Der Herzschlag des Dschungels - Vidora Black - E-Book

Der Herzschlag des Dschungels E-Book

Vidora Black

3,0

Beschreibung

Zu gerne tauscht der junge Forscher Oliver Greek die Großstadt gegen eine Expedition in den wilden Dschungel Südamerikas. Natürlich rechnet er mit einem Abenteuer, doch was ihm bevorsteht, hätte er sich in seinen kühnsten Träumen nicht vorstellen können: Ein Fremder rettet ihm das Leben, ein Dschungelvolk verehrt ihn als Gesandten der Götter, und eine Prophezeihung fordert von ihm die Abwendung einer großen Katastrophe. Zum Glück unterstützt ihn der mutige Stammesjäger Nahelu dabei, sich in die Dorfgemeinschaft einzufügen und Nachforschungen über die unheilvollen Visionen anzustellen, die ihn plötzlich heimsuchen. Denn die Zeit drängt. Zwischen mysteriösen Erdbeben, magischen Ritualen am Lagerfeuer und alten Familienfehden kommt Oliver nicht nur der Lösung des Rätsels näher, sondern auch seinem Freund und Beschützer Nahelu ...

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Vidora Black

Impressum

© dead soft verlag, Mettingen 2019

http://www..deadsoft.de

© the author

Cover: Irene Repp

http://www.daylinart.webnode.com

Bildrechte:

© VT_studio – shutterstock.com

1. Auflage

ISBN 978-3-96089-289-2

ISBN 978-3-96089-290-8 (epub)

Inhalt:

Zu gerne tauscht der junge Forscher Oliver Greek die Großstadt gegen eine Expedition in den wilden Dschungel Südamerikas. Natürlich rechnet er mit einem Abenteuer, doch was ihm bevorsteht, hätte er sich in seinen kühnsten Träumen nicht vorstellen können: Ein Fremder rettet ihm das Leben, ein Dschungelvolk verehrt ihn als Gesandten der Götter, und eine Prophezeihung fordert von ihm die Abwendung einer großen Katastrophe.

Zum Glück unterstützt ihn der mutige Stammesjäger Nahelu dabei, sich in die Dorfgemeinschaft einzufügen und Nachforschungen über die unheilvollen Visionen anzustellen, die ihn plötzlich heimsuchen. Denn die Zeit drängt. Zwischen mysteriösen Erdbeben, magischen Ritualen am Lagerfeuer und alten Familienfehden kommt Oliver nicht nur der Lösung des Rätsels näher, sondern auch seinem Freund und Beschützer Nahelu ...

Prolog

Das Ritual begann mit den ersten Trommelschlägen.

Ihr Klang gab dem Dschungel einen Herzschlag, der selbst das Surren der Leuchtkäfer und die Revierstreitigkeiten der Grautatzen übertönte.

Nahelu saß zwischen den Brüdern und Schwestern des Stammes, das Gesicht warm vom Feuer, die Augen auf Hunai gerichtet, der auf seinen Stab gestützt vor dem steinernen Podest stand. Der Blick des alten Schamanen begegnete seinem. Sie wussten beide, an wen die Götter sich heute wenden würden. Nahelu presste die Lippen aufeinander. Nein, er hatte es wirklich nicht eilig und hätte das Ritual am liebsten verschoben. Er brauchte keine Partnerin, jetzt noch nicht. Doch die Traditionen nahmen keine Rücksicht auf den Willen eines Einzelnen. Keine Ausnahmen.

Hunai griff nach dem schlanken, dunkelgrünen Ende der Götterranke. Wie eine müde Schlange, dick wie ein kleiner Baumstamm, war sie heute Morgen von einem der Äste gerutscht und mitten auf den Dorfplatz gefallen. Eine eindeutigere Botschaft hätten die Götter ihnen kaum senden können. Und doch hoffte Nahelu immer noch, sie würde für jemand anderen sein.

„Schau nicht so unglücklich. Du willst deine Frau doch nicht schon vor dem Bund beleidigen.“ Sein Freund Kahatak stieß ihn von der Seite an und grinste breit.

„Angespannt. Nicht unglücklich“, erwiderte er und zwang seine Mundwinkel zu einem Lächeln.

„Kann man auch nicht sein, bei dieser Auswahl. Nuku ist eine echte Schönheit, Zirahi könnte die Götter bekochen und Sini ...“ Kahatak verstummte, als der Blick ihres großen Bruders ihn traf. „Na, die da oben wissen schon, was sie tun, nicht wahr?“

Nahelu seufzte und straffte seine Haltung.

Die drei jungen Frauen im richtigen Alter saßen ihm im Kreis schräg gegenüber und wichen seinem Blick schüchtern aus. Nein, es gab nichts auszusetzen – sie waren hübsch anzusehen, gesund und erfüllten ihre Aufgaben in der Gemeinschaft. Egal, wer ihm bestimmt war – er bekam eine gute Partnerin, die ihm Zuwendung und Nachwuchs im Austausch für seinen Schutz schenken würde. Dass ihn das nicht froh stimmte, war sein eigenes Problem.

Hunai legte das Ende der Ranke auf die Steinplatte, bettete das große Blatt auf den Untergrund. Er trat etwas zur Seite und griff in die Holzschalen, die die Kräuterfrauen ihm entgegenstreckten. Die runzligen Finger nahmen je eine Prise der leuchtenden Stäube. Einige Körner regneten zwischen ihnen hinab, den Rest verstreute er über die Adern und Rippen des Blattes. Aufsteigender Ritualgesang mischte sich unter den Rhythmus der Trommeln. Tief und eindringlich. Nach und nach stimmten sie alle ein, Männer und Frauen, Alte und Kinder. Ganz von selbst formten Nahelus Lippen die Silben der Götteranrufung, während seine Augen Hunais Handbewegungen folgten.

Jemand reichte dem Schamanen einen Pinsel und die Schale mit dem silbern schimmernden Blut der Mondkatzen, und er pinselte das Blatt ein, damit die Götter ihre Botschaft darauf abbilden konnten.

Die letzten Worte, die letzten wummernden Schläge. Dann nur noch das Knacken des Holzes im Feuer. Zittrige Hände, die sein Schicksal schrieben. Nein, sie überlieferten es nur, es stand längst fest. Sein Herz klopfte den Takt der verstummten Trommeln weiter. Nahelu reckte den Kopf. Welche Symbolik glitzerte auf der Oberfläche des Blattes? War die Botschaft wirklich für ihn, oder vielleicht doch für den Häuptling?

Nahelu hielt den Atem an. Kahatak neben ihm beugte sich so weit vor, als ginge es um ihn.

Die Form eines Auges und ein Speer, der es kreuzte. Sein Zeichen. Nahelu ließ die Schultern sinken und schloss einen Moment die Augen, um sich zu sammeln.

„Nahelu, Sohn des Zenutah“, verkündete Hunai und setzte sein Pinselwerk fort.

Lächeln, glücklich aussehen. Nahelu hob die Lider und strich sich einen seiner Zöpfe zurück. Die Götter schauten auf ihn, genau wie alle seine Stammesbrüder. Es war sein Schicksal und er würde es annehmen.

„Jetzt kommt der interessante Teil“, raunte ihm Kahatak zu. Nahelu nickte kaum merklich. Sie sollte ihn interessieren, die Mutter seiner zukünftigen Söhne und Töchter. Er sollte sie lieben und schätzen. Und er sollte sich darauf freuen, ihren Namen zu erfahren. Sein Pflichtbewusstsein ließ ihn die Augen wieder auf das Blatt richten. Ein Raunen ging durch den Kreis, kaum dass die Struktur einer Feder darauf erschien. Die Götter besaßen einen seltsamen Humor.

Atakus Miene verhärtete sich, als Nahelu sich ihm zuwandte. Es war einfach keine gute Idee, seine Schwester mit ihm zu verbinden. Zumindest war er jetzt sicher nicht mehr allein mit dem Wunsch, das Bindungsritual möge noch einige Monde aufgeschoben werden.

„Sini, Tochter der Tikuwi.“

Erst nach einem tiefen Atemzug schaffte er es, ihren Blick zu suchen. Was dachte sie über diese Entscheidung? Von allen Frauen war sie diejenige, die ihm am fremdesten war. Diesen Abstand hatte er aus gutem Grund eingehalten. Aber nun? Er konnte sich nicht dem Willen der Götter widersetzen, ebenso wenig wie sie oder ihr Bruder.

„… kann nicht gutgehen …“

„… Streitereien endlich beilegen …“

Die anderen diskutierten ihren Bund bereits. Nur ihm selbst fehlten die Worte. Trocken räusperte er sich. Das eingeübte Lächeln hing auf seinem Gesicht fest. Es gab nun nur noch eine Frage zu beantworten.

Wann?

Still verharrte er auf seinem Platz und dachte darüber nach, wie er seinen Frieden mit Sinis Familie machen sollte, damit dieser Bund nicht von Anfang an mit Streit und Missgunst verseucht wäre.

Kahataks Hand auf seiner Schulter riss ihn aus seinem Gedankenstrudel. Irritiert schaute er ihn an. Dann fiel ihm auf, dass alle wieder still waren. Und ihn anstarrten.

„Was?“, fragte Nahelu und runzelte die Stirn. Hunai hielt die Ranke hoch. Neben den beiden silbern glänzenden Symbolen war keine Zeitangabe zu erkennen, kein ganzer Mond, kein halber, sondern … Er stand auf und trat näher heran, streckte die Finger nach dem Blatt aus, aber Hunai hielt ihn davon ab, es zu berühren. Das dritte Symbol sah aus, als gehöre es ebenfalls zu einer Person. Was sollte das bedeuten?

„Wem gehört das Mal?“, fragte er den Schamanen.

Die Falten auf Hunais Stirn vertieften sich. „Niemandem.“

„Was bedeutet das, Schamane?“ Ataku hatte sich ebenfalls erhoben. Grob stieß er Nahelu zur Seite und herrschte Hunai an. „Ist das Ritual fehlerhaft?“

Fehlerhaft? Konnten sie es dann vielleicht für ungültig erklären? Nahelu hob die Augenbrauen und sah hoffnungsvoll zu Hunai. Das Murmeln und Flüstern um sie herum setzte wieder ein.

Hunai schüttelte langsam den Kopf. „Die Götter machen keine Fehler. Alles ist so, wie es sein soll.“

„Aber das ergibt keinen Sinn! Sini wird keinen Bund mit ihm eingehen, solange nicht klar ist, was es bedeutet!“

Nahelu nickte. Ausnahmsweise waren sie einer Meinung.

„Ich hätte es ahnen müssen, immer wenn du in irgendetwas verwickelt bist, gibt es Schwierigkeiten.“ Ataku machte keinen Hehl aus seiner Abneigung. Aus zusammengekniffenen Augen starrte er ihn an. Als er die Hand heben wollte, griff Hunai nach seinem Arm und hielt ihn zurück.

„Wir werden die Botschaft deuten. Beruhigt eure Geister und lasst euch von den Göttern leiten.“

Ataku schien es schwerzufallen, den Worten des Schamanen nachzukommen, in seinen Augen funkelte es noch immer feindselig. Doch er wich ein Stück zurück, sodass die Anspannung zwischen ihnen beiden spürbar abnahm. Nahelu atmete beherrscht aus. Er blieb vorerst frei. Die Götter hatten Pläne mit ihm.

Kapitel 1

Oliver kauerte in der hintersten Ecke des Umkleideraumes, zerrte sich das Trikot mit dem Schriftzug Team Biologie – von Natur aus überlegen über den Kopf und wünschte einen Feueralarm herbei.

Das Trampeln und Johlen von nebenan schallte durch die Wände.

„Werd’ fertig, Oli. Du verpasst schon das Warmmachen.“ Jeanette stand in der Tür zur Sporthalle und machte eine hektische Geste, die eher so aussah, als wolle sie Fliegen verscheuchen.

„Ich bin warm genug“, murmelte er und zog den Reißverschluss seiner Sporttasche zu.

„Selbst Profis wie du brauchen Vorbereitung.“

Es kostete Anstrengung, das bittere Auflachen zurück in seine Kehle zu pressen, damit es nicht herauskam.

„Eigentlich ... fühle ich mich heute nicht so gut. Mein Kreislauf ...“

„Das ist nur die Aufregung.“ Jeanette kam zu ihm und zog ihn am Ärmel. „Komm jetzt. Es wird besser, wenn du erst draußen bist.“

Die Sohlen seiner brandneuen Turnschuhe entlockten dem Linoleumboden ein schrilles Quietschen, das ungefähr so verzweifelt klang, wie Oliver sich fühlte.

Er wollte da nicht raus!

Die kleine, gemeine Stimme in seinem Kopf kicherte.

Ja, er hatte sich das selbst eingebrockt. Das machte es nur nicht besser.

„Lass wenigstens meinen Ärmel los.“ Wenn er schon musste, dann wollte er nicht wie ein kleines Kind aussehen, das von seiner Mutter hinterhergezerrt wurde. Lieber wie ein Gladiator.

Jeanette lachte und drehte sich schwungvoll um. Ihr Pferdeschwanz peitschte ihm ins Gesicht. Im Hopserlauf durchquerte sie die Halle und blieb bei ihrem Team stehen. Gott, dieser Spruch ...

Oliver atmete tief ein und aus, ehe er deutlich weniger dynamisch auf seine Gruppe zuging. Die Arme hielt er nahe am Körper, die Schultern hochgezogen, die Brust rausgedrückt, den Kopf gesenkt. Es sollte selbstbewusst und stark aussehen, aber vermutlich war die erste Assoziation der Zuschauer nicht Gladiator, sondern Nerd.

„Da ist ja unser Kletteräffchen“, rief Mike. Sein Grinsen war echt. Er und Jeanette glaubten wirklich, dass er hier eine super Performance hinlegen würde. Nur Tony, der mit säuerlichem Blick und verschränkten Armen etwas abseits stand, schien die Wahrheit zu erkennen. „Du siehst so blass aus, geht’s dir gut?“

Oliver lachte nervös und rieb sich den Nacken. „Ja, klar. Alles gut.“

Du ziehst das echt durch, was? Das war deine letzte Chance, ihnen vorher die Wahrheit zu sagen.

„Auf geht’s, Team Biologie!“ Jeanette verteilte ein paar High-Fives.

Vor ihnen lagen die einzelnen Stationen des Parcours: Hürden, Trampoline, Netze, Ringe. Worauf hatte er sich da nur eingelassen? In der Schule war er schon am Seil nie weiter als einen Meter vorangekommen und hier sollte er zuerst einen Schacht hinaufklettern, sich dann über drei Seile hangeln und am Ende noch eine Wand bezwingen.

Vergiss es. Nicht mal, wenn Stacy hinter dir her wäre ...

Ein Gong ertönte und setzte dem Lärmen der Zuschauer ein Ende.

„Liebe Studierende, liebe Familien und Freunde, liebe Kollegen, ich heiße Sie im Namen des Organisationsteams herzlich willkommen zu unserem ersten Helden-Wettkampf. Unsere Studierenden werden heute beweisen, dass der Verstand nicht ihre einzige Waffe ist: Mut, Zusammenhalt und Zielstrebigkeit sind ebenso Tugenden, die wir von uns und anderen erwarten sollten.“

Vorsichtig warf Oliver einen Blick hinüber zu den Bankreihen. Seine Eltern saßen im Publikum. Ausgerechnet heute hatte also alles funktioniert? Seine Mutter hatte freibekommen und das Handy seines Vaters stand ausnahmsweise still?

Der Vorstand beendete seine Rede. Die abschließenden Worte hatte Oliver nicht verstanden. Das Publikum applaudierte und die Teams versammelten sich am Rand des Feldes. Wie ein Zombie folgte Oliver den grünen Trikots.

„Wir sind als drittes Team dran“, sagte Mike und rieb sich die Hände. „Ich hab letzte Woche sogar die Wippe in unserem Garten zum Balancieren üben benutzt. Hat nicht schlecht geschaut, meine kleine Schwester.“

Aus den Lautsprechern tönten noch mehr Worte. Erklärungen zum Ablauf. Applaus. Dann der harsche Ton einer Trillerpfeife. Oliver hob den Kopf und schaute den ersten Helden-Anwärtern zu.

Vier Leute, jeder auf seiner eigenen Bahn. An einer wurde sogar geschossen.

Na, immerhin hast du dich für etwas gemeldet, bei dem nur du selbst zu Schaden kommst.

Der Kommentator gab das Ergebnis des ersten Durchlaufs bekannt. Am Ende würde das Team mit der niedrigsten Gesamtzeit gewinnen.

Wie hypnotisiert schaute er den nächsten Studenten zu. Gelbe Trikots. Team Chemie – hat die besten Teilchen!

Das Klatschen und Murmeln der Zuschauer, das Ticken der Stoppuhr und die Lautsprecheransagen verstopften seine Ohren. Mit jeder Sekunde entfernte er sich weiter von all dem. Als würde sein Geist sich von seinem Körper lösen und aus der Halle schweben. So weit weg vom Geschehen war alles gar nicht mehr so schlimm.

Erst als Tony ihm auf die Schulter klopfte, kehrte er in die Wirklichkeit zurück und zuckte zusammen, als hätte ihm jemand mit einem Defibrillator Strom in die Brust gejagt. Er hatte Kopfschmerzen. Alles pochte und klopfte.

„Verkack’s nicht, Greek.“

Oliver rutschte auf der Bank hin und her und wischte seine Handflächen an der Hose ab.

Seine Gliedmaßen bewegten sich ganz automatisch. Wie ferngesteuert bewegte er sich zu den Matten und stellte sich an seiner Startlinie auf.

Alle sahen ihm zu. Sein Team, seine Eltern, die anderen. Clyde. Ihre Blicke streiften sich. Dann kam der Pfiff.

Oliver rannte los. Körperhaltung, Atmung, Gleichgewicht.

Er stolperte über die Kante der Matratze. Das Publikum lachte. Olivers Wangen glühten um die Wette. Hastig rappelte er sich hoch und spurtete weiter. Seine Turnschuhe trommelten auf die alten Matten. Klebrige Geräusche. Jeanette war ihm weit voraus, sie hatte die erste Hürde schon hinter sich. Tony auch.

Sein Blick flog zu der großen Uhr. Dann erreichte er die Röhre.

Oliver breitete die Arme aus und presste die Handflächen gegen die Innenwand. Er wusste, wie es funktionierte. Eigentlich war es ganz einfach. Er musste springen und die Füße dann ebenfalls an die Wand drücken und sich dann Stück für Stück nach oben schieben.

Seine Schultern zitterten unter dem Druck. Seine Füße fanden keinen Halt. Er rutschte immer wieder ab. Oliver starrte an sich hinab, sprang, und versuchte erneut, sich anzuschieben. Es ging nicht. Sein Körper war mit einem Mal so unglaublich träge und schwer. Zu schwer für seine Arme und zu schwer für seine Beine. Er knallte mit dem Hintern voran auf die Matte.

Eilig kam er wieder auf die Beine, fing sich an der Röhrenwand ab, weil sich auf einmal alles drehte. Er hob den Kopf. Er musste da hoch, verdammt!

„Drei sind im Ziel. Wo bleibt Oliver Greek? Hat er sich im Parcour verlaufen?“

Das Publikum lachte.

Noch ein Versuch. Er kam sich vor wie ein Hamster, der sein Rad einfach nicht zum Laufen bekam und immer wieder daran herunterrutschte.

„Ist das dein Ernst, Greek?“ Das war Tonys Stimme.

Oliver kniff die Augen zusammen. Schultern, Arme, Oberschenkel ... alles zitterte. Tränen aus Frust und Wut wollten sich ihren Weg nach draußen bahnen, aber er ließ sie nicht. Das hier war doch nur wieder irgendeiner seiner Albträume, nur dass er nicht ins Bodenlose fiel oder von einem Monster verfolgt wurde, sondern in einem blöden Schacht gefangen war und alle über ihn lachten, weil er sich zum Kletterkünstler ernannt hatte und nun nicht hier rauskam.

Nach zwei weiteren Versuchen, die immer schwächlicher wurden, kam ein Mann vom Spielfeldrand zu ihm.

„Alles klar, Junge? Hast du dich verletzt?“

„Ja ... ähm ... ich kann nicht ... ich meine ... Entschuldigung.“

Er wachte nicht auf. Die ganze Peinlichkeit war echt. Die Leute buhten. Sein Team wurde disqualifiziert. Mike, Jeanette und Tony starrten zu ihm rüber. Er wusste, wie das Gespräch ablief, das sie jetzt führten. Tony war von Anfang an dagegen gewesen, ihn ins Team aufzunehmen. Er musste es irgendwie gerochen haben.

„Danke, Arschloch!“ Tony stemmte die Hände in die Hüften und sah aus, als würde er ihn am liebsten verprügeln. „Ich wusste doch, dass du’s nicht draufhast. Warst nur wegen Mike im Team. Ihr Schwuchteln seid alle gleich. Ich wette, das mit deiner Expedition ist auch nur gelogen. Wenn ich nicht so sauer wäre, müsste ich Mitleid haben.“ Er spuckte ihm die Worte mit maximaler Abfälligkeit vor die Füße, drehte sich um und ging.

Oliver ließ die Schultern sinken.

„Ich versteh’s nicht, Oli. Was ist das mit dir und den Lügengeschichten?“

Clyde schwang sich neben ihn auf die Bank. Kam er jetzt auch noch, um draufzutreten? Die Getränkedose in seiner Hand zischte, als er sie öffnete.

„Ich ... Das mit dir war keine Lüge ... nur ...“

„Und dass deine Eltern Bescheid wissen?“

„Tut mir leid.“ Er seufzte. Clyde hatte ja vollkommen recht. „Ich weiß nicht, was ich dazu noch sagen soll.“

„Sag gar nichts mehr. Sag nicht, dass du irgendwas kannst oder bist, von dem du glaubst, dass andere es hören wollen. So läuft’s nicht. Irgendwann kommt die Wahrheit doch eh raus.“

Das wusste er ja alles. Und trotzdem ... Als Mike zu ihm rübergeschaut hatte, war sein Arm einfach hochgeschnellt. Es war das erste Mal gewesen, dass der Kerl ihn überhaupt wahrgenommen hatte. Wie war dein Name nochmal? – Oliver. Die Stimmen in seiner Erinnerung klangen seltsam verzerrt. Du bist gut im Klettern? – Ähm ... ja. Klar.

*

Langsam drehte er das Verkaufskarussel mit den Sonnenbrillen.

Heute war der erste Tag vom Beginn seines neuen Lebens. In Südamerika schien die Sonne und der Gedanke, jetzt noch etwas für diese Reise zu kaufen, fühlte sich gut an. Am liebsten hätte er Tony eine Nachricht geschickt. Hier, ich bin wirklich zu dieser Expedition zugelassen. Nicht alles, was ich erzählt habe, war Mist. Aber die Chance hatte er sich ordentlich versaut.

Seit seinem Kletterdesaster waren zwei Wochen vergangen. Mike hatte seitdem kein Wort mehr mit ihm geredet und auch die anderen aus seinem Kurs schienen ihn zu meiden. Jeanette hatte sogar aufgehört, ihm in der Mensa seinen Nachtisch auszureden, damit sie ihn bekam.

Er hatte sich ins Aus katapultiert.

Aber jetzt war das alles egal. Er würde mit neuen, coolen Leuten zusammenkommen und ein echtes Abenteuer im südamerikanischen Regenwald erleben. Clydes Ratschlag würde er sich zu Herzen nehmen und dort einfach nur der sein, der er war.

*

Die glühend heiße Luft im Bus garte ihn langsam aber sicher.

Oliver hing mehr tot als lebendig auf dem Sitz und fächelte sich mit seinem Sonnenhut Luft zu, die genauso gut aus einem Ofen hätte stammen können.

Die Fahrt dauerte schon den ganzen Nachmittag. In einer halben Stunde sollten sie am Basislager eintreffen und von dort aus noch zwei Stunden zum Camp marschieren.

Draußen vor den Fenstern war nur Sand.

„Hier war früher überall Dschungel. Stell dir das mal vor“, sagte Lisa. „Alles gerodet.“

Der Horizont flirrte, doch langsam tauchte ein dunkelgrüner Streifen auf.

„Sind wir da, oder kriege ich Halluzinationen?“, fragte Jeff.

Olivers Mundwinkel hoben sich. Sie waren wirklich da. Die Bäume wuchsen unter seinem Blick zu haushohen Riesen und der Urwald breitete sich zu beiden Seiten aus, umschloss ihren Bus mit ausgebreiteten, grünen Armen.

Sie fuhren immer langsamer. Es gab hier keine Straße mehr, auch keinen Weg.

Bald hielt der Bus.

„Aussteigen!“, rief ihr Fahrer. Oliver wäre am liebsten direkt aus dem Fenster geklettert, aber er reihte sich artig in den Strom seiner Kollegen ein und sprang schließlich das Treppchen hinunter.

Der Boden war weich wie ein Teppich. Beschwingt machte Oliver ein paar Schritte von der Gruppe weg und schaute sich um. Die Bäume wirkten so kräftig, fast einschüchternd, nicht so still und zurückhaltend wie in den Stadtparks seiner Heimat. Sie hatten die Rollen getauscht. Hier waren Menschen die Gäste und die Natur der Gastgeber. Oliver lächelte und nahm einen tiefen Atemzug.

Die Luft war feucht und roch nicht mehr nach Hitze, sondern nach Leben.

Er schob sich die Sonnenbrille ins Haar. Dieses Paradies musste er ungefiltert sehen. Alles war grün, auf eine bunte Art und Weise: Der Schatten leuchtete petrolgrün, die Sträucher neben ihnen agavengrün und die Sonne malte Limonentöne hinein. Jede Sekunde entdeckten seine Augen etwas Neues. Eine blau schimmernde Libelle schwebte scheinbar schwerelos über einer Pfütze. Federn, so schwarz wie Onyx, lagen neben ihm im Gras. Saftigrote Blütenstände lockten wildes Schmetterlingsgeflatter an. Bromeliaceae. Ananasgewächse.

Olivers Lippen formten ein stummes Wow. Der Dschungel war wunderschön.

*

Die Zeit verging schneller als der Flügelschlag eines Kolibris.

Im Zelt zu schlafen, mit all den fremden Geräuschen in den Ohren, war spannend aber gewöhnungsbedürftig. Da waren nicht nur die Schreie der Affen und Vögel und das Sirren der Insekten. Der Dschungel schien zu atmen. Er hatte einen eigenen Herzschlag. Vielleicht fühlte er sich hier deswegen so geborgen. Er glaubte zwar nicht an einen Gott, aber wenn er hier lag und all dem lauschte, hinter seinen geschlossenen Lidern die gewaltige Schönheit Revue passieren ließ, die er allein heute gesehen hatte, dann konnte er verstehen, wie manche Menschen zu dieser Überzeugung kamen.

Mit einem zufriedenen Seufzen drehte er sich auf die Seite. Wahnsinn, wie wichtig ihm der blöde Uni-Wettkampf vor zwei Wochen noch vorgekommen war. Oder der Stress mit dem Typen, der unter ihm wohnte. Oder der Tippfehler auf dem Werbeplakat direkt vor seinem Schlafzimmerfenster. Hier war das alles ganz klein.

*

Am zweiten Tag erkundeten sie die nähere Umgebung mit einem Führer. Ihr Trupp bestand aus vier Leuten. Es machte Spaß und er musste kein dämliches Trikot tragen.

„Mein Ziel wäre es, eine neue Gattung zu entdecken.“

„Lisa will Alzheimer heilen.“

Sie versetzte Ken einen Hieb gegen die Schulter. „Wie wär’s wenn du aufhörst, dich darüber lustig zu machen?“

Ken ignorierte sie. „Eine neue Gattung, ja? Der Herr will hoch hinaus, ihm reicht eine Art nicht.“

Oliver zuckte mit den Schultern und musterte die Schmetterlinge, die er in einem Netzbehälter vor sich hertrug. „Nur dann kann ich den Namen vollständig bestimmen.“

„Und wie wäre der? Oliveria?“ Ken machte ein Foto von einer Nepenthes heliamphora. Er schien ein Faible für die Fleischfresser zu haben.

„Nein. Ich habe den Namen meiner Mutter versprochen.“

„Was für ein vorbildlicher Sprössling.“

Oliver öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, doch der Dschungel schien ihn davon abhalten zu wollen. Der Boden vibrierte. Die Erschütterung durchfuhr seinen ganzen Körper. Wenn der Dschungel vorher einen Herzschlag gehabt hatte, war das ein Kammerflimmern.

„Was ist das?“ Seine Kopfhaut kribbelte unangenehm. Das Geschrei der Affen über ihm gellte schrill in seinen Ohren. Im Geäst knackte es. Das Netz in seiner Hand schaukelte und die Schmetterlinge darin flatterten aufgebracht herum.

Es ließ nicht nach.

Als er sich zu den anderen umdrehte, war niemand mehr da.

„Leute?“, schrie er. Der Dschungel übertönte ihn. Verdammt, wo waren sie denn hin? Zurück zum Camp gelaufen?

Blätter rieselten aus den Bäumen.

Oliver blieb stehen und hielt sich an einem Baumstamm fest, während er sich umschaute, und versuchte, klar zu denken. Aus welcher Richtung war er überhaupt gekommen? Er erkannte nichts wieder. Wo war die Nepenthes heliamphora von gerade eben?

Ein lautes Krachen ließ seine Ohren klingeln. Ein Ast stürzte herunter. Oliver stolperte rückwärts einen Hügel hinunter. Das Insektennetz fiel zu Boden. Nur noch ein Gewirr aus Grün und Grau um ihn herum. Er schrie, überschlug sich und rollte den Hang hinab. Stechender Schmerz in seinen Knien. Übelkeit. Der Geruch von nasser Erde.

Alles brach auseinander.

*

Keuchend erwachte er.

Sein linkes Bein pochte. Das Zwitschern der Vögel klang seltsam fern. Der Boden stand still. Gräser kitzelten sein Gesicht, als er den Kopf vorsichtig bewegte. Blinzelnd richtete er sich auf. Das Erdbeben war vorbei. Und er lebte noch.

„Ken?“

Niemand reagierte. Das Erdbeben musste sein Team verstreut haben. Vielleicht lagen die anderen auch irgendwo hier am Fuß des Hanges und waren bewusstlos. Er musste helfen.

„Jeff? Lisa?“

Ächzend stützte er sich auf seine Hände und setzte sich auf. Bis auf sein Bein schien alles in Ordnung zu sein. Wenn man von dem Brummschädel und dem Pfeifen im Ohr absah. Suchend schaute er sich um.

Irgendwas stimmt hier ganz und gar nicht.

Das Gefühl hing einige Sekunden wie ein Schleier über ihm, bevor ihm klar wurde, woher es kam. Dieser Ort hier sah anders aus. Die Gräser, die Bäume um ihn herum. Der Stamm neben ihm war grau und zerfurcht, die Sträucher giftgrün mit violetten Blüten. Er kannte diese Pflanzen nicht. Tiefe Falten bildeten sich auf seiner Stirn. Halluzinierte er? Der Blick nach oben verstärkte diese Theorie noch.

Was war das für ein Vogel? Zwei lange rote Federschleppen, ein silberner Schnabel und golden schimmernde Flügelspitzen. Natürlich gab es hier seltene und womöglich bisher unentdeckte Arten … aber das? Hatte er sich den Kopf stärker angeschlagen als gedacht?

Oliver biss die Zähne zusammen. Vorsichtig stemmte er sich mit Hilfe des Baumes hoch und lehnte sich dann leise keuchend gegen den Stamm. Aus dieser Perspektive sah die Umgebung allerdings nur noch fremder aus. Das Gras streckte sich viel höher. Keine Spur von dem Ort, an dem sie ihr Lager aufgebaut hatten, keine Trampelpfade, nirgends die Insektennetze. Es gab keine Erklärung dafür. Hitze stieg in ihm auf. Er war allein hier. In einem ihm fremden Teil des Dschungels. Er musste schleunigst zurück. Fahrig tastete er nach seinem Rucksack.

„Was zum …?“ Er befand sich nicht mehr auf seinem Rücken. Dabei war er sich sicher gewesen, dass … Okay … tief ein und aus atmen. Nicht in Panik geraten. Du gehst jetzt einfach ein Stück zurück und suchst das Lager. Es kann ja nicht weit weg sein.

Sich selbst Mut zuzureden hatte auch schon mal besser funktioniert.

Schmerz durchzuckte ihn. Das mit dem Gehen konnte er sich wohl abschminken. Er kniff die Augen zusammen und sackte dann wieder gegen den Baum. Er würde hier verdursten, sofern er nicht vorher gefressen wurde. Er kam nicht weg, sein Bein tat zu sehr weh. Und er hatte nichts bei sich, das ihm helfen konnte. Handy und Verbandszeug waren in seinem Rucksack.

„Ist da jemand? Ich brauche Hilfe!“, rief er aus voller Kehle. Sein trockener Hals kratzte. Hustend hielt er sich an dem Baumstamm fest. Das war doch alles nur ein beschissener Albtraum. Eine der Horrorgeschichten, wie sie ihm seine Freunde erzählt hatten, als er von seiner bevorstehenden Expedition berichtete. Du wirst von deinem Team abgeschnitten und dann verletzt und einsam im Dschungel verenden. Niemand wird je deine Überreste finden. Jesus, das half ihm gerade überhaupt nicht!

Es musste doch irgendetwas geben, das er tun konnte!

Oliver verengte die Augen und ließ langsam den Blick schweifen. Wenn er irgendetwas erkannte, einen Weg zum Beispiel, einen Hinweis auf die anderen oder das Lager, dann würde er im Notfall eben kriechen, um dorthin zu kommen. Er musste nicht laufen. Solange er überlebte, war jedes Mittel recht.

Die buntgefiederten, langbeinigen Vögel auf dem nahen Baum betrachteten ihn interessiert. Als wäre er der neue Nachbar. Wie praktisch wäre es gewesen, mit ihnen sprechen zu können. Ein bläulicher Käfer, der so groß war wie sein Daumen, krabbelte neben ihm den Stamm hinauf. Ganz weit entfernt plätscherte und rauschte es. In der Nähe des Camps war auch ein Fluss. Vielleicht war es doch gar nicht so weit. Okay. Dort drüben zwischen den Bäumen hindurch. Vielleicht fand er dahinter ihr Lager. Alles wurde gut.

Er ging runter auf die Knie. Hoffentlich fasste er nicht aus Versehen auf das Nest einer Giftschlange oder Spinne. Das fehlte ihm gerade noch zu seinem Glück. Den Blick konzentriert auf den Boden vor sich gerichtet, krabbelte er los. Das verletzte Bein versuchte er so wenig wie möglich zu belasten. Schweiß lief ihm an den Schläfen hinab. Grashüpfer sprangen ihm immer wieder ins Gesicht. Oliver pustete sie vehement fort und bewegte sich ungerührt voran, wischte sich die Strähnen aus dem Gesicht und behielt sein Ziel im Auge. Tatsächlich stieg das Gelände etwas an.

Rechts von ihm knirschten Steine. Was war da? Einer von den anderen? Sofort schlug sein Herz schneller. Rettung? Oder Gefahr? Er wagte kaum, den Kopf zu heben. „Ken?“, fragte er vorsichtig. Doch es waren keine menschlichen Augen, in die er blickte.

Oliver stieß einen heiseren Schrei aus und kippte auf die Seite. Die langen Barthaare des Jaguars wippten schwerelos, als der einen Schritt auf ihn zu machte. Elegant und grauenhaft zur selben Zeit. Ihm stockte der Atem. Die Katze gab ein Brummen von sich. Nein, das war kein Traum. Das war verdammt real! Der Schock lähmte ihn, aber er hätte ohnehin nicht aufspringen und weglaufen können. Es war vorbei.

„Hilfe!“ Er wollte schreien, doch seine Kehle hatte sich so eng zugezogen, dass sein Ruf nur als leises zittriges Wimmern herauskam. Ein Schaudern ging durch seinen Leib. Seine Finger krallten sich hilfesuchend in die Erde. Er hatte nicht mal ein Messer. Er hielt die Luft an. Wie in Zeitlupe kam der Jaguar näher, die gelblich schimmernden Augen fest auf ihn gerichtet.

Bitte, lass es wenigstens schnell gehen.

Kapitel 2

Er wusste nicht, zu welchem Tier die Spur gehörte, der er folgte. Es war auch gar keine richtige Spur. Es waren keine Abdrücke auf dem Boden, keine Kerben in den Bäumen, nicht einmal ein bestimmter Geruch, dem er folgte, nein, es war ein Gefühl. Eine Ahnung. Und das machte es nur noch aufregender.

Nahelu sprang zum nächsten Ast. Die Kamaran-Affen wichen ihm aus, als er an ihm entlang kletterte. Leichtfüßig wie einer von ihnen, mit gekonnten Schritten, bahnte er sich seinen Weg durch die Baumkronen – das war sicherer und ging schneller, als sich am Boden fortzubewegen. Und er musste schnell sein. Das spürte er. Den ganzen Morgen schon hatte etwas nach ihm gerufen. Sein Schicksal. Nahelu lächelte. Sein innerer Kompass führte ihn weiter nach Westen in einen entlegeneren Teil des Dschungels. Dorthin, wo der Fluss noch breiter war und die Bäume grau und grimmig. Ahnenbäume nannte man die mit den versilberten Rinden. Ob das ein Zeichen war?

Er hielt inne. In der Hocke blieb er auf dem Ast sitzen und spähte nach unten. Das Muster eines Jaguarfells blitzte zwischen den Spitzen der Gräser hervor. Aber dort unten war noch mehr. Ein fremder Duft. Eine Stimme. Dorthin wurde er gerufen. Kein Zweifel.

Ohne zu zögern sprang er in die Tiefe, zog sein Messer, und landete direkt auf der riesigen Katze, die so konzentriert auf ihre Beute war, dass sie ihn nicht bemerkt hatte. Grober Fehler. Er umklammerte das wilde Tier mit den Beinen und stach ihm das Messer seitlich durch den Brustkorb, dorthin, wo das Herz war. Schnell und möglichst schmerzlos. Der Jaguar schrie, aber sein Aufbäumen war nur ein müder Schatten seiner ursprünglichen Kraft. Die Katze wimmerte, er spürte, wie das Leben aus ihren Muskeln wich. Nahelu zog die Waffe aus ihrem Körper und wischte sie an seiner Kleidung ab. Dann trat er neben die tote Raubkatze und musterte die Quelle seines inneren Rufes: Ein junger Mann lag vor ihm im Gras.

Nahelu zog die Augenbrauen zusammen. Die Sonne schien direkt in das Gesicht des Fremden. Seine Haut war hell, beinahe weiß und sein Haar golden wie die Sonne. Der Anblick fesselte ihn. Einige Sekunden stand er einfach nur da und starrte ihn atemlos an. So fremd. So außergewöhnlich. Diese Kleidung. Dieser Geruch.

„Wer bist du?“, fragte er. Der Mann regte sich nicht, starrte nur aus ängstlichen Augen zurück. Und zitterte.

Nahelu kam näher und kniete sich zu ihm ins Gras. Sein Gegenüber versuchte zurückzuweichen, keuchte dann jedoch laut auf, fasste sich ans Bein und blieb verkrampft sitzen. Er war verletzt. Nahelu streckte seine Hand nach ihm aus. Der Fremde kniff die Augen zusammen. Was erwartete er? Einen Angriff? Er hatte sein Messer doch längst weggesteckt.

„Ich tue dir nichts. Ich werde dir helfen.“

Verstand er ihn überhaupt? Woher kam er? Mit jedem Herzschlag bildeten sich neue Fragen in seinem Kopf. Dieser Mann war etwas Besonderes. Und dass er ihn hier gefunden hatte, ihn gerade noch hatte retten können: Das war ein Zeichen! Dieser Fremde gehörte zu seinem Schicksal! Er war ein Baustein im Plan der Götter. Einen Tag nach dem rätselhaften Ritual. Es konnte kein Zufall sein.

Ein breites Lächeln zog sich über Nahelus Gesicht und er griff nach der weißen Hand. Schneller, als der andere sie zurückziehen konnte. Kalt und zittrig lag sie in seiner. Die pure Angst schwappte zu ihm herüber. War das eine Prüfung? Wollten die Götter seine Hilfsbereitschaft testen? Da hatten sie sich den Richtigen ausgesucht.

Nahelu legte seinen Arm vorsichtig um den Rücken des Verletzten und schob den anderen unter den Beinen hindurch. Mühelos stand er auf und hob ihn hoch. Der Mann war überraschend leicht. Doch bevor er sich auf den Weg nach Hause machte, rief er mit einem lauten langgezogenen Pfiff nach seinen Jägerkameraden. Jemand musste sich um den erlegten Jaguar kümmern. Den Leib hier einfach liegen zu lassen, kam nicht in Frage. Also wartete er, bis sie kommen würden.

„Wie heißt du?“

Blaue Augen blickten ihn verwirrt an. Unter der Aufregung sahen sie müde aus. Doch es stand kein Verstehen darin. Nahelu neigte den Kopf.

„Nahelu“, sagte er langsam und klar seinen eigenen Namen. Vielleicht funktionierte das. Erwartungsvoll schaute er ihn an und hob die Augenbrauen.

Einige Momente vergingen.

„Oliver.“

Nahelus Miene hellte sich noch weiter auf. Er nickte zufrieden. Was für ein exotischer Name! Probeweise formte er die Silben mit seinen Lippen.

„O-li…“

Über ihnen knackte es. Zwei Jäger landeten wenige Schritte entfernt.

„Ich hab hier ein Kätzchen, kann mich aber nicht darum kümmern. Ich muss zurück“, berichtete er kurz und nickte mit dem Kopf in Richtung des Leichnams.

Jakar schüttelte den Kopf und machte einen Schritt auf ihn zu.

„Was hast du da?“

„Nicht was. Wen. Das ist … O-li-va“, stellte er klar. „Die Götter haben ihn mir geschickt und ich muss ihn ins Dorf bringen.“ Damit war die Sache wohl klar. „Ich erzähle es euch später. Er ist verletzt. Der Schamane muss ihn sich ansehen.“

Damit ließ er seine ungläubig dreinblickenden Stammesbrüder stehen und rannte los. Den Weg über die Bäume konnte er mit Oli im Arm nicht nehmen, es war zu gefährlich, wenn er die Hände nicht frei hatte. Kurz überlegte er, ihn sich über die Schulter zu legen, wie ein Stück Jagdbeute, weil das praktischer war, verwarf den Gedanken aber doch wieder – wenn die Götter das sahen, wären sie wohl weniger erfreut. Also hielt er ihn vorsichtig an sich gedrückt, den Blick nach vorn gerichtet. Der Schamane konnte ihm sicher mehr dazu sagen, ihn vielleicht zum Sprechen bringen.

Eines war aber jetzt schon klar: Oli kam von den Göttern!

Wie viel Interessantes würde er ihnen erzählen können! Und welche Aufgabe brachte er mit? Sicherlich schickten die Oberen niemanden ohne triftigen Grund. Es war genau die Art Aufregung, die er liebte. Der Ärger über das Verlobungsritual war fast schon wieder vergessen.

Kapitel 3

Olivers Schädel dröhnte. Nicht nur vor Schmerzen. Er hatte sich schon mit seinem Tod durch Jaguarzähne abgefunden. Nun war er plötzlich gerettet und wurde von einem spärlich bekleideten Tarzanverschnitt durch den Dschungel getragen, wie eine holde Maid, die der Ritter soeben dem Drachen entrissen hatte. Im Grunde fehlte nur das weiße Ross. Und der Sonnenuntergang.

Er war sich allerdings noch nicht ganz sicher, ob er dankbar und erleichtert sein sollte. In den Unterlagen hatte nichts von einem Eingeborenenstamm gestanden. Dieser Mann schleppte ihn sicher zu seinen Leuten. Ob als Freund, Sklave, exotische Unterhaltung oder Abendessen war momentan vollkommen offen. Aber tauschte man Namen mit jemandem aus, den man zu töten plante?

Nahelu lief durch den Dschungel, kletterte und sprang über riesige, schlangenartige Wurzeln, bahnte sich seinen Weg durch Sträucher und über Felsen hinweg, ohne lange zu überlegen. Dieser Mann bewegte sich zielsicher und routiniert durch das wilde Gelände. Vorhin hatte er den Jaguar mit einem einzigen Messerstoß getötet. Bewundernswert und faszinierend, aber gleichzeitig auch beängstigend. Er hätte keine Chance, jemandem wie ihm zu entkommen. Auch verhandeln war schwierig – die Worte, die der andere gesprochen hatte, klangen fremd und kehlig, ganz anders als alles, was er kannte.

Der Lauf schüttelte ihn ordentlich durch. Das ständige Schaukeln verschlimmerte den Schmerz. Oli verzog das Gesicht und drückte sich instinktiv näher an Nahelus Brust. Es war ein seltsames Gefühl, sich so an einen Fremden zu schmiegen, aber inzwischen war doch sowieso alles egal. Sofort verfestigte sich auch der Griff seines Retters um ihn und gab ihm mehr Halt. Sie wurden langsamer.

„Nah’fani.“

Das war unzweifelhaft an ihn gerichtet, aber Oliver hatte keine Ahnung, was es bedeuten sollte. Es klang weich, nicht wie Ablehnung oder eine Beschwerde. Oli ließ den Blick schweifen. Waren sie gleich da? Er konnte noch nichts entdecken, das auf eine Siedlung hingewiesen hätte. Ein großer Schmetterling mit türkisen Flügeln und aufwändigen Mustern flatterte träge über sie hinweg. Oli drehte den Kopf und sah ihm nach.

Ranken hingen von den Ästen der himmelhohen Bäume, wie riesige grüne Regenwürmer. An einigen wuchsen Knospen, deren Farbpalette von blassem Rosa bis hin zu sattem Dunkelblau reichte. Auf einem Zweig wippte ein Affe herum, dessen langer Schweif gespalten war wie eine Schleuder. So etwas hatte er noch nie gesehen! Er musste sehr tief im Dschungel sein, vielleicht an einem Ort, an den noch kein Wissenschaftler je vorgedrungen war. Zu gerne hätte er seine Kamera genommen und das alles festgehalten. Doch seine Ausrüstung war fort, genau wie sein Team. Alles was übrig war, trug er am Leib. Selbst wenn die Eingeborenen ihn verschonten – er hatte gar keine Zeit, sich dieser außergewöhnlichen Flora und Fauna zu widmen. Er musste die anderen suchen. Vielleicht lagen auch sie verletzt im Schatten irgendeines Baumes. Oder sie sind längst Raubtierfutter.

Oli zog die Augenbrauen zusammen und blickte in Nahelus Gesicht. Wie alt mochte er sein? Ende zwanzig vielleicht. Die hellen grünen Augen wollten nicht zu der gebräunten Haut und den langen schwarzen Haaren passen. Den „typischen Ureinwohner“ hatte er sich irgendwie anders vorgestellt. Mit einer breiten Nase und einem zotteligen Bart wohl. Nahelu hatte keins von beidem, dafür geflochtene, mit Perlen verzierte Zöpfe, einen markanten Unterkiefer und einen Hauch von Schalk in den Augen. Sein Blick war geradeaus gerichtet. Die Pupillen zuckten hin und wieder in eine bestimmte Richtung. Sein Gesicht war entspannt. Er hatte hier keine Angst, im Gegenteil, er sah sogar irgendwie gut gelaunt aus. Die fremden Augen trafen seine. Oli hielt unwillkürlich die Luft an, als hätte man ihn beim Spannen ertappt. Fremde anzustarren war eigentlich nicht seine Art. Er wandte den Blick ab und drehte den Kopf zur Seite.

Da! Eine Art Zaun ragte hinter den Sträuchern hervor. Eine hölzerne Barrikade. Nahelu straffte sich und hob den Kopf. Ein kleiner Trampelpfad führte zu einem Eingang. Nahelu trat hindurch. Mit großen Augen betrachtete Oliver den fremden Ort. Mehrere Gruppen älterer Frauen saßen vor Hütten, die aus Stämmen und Ästen erbaut worden waren, flochten Pflanzenstränge, wuschen Früchte und unterhielten sich dabei. Kinder huschten zwischen den Bäumen herum, einige kletterten an den Ranken hinauf, die bis zum Boden hingen.

Fasziniert hob Oli den Kopf. In den Baumkronen befanden sich noch mehr Hütten. Wie groß mochte dieses Volk sein? Sein Herz klopfte aufgeregt. Nahelu trug ihn an einigen Behausungen vorbei. Ein würziger Geruch drang an seine Nase. Doch er hatte keine Zeit, die Eindrücke zu vertiefen. Einige der Frauen waren von ihren Arbeiten aufgestanden und musterten sie beide unverhohlen.

„Nahelu!“, hörte er von mehreren Seiten.

Sie redeten auf ihn ein, aber Oliver verstand kein Wort. Nahelu blieb nicht stehen, er schien ein bestimmtes Ziel zu haben, doch er wurde immer langsamer, als noch mehr Dorfbewohner zu ihnen kamen und den Weg versperrten.

Du bist eine echte Sensation. Er wäre lieber keine gewesen. Diese Blicke kribbelten unangenehm auf seiner Haut. Wahrscheinlich hatten diese Leute noch nie einen Mann mit weißer Haut gesehen. Oder blondes Haar. Oder Turnschuhe.