Mönchsblut - Die Chronik des Nordens. Kampf im Heidenland zwischen Hammaburg und Haithabu - Sven R. Kantelhardt - E-Book

Mönchsblut - Die Chronik des Nordens. Kampf im Heidenland zwischen Hammaburg und Haithabu E-Book

Sven R. Kantelhardt

0,0

Beschreibung

Das Siedlungsgebiet Schleswig-Holstein im 9. Jahrhundert: Sachsen, Abodriten und Wikinger treffen aufeinander. Teilweise bereits christlich, teilweise noch heidnisch, stehen sich die Stämme meist feindlich gegenüber. Es ist eine Zeit der Umbrüche. Grausamkeiten, Kriege und Raubzüge sind an der Tagesordnung. Inmitten dieser gefährlichen Zeiten reist der Missionar Dietrich in das Herz des Heidenlandes … und kehrt nicht zurück. Von Hamburg aus bricht daraufhin Mönch Wilfrith mit einer Handvoll Gefährten auf und durchquert die Sümpfe, Wälder und das Baltische Meer zwischen limes saxoniae und Danewerk, um seinen verschollenen Lehrer zu suchen. Doch die Reise führt weiter als gedacht und die Zeit drängt, denn der nordelbischen Heimat droht eine unerwartete Gefahr… In einer Chronik berichtet Wilfrith über die Ereignisse des Winters 880/881, eine Geschichte voller Abenteuer, Glauben und Zweifel, Kampf und Liebe. In seiner 'Hamburgischen Kirchengeschichte' aus dem Jahre 1076 berichtet Adam von Bremen knapp von einem fast vergessenen Abenteuer: '… wo Burwido gegen einen Kämpen der Slawen einen Zweikampf bestand und denselben tötete.' Dieses Ereignis hat der Autor in eine lebendige Geschichte aus dem frühen Mittelalter eingebunden. Erstmals 2011 unter dem Titel "Die Chronik des Mönchs" erschienen, handelt es sich bei dieser Ausgabe um eine komplett überarbeitete Neuauflage.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 409

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Sven R. Kantelhardt

Mönchsblut

Die Chronik des Nordens

Kampf im Heidenland zwischen Hammaburg und Haithabu

Kantelhardt, Sven R.: Mönchsblut. Die Chronik des Nordens, Kampf im Heidenland zwischen Hammaburg und Haithabu, Hamburg, ACABUS Verlag 2013

2. überarbeitete Auflage

PDF: ISBN 978-3-86282-278-2

ePub: ISBN 978-3-86282-279-9

Print: ISBN 978-3-86282-277-5

Lektorat: Michaela Schümann, ACABUS Verlag

Korrektorat: Rieke Heinze, ACABUS Verlag

Umschlaggestaltung: © Marta, Czerwinski, ACABUS Verlag

Umschlagmotiv: Slawisches Götteridol, © Fotografin: Kirsten

Storm, mit freundlicher Genehmigung des Oldenburger Wallmuseums, Oldenburg in Holstein

Karten: Sven R. Kantelhardt

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Der ACABUS Verlag ist ein Imprint der Diplomica Verlag GmbH, Hermannstal 119k, 22119 Hamburg.

© ACABUS Verlag, Hamburg 2013

Die 1. Auflage erschien 2011 unter dem Titel „Die Chronik des

Mönchs. Abenteuer unter Heiden“

Alle Rechte vorbehalten.

http://www.acabus-verlag.de

eBook-Herstellung und Auslieferung: readbox publishing, Dortmundwww.readbox.net

Zum Gedenken an meinen Großvater

Liste der Hauptpersonen

Ascha, Nichte des Abodritenfürsten Oklot

Burwido* (der Jüngere), Wilfriths jüngerer Bruder

Burwido, Großvater von Wilfrith, Burwido und Theodbald

Dietrich, Mönch, Wilfriths Lehrer

Erik III. von Haithabu*, seine Frau Gisela* (Tochter des Dänenkönigs Harald Klakk*) und seine Tochter Ragnilde* (die Reiche) Oklot, Abodritenfürst

Herzog Otto* (der Erlauchte; Liudolfs Sohn), Herzog von Sachsen, Nachfolger seines Bruders Brun, der 880 bei Ebbekesdorp von Wikingern erschlagen wurde

Pribizlaus, Großfürst des Stammes der Wagrier

Erzbischof Rimbert von Bremen/Hamburg* (der Nachfolger von Bischof Ansgar*)

Stanislav, Wagrischer Heringsfischer und Händler

Thankmar, Theodbald, Gertrude, Eilika: Weitere Familienangehörige Wilfriths und Burwidos

Willehad, ein sächsischer Knecht

Wilfrith, Mönch und Chronist

Vlad, Wilze, ehemals Sklave bei den Abodriten und später Knecht auf einem sächsischen Hof

Bei den mit einem * gekennzeichneten Personen handelt es sich um historische Persönlichkeiten.

Prolog, Juli 881

Kapitel 1 – Nordalbingen, anno domini 880

Kapitel 2 – Die ersten Gerüchte

Kapitel 3 – Vorbereitung und Aufbruch

Kapitel 4 – Der Weg ins Abodritenland

Kapitel 5 – Von Wölfen und Vily

Kapitel 7 – Durchs Feuer

Kapitel 8 – Ein unerwartetes Wiedersehen

Kapitel 9 – Immer weiter führt der Weg

Kapitel 10 – Eine Seefahrt

Kapitel 11 – Starigard, die alte Burg

Kapitel 12 – Von der Sturmstillung

Kapitel 13 – Fürst Eriks hohe Halle

Kapitel 14 – Fremde Reiter

Kapitel 15 – Markbeißers letzter Biss

Kapitel 16 – Zuviel Stolz

Epilog, Dezember 881

Historische Anmerkungen

Medizinische Anmerkungen

Alte Maßeinheiten

Zur Schreibweise der Ortsnamen

Prolog, Juli 881

n der Schreibstube war es heiß und stickig. Wilfrith wischte sich mit dem Ärmel der Kutte den Schweiß von der Stirn. Er hatte es aufgegeben, den schweren Wollstoff hochzukrempeln, nach kurzer Zeit fiel er doch wieder herunter und klebte unangenehm an seinen verschwitzten Armen. Um ihn herum hörte er das Murmeln der Brüder, die ihre Texte beim Kopieren halblaut mitsprachen, um Fehler zu vermeiden.

Bis zur Vesper blieb ihm noch eine knappe Stunde, und vielleicht konnte er auch vor der Komplet noch etwas schreiben. Jetzt im August erleuchteten die Strahlen der Abendsonne die Schreibstube noch eine ganze Weile.

Im Winter herrschte im scriptorium ständig Dunkelheit und es wurde bitterkalt, obwohl es der einzige beheizbare Raum im ganzen Kloster war, abgesehen von Abtwohnung und Spital. Letzten Winter, erinnerte sich Wilfrith, hatte er ständig gefroren, aber da befand er sich auch gar nicht im Kloster, nicht einmal in Bremen. Zusammen mit wenigen Gefährten hatte er weit entfernt von den Ufern der Wirraha und Rimberts steinernem Dom1, noch jenseits des sächsischen Limes2, zahlreiche Abenteuer bestanden. Heimgekehrt nahm sich Wilfrith vor, das Erlebte niederzuschreiben, zur Erbauung und Mahnung kommender Geschlechter und zum Ruhme Gottes, des Allmächtigen.

Seine Gefährten hatte er deshalb immer wieder auf das peinlichste befragt und sie ermahnt, auch keine Einzelheit ihrer Sichtweisen des Erlebten zu verschweigen. Am Ende kam es ihm vor, als habe er die ganze Geschichte nicht nur einmal, sondern gleich mehrmals erlebt und dabei noch manch Erstaunliches erfahren. Aber nun endlich lag das helle, feine Pergament vor ihm ausgebreitet, bereit seine Worte aufzunehmen; er würde seinen Reisebericht mit denen seiner Gefährten abwechseln, damit auch alle Sichtweisen vertreten waren. Doch so, wie die ewige Ordnung vorsah, dass, wenn die Sonne ihren Lauf vollendet, stets die Nacht und auf Sommer und Herbst stets der Winter folgte, musste auch in seinem Bericht eines dem anderen folgen, und so besann sich Wilfrith auf den Beginn der langen Reise.

1 Rimbert war seit dem Tode des Hl. Ansgar 865 Erzbischof von Bremen. Er ließ den durch Feuer vernichteten Dom in Bremen (an der Wirraha, heute Weser/Werra) wieder aufbauen und zwar erstmals in Stein.

2 Sächsischer Limes: Limes saxoniae bei Adam von Bremen. Die Grenze zwischen sächsischem und elbslawischem Siedlungsgebiet in Holstein, festgelegt unter Karl dem Großen. Der Limes bestand, anders als die bekannte römische Grenzbefestigung, nicht aus Wall und Graben, sondern lediglich aus einem Streifen von Urwäldern und Sümpfen.

Kapitel 2 – Die ersten Gerüchte

Wilfrith

aithabu ist eine riesengroße Stadt, umgeben von hohen Wällen und tiefen Gräben“, setzte Guntlof die Schilderung seiner Erlebnisse fort. „Allein das Stadtgebiet bedeckt gut drei Hufen Land, mindestens! An die 20 Knorren14, aber auch einige Langschiffe und slawische Boote lagen im Hafen. Und auf den Straßen spricht man nicht nur Nordisch, sondern auch Sächsisch, Wagrisch und andere Dialekte. Nicht, dass ich alles verstehe, aber jemand, der so weit rumgekommen ist wie ich, weiß sich schon zu helfen. Mit Latein“, sagte er mit einem Seitenblick auf Wilfrith, der der Mönchssitte entsprechend geschorene Haare und die graubraune Kutte der Benediktiner trug, „werdet ihr dort nicht weit kommen.“

Die meisten seiner Zuhörer waren Bauern aus der Umgebung und viele von ihnen hatten noch nicht einmal die Hammaburg mit eigenen Augen gesehen. Sie staunten entsprechend über die Schilderung des Händlers, so etwas war doch kaum zu glauben! Doch Guntlof war ein Vetter von Worad, dem Herrn auf dem Duvenseehof, einem richtigen Edlen, und deshalb mussten sie ihm wohl vertrauen. Worad selbst saß nur dabei und lächelte zufrieden in sein Methorn hinein.

„Erzähl uns doch auch, was du jenseits der Grenze im Slawenland erlebt hast!“, bat eine der jungen Frauen. Guntlof, der sich in der Rolle des Erzählers und noch mehr in der des Abenteurers gut gefiel, entsprach bereitwillig ihrer Bitte. „Nach Haithabu bin ich von Starigard aus gekommen. Die Strecke lässt sich gut an der Küste entlang fahren. Ich fuhr mit Mieszko, einem Wagrier, den ich schon von früheren Geschäften her kannte. Er tauscht Pelze und Honig bei den Dänen gegen Eisenwaren ein. Die Geschäfte damit laufen im gesamten Osten immer noch bestens. Die Abodriten würden für Eisen auch ihre Großmütter verhökern! Bei Starigard im Norden brauchte ich dann keine Angst mehr haben, als Sachse erkannt zu werden. Und Mieszko beißt sich lieber die eigene Zunge ab, als seinen Geschäftsinteressen zu schaden, der alte Gauner. In Liubice habe ich lieber noch behauptet, Däne zu sein, denn wir Sachsen stehen bei denen derzeit nicht hoch im Kurs. Weiter südlich bei den Polaben in Racisburg oder Michilinburg,15 geradewegs von hier nach Sonnenaufgang zu, sollen sie sogar ein paar Sachsen gefangen und einige Händler massakriert haben! Wer weiß, was die Bande ausbrütet. Ich hoffe nur, dass bald wieder ein mächtiger Herzog aufsteht und unseren Nachbarn zeigt, wo sie hingehören.“

