Der Himmel über Kalian - Christopher Zimmer - E-Book

Der Himmel über Kalian E-Book

Christopher Zimmer

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Beschreibung

Als der junge Dhug Ansken aus heiterem Himmel in die verborgene Waldheimat der Nelvins herabstürzt, überschlagen sich die Ereignisse. Schon bald bricht die Nelvin Ibi mit Dhug und ihren gefiederten Freunden zu einem abenteuerlichen Flug auf dem Sonnwindfrachter Thusis auf. Ihre Reise führt sie durch das Reich der mächtigen Handelsgilde, die von einer grossen Gefahr bedroht wird. Denn alter Hass hat sich mit neuem Hass verbündet, um die Verbrechen der Vergangenheit zu rächen.

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Seitenzahl: 741

Veröffentlichungsjahr: 2022

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INHALT

Kapitel

Er kommt!

Kapitel

Der Flug der Thusis

Kapitel

Ein Riss in der Luft

Kapitel

Ein ganz besonderer Saft

Kapitel

Die Stadt am Meer

Kapitel

Das Lagerhaus am Halstenpier

Kapitel

Der Brief

Kapitel

Der Erste Sekretär

Kapitel

Der Skhut

Kapitel

Das Messer

Kapitel

Boria

Kapitel

Zur vollen Buddel

Kapitel

Die Schlacht um die Axis

Kapitel

Ein Traum

Kapitel

Die Botschaft

Kapitel

Thal’Adin

Kapitel

Eine schwere Bürde

Kapitel

Der Herr über die Gilde

Kapitel

Die Gärten der Oru

Kapitel

Die Laboratorien der Varda

Kapitel

Nur ein Traum?

Kapitel

Morwig

Kapitel

Die Oru

Kapitel

Schlussfolgerungen

Kapitel

Das Verhör

Kapitel

Der Verdacht

Kapitel

Anders Stavak

Kapitel

Der Aufbruch der Flotte

Kapitel

Nurad’Din

Kapitel

Die Schlacht

Kapitel

Flug durch die Nacht

Kapitel

Die Höhlen von Nurad’Din

Kapitel

Klipper

Kapitel

Ibi

Kapitel

Eine Fremde

Kapitel

Rückkehr nach Thal’Adin

Kapitel

Tage der Entscheidung

Kapitel

Der Himmel über Kalian

1. Kapitel

Er kommt!

Ibi lauschte. Die nächtlichen Stimmen der Jäger und der Gejagten waren verstummt. Nur das Rauschen der Blätter im Wind und das Murmeln eines nahen Baches durchbrachen die Stille des Waldes. Vereinzelte Vogelrufe und das Summen von Bienen legten sich wie Farbtupfer darüber.

Ibi ließ sich auf dem Ast des großen Firnbaums, auf dem sie saß, zurücksinken. Sie blickte in das Blättermeer über sich, das von der Morgensonne in flirrendes Licht getaucht wurde.

Sie fühlte sich leicht. Als würde sie schweben, getragen vom Licht und der friedlichen Stimmung dieses Morgens.

Helle Pfiffe erklangen. Klippers Kopf tauchte zwischen den Zweigen auf. Er knackte mit dem Schnabel. Ibi wusste, was das bedeutete. Futter! Klippers Ein und Alles.

«Frrr, kommst du mit, Ibi?», rief er. «Wir treffen uns bei Piro. Tork hat reife Mellfrüchte gefunden.»

«Klingt verlockend», antwortete sie. «Ich komme gleich.»

«Aber lass dir nicht zu viel Zeit», meinte er. «Sonst bleiben für dich nur blanke Mellsteine übrig.»

Noch einmal knackte er mit dem Schnabel, als würde er Kerne zerbeißen. Dann schlugen die Zweige und Blätter über ihm zusammen und Ibi hörte seine Pfiffe, die sich rasch entfernten.

Sie richtete sich auf, lehnte sich an den Stamm des Firnbaumes und sah verträumt einem Tausammler zu, der auf langen Beinen über das Moos stelzte. Als er einen Busch mit Helianblüten entdeckte, stürzte er sich begierig auf sie und saugte mit dem Rüssel Tau und Honig aus ihren hohen, tiefblauen Kelchen.

In diesem Augenblick ließ sich ein Schattentaucher mit flappenden Schwingen aus dem Dunkel einer Astbeuge fallen. Der Tausammler bäumte sich auf. Zu spät! Der Dorn des Jägers bohrte sich in sein Opfer, die Schwingen umschlossen den Leib und die Klauen an den Flügelenden hakten sich unerbittlich fest. Der Tausammler schwankte mit seiner tödlichen Last davon, in das Schattenrevier unter den Bäumen.

