst, ich steige hinter dir auf, dann hast du dich geschnitten!«

Arfst führte ihr galant das kleine piktische Hochlandpony vor, welches er bis dahin am Zügel hinter sich hergezerrt hatte. »Brðnaz!«, rief Álainn erfreut und schenkte Arfst ein dankbares Lächeln. Rasch saß sie im Sattel. »Worauf warten wir noch?«, fragte sie Ordulf, der immer noch neben der nun verlassenen Bauernkate hielt.

»Ja, eigentlich … «, stammelte er, doch da hatte Álainn ihr Pony schon an ihm vorbei gelenkt und trabte auf die Römerstraße zu. Ordulf drückte seiner Stute so abrupt die Hacken in die Flanken, dass sie mit einem erschrockenen Satz in Galopp verfiel und Álainn hinterherjagte. Auf der alten Römerstraße, die von Durovernum über Regulbium nach Süden führte, holte er die Britannierin ein. Doch erst als er kurz ihr Lächeln sah, begann sein Selbstbewusstsein sich allmählich zu erholen. Der flotte Ritt hatte ihr offenbar Freude bereitet. Sie hielt neben ihm und ihr Blick glitt zu den Männern, die überrascht von dem plötzlichen Tempowechsel erst nach und nach aufschlossen. »Willst du mir deine Leute nicht vorstellen?«, fragte sie. »Ich erinnere mich an kaum noch einen.«

»Der bartlose Blondschopf hier ist Arfst, den kennst du doch sicher noch, oder?«, begann Ordulf. Als sie nickte, fuhr er fort. »Und dort drüben die übrigen Friesen Kobers, Fulck, Poppa und Redbad dazu. Dann die drei Willerichsmannen dort, und die vier hier kommen aus Feddersen. Der Kräftige ist Odilgard, stark wie ein Ochse, aber ebenso dumm, und neben ihm Ortwin, sein Bruder.« Über den hatte sich Ordulf besonders gefreut. Odilgards deutlich flinkerer Halbbruder verstand sich auf die Schmiedekunst, und so müssten Ordulfs Männer nicht jedes Mal nach Ypwinesfleet reiten, um einen Speer zu richten oder eine Scharte auszubessern.

»Mhm«, nickte Álainn anerkennend. »Ich hoffe, sie können auch einen Acker bestellen und nicht nur junge Mädchen rauben.«

Ordulf überhörte die Anspielung auf ihr erstes Zusammentreffen. »Ja, ich bin stolz auf meine Ordulfmannen«, bestätigte er. Und das hatte er sich auch etwas kosten lassen. Fast sein gesamtes Silber war draufgegangen, um sie mit dem Besten auszustatten, was man in Ypwinesfleet kaufen konnte. Lediglich den einäugigen Halvor vermisste er unter den Gefährten, und natürlich auch seine britannischen Freunde Tallanus und Ceretic. Ordulf hatte Ceretic noch am Tag vor seiner Abreise in Ypwinesfleet getroffen. Der Britannier wollte genauestens Bescheid wissen, was an Vortigerns Hof vorgefallen war. Die Tatsache, dass Rowena, Hengists Tochter und nun Hochkönig Vortigerns Eheweib, immer noch das kleine Bronzekreuz um den Hals trug, welches Ceretic ihr zur Hochzeit hatte zukommen lassen, hatte dem großen Britannier sichtlich gefallen. »Nimm diesen Armreif als Ersatz für das Schmuckstück, welches du ihr so treu übergeben hast. Ich erhielt ihn von Octha als Dank für einen Dienst, den ich ihm in Irland geleistet habe.« Ordulf hatte den schweren Silberreif ihrer alten Freundschaft wegen genommen. Doch nun streifte er ihn vom Arm und wog ihn in der Hand. Das Silber war zu feinen Drähten gezogen und kunstvoll verdreht worden. Die Drähte wanden sich zu komplizierten Knoten und mündeten schließlich in kleinen Schlangenköpfen. Die Augen der Schlangen waren goldgefasst und mit Granat eingelegt.

Er reichte Álainn den Ring. »Hier, nimm diesen Ring. Daran sollen alle erkennen, dass du unter meinem Schutz stehst.«

Sie zögerte einen Augenblick, doch dann siegte ihre Neugier. Sie nahm den Reif und betrachtete ihn fasziniert. »Danke«, stieß sie schließlich hervor. »Aber ich glaube, den solltest du dir für deine Frau aufheben.«

Ihre Worte versetzten Ordulf einen weiteren Stich. Er hatte gehofft, sie würde ihm nicht nur auf den neuen Hof folgen, sondern weiter. Doch insgeheim hatte er schon geahnt, dass er bei dem eigenwilligen Mädchen noch lange nicht am Ziel war. »Dann hebe du ihn so lange auf, bis ich eine Frau finde«, entgegnete er und wich ihrem Blick aus.

Am Abend lagerten sie in einem kleinen britannischen Bauerndorf. Die Raststationen an der Römerstraße, die dereinst jedem Fremden Unterkunft und Schutz boten, waren mangels Reisender längst zu öden Ruinen verfallen. Ordulf hatte der Tag mehr erschöpft, als er sich oder seinen Männern eingestehen wollte. Doch spät am Abend zwang er sich, noch einmal von dem weichen Fell am Feuer des größten der allerdings insgesamt wenig beeindruckenden Höfe aufzustehen. Schmerzerfüllt zuckte er zusammen, sobald sein verwundetes Bein das volle Körpergewicht zu tragen bekam. »Ich bin wohl etwas eingerostet, ich gehe mir kurz die Beine vertreten«, behauptete er und hinkte aus der Stube.

Der fast volle Mond erleuchtete die Gegend beinahe taghell. Ordulf ließ sich ächzend auf einen Baumstamm sinken. Mühsam hievte er sein rechtes Bein auf den Stamm, um die Wunde im Mondschein zu inspizieren. Der Bundschuh klebte an der Wunde. Mit zusammengebissenen Zähnen riss er den Stoff vom Bein. Sorgenvoll drehte er die Wunde ins Licht. Doch was er sah, gefiel ihm besser, als er befürchtet hatte. Dort, wo der Hauer des Keilers unter die Haut gedrungen war, klebte geronnenes Blut, aber der Hautfetzen verschloss die Wunde und nur an wenigen Stellen quollen noch kleine Tropfen Wundsekret hervor. Grimmig wickelte Ordulf den Stoff wieder um das verletzte Bein. Da hatte er schon Schlimmeres überstanden!

Früh am nächsten Morgen brachen sie wieder auf. Ordulf fühlte sich nach der Nacht etwas erfrischt. Sein Blick glitt über die kleine Truppe und blieb an dem jungen Hengst Northræniwind hängen. Das Pferd war der einzige Bewohner seines Vaterhofes im heimischen Dithmarschen, der die schwere Sturmflut vom vorletzten Winter überlebte hatte. Mit Ausnahme seines Bruders Agill, der ebenfalls Hengist folgte, war seine gesamte Familie bei diesem Unglück ertrunken. Noch trug Northræniwind einen Packsattel, aber im nächsten Jahr würde Ordulf ihn zureiten. Darauf freute er sich schon jetzt. Sein Blick glitt weiter und er sah scheu zu Álainn herüber. Wenn die junge Britannierin doch nur genauso leicht zu zähmen wäre, dachte er wehmütig. Es war doch zum Verrücktwerden. Er, der gefeierte Held und Anführer seiner eigenen Kriegerschar, nun auch noch stolzer Besitzer eines eigenen Hofes, benahm sich diesem mittellosen Bauernmädchen gegenüber wie ein junger Knabe. Entschlossen drängte er seine Stute zu ihrem Pony heran. Doch schon den ersten Satz presste er mit unsicherer Stimme heraus: »Bist du nicht gespannt auf unser eigenes Land?«, fragte er.

»Dein eigenes Land«, verbesserte sie ihn unnachgiebig. Doch dann lächelte sie ihn an und versetzte Ordulfs Gefühle damit in eine wilde Berg- und Talfahrt. »Nachdem ich schon für Caellach geschuftet habe und bei Pikten und Sachsen als Gefangene leben musste, werde ich auch mit dir und deinen Männern fertig.«

Sie blickte nochmals auf Ordulfs Männer. »Zieht Tallanus nicht mit uns?«, fragte sie bedauernd. »Unter so vielen Heiden könnte ich einen Priester gut gebrauchen.«

»Tallanus ist bereits gestern aufgebrochen, um Ceretic nach Durovernum zu bringen. Hochkönig Vortigern möchte, dass er ihm übersetzt und sich an meiner statt um Rowena kümmert.« Die Gerüchte, die zu seiner Verbannung vom Hof des Hochkönigs geführt hatten, verschwieg er wohlweislich.

»Du könntest auch gut einen Priester gebrauchen«, bemerkte sie schnippisch.

»Ich, einen Priester?«, fragte Ordulf erstaunt. Ein Kälteschauer überlief ihn plötzlich und er zog den Umhang dichter um die Schultern. »Wozu denn das? Als Herr eines eigenen Hofes kann ich ja wohl alle meine Opfer selbst darbringen! Wozu brauche ich einen Zauberkundigen und noch dazu einen britannischen?« Als er ihren empörten Blick spürte, fröstelte ihm schon wieder. Rasch fügte er begütigend hinzu: »Aber wir können Tallanus so oft du magst rufen. Ich kann ihn ebenso gut leiden wie du.«

»Du solltest ihn holen, damit er dich in die Wahrheit führt, oder glaubst du, ich werde jemals einen Heiden heiraten?« Ordulf biss sich vor Schreck auf die Zunge, doch er war so schlau den Mund zu halten.

Am Nachmittag erreichten sie das von Horsa bezeichnete Land. »Das Dorf dort muss es sein«, riss Arfsts Stimme Ordulf aus einem leichten Dösen. Er fühlte sich elend und wusste nicht recht warum. Sein Puls pochte in dem verwundeten Bein, aber die Schmerzen waren nicht mehr so schlimm wie noch am Vortag. Mühsam konzentrierte sich Ordulf auf das, was Arfst gesagt hatte. Direkt vor ihnen drückte sich ein britannisches Bauerndorf in eine Bodenwelle, während die milde Brise den Geruch des Meeres zu ihnen trug. »Heute Abend kehren wir im Dorf ein«, entschied er mürrisch. »Ich will mein Land dann morgen in Augenschein nehmen.«

Arfst zog erstaunt die Brauen hoch. »Die Sonne steht noch hoch genug für eine erste Erkundung«, bemerkte er voller Tatendrang. Doch Ordulf war schon weit fort mit seinen Gedanken.

Bald lenkten die Sachsen ihre müden Rösser in die kleine Siedlung. Ordulf versuchte sich zusammenzureißen. Gleich würde er seinen britannischen Knechten zum ersten Mal gegenüberstehen. Da war es wichtig, von vornherein als der neue Herr aufzutreten. Und tatsächlich ritten sie mitten in einen Aufruhr der verängstigten Dorfbewohner hinein. Ihr Kommen musste schon bemerkt worden sein, denn die Menschen drängten sich auf dem Platz vor der einzigen Bierschänke zusammen und beäugten die Sachsen aus roten Augen, besorgt und neugierig zugleich. Die Sachsen zügelten ihre Pferde und schauten ihrerseits erwartungsvoll zu Ordulf hinüber. Doch der blickte nur aus halb geöffneten Augen stumpf auf die versammelten Britannier. Schließlich schoben die Dörfler einen älteren Mann nach vorne, der sich nervös vor Ordulf verbeugte. Ordulf versuchte seine Lethargie abzuschütteln.

»Wer bist du?«, fragte er in der Landessprache. Der Mann schaute erstaunt auf ihn und dann zu seinen Dorfgenossen. Offenbar hatte niemand erwartet, dass der neue sächsische Herr Britannisch sprach. »Wie ist dein Name?«, erkundigte sich Ordulf nochmals.

Da fiel dem Alten plötzlich auf, dass die Fragen wohl an ihn gerichtet waren. »Kenneth, Herr. Ich bin hier der Älteste«, beeilte er sich zu gehorchen.

»Also Kenneth, ich bin Ordulf Swænsunu, Thane Hengists, des Herrn von Canturguoralen, oder Cantium, wie ihr es nennt. Ich bin euer neuer Herr. Wir brauchen Quartiere und etwas zu essen. Und Ställe und Futter für die Pferde. Ach ja, noch etwas Bier, wenn ihr habt.« Ordulf hörte das empörte Schnaufen Álainns neben sich, aber diesmal war sie es, die den Mund hielt.

Mühsam schwang Ordulf das rechte Bein über den Sattel, doch als er es auf den Boden setzte, sackte es einfach weg. Er selbst fiel jedoch nicht zu Boden, sondern versank in tiefer sternloser Nacht.

Verulanum im Oktober 443

Ceretic

Nach einigen Tagen, in denen Ceretic vergebens auf eine Gelegenheit, sich Rowena zu erklären, gehofft hatte, bemerkte er einige Regelmäßigkeiten in ihrem Tagesablauf. Abends verschwand sie für eine Stunde oder mehr aus dem Palast. Bald verriet ihm ein Stalljunge die Ursache für dieses seltsame Verhalten: Sie pflegte jeden Tag eine Runde durch die Ställe zu drehen, um nach ihrem grauen Sachsenhengst zu sehen. Eine bäuerliche Gewohnheit aus ihrer sächsischen Heimat, doch ihr Ehemann sah offenbar keine Veranlassung, ihr diese harmlose Freude zu vergällen. Schließlich nahm Ceretic all seinen Mut zusammen und packte die Gelegenheit beim Schopf. Er hatte sich inzwischen mit dem Stalljungen ins Einvernehmen gesetzt und konnte so, ohne Aufsehen zu erregen, in diesem Teil des königlichen Hofes verkehren. Wie erhofft, traf er Rowena mit dem Tier allein. Hinter einem Balken hielt er inne und beobachtete sie. Sie war so schön wie an jenem Tage, als sie sich am Beufleet vor ihres Vaters Hof ewige Liebe und Treue geschworen hatten. Doch die Geste, mit der sie dem Ross das Brot von der königlichen Tafel fütterte, hatte nichts mit der damaligen Rowena zu tun. Sie wirkte langsam und unglaublich traurig.

Die Königin musste seine heimliche Anwesenheit irgendwie gespürt haben. Vielleicht war es sein rascher Atem, den sie vernahm, denn plötzlich, ohne sich zu ihm umzuwenden, sprach sie ihn an. »Ceretic ap Ruohim«, begrüßte ihn ihre eisige Stimme. »Der erfolgreiche Werber meines Mannes. Erst holt er ihm die Krieger Sachsens und dann wirbt er ihm als Draufgabe noch eine Ehefrau! Ich bin erstaunt, dass du dich noch hierher traust. Doch eins muss ich dir lassen: Kühn warst du schon immer.« Nun wandte sie sich endlich um. Böse funkelten ihre klaren blauen Augen.

Ceretic fühlte es wie Stiche in der Brust. Doch gleichzeitig wurde ihm klar, wie töricht es gewesen war, zu fliehen. Diese Frau war sein Leben, und wenn er sie schon nicht haben konnte, so wollte er doch gern sein Leben geben, sie zu beschützen. »Du hast Recht, mit mir zu schimpfen«, gestand er.

Sie hob erstaunt die Augenbrauen. »Soll das eine Entschuldigung werden?« Ihre Stimme hatte nichts von der Kälte verloren.

»Nur dafür, dass ich geflohen bin. Ich konnte nicht ertragen, wie mein König seine Hand nach dir ausstreckte, aber ich konnte es auch nicht verhindern.«

»Du konntest es nicht verhindern? Du hast doch selbst für ihn geworben!«, lachte sie, aber ohne jede Freude in der Stimme. Ceretic wurde es heiß. Er spürte, dass dieses Gespräch über Glück und Unglück seines weiteren Lebens entscheiden würde.

»Ich schulde meinem König dieselbe Treue wie du deinem Vater«, erwiderte er grob. Er sah etwas wie Schuldbewusstsein in ihren Augen. Es tat ihm weh, sie zu verletzen, aber er musste ihren Eismantel durchbrechen.

»Wie kann ich mich, als einfaches Mädchen, dem Willen meines Vaters und seines selbsterwählten Königs widersetzen? Es ist nicht gerecht, dass gerade du so redest. Ich hatte keine Wahl.«

»Dieselbe Wahl wie ich. Auch du hättest fliehen können«, behauptete er hart, auch wenn ihm klar war, dass man so etwas schwerlich von einem jungen Mädchen verlangen konnte.

»So war es nur deine Königstreue, die dich dazu trieb, meinem Vater diese Ehe anzutragen?«, fragte sie und ihr Gesicht nahm einen bestürzten Ausdruck an. »War es denn nicht von Anfang an so geplant?« Die letzte Frage kam drängend.

»Selbst meine Königstreue hätte mich nicht so weit getrieben, und auch nicht, dass mir Vortigern mit dem Tode drohte, wenn ich nicht nach seinem Wunsch übersetze. Aber als du selbst mich sofort fallen ließest und verdammtest, ohne zu fragen, warum, das war zu viel für mich. Ich dachte, ich würde auf der Stelle sterben, dort in deines Vaters Halle. Außerdem wollte ich dich auch nicht um einen sicheren Hof und um die Treue zu deinem Vater betrügen, wo ich die Geschehnisse doch ohnehin nicht abwenden konnte. Ich dachte, es sei vielleicht besser so für dich. Du selbst hast mir doch von der Prophezeiung erzählt, die dir einen König als Ehemann versprach. So entschied ich mich, allein davonzulaufen. Vortigern hätte auch ohne mich Wege gefunden, seinen Willen bekannt zu machen.« Er holte kurz Luft, sprach aber sofort weiter, vielleicht würde sie ihm lange genug zuhören, um seine wahren Gefühle zu erkennen. »Zwei Jahre hatte ich davon geträumt, deinem gestrengen Vater unter die Augen zu treten und um deine Hand anzuhalten. Und als ich es endlich wagen konnte, da musste ich es für meinen König tun, nicht für mich selbst. Ich liebe dich immer noch so wie damals am Ufer des Beufleet und habe auch im Exil in Kernow keinen Augenblick darin gewankt!«

Ihre gerade noch so klaren Augen glänzten feucht. »Kein Wort mehr davon. Du weißt nicht, was du anrichtest. Du musst deinem König die Treue halten, wie ich es meinem Vater und nun auch meinem Ehemann schulde. Es ist besser, du gehst wieder fort, und jemand anderes übersetzt für mich.« Sie holte tief Luft und Ceretic sah, dass sie mit den Tränen kämpfte. »Eigentlich brauche ich auch gar keinen Übersetzer, ich verstehe inzwischen ohnehin fast alles«, fügte sie in bitterem Ton hinzu.

Ceretic war überrascht. »Aber wieso sprichst du dann mit niemandem?«

»Mir reicht, was ich höre. Barbarin, Heidin, Hure, fremde Schlange …« Die Schimpfworte hatte sie auf Britannisch geäußert; nun brach sie ab und eine Träne kullerte ihre Wange herab. Da konnte Ceretic nicht länger an sich halten, entschlossen nahm er sie in die Arme. Sie sträubte sich kurz, dann schmolz sie an seine Brust. »Du hattest Recht, mich zu schmähen, weil ich dich im Stich gelassen habe. Wenn ich dich schon nicht besitzen kann, dann will ich dich doch verteidigen. Gegen böse Reden wie gegen Schwerter, Feuer oder Wasser, ganz egal. Solange ich, Ceretic ap Ruohim, atme, soll dich niemand mehr schmähen.«

Sie weinte leise an seiner Schulter. Dann hob sie den Kopf. »Ich bin so froh, dass du wieder da bist!«

Südküste Canturguoralens im Oktober 443

Álainn

Entsetzt schrie Álainn auf, als Ordulf, ihr starker Held, der allen Pikten, Britanniern und Sachsen und selbst dem wilden Meer getrotzt hatte, plötzlich hilflos vom Pferd sank. War das Gottes Zorn, der verhindern wollte, dass sie sich mit einem Heiden einließ? Gerade erst hatte er sie aus dem Machtbereich dieses arroganten Caellach, der sich so stolz comarchus von Regulbium betitelte, aber doch auch nur ein besserer Schweinehirt war, befreit, und nun ließ er sie wieder allein? Stand sie schon wieder vor dem Nichts?

Sie sprang aus dem Sattel und erreichte den bewusstlosen Ordulf gleichzeitig mit Arfst. »Wir brauchen einen Platz am Feuer«, rief sie den ebenso erschrockenen Britanniern zu. »Los, helft mir ihn in die Stube zu bringen.« Arfst verstand auch ohne, dass er die britannische Sprache beherrscht hätte. Zu zweit trugen sie Ordulf durch eine niedrige Tür und legten ihn auf einige Schafsfelle, die eine alte Frau schnell vor dem Herd auf der Erde bereitete. Arfst klopfte Ordulf auf die Wange, aber der ließ nur ein unverständliches Murmeln hören. Doch Arfst fuhr erstaunt zurück und rief etwas in seiner barbarischen Mundart. Da Álainn ihn nicht verstand, griff er ihre Hand und drückte sie an Ordulfs Stirn. Nun merkte auch sie: Die Stirn war glühend heiß.

»Rasch, bringt sauberes Wasser, er hat hohes Fieber«, befahl sie den unschlüssig wartenden Britanniern. Bald lag ein feuchtes Tuch auf Ordulfs Stirn, doch auch wenn sie ihm den Becher an die Lippen hielt, trinken wollte er nicht.

»Er muss frei atmen«, behauptete die Alte hinter ihr. »Wir sollten ihm das Eisenhemd ausziehen.« Álainn schaute auf Arfst, aber da der nichts verstand, beschloss sie, die Behandlung zu übernehmen.

»Ja, das wird das Beste sein«, pflichtete sie der Alten bei. »Ich bin übrigens Álainn. Und auch wenn Ordulf, mein Mann, …«, bei diesen Worten fühlte sie, wie sie bis unter die Haarwurzeln errötete. »Also, auch wenn mein Mann vorhin harte Worte nutzte und ein Sachse ist, ist er der beste Herr, den ihr euch nur wünschen könntet. Also bitte ich euch in Gottes Namen, helft mir, ihn wieder gesund zu machen«, flehte sie.

Die Alte nickte knapp. »Mein Name ist Fey Ila.« Einen Moment sah sie Álainn fest in die Augen. »Und ich will dir glauben und mein Bestes geben.« Auf den scharfen Ruf Fey Ilas hin setzten sich die bisher hilflos dastehenden Männer in Bewegung. Zwei halfen, Ordulf das Kettenhemd und die Kleider abzunehmen, ein weiterer lief hinaus und kam sogleich mit beiden Armen voll frischer Holzscheite zurück, mit denen er das Herdfeuer wild anfachte. Im Raum wurde es warm.

»Wenn er Fieber hat, müssen wir ihn zum Schwitzen bringen.« Arfst war, da er sah, dass seinem Freund geholfen wurde, einige Schritte zurückgetreten. Er verstand nichts und wollte offenbar wenigstens nicht im Wege stehen. Doch nun rief er den emsig werkenden Britanniern etwas zu. Álainn verstand sein Friesisch nicht, aber er nahm wieder ihre Hand und legte sie auf Ordulfs Bein. Erstaunt blickte sie auf. Der Friese hatte Recht. Klebte dort nicht getrocknetes Blut? Rasch half sie Arfst dabei den Bundschuh zu lösen. Und tatsächlich: Eine lange Wunde zog sich den gesamten Unterschenkel hinab. Die Wunde selbst war mit getrocknetem Blut dicht verklebt, aber der gesamte Schenkel war prall geschwollen und gerötet. »Dass er damit überhaupt reiten konnte!«, rief Álainn aus. Und ihr fiel ein, wie sehr sie sich geärgert hatte, dass er nicht einmal vom Ross gestiegen war, um sie zu begrüßen. Sie hatte sich nach seiner Umarmung gesehnt, wie damals in aller Heimlichkeit hinter ihrer Hütte, als er ihr das Versprechen abrang, ihm zu folgen …

Im Stillen schalt sie sich eine Närrin. Wie hatte sie in ihrem eigenen verletzten Stolz übersehen können, dass der Mann schwer verletzt war! Vielleicht würde sie es nun niemals mehr gut machen können? Vorsichtig betastete sie die Wunde. Ordulfs scharfes Stöhnen ließ sie innehalten.

»Das wird nicht gut. Die Wunde ist nicht sauber«, behauptete die Alte da hinter ihr. Doch einen anderen Rat wusste sie auch nicht, und so richtete sich Álainn neben Ordulf ein, unterhielt das Feuer und betupfte von Zeit zu Zeit Ordulfs Lippen mit einem feuchten Tuch. Trinken wollte er immer noch nichts. Ordulfs Männer kamen einer nach dem anderen herein, aber letztendlich blieb nur Arfst. Nach einigen Stunden erschien die Alte Fey. Ein junges Mädchen folgte ihr mit einem schweren Wasserkessel. Sofort sprang der Friese auf und nahm den schweren Kessel, wofür er ein dankbares Lächeln erntete.

»Über das Feuer damit«, befahl Fey. Und Arfst gehorchte. Álainn konnte nicht umhin, den raschen Verstand des Friesen zu bewundern. Er schien instinktiv zu verstehen, was man von ihm erwartete. »Ich mache einen Kräutersud«, erklärte Fey Ila endlich. »Alle Stunde wirst du frische Leinentücher hineintauchen und dann auf die Wunde legen. Vielleicht gelingt es uns so, das Gift aus dem Körper zu ziehen. Außerdem musst du immer frische Umschläge um seine Beine wickeln, um das Fieber zu kühlen.« Sie blickte Álainn energisch an. Die nickte und schaute zu Arfst, um zu sehen, ob er ebenfalls verstanden hätte. Doch zu ihrem Erstaunen sah sie, dass der Friese nur noch Augen für das junge Mädchen hatte, welches der alten Fey zur Hand ging. Kurz musste Álainn schmunzeln. Dann wurde sie wieder ernst und kniete sich neben Ordulf. Ihre Aufgabe lag hier.

Ordulf

Ordulf dämmerte in einem Zustand zwischen Schlaf und Wachen dahin. Einmal sah er ein altes runzliges Gesicht, dann erschien ihm wieder ein junges und immer wieder Álainn. Er versuchte ihr etwas zu sagen, sie zu bitten, ihn nicht zu verlassen, doch die Zunge klebte ihm am Gaumen und seine Kraft reichte nicht, um den Kopf zu heben. Einmal fühlte er sich wie auf hoher See. Über ihm ein grauer Himmel und er meinte sogar die Wellen zu spüren. Aber was war das für ein merkwürdiges Fahrzeug? Vielleicht eine Currach, wie sie Ceretic auf seiner ersten Reise nach Sachsen getragen hatte? Doch was bedeutete das schon? Nun war es seine Reise, eine Reise in die Unendlichkeit des Meeres. Die Zeit hatte jede Bedeutung verloren, und er trieb langsam in die heraufziehende Dämmerung. Er ließ sich zurückfallen und das Wellental schien kein Ende zu nehmen. Ein plötzlicher Gedanke riss ihn vom Abgrund zurück. Wo war Álainn? Hatte sie ihn verlassen? Er konnte sich nicht ohne sie treiben lassen. Denn auf einmal wusste er trotz seiner benebelten Sinne mit einer eigenartigen Klarheit: Sie gehörte zu ihm und sie würde ihn niemals verlassen.

Als Ordulf nach einer weiteren Episode der Dunkelheit wieder zu sich kam, lag er in einem niedrigen Raum mit rußgeschwärzter Decke. Er merkte gleich, dass die Welt, die er um sich sah, diesmal Wirklichkeit war. Am flackernden Licht und dem beißenden Qualm erkannte er, dass irgendwo im Raum ein großes Feuer brannte. Ihm war auch unbändig heiß. In seiner trockenen Kehle brannte der Durst. Ein pochender Schmerz zog von seinem rechten Bein bis zur Leiste hinauf.

»Er ist wach! Die drei Schwestern spinnen seinen Lebensfaden weiter«, hörte er da die sich vor Überraschung und Freude überschlagende Stimme Arfsts. Und schon erschien das besorgte Gesicht des Freundes über ihm. »Ordulf, kannst du mich hören?«, schrie er viel lauter als notwendig. Ordulf wollte verärgert antworten. Natürlich konnte er ihn hören, so wie er brüllte. Aber zu seinem eigenen Erstaunen brachte er nur ein Krächzen zustande. »Ist schon gut«, beschwichtigte Arfst und drückte ihn bestimmt auf das Lager zurück.

Nun erschien eine alte runzlige Frau in seinem Blickfeld. Hatte er sie nicht schon in seinen Träumen gesehen? Und da fiel ihm Álainn wieder ein. Entschlossen wollte er sich aufsetzen, um nach ihr zu schauen, aber sogleich bemerkte er, dass das keine gute Idee war. Vor seinen Augen tanzten auf einmal schwarze Schatten und der ganze Brustkorb schmerzte. »Du musst den Sud trinken, den sie dir gemacht hat«, befahl Arfst. Und schon setzte die Alte Ordulf eine Holzschüssel mit einer scharf riechenden Brühe an den Mund.

»Zu heiß!«, wollte Ordulf rufen, aber sein ohnehin kaum verständliches Krächzen ging im Gurgeln unter, als der Friese der Alten half, ihm die Brühe einzuflößen. Ordulf musste so stark husten, dass sich sein ganzer Körper dabei aufbäumte. Dabei erhaschte er einen Blick in den Raum. Neben Arfst und der alten Britannierin befanden sich noch Ortwin und ein Ordulf unbekannter Mann, vermutlich einer der Britannier, in der Stube. Trotz seines üblen Zustandes empfand er die Abwesenheit Álainns wie einen schmerzhaften Stich. »Was«, krächzte er. Dann sank sein Kopf entkräftet aufs Lager zurück. Er hatte fragen wollen, was geschehen war, aber das alles machte ihn so unglaublich müde.

Am folgenden Tag beantwortete sein treuer Freund alle Fragen. »Du bist fiebernd vom Pferd gefallen. Wieso hast du denn nichts von der Verletzung erzählt? Wo hast du die überhaupt her? Gestern dachten wir schon, es sei um dich geschehen. Doch dann ist die Wunde aufgebrochen und eine Unmenge Eiter geflossen. Seitdem ist dein Fieber wieder gesunken. Aber bis du wieder auf den Beinen stehen kannst, wird es noch eine Weile dauern. Inguz sei Dank, dass du überhaupt noch lebst!«

»So ein Sturkopf wie der stirbt schon nicht, den wollen nicht mal eure Götzen haben!« Die letzten Worte hatte eindeutig Álainn geäußert. Ordulf verzog schmerzhaft das Gesicht. Liebevoll klang das wahrhaftig nicht. Doch Arfst beugte sich vor. »Glaub ihr kein Wort. Du hättest sehen sollen, wie sie über dir hockte, als du noch im Fieber lagst. Keinen Moment hat sie die Augen geschlossen!«, flüsterte er Ordulf ins Ohr und gab ihm einen leichten Knuff in die Seite. Hatte er überhaupt verstanden, was sie sagte? Er sprach doch nur diesen fürchterlichen friesischen Dialekt und kein Britannisch? Doch darüber würde Ordulf ein andermal nachdenken. Beruhigt schloss er die Augen und schlief ein.

Es dauerte noch zwei Tage, bis Ordulf zum ersten Mal wieder saß und eine ganze Woche, bis er die ersten Schritte machte. Die Wunde heilte vom Wundgrund her langsam zu, doch eiterte sie nur noch wenig, und da die alte Britannierin den toten Hautlappen inzwischen mit einem scharfen Messer abgeschnitten hatte, lief das Sekret ungehindert ab.

Am nächsten Morgen halfen Arfst und Kobers Ordulf in den Sattel. Und im Schritt ging es endlich mit Álainn, Arfst und Kobers die geschwungenen Hügel entlang, dem Meer entgegen. »Seltsam sieht das hier aus«, stellte Arfst fest. »Ich sehe das Meer dort vorn, aber es scheint so weit weg.« Ordulf konnte sich denken, was der Friese meinte. Sie ritten über ein leicht ansteigendes grasbewachsenes Plateau, doch das Meer schien ein ganzes Stück tiefer zu liegen. So etwas kannte der Friese aus seiner flachen Heimat nicht. Doch als sie schließlich an einen steilen Felsabbruch kamen, staunten auch Ordulf und selbst Álainn nicht schlecht. Das Meer brandete mehr als zehn volle Mannslängen unter ihnen gegen die schneeweißen Klippen, auf deren Spitze sie sich jetzt befanden. Die Männer und Álainn schauten staunend in die wild schäumende See hinab.

»Na, die Winterstürme müssen wir hier jedenfalls nicht fürchten«, brach Ordulf nach einer ganzen Weile das Schweigen, doch er brauchte noch einmal so lange, um sich von dem überwältigenden Anblick loszureißen. »Mein Hof soll hier direkt hinter der Küste stehen. Ich werde ihn Sðthklif nennen. Nach den Felsen hier«, beschloss er. Doch schließlich setzten sie das neue Haupthaus doch etwas zurück in eine der Bodenwellen, damit es vor den Seestürmen geschützt wäre.

Die Britannier aus dem nahen Dorf mussten in den folgenden Tagen helfen, Bäume zu fällen und sie zum Bauplatz zu schaffen.

»Das hat ihnen schließlich ihr letzter Herr eingebrockt. Einfach seinen Hof niederzubrennen … «, kommentierte Arfst mit einem Schulterzucken.

»Er war wohl unzufrieden, dass Hengist als neuer König Canturguoralens ihm das Land genommen und mir gegeben hat«, bestätigte Ordulf mit einer Grimasse, die irgendwo zwischen Grinsen und Mitleid lag.

»Wer kann es ihm verdenken?«, fragte Arfst zurück.

»Tja, Wurd hebt einen Mann zu Ruhm und Ansehen empor und stürzt ihn wieder«, sinnierte Ordulf. »Außerdem hätte ich ohnehin nicht in einem britannischen Haus im Dorf leben wollen. Ich will meine eigene Halle haben.«

Doch abgesehen von diesem Frondienst verbot Ordulf seinen Männern streng, die Bauern zu bestehlen oder sonst irgendwie zu belästigen. Die Tatsache, dass Álainn eine Britannierin war, und Ordulf sich in ihrer Obhut befunden hatte, trug wohl ihr Übriges bei, und so gewöhnten sich die neuen Herren und Knechte rasch aneinander. Das Wetter hielt lange bis in den November hinein und sowohl der Bau des neuen Hofes, als auch die notwendige Feldarbeit gingen gut voran. Nur bei Álainn machte Ordulf keine Fortschritte. Sie weigerte sich standhaft, die Frau eines Heiden zu werden. »Ich werde doch keinen Mann heiraten, der einstmals in die Hölle fährt! Und das ist nun einmal der Ort für euch Heiden«, erklärte sie ein um das andere Mal bestimmt.

»Wenn du magst, kannst du ja deinem Jesus weiter opfern«, versuchte Ordulf sie zu beschwichtigen. »Ich gebe dir gern jede Wintersonnenwende einen Widder dafür.«

Doch Álainn ließ sich nicht umstimmen. »Ich muss keine Opfer bringen. Ein gläubiges Herz ist ihm lieber.«

»Lieber als Opfer? Was soll das denn für ein Gott sein, der sich nicht für Schutz und Hilfe bezahlen lässt?«, spottete Ordulf. Doch schließlich gab er nach: »Ich werde im nächsten Winter selbst deinem Jesus zusammen mit Thunær, Saxnot und Uuoden einen Widder opfern!«

Doch auch damit war Álainn nicht zufrieden.

III. ALTE FEHDEN

Sðthklif im November 443

Ordulf

Der Herbst verging und die Tage wurden immer kürzer und kühler, doch abgesehen von den Wortgefechten mit Álainn konnte Ordulf zufrieden sein. Sein Blick glitt über das Land, welches ihm Horsa gegeben hatte, und er fand nichts daran auszusetzen. Die Ernte, die die britannischen Bauern auf ihren kleinen Feldern eingebracht hatten, war reichlich, und das Vieh stand dick und träge auf den Weiden über der See. Auch die Pferde wirkten zufrieden und gesund. Er schaute nach Northræniwind, den er einige Tage zuvor zum ersten Mal bestiegen hatte. Der Hengst schien zu spüren, dass er beobachtet wurde, denn er hob den Kopf und schüttelte den kräftigen Hals, dass die lange Mähne nur so flatterte. Ordulf musste lächeln. Da entdeckte er einen Reiter auf dem Weg, der von Norden nach Sðthklif führte. Es war Ortwin, den er einige Tage zuvor nach Ypwinesfleet gesandt hatte.

»Was gibt es Neues in Ypwinesfleet?«, begrüßte Ordulf ihn neugierig.

»Horsa entsendet dir seinen Gruß!«, antwortete er und glitt aus dem Sattel. Ordulf verzog das Gesicht. Er zog das rechte Bein beim Gehen immer noch nach und bis er wieder so gelenk vom Pferd springen konnte wie Ortwin, würden noch Monate vergehen – wenn überhaupt. »Dein Schiff, die gute Meriswæn, liegt sicher auf dem Land und ich habe alles besorgen können, was wir brauchen«, fuhr Ortwin fort, ohne Ordulfs düstere Miene zu bemerken.

»Hat Hengist mit dir gesprochen?«, forschte Ordulf weiter.

»Nein. Aber Horsa berichtete, dass er das Land neben deinem einem Mann gegeben hat, der mit seinem Sohn in Irland war. Dort hat er wohl irgendetwas ausgefressen, was Hengist nicht besonders gefiel.« Ordulf zog die Augenbrauen zusammen. Also war ihm Hengist noch nicht wieder gewogen. »Bald bekommen wir also einen Nachbarn. Noch einen Verbannten!«, schloss er verärgert.

Und wenige Tage später kam tatsächlich einer der Hirtenjungen aufgeregt in das kleine Dorf gelaufen. »Im Nachbarort sind auch Sachsen angekommen. Auf großen Rössern, mit bunten Schildern und Schwertern!«, rief er und zeigte nach Nordosten.

»Unser neuer Nachbar«, bemerkte Ordulf, als Álainn, die die alte Fey Ila besucht hatte, ihm davon berichtete. »Ich werde ihm einen Besuch abstatten«, beschloss er dann. »Ortwin, Kobers«, rief er die ersten zwei seiner Männer, die ihm auf der Diele des neuen Hofes begegneten. »Ihr begleitet mich. Und wo treibt sich Arfst herum? Der soll auch mitkommen.« Suchend blickte Ordulf in die Runde. Doch von Arfst war keine Spur zu finden. »Du, Ortwin, sieh, dass die Pferde gesattelt werden. Ich will einen ersten Ausritt auf Northræniwind wagen. Kobers, du hilfst mir, deinen nichtsnutzigen Stammesgenossen zu suchen.« Rasch liefen sie auseinander. Doch Arfst blieb verschwunden.

Schließlich entdeckte Ordulf ihn in der großen Scheune. »Was soll das denn?«, fragte er erstaunt, denn Arfst war nicht allein. Doch dann schalt Ordulf sich selbst einen Narren, was für eine dumme Frage, die Situation war eindeutig. Ein Stich der Eifersucht durchzuckte ihn. Warum konnte Álainn nicht so sein wie das Bauernmädchen, welches dort mit Arfst im Heu lag?

»Ich liebe sie«, behauptete Arfst, während er hastig aufsprang und seine Kleider suchte. Ordulf schaute mit hochgezogenen Brauen von ihm zu der jungen Britannierin, die sich mit einem Büschel Heu zu bedecken suchte. Dann musste er lachen.

»Du liebst auch alles, was einen Rock trägt, was?« Arfst sah ihn vorwurfsvoll an. »Dann pass mit den Pikten auf, da tragen manchmal auch die Männer einen Rock!«, ergänzte der gerade hinzugeeilte Kobers, und Ordulf lachte schallend. Arfst schüttelte über so viel Unverstand sein Haupt. »Aber diesmal hast du dich ja nicht geirrt«, bemerkte Ordulf begütigend. »Ein hübsches Mädchen. Ihr könnt ja später weitermachen«, schlug er gut gelaunt vor. »Aber jetzt brauche ich dich. Ich will unserem neuen Nachbarn einen Besuch abstatten.«

Die Aussicht darauf, Northræniwind im Gelände zu reiten, hob seine Laune weiter. Bisher hatte er das Pferd lediglich auf dem Hofplatz geritten. Doch einmal im Sattel hielt der junge Hengst, was Ordulf von ihm erwartete. Er schoss im gestreckten Galopp über die große Weide, sodass Arfst, Ortwin und Kobers Mühe hatten, ihm auf ihren Pferden zu folgen. Ordulf hatte auf mehr Männer im Gefolge verzichtet. Doch wo der Pfad schmaler wurde und an den Wald heranreichte, zügelte Ordulf sein Ross und wartete auf die Gefährten.

»Warum reiten eigentlich nicht alle hinüber, sondern nur wir vier?«, wollte Arfst wissen, als sie aufgeschlossen hatten. »Zu zwölft würden wir mehr Eindruck machen …«

Doch Ordulf schüttelte den Kopf. »Den Nachbarn beeindrucken können wir auch später noch, er bleibt ja vermutlich eine Weile dort wohnen. Aber im Moment sind ihre Vorräte sicherlich knapp, und da wollen wir ihm doch nicht gleich alles wegfressen.«

Das Land, welches der neue Nachbar in Besitz genommen hatte, schloss im Nordosten unmittelbar an Ordulfs Grund an, und so erreichten sie bereits nach einer guten halben Stunde das kleine dazugehörige Britannier-Dorf. Als sie auf den Platz in der Ortsmitte ritten, sah Ordulf gleich eine Gruppe von zehn oder elf Sachsen. Zwei ihrer Pferde waren schon gesattelt, einige Männer kümmerten sich um die übrigen. Offenbar plante der Nachbar einen Ausritt. »Da haben wir aber Glück, dass wir ihn noch hier antreffen«, bemerkte Ordulf gut gelaunt an Arfst gewandt. Der schnelle Galopp auf Northræniwind hatte ihn in Hochstimmung versetzt. Er lenkte sein Ross auf einen grobknochigen, großgewachsenen Sachsen zu, der sich von seinen Kameraden durch einen kostbaren Umhang und ein blitzendes Kettenhemd auszeichnete.

»Du bist also mein neuer Nachbar. Willkommen!«, grüßte Ordulf fröhlich.

Doch der Angesprochene blieb ungerührt und machte keine Anstalten, Ordulf höflich einige Schritte entgegenzugehen, wie es üblich war. »Ich bin Olfert. Dein Nachbar, in der Tat«, bemerkte er frostig.

Ordulf schaute ob dieser kühlen Begrüßung erstaunt auf den Fremden herab und kniff die Augen zusammen. War er ihm schon irgendwo begegnet, fragte er sich. Aber er erkannte ihn nicht. »Du bist doch mit Octha nach Britannien gekommen? Und warst sicherlich mit ihm in Irland?«, fragte er daher.

»Ja, ich bin Octhas Mann und wir sind nach Irland gefahren. Wegen meiner Verdienste dort hat mir Octha nun dieses Land gegeben«, behauptete er und blickte Ordulf finster an. Was für ein grimmiger Kerl, dachte der bei sich, und das mit der Belohnung habe ich anders gehört. Doch schon fuhr Olfert fort: »Du traust dich hierher, nachdem, was du meinem Vetter Riklef angetan hast?«, fragte er mit leichtem Zittern in der Stimme.

»Riklef?«, fragte Ordulf verwundert zurück.

»Du hast ihn überfallen und wenn du ihn nicht so feige ohne jede Vorwarnung niedergestochen hättest, hätte er mit Sicherheit deinen elenden Lebensfaden durchschnitten«, behauptete sein Gegenüber. »Aber vielleicht hast du das schon vergessen, er war immerhin nicht der einzige.«

Bitterer Spott lag in Olferts Stimme und da plötzlich dämmerte es Ordulf. »Der Kerl im Piktenland? Der Rodbellinger? Von dem wurde ich neulich schon einmal gegrüßt«, bestätigte er nun ebenfalls mit kaum verhohlenem Ärger in der Stimme. Die Narbe an seinem Bein pochte bei der Erwähnung des Verräters, gerade so wie Todeswunden wieder begannen zu bluten, wenn sich der Mörder dem Leichnam näherte. Besorgt blickte er an sich herab, ob etwa Blut durch den Bundschuh drang, doch da war nichts zu sehen.

»Genau der«, bestätigte Olfert zornig, der Ordulfs Bedenken nicht bemerkt zu haben schien. »Und ich sehe, du erinnerst dich auch noch an seinen jungen Knecht, der dir die Grüße überbrachte und zum Dank mit seinem eigenen Spieß im Brustkorb endete?«

Beim Gedanken an den jungen Mann im Wald vor Ypwinesfleet überkam Ordulf ein Gefühl der Reue, auch wenn er selbst doch das Opfer dieser Verschwörung hätte werden sollen! »Aber den hat ein Keiler erledigt, ich habe ihm nur den Gnadenstoß versetzt. Er hätte niemals überleben können!«, antwortete er daher besänftigend.

»Ein Schwein soll ihn getötet haben?«, rief Olfert höhnisch. »Wohl eher ein Swæn! Aber was macht das schon für einen Unterschied? Bleibt ja in der Sippe, nicht?« Olfert betonte Ordulfs Sippennamen wieder wie »Schwein«, aber der ging auf diese abgedroschene Beleidigung nicht ein.

Er hoffte immer noch im Frieden von seinem Nachbarn zu scheiden. »Und das mit Riklef war Notwehr, er hat zuerst nach dem Schwert gegriffen …«, beteuerte er unbeirrt.

»Das habe ich anders gehört«, gab Olfert nun voll in Fahrt zurück. »So einen Krieger wie Riklef hättest du im ehrlichen Kampf niemals bezwungen.« Olfert spuckte aus. »Niemals«, wiederholte er verächtlich.

»Ich versichere dir, es war Notwehr, Horsa selbst ist mein Zeuge«, beteuerte Ordulf noch einmal, doch langsam begann seine Geduld zu schwinden.

»Und die beiden sind nicht die einzigen, die du heimtückisch ermordet hast«, fuhr Olfert unbeirrt fort. »Du hast dich mit den Erzfeinden unseres Volkes, den feigen Friesen, verbunden und nahezu die gesamte junge Mannschaft des Ebbingemannengeschlechtes gemeuchelt.«

Ordulf kam kaum mit bei dieser unverschämten Reihe von Anschuldigungen. »Bist du etwa auch ein Ebbingemanne?«, fragte er und schielte nach Olferts Leuten. Er hätte doch auf Arfst hören und mehr der eigenen Männer mitbringen sollen. Glücklicherweise standen die Olfertmannen noch immer unbeweglich vor ihm und blickten gespannt zwischen den beiden Anführern hin und her.

»Nein, ich bin ein Rodbellinger aus der Nordermarsch wie Riklef, doch die Ebbingemannen sind unsere Blutsverwandten und Nachbarn.« Langsam stieg die Wut in Ordulf höher. Was bildete sich dieser Kerl eigentlich ein?