Bei den letzten Sätzen wurde Wilfrith unruhig. Sachsen gefangen und ermordet? Geradewegs hinter dem Limes saxoniae? Er dachte an den letzten Brief seines alten Lehrers und Mitbruders Dietrich, der ihm auch wie ein Vater gewesen war und mit dem er immer noch in Kontakt stand. Der alte Mönch hatte Wilfrith in dem Kloster in der Hammaburg unterrichtet, bevor jener nach Bremen ins Kloster abberufen wurde. Dietrich hatte sein altes Ziel, die Missionierung der slawischen Stämme jenseits des Limes, nie aus den Augen verloren. Gerade im vergangenen Jahr, zum Fest der heilbringenden Geburt Christi16 hatte er das letzte Mal von ihm gehört. Dietrich schrieb, er bräche im Januar 880 nun endlich auf. Die Sümpfe wären dann zugefroren und so ein bequemeres Reisen möglich. Er meinte, er habe bereits zu lange für die Vorbereitungen gebraucht, nun sei es höchste Zeit loszuziehen. Er würde schließlich auch nicht jünger. Der Abt in der Hammaburg und Stellvertreter des Erzbischofs habe ihm schweren Herzens seinen Segen erteilt. „Aber komm zurück, ehe der nächste Winter anbricht“, hatte er ihm aufgetragen.

All das beschrieb Dietrich in seinem Brief, und mit seiner Freude, endlich losziehen zu können, hatte er damals auch Wilfrith angesteckt.

Eigentlich wollte sich Dietrich nach der Rückkehr von dieser ersten Erkundung wieder melden, denn er hoffte immer noch, auch Wilfrith für seine Arbeit zu gewinnen. Doch dann kam der Ascomanneneinfall und die Schlacht bei Ebbekesdorp und Wilfrith hatte Bremen mit der bequemen Schreibstube verlassen müssen, um seiner Familie beizustehen. Eigentlich hätte er hier doch etwas von der Rückkehr Dietrichs mitbekommen sollen, überlegte er. Wenn nun diese gefangenen oder gar getöteten Sachsen … Nein, das durfte nicht sein. Das konnte der Herr Jesus Christus, dessen Reich in Zeit und Ewigkeit und schon gar nicht am sächsischen Limes ein Ende hatte, doch nicht zulassen! Dietrich war so ein frommer Mann. Das mussten selbst die Wilden spüren. Solch eine Freveltat wagten sie bestimmt nicht. Und wenn sie es doch wagten? War nicht auch der heilige Bonifatius bei Dokkum vor erst 100 Jahren von den Friesen erschlagen worden, mit der erhobenen Bibel über seinem Haupte? Und die beiden Ewalde, die wie Hunde mit Knüppeln totgeprügelt wurden, als sie in Westfalen predigten? Und der erste Bischof in Sachsen, der selige Willehad, war er nicht, nur eine Woche, nachdem er seine Kirche in Bremen geweiht hatte, von den wütenden Heiden mit der Märtyrerkrone geschmückt worden? Und das, so dachte Wilfrith mit Schaudern, war noch nicht einmal 100 Jahre her. Die letzten Untaten hatten seine eigenen Landsleute vor nicht ganz 40 Jahren begangen, als die Stellinga-Aufstände tobten. Angestachelt von König Lothar, der sich zwar christlich nannte, dem es aber nur um seine Macht und nicht um den wahren Glauben ging! Wilfrith unterbrach seine Gedanken und die Rede des Kaufmanns, der inzwischen von seinen Abenteuern in Liubice berichtete: „Was weißt du noch über diese unglücklichen Sachsen? Was suchten sie im Land der Abodriten und kannst du dich vielleicht an ihre Namen erinnern?“

„Tja, das ist eine schlimme Geschichte, aber ich gebe zu, wenn man nicht so schlau und erfahren ist wie ich, kann es wohl jedem jenseits der Grenze so ergehen. Also, wo war ich? Ach ja, ich hatte mich als Däne verkleidet, das gelingt mir gut, da ich ja neben dem Wagrischen auch das Nordische ganz gut beherrsche. Ich wurde also von den finster dreinblickenden Spießgesellen zum Hochsitz Häuptling Pribizlaus’ gebracht. Genau in die Mitte der Wallburg. Mensch, Guntlof, dachte ich mir, wie willst du hier je wieder herauskommen …“

„Entschuldige Guntlof, aber es ist mir wichtig. Fällt dir noch irgendetwas über diese gefangenen Sachsen ein?“, unterbrach ihn Wilfrith erneut.

„Hm, so wichtig? Naja, ein Priester soll dabei gewesen sein und ein Händler, aber einen Händler haben sie auch abgeschlachtet. Ich weiß sonst leider nichts Genaues. Ich war ja nur bei den Wagriern und nicht im Gebiet der Polaben, bei denen sich das Ganze abgespielt haben soll. Auch wenn sich ein direkter Handel mit ihnen sicher lohnte.

Was aber ein Priester dort wollte, kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Die Abodriten sind doch allesamt finstere Heiden. Und Namen … Ich fürchte, selbst wenn man mir welche genannt hätte, wären sie alle unverständlich, denn wir haben doch dieselben Probleme mit deren Namen wie sie mit unseren. Tut mir leid, dass ich dir nicht weiter helfen kann. Warum ist es dir so wichtig, Mönch?“

„Ach, ich hatte nur so eine Ahnung, wahrscheinlich irre ich mich. Aber einige leben noch, sagtest du?“

„Soviel ich vernommen habe, ja. Doch das ist nun schon zwei Monate her, und bis Gerüchte von den Polaben zu den benachbarten Wagriern dringen, dauert es sicher auch einige Tage.“

Das war nun wirklich alles, was Guntlof von den unglücklichen Sachsen berichten konnte. Vermutlich hatte er lediglich mit seinem Freund Mieszko beim Zechen darüber geplaudert, in Haithabu oder höchstens in Starigard, aber sicher nicht weiter im Süden, überlegte Wilfrith. Dennoch könnte an den Gerüchten etwas dran sein. Die Zeiten passten zusammen. Vor drei Monaten, das war dann also Anfang Juli. Da war Dietrich sicher noch im Slawenland, es sei denn, er hatte, als er von der Niederlage bei Ebbekesdorp vernahm, seine Sachen gepackt und war heimgekehrt. Wie es jeder vernünftige Mensch getan hätte. Andererseits, was konnte man in dieser verrückten Zeit, in der Teufel und Heiden so grimmig gegen die Herde der Heiligen wüteten, schon vernünftig nennen? Vielleicht fürchtete Dietrich, dass die Dänen erneut die Hammaburg angreifen könnten und fühlte sich bei den Polaben oder Wagriern oder noch weiter im Osten sogar sicherer? Egal. Es würde auf keinen Fall schaden, wenn er nach der Ernte in die Hammaburg reiste, um seine alten Freunde und Brüder zu besuchen und sich gleichzeitig nach Dietrich zu erkundigen. Im Winter wurde seine Hilfe ohnehin nicht mehr so dringend benötigt. Außerdem wäre es eine gute Gelegenheit, noch einmal seinem alten Kloster einen Besuch abzustatten, bevor er nach Bremen zurückkehrte.

Am Abend, nachdem alle vom Erntedankfest heimgekehrt waren, wollte Wilfrith die geplante Reise mit seinem älteren Bruder Theodbald besprechen. Doch er kam nicht dazu, da Theodbald vom langen Tag und vielleicht auch vom Met zu müde war und sich sofort mit seiner Frau in die Kammer hinter der großen Diele des Haupthauses zurückzog. So legte Wilfrith sich in seine alte Kammer, die nun seinem Bruder Burwido gehörte, mit dem er sich jetzt den Strohsack teilte. Sie lag in dem kleinen Nebengebäude, in dem außer einigem Ackergerät nur das Kleinvieh seine Stallungen hatte. Im Winter wurde es hier so kalt, dass man ins Haupthaus zum ständig brennenden Herdfeuer und zu den Rindern und Pferden umziehen musste, doch noch war es warm, und Wilfrith konnte durch eine kleine offene Luke gelegentlich die Geräusche der Tiere auf der Weide hören. Neben ihm schnarchte sein jüngerer Bruder laut und regelmäßig. Er hatte sicher eine gehörige Portion Met abbekommen.

Die Nacht war sternenklar und der halbe Mond schien durch die Luke und erleuchtete die Kammer fast taghell. Wilfrith dachte an alte Zeiten und an seinen Lehrer Dietrich.

In Hammaburg hatte die Schlafhalle der Klosterschüler, das dormitorium, auch ein Fenster, durch das der Mond scheinen konnte. Der zehnjährige Wilfrith hatte sich oft gefragt, ob man den Mond von zu Hause genauso sehen könnte, und vor Heimweh wurde ihm dabei ganz weh ums Herz. Er weinte oft, bis er in den frühen Morgenstunden kurz vor der Matutin erschöpft in den Schlaf sank. Viele der anderen Jungen waren schon größer und die meisten von ihnen kamen aus der näheren Umgebung, so dass sie ihre Verwandten öfter sahen. Wilfrith war sich damals sehr alleine vorgekommen. Eines Nachts im Januar, in der es auch sternenklar war, aber kein Mond schien, der ihm als Verbindung nach Hause dienen konnte, hielt er es nicht mehr aus. Vorsichtig, um niemanden aufzuwecken, stand er in der Dunkelheit auf, zog sich an und schlich aus dem dormitorium. Er wollte nach Hause zu seinen Eltern laufen. Er konnte sich zwar nicht mehr genau an den Weg erinnern, aber das war ihm in diesem Moment egal, der würde ihm schon wieder einfallen, wenn er ihn vor sich sah. Draußen war es eisig kalt, so dass er es sich fast anders überlegte, doch dann stapfte er entschlossen durch den Schnee. Das Tor der kleinen Benediktinerabtei war aber verschlossen und der eiserne Riegel so kalt, dass seine Hände fast daran kleben blieben. Er mühte sich ab, doch vergeblich, das kalte Eisen bewegte sich keinen Fingerbreit. Mutlos sank er neben der Tür in den Schnee. Es war so kalt, dass er schon gar nicht mehr merkte, wie sehr er fror. Da legte ihm plötzlich jemand von hinten einen weichen, schweren Umhang über die Schultern. Es war Dietrich. Er hatte wohl schon eine ganze Weile schweigend in der dunklen Ecke neben dem Tor gestanden und ihn beobachtet. Wilfrith hatte ihn gar nicht bemerkt. Er war sehr erschrocken, als er sich erwischt sah. Auf das Fortlaufen standen harte Strafen und die Lehrer waren bei Leibe nicht alle so sanft und liebevoll wie ihre Lehre.

Dietrich fragte Wilfrith jedoch scheinheilig, ob er wohl auch die Sterne anschauen wollte. Vielleicht auch nicht schein- sondern tatsächlich heilig, hatte Wilfrith sich später überlegt. Jedenfalls fand Dietrich, das Betrachten der Sterne wäre eine sehr nützliche Angewohnheit, es half ihm stets, die Größe Gottes zu erkennen. Auch erfüllte es ihn mit Frieden, wenn er unruhig war. Außerdem konnte man mit den Sternen seinen Weg finden.

„Kennst du den Nordstern?“, hatte Dietrich gefragt. Langsam wurde Wilfrith wärmer, und ja, natürlich, er kannte den Nordstern und konnte ihn Dietrich auch zeigen. Dieser schien sehr zufrieden und zeigte Wilfrith noch viele andere schöne Sternbilder und erzählte Geschichten. Darüber vergaß Wilfrith ganz, dass er eigentlich nach Hause laufen wollte. Am nächsten Morgen beim Frühgebet schielte er ängstlich zu Dietrich hinüber, denn er befürchtete, nun doch noch bestraft zu werden. Doch jener sah nur andächtig vor sich hin, dann lächelte er einmal ganz kurz in Wilfriths Richtung, so dass dieser sich fast schon schämte, an der Verschwiegenheit seines Lehrers gezweifelt zu haben. In den folgenden Nächten schlich sich Wilfrith noch öfter heimlich aus dem Schlafsaal, aber nicht mehr um nach Hause zu laufen, sondern um Dietrich zu treffen und mit ihm über Sterne und fremde Länder zu reden. Er hatte immer noch Heimweh, nur dachte er immer seltener daran. Und als er im Sommer zu Besuch zu Hause auf dem väterlichen Hof war, bekam er fast ein wenig Heimweh nach Vater Dietrich. Nach und nach war dieser ihm zu einem wirklichen zweiten Vater geworden, nicht nur der Anrede nach. Und durch diesen zweiten Vater hatte er dann auch seinen dritten Vater dort oben hinterm Sternenzelt gefunden und erkannt, welch ein Glück es war, als Priester in seinen Dienst treten zu dürfen.

Und dieser Dietrich war nun in den Händen der Abodriten — „NEEIN, verdammt noch mal!“ Mit einem Schrei fuhr Wilfrith von seinem Lager auf. Neben ihm fiel Burwido vor Schreck vom Strohsack auf den gestampften Lehmboden. „Nein, bei allen Heiligen“, verbesserte sich Wilfrith rasch, und wurde rot, weil er sich für sein Fluchen schämte.

„Was … Wo — äh, wer sind … Werden wir überfallen?“, stammelte Burwido, so unsanft aus seinem metverhangenen Schlaf gerissen.

„Ich muss in die Hammaburg“, murmelte sein Bruder, mehr zu sich selbst, als um die Frage zu beantworten.

„Was, jetzt sofort?“

„Nein, du hast recht, morgen früh wird auch noch reichen, legen wir uns also wieder schlafen.“

Damit legte sich Wilfrith hin und tat, als ob nichts gewesen wäre. Burwido grummelte noch eine Weile etwas von total verrückten Pfaffen, schlummerte dann aber auch rasch wieder ein. Am nächsten Tag erwachten die meisten Familienmitglieder etwas verspätet, der junge Burwido, bleicher als üblich, erschien erst, als die Magd Wulfhild zur Morgensuppe rief.

„Ich werde einige Tage in die Hammaburg reisen, um mein altes Kloster und die Brüder wiederzusehen“, verkündete Wilfrith bei der Mahlzeit.

„Was willst du denn da?“, wunderte sich Theodbald. „Wir haben doch noch so viel zu tun und du weißt doch, dass uns seit dem Frühjahr zwei Reitpferde fehlen, so dass ich dir keines ausleihen kann!“

„Das Wetter sieht stabil aus, und du hast ja noch Burwido und die Knechte, um das restliche Heu einzubringen“, antwortete Wilfrith. „Das Laufen macht mir übrigens nichts aus, unser Herr ist mit seinen Jüngern auch meist gelaufen.“

Wilfrith sah, dass Theodbald dieser unerwartete Verlust einer Arbeitskraft nicht passte, aber dieser schluckte einen weiteren Kommentar herunter. Wilfrith war ihm schließlich keine Rechenschaft schuldig und Theodbald musste schon für die bisher geleistete Hilfe dankbar sein.

Wilfrith, August 881

Wilfrith blinzelte und sah von seiner Arbeit auf. Die Sonne stand tief im Westen, und ihre Strahlen fielen nun fast waagerecht ins scriptorium und blendeten ihn. Ja, Theodbald war schon gegen seine Reise in die Hammaburg gewesen. Aber was hatte damals eigentlich sein jüngerer Bruder gesagt? Wilfrith biss sich nachdenklich auf die Unterlippe und versuchte sich daran zu erinnern, was Burwido ihm später berichtete. Dann tauchte er die Feder entschlossen in die Tinte. Die letzte halbe Stunde vor Sonnenuntergang würde er noch zu nutzen wissen.

Burwido, September 880

Der junge Burwido war sich nicht ganz sicher, ob er nicht schon früher einmal von Wilfriths Plan, nach Hammaburg zu reisen, gehört hatte. In der letzten Nacht etwa, oder war das ein Traum gewesen? Aber es fiel ihm schwer genug, sich darauf zu konzentrieren, die dünne Morgensuppe aus Milch und Hafer bei sich zu behalten, zumindest würde er die nächsten Tage einen Bogen um den Met machen. So musste sich also Willehad jeden Morgen fühlen, dachte Burwido bei sich, denn der Hüne vertrug, für einen Sachsen ganz und gar ungewöhnlich, keine warme Milch. Da meldete sich Wilfriths Stimme wieder zu Wort und riss seine Gedanken fort von Milch und Met.

„Der Weg nach Hammaburg ist nur eine knappe Tagesreise und ich kenne ihn von früher her noch bestens. Außerdem sind die Straßen derzeit im Gegensatz zu unseren Grenzen sicher“, erläuterte er gerade. „Ich werde nur ein wenig Brot und einen Tonkrug voll frischen Wassers mitnehmen. Wenn ich gleich nach dem Frühstück aufbreche, komme ich bequem vor Sonnenuntergang an. In einer Woche bin ich wieder bei euch.“

Als Wilfrith schließlich aufbrach, schaute Burwido ihm neidisch hinterher. Er selbst musste einmal mehr bei der Familie und der Feldarbeit zurückbleiben. Er wollte nicht so werden wie sein ältester Bruder, der mit einem einfachen Bauerndasein zufrieden schien. Theodbald kam ihm immer vor wie eine seiner eigenen Milchkühe. Ruhig, geduldig, fleißig. Sich selbst verglich er lieber mit einem jungen Pferd, wild und frei, mit dessen Zureiten er sich am liebsten beschäftigte.

Wilfrith

Am Abend bemerkte Wilfrith Rauchfahnen, die vor ihm aus einer Niederung aufstiegen, dann sah er die Hammaburg auf ihrem flachen Geestrücken zwischen Alstra und Bilena17 liegen. Die Wälle der Burg bildeten ein massives Rund. Große Teile der Befestigung und alle Häuser im Inneren waren neueren Datums. Als der Dänenkönig Horik vor nunmehr 35 Jahren die Stadt mit angeblich mehr als 600 Schiffen angegriffen und überrannt hatte, war von der Innenstadt und besonders den kirchlichen Einrichtungen nur ein Schutthaufen übrig geblieben;18 als hätte sich der Zorn der Wikinger nur gegen die christliche Seite der Stadt gewandt. Lediglich in der ungeschützten Händlerstadt, die außerhalb der Tore, direkt am Hafenfleet zur Elbe hin, lag, gab es noch einige ältere Schuppen. Diese waren von den Dänen verschont worden. Vielleicht war Horik ähnlich gesinnt wie Guntlofs Händlerfreund Mieszko und zerstörte nichts, mit dem sich handeln ließ, besonders, wenn die Händler keine Christen waren, überlegte Wilfrith. Jedenfalls wurde Horik dann elbaufwärts doch noch von einer sächsischen Streitmacht geschlagen und wieder aus dem Land geworfen. Die Hammaburg hatte sich aber nie ganz von dem Angriff erholt. Der Heilige Ansgar war damals den Dänen nur mit knapper Not entronnen und hatte in der Folge den Sitz des Erzbistums nach Bremen verlegt. So war es bis heute, 15 Jahre nach seinem Tod, geblieben. Auch der Handel mit dem Osten hatte sich in den letzten Jahren nicht gut erholt und lief nun meist auf anderen Wegen, über Bremen oder direkt nach Köln und Mainz.

Wilfrith erreichte eines der mächtigen Tore gerade noch, bevor es bei Sonnenuntergang geschlossen wurde. Der außen sehr steile, mit Baumstämmen abgestützte Wall ragte drohend vor ihm auf und warf seinen Schatten weit nach Osten, Wilfrith entgegen. Volle acht Schritte ragte das von einer Palisade gekrönte Bollwerk in den Himmel und der breite Graben ließ es noch wuchtiger erscheinen. Das Tor war eher ein tiefer Einschnitt, der durch den, gut 15 Schritte breit aufgeschütteten, Erdwall führte. Ein Übergang aus Bohlen mit Brustwehr und zwei niedrigen Holztürmen vervollständigten das Ost- oder Stormarner Tor. Bei Wilfriths Eintreffen war die Sonne im Westen schon tief gesunken, so dass sie als rötlicher Ball gerade am Ende des Torwegs stand und ihm mit den letzten Strahlen entgegen leuchtete. Auf der Innenseite war der Wall flacher und grasbewachsen, Schafe weideten darauf. In der Stadt hatte man nur die wichtigsten Wege mit Brettern oder sogar mit Steinpflaster belegt. Normalerweise war es um diese Jahreszeit oft feucht und die viel befahrenen Wege entsprechend schlammig, aber diesmal war der sandige Geestboden festgetreten und hart getrocknet. Zwischen der Mauer und den ersten flachen Holzhäusern blieb eine breite freie Fläche. Das rührte hauptsächlich daher, dass noch immer weniger Menschen in der Stadt lebten als vor dem Dänensturm, zum Teil war es aber auch mit Absicht so angelegt, damit im Belagerungsfall Menschen und Vieh aus der Umgebung hinter den Mauern Zuflucht suchen konnten. Auch konnten fremde Händler hier ihre Zelte aufschlagen, wenn sie zum Markt in die Hammaburg kamen. Doch zu dieser Jahreszeit war die Fläche bis auf die paar grasenden Schafe leer.

Wilfrith begab sich direkt ins Zentrum zur Marienkirche. Daneben befand sich das Haus des Vogts und seiner Dienstmannen, den stattlichen Königshof hatte man noch nicht wieder aufgebaut. Direkt neben der Kirche, nur durch die schmale Pfaffengasse getrennt, lag die kleine Benediktinerabtei, das eigentliche Ziel Wilfriths. Er ging zum Türhüter, um sich eine Unterkunft für die Nacht zuweisen zu lassen.

„Bruder Wilfrith! Dass du dich noch einmal hier in unserem bescheidenen Kloster blicken lässt! Ich dachte, du bist nun in Bremen bei unserem Erzhirten und wärst längst Prior oder Abt!“, witzelte der alte Türhüter.

Er hatte diesen Dienst schon versehen, als Wilfrith noch ein schüchterner, aber äußerst eifriger, Novize war. Wilfrith verzog säuerlich den Mund. Die Art, wie der Bruder über den heiligen Erzbischof sprach, war respektlos, und auch die Anspielung auf eine Stellung als Abt oder Prior waren ihm unangenehm. Wilfrith sah sich selbst, und natürlich auch den Türhüter, als in der Kirchenhierarchie völlig unbedeutend an.

„Komm herein, die Brüder sind gerade zur Vesper im Kapitelsaal. Da kannst du mir noch ein bisschen von Bremen erzählen. Und auch hier hat sich einiges getan. Du wirst staunen wie viele neue Brüder wir inzwischen haben.“

Wilfrith, der eigentlich lieber direkt in den Kapitelsaal geeilt wäre, um sich seinen Brüdern im Gebet anzuschließen, ließ sich etwas widerwillig von dem alten Türhüter in dessen Stube ziehen.

„Nun erzähl doch erst einmal, was es alles Neues gibt“, drängte sein Gastgeber. Wilfrith seufzte tief und berichtete dann ergeben einige Anekdoten von Erzbischof Rimbert. Der war im flämischen Kloster Thurolt herangewachsen und hatte, als Erzbischof Ansgar nach langem Siechtum verstarb, dessen Nachfolge angetreten.

Eigentlich war ein Schweigegelübde doch ein Segen, den man viel zu selten würdigte, sinnierte Wilfrith dabei. Doch dann fiel ihm wieder der Grund seiner Reise ein.

„Weißt du eigentlich, was aus Bruder Dietrich geworden ist?“, unterbrach er daher seinen Bericht über die Vorzüge der erzbischöflichen Küche.

„Du meinst den alten Vater Dietrich, mit seiner Vorliebe für die Heiden? Ja, der ist Anfang des Jahres losgezogen, um doch noch einen Abodriten zu taufen. Ich habe schon lange nicht mehr daran geglaubt, dass er es jemals wagen würde. Der Herr beschütze seine Wege.“

Damit war gesagt, was der alte Türhüter zu diesem Thema zu sagen wusste und Wilfrith hätte sicher noch bis in die Nacht hinein mit seinem Bericht über Bremen fortfahren müssen, wenn ihn nicht sein ehemaliger Banknachbar, Bruder Teudt, gerettet und mit zum Nachtmahl genommen hätte. Von ihrem alten Lehrer Dietrich hatte aber auch Teudt keine Nachricht erhalten.

„Dafür kann ich dir etwas anderes zeigen, wenn wir mit dem Essen fertig sind“, versprach er. „Wir haben gerade ein neues Buch aus Bremen bekommen, um es auch hier zu vervielfältigen. Die von Alkuin überarbeitete Bibel! Oder kennst du sie schon?“

„Nein, als ich im Frühjahr von Bremen zu meiner Familie aufbrach, war sie noch nicht da, die Brüder in Bremen müssen unermüdlich gearbeitet haben, wenn ihr nun schon eine Kopie bekommen habt!“, antwortete Wilfrith. „Sie müssen das Buch auseinandergenommen und die einzelnen Passagen gleichzeitig kopiert haben, sonst hätten sie es unmöglich geschafft.“

Das Essen bestand aus Kohlsuppe mit Brot, dazu Wasser. Nicht so üppig wie auf dem reichen väterlichen Hof, aber daraus machte sich Wilfrith nichts, er freute sich bereits darauf, mit Bruder Teudt die neue Bibel zu begutachten. Alkuin von Tours war der oberste und berühmteste der Gelehrten des Großen Karls gewesen, ein gebürtiger Sachse, aus dem Königreich Northumbria in Britannien. Nach der Vesper eilten die beiden Mönche daher ins scriptorium und versenkten sich bis zur Komplet, dem letzten der Stundengebete, welches den Tag im Kloster beschloss, in das Studium des neuen Buches.

Am nächsten Morgen wurde Wilfrith zum Abt gerufen. Ekbert, der in der Hammaburg die Interessen Erzbischof Rimberts vertrat, war seine Ankunft gemeldet worden. Er war inzwischen über 50 Jahre alt und brauchte sich die Tonsur nicht mehr scheren zu lassen. Der kahle Kopf wurde nur von einem kurzen grauen Bart eingerahmt. Er war klein und mager. An seiner asketischen Gestalt fielen eigentlich nur die flinken, fast stechenden Augen auf.

„Was gibt es Neues aus Bremen zu berichten? Bringst du mir eine Botschaft von Erzbischof Rimbert?“, begrüßte er Wilfrith.

„Ich bin seit Monaten nicht an der Wirraha gewesen“, entgegnete dieser. „Als ich erfuhr, dass mein Vater, mein leiblicher Vater, bei Ebbekesdorp fiel, eilte ich gleich zu meiner Familie. Mit dem Segen Erzvater Rimberts selbstverständlich“, fügte Wilfrith hastig hinzu, als er Ekberts Augenbrauen missbilligend in die Höhe schnellen sah.

„Deine Familie ist nun die klösterliche Gemeinschaft, Bruder Wilfrith“, tadelte der Abt, aber mit nur noch leicht gefurchter Stirn. „Schön, dass du das nicht ganz vergessen hast und uns hier besuchst. Willkommen in der Hammaburg.“

Wilfrith brachte nun kurz und stockend sein Anliegen vor. In der Gegenwart des Abtes fühlte er sich immer noch wie der junge Novize von einst.

„Dietrich ist, wie er dir in seinem Brief ankündigte, tatsächlich am Tage des heiligen Marcellus19 aufgebrochen. Noch vor dem letzten Einfall der Ascomannen und der Schlacht von Ebbekesdorp“, gab Ekbert Auskunft. „Zwei erfahrene Händler, die schon oft zu den Polaben und sogar noch weiter östlich, bis zu den Wilzen, gefahren sind, haben ihn begleitet. Außerdem hat er den jungen Bruder Wentz als Gehilfen mitgenommen. Wentz zählt zwar erst 16 Jahre und ist noch Novize, aber er stammt aus einem der Abodritendörfer etwas aufwärts an der Bilena.20 Die sächsischen Brüder aus Britannien, allen voran der heilige Bonifatius, welche uns die erlösende Botschaft unseres Herren Jesus Christus von jenseits des britannischen Ozeans21 in die alte Heimat trugen, sind für Wentz ein leuchtendes Vorbild. Er eifert ihnen nach, um auch seinen Stammesbrüdern das Evangelium zu bringen“, berichtete Ekbert weiter.

„Seitdem habe ich nichts Neues von ihnen gehört, aber das ist nicht weiter verwunderlich. Zunächst mussten wir uns auf eine Belagerung durch die Ascomannen vorbereiten. Da hatten wir weder Zeit noch Wege, um mit Dietrich in Verbindung zu treten. Allerdings sollten die Händler nun bald wieder in der Hammaburg eintreffen. Und du wirst sehen, auch Dietrich kehrt bestimmt in Kürze heim oder sendet uns zumindest einen Bericht. Er ist sehr zuverlässig.

Dein Platz dagegen befindet sich nun in Bremen am Bischofssitz und nicht bei den Abodriten. Ich hoffe, du machst mir beim Erzbischof keine Schande. Ich habe dich schließlich selbst empfohlen!“

Wilfrith zog unwillkürlich den Kopf ein, aber so einfach wollte er sich doch nicht geschlagen geben.

„Zürne nicht, ehrwürdiger Vater, dass ich noch mehr rede. Ein Händler namens Guntlof, hier aus der Hammaburg, der gerade erst in Haithabu war, hat berichtet, dass die Abodriten einige Sachsen gefangen oder gar getötet haben. Einer soll sogar ein Mönch gewesen sein!“

„Ja, solch dunkles Gerede habe ich auch vernommen“, räumte Ekbert ein. „In so finsteren Zeiten wird immer viel geredet. Aber seit unserer Niederlage in Ebbekesdorp hat sich kein sächsischer Händler und auch kein Abgesandter des Herzogs über die Grenze gewagt. Alles, was du gehört hast, sind also bloß haltlose Gerüchte.“ Er machte eine wegwischende Handbewegung. „Du wirst in Bremen sicher rasch von Dietrichs Rückkehr erfahren.“ Mit diesen Worten erhob sich Ekbert, als Zeichen, dass das Gespräch beendet war.

Wilfrith schluckte und nahm all seinen Mut zusammen.

„Ach siehe, ich habe mich überwunden, mit Dir zu reden, eine Sache will ich noch vorbringen. Mitten in der Nacht hat mich plötzlich Schrecken und eine dringende Angst um Dietrich ergriffen. Was, wenn mir einer der Heiligen ein Zeichen geben wollte?“, spielte er seine letzte und stärkste Karte. Ekbert sah ihn skeptisch an, nahm aber wieder Platz. Die Heiligen ließen es sich durchaus nicht gefallen, wenn man ihre Visionen nicht ernst nahm.

„Mit Sicherheit ausschließen lässt sich das nicht“, sagte er langsam. „Auch wenn dir keiner der Heiligen in Person erschienen ist, oder?“, fragte er scharf.

„Nein, ehrwürdiger Vater“, antwortete Wilfrith betreten.

„Dennoch, die Wege des Herrn sind schwer zu ergründen, insbesondere wenn man noch mitten darauf unterwegs ist“, murmelte Ekbert mit tief gefurchter Stirn.

„Aber was will dir der Herr mit dieser Vision mitteilen, wenn es überhaupt eine war? Gerüchten zufolge ist Graf Otto, der zweite Sohn des alten Herzog Liudolf, von seinen Gütern im Eichsfeld aufgebrochen, um die Nachfolge seines gefallenen Bruders Brun anzutreten. Aber bis der seine Macht gefestigt hat und den sächsischen Heerbann wieder aufbieten kann, werden noch viele Monate oder sogar Jahre vergehen. Und was bis dahin mit den Gefangenen im Abodritenland geschehen kann, vermag nur der Herr allein zu sagen.“ Er hatte sich wieder erhoben, aber diesmal nicht als Zeichen, dass die Audienz beendet war, sondern vor Erregung. Die Arme hinter dem Rücken verschränkt, lief er vor Wilfrith auf und ab.

„Wir müssen nach Dietrich suchen!“, drängte Wilfrith, der nun fast selbst daran glaubte, einen heiligen Auftrag zu erfüllen. Wenn er Ekbert in die Enge getrieben hatte, dann musste ihm wohl tatsächlich einer der Heiligen beigestanden haben!

Ekbert wollte zunächst nichts dergleichen wissen: „Das ist viel zu gefährlich und außerdem kannst du nicht alleine gehen, du sprichst ja kaum die Sprache der Abodriten!“ Doch Wilfrith wollte sich von seiner Idee nicht mehr abbringen lassen. Schließlich einigten sie sich, dass es wohl das Beste sei, noch bis zum Fest der Geburt der unbefleckten Jungfrau im letzten Monat des Jahres zu warten. Vielleicht hatte sich Dietrich ja tatsächlich nur verspätet, oder die Wege waren im Moment aufgeweicht und unpassierbar. Falls bis dahin keine Nachrichten von dem Missionar eingetroffen sein sollte, dürfte Wilfrith in Gottes Namen losziehen. Doch müsste er sich vorher noch taugliche Gefährten suchen. Wilfrith blieb nach der Unterredung mit dem Abt noch zwei weitere Tage bei seinen Brüdern in der Hammaburg, dann kehrte er wieder auf den väterlichen Hof zurück.

14 Die kleineren und breiteren Handelsschiffe der Wikinger.

15 Heute Ratzeburg und Mecklenburg

16 Die Bezeichnung Weihnachten kam erst im 12. Jahrhundert auf.

17 Heute Alster und Bille

18 Im Jahre 845

19 Der 16. Januar

20 Auch westlich des limes saxoniae