Stolpernde Schritte waren zu hören, dann ein dumpfer Fall, ein gurgelndes Quieken und ein letztes Scharren, denen eine bedrückende Stille folgte.

Ibi wandte sich ab. Traurigkeit überkam sie und machte ihr das Herz schwer. Der Wald war ihr doch eben noch so friedlich erschienen. Aber dieser Friede war trügerisch. Die Jäger lauerten überall und zu jeder Zeit. Dass es Schönheit ohne Schrecken geben konnte, war wohl ein unmöglicher Traum.

Plötzlich zuckte sie zusammen. Was war das? Dort, zwischen den Bäumen! Ein … Mensch. Ein alter Mann in einem zerlumpten Gewand. Mit wirren, langen Haaren und einem verfilzten Bart, der ihm bis weit über die Brust hinabreichte. Und seine Augen … seine Augen … wie tiefe Höhlen … ohne Ende … Augen, die sich starr auf sie richteten.

Ibi konnte sich nicht rühren, obwohl jeder Muskel ihres Körpers sie zur Flucht trieb. Und sie konnte den Blick nicht abwenden, nicht von diesen Augen, nicht von diesem alten, zerfurchten Gesicht.

Die Lippen des Alten bewegten sich. Doch war kein Laut zu hören, und dennoch verstand Ibi deutlich, was sie sagten: «Er kommt!» Und noch einmal: «Er kommt!»

Der Fremde hob einen Finger vor die Lippen, Schweigen fordernd. Dann trat er zurück, wurde zum Schatten unter den Bäumen und verschwand.

Jetzt löste sich der Bann. Keuchend atmete Ibi ein. Sie sackte zusammen, zog die Beine an sich und umschlang sie mit den Armen. Nun war sie nur noch eine reglose Gestalt, deren grünscheckiges Federkleid sich kaum von den Blättern unterschied. Wirre Fragen jagten ihr durch den Kopf: Wer kommt?

Und wer war … das?

Die sonderbare Erscheinung hatte sie tief berührt. Doch nicht erschreckt, das wurde Ibi sich jetzt zu ihrer Überraschung bewusst. Der alte Mann hatte nichts an sich gehabt, was sie geängstigt hätte. Aber sein Bild hatte sich in ihr eingebrannt. Unauslöschlich.

Sie gab sich einen Ruck, sprang auf und eilte von Ast zu Ast, bis sie über der Stelle ankam, an der er so plötzlich aufgetaucht und ebenso plötzlich wieder verschwunden war. So tief es ging, beugte sie sich dem Erdboden entgegen und suchte diesen nach Spuren ab. Den Baum verlassen hätte sie nur ungern. Kein Nelvin betrat den Waldboden ohne zwingenden Grund. Nelvins waren ein Volk der Baumkronen. Ihr Reich war die Welt zwischen Himmel und Erde.

Ibi musterte den Grund mit ihren scharfen Augen. Doch sie konnte nichts entdecken. Keinen Abdruck, nicht einmal einen geknickten Zweig. Nichts wies darauf hin, dass eben noch ein Mann hier gestanden hatte. Hatte sie nur geträumt?

Nein, das konnte nicht sein. Sie war sich ganz sicher, dass diese Erscheinung kein Traum gewesen war. Das fühlte sie mit einer Bestimmtheit, die sie sich nicht erklären konnte.

Sie schüttelte sich so heftig, dass sich ihre Federn in Wellen aufplusterten. Dann wandte sie sich ab und kletterte, sprang und schwang sich von Baum zu Baum, bis sie oberhalb von Piros Nest ankam und auf ihre Freunde hinabblickte, die munter plauderten und einander foppten.

Das Nest ruhte sicher in den Ästen eines mächtigen Dolderbaums. Nirgends nisteten Nelvins so gerne wie in den hohen Dolderbäumen, in deren weit verzweigtem Astwerk ganze Nelvinkolonien ihre Nester bauen konnten.

Ibi hielt sich verborgen und beobachtete ihre Freunde.

Einen schmerzlichen Augenblick lang fühlte sie sich durch das, was sie erlebt hatte, von ihnen getrennt. Und der sanfte Wind, das Rauschen der Blätter, das Plätschern eines nahen Baches, die Vogelstimmen und das Summen der Bienen, all diese gewohnten Laute kamen ihr sonderbar fremd und unwirklich vor.

Sie erschrak. Wie konnte eine einzige Begegnung eine so einschneidende Wirkung haben? Sie die eben noch so vertraute Welt wie mit anderen Augen sehen lassen? Was hatte der alte Mann mit ihr angestellt? Was wollte er von ihr? Und trotz der Wärme dieses noch jungen Tages fröstelte sie.

Umso lieber belauschte sie das Gespräch ihrer Freunde.

Klipper, Tork, Piro … wie wohltuend diese Namen klangen.

Und mit jedem der Worte, die von den Freunden bis zu ihr heraufdrangen, kehrte sie wieder ein Stück zurück in die vertraute Wipfelwelt ihres Volkes.

«Frrr! Ich platze», hörte sie Klipper stöhnen. «Tork, Tork!

Eine Handvoll Mellfrüchte hast du gesagt. Aber du hast ein Nest davon angeschleppt.»

«Beklagst du dich etwa?», fragte Tork. «Dabei konntest du den Schnabel nicht oft genug vollstopfen. Für Ibi ist nichts übriggeblieben.»

«Selber schuld», maulte Klipper. «Was treibt sie sich auch so lange rum? Und überhaupt: Frisch geerntet, frisch gegessen. So heißt es doch. Frrr, herrlich ist es hier. So ruhig und abgeschieden.»

Seine Augen schlossen sich und aus seiner Kehle drang ein wohliges Gurren, während er mit den Klauen zärtlich über seinen prallen Bauch strich.

«So ohne den Schwarm von Vettern, Kusinen und Basen, wolltest du wohl sagen?», meinte Piro und lachte keckernd.

«Ohne all die lieben Verwandten, mit denen du sonst teilen müsstest.»

«Richtig, mein lieber Piro. Nun, du wirst dieses Nest wohl nicht ohne Grund so fernab deiner … lieben Verwandten gebaut haben», gab Klipper, der auch nicht auf den Schnabel gefallen war, zurück. Den Rippenstoß, den er sich dafür einfing, steckte er wie eine Auszeichnung weg.

«Wo Ibi nur bleibt?», fragte Tork und sah sich suchend um.

«Bin schon da», rief Ibi. Sie lugte zwischen den Blättern hervor und zeigte sich ihren Freunden. Satt und faul blinzelten diese gegen das Sonnenlicht zu ihr empor.

«Du kommst zu spät, Ibi», sagte Tork bedauernd. «Klipper hat deine Portion schon verdrückt.»

«Heh! Du und Piro, ihr habt euer Teil auch weggesteckt», wehrte sich Klipper.

«Nicht weggesteckt», meinte Piro. «Versteckt, Klipper. Vor deinem Gierschnabel versteckt. Hier, Ibi, ist noch reichlich für dich.»

«Und hier noch mehr als genug», sagte Tork, der ebenfalls etliche der vor Klippers Unersättlichkeit geretteten Früchte hervorzauberte.

«Was? So viel noch?» Klippers Augen glänzten angesichts der leckeren Herrlichkeit. «Langsam, Freunde. Frisch geerntet, frisch geteilt. So heißt es doch. Wo ist mein Teil?»

«Ich dachte, du platzt schon?», wunderte sich Piro.

«Schon gut. Ihr könnt ihm meinen Teil gerne geben», sagte Ibi. «Ich habe keinen Hunger.»

«Frrr, her damit!», jubelte Klipper und schon hatte er sich die saftigsten Früchte aus den Klauen seiner beiden Freunde geschnappt. Um dann mit vollem Mund, immerhin mit einem Anflug von Besorgnis, zu fragen: «Bist du krank?»

«Nein, ich … es ist nur …»

Ibi zögerte. Sollte sie ihren Freunden von dem alten Mann erzählen? Und von dem, was er gesagt hatte? Aber das konnte sie nicht, auch wenn sie es gewollt hätte. Es war, als hätte sich der Finger des Alten nicht nur über seine eigenen, sondern auch über ihre Lippen gelegt und diese versiegelt.

In diesem Augenblick hörten sie von hoch oben einen Schrei. Die Äste über ihnen barsten wie in einem Sturmwind, etwas brach durch die Zweige, zerfetzte die Blätter und stürzte auf sie herab.

Sie stoben auseinander, als hätte derselbe Sturm sie davongewirbelt. Das Etwas schlug wuchtig inmitten ihres Nestes auf, riss es aus der Verankerung und krachte mit dem Nest tiefer und tiefer, bis es endlich in den untersten Armen des Dolderbaums zum Stillstand kam.

Eine beklemmende Stille folgte auf den Tumult. Nur Wind, Blätterrauschen und Bachgemurmel waren zu hören. Dann begannen die Vögel wieder zu zwitschern, und die Bienen summten ihrem Tagwerk nach, als wäre nichts geschehen.

«Frrr, was war das?», flüsterte Tork.

«Du meinst wohl, was ist das?», sagte Klipper leise. «Es ist nämlich noch da.»

«Na gut, meinetwegen. Was ist das?»

«Weiß ich es?», erwiderte Klipper.

«Ich hab nicht dich gefragt.»

«Wen denn?»

«Na, irgendwen.»

«Seht doch nur, mein Nest!», jammerte Piro leise. «Mein schönes Nest! Kurz und klein geschlagen hat es dieses ‹Was ist das?›. Und wenn ihr gerade beim Fragenstellen seid … ich hätte da auch eine. Woher kommt es?»

«Fragst du mich das?», erkundigte sich Klipper vorsichtig.

«Ach, hör schon auf», schimpfte Tork. «Lasst uns lieber nachsehn.»

«Ich weiß nicht», meinte Piro. «Es könnte gefährlich sein.

Was meinst du, Ibi?»

Doch Ibi hörte nicht auf das Plappern ihrer Freunde. Er kommt!, konnte sie nur immer wieder denken. Eine unwiderstehliche Kraft zog sie nach unten, Ast für Ast, bis sie die Reste des Nests erreicht hatte.

Ein Arm hing über den Rand des zerrissenen Nestes. Vorsichtig fasste Ibi nach der Hand. Die Haut war glatt und warm.

Noch nie zuvor hatte sie so etwas berührt. Über sich hörte sie die Freunde, die ihr gefolgt waren.

«Frrr, sei vorsichtig, Ibi!», warnte Piro leise.

«Ist es tot?», fragte Klipper neugierig.

«Nein, ich glaube nicht», antwortete Ibi.

«Woher weißt du das?», fragte Klipper.

«Sie hat nicht gesagt, dass sie es weiß. Sie glaubt es», wies ihn Tork zurecht.

«Sie weiß es nicht, sie glaubt es», äffte ihn Klipper nach.

«Sag doch gleich, sie isst es nicht, sie kaut es. Wo soll da der Unterschied sein?»

«Schscht. Seid still!», zischte Ibi.

«Was siehst du?», wollte Piro wissen.

«Es ist ein … Mensch», antwortete Ibi.

«Männchen oder Weibchen?», fragte Klipper.

«Ein Männchen … ach, Unsinn, ein Mann», gab Ibi kopfschüttelnd zurück. Klipper war wirklich unglaublich. In solch einem Moment so eine Frage zu stellen.

«Alt oder jung?», plapperte Klipper unermüdlich weiter.

«Groß oder klein, dick oder dünn … halt doch den Schnabel!», schimpfte Tork, dem Klippers Arglosigkeit entschieden zu weit ging.

Ibi streckte eine Klaue aus und strich die langen, braunen Haare des Mannes aus seiner Stirn. Nachdenklich legte sie den Kopf zur Seite und betrachtete das Gesicht. Es war jung, doch schon früh von Wind und Wetter gegerbt. «Ist er es?», murmelte sie.

In diesem Augenblick stöhnte der Fremde und schlug die Augen auf. Sie waren tiefschwarz. Ohne jedes Augenweiß. Wie glänzende, glatt polierte Steine. Entsetzt zuckten die Freunde zurück, jagten auseinander und verbargen sich zwischen den Blättern.

Der junge Mann stöhnte und stammelte: «Wo … wo bin ich? Was …? Wer … ist da? Jemand ist …»

Er versuchte sich aufzurichten. Doch gleich darauf sank er mit einem Ächzen zurück. Seine Augen schlossen sich wieder, und sein Kopf sackte zur Seite.

«Frrr, jetzt ist er tot», meinte Tork.

«Weißt du es oder glaubst du es?», fragte Klipper.

«Fangt ihr schon wieder an?», stöhnte Piro.

«Er ist nicht tot», sagte Ibi. «Schaut euch doch seine Brust an. Er atmet.»

Vorsichtig näherten sich die Freunde dem Bewusstlosen und betrachteten ihn genauer. Seine Kleidung war einfach.

Ein offenes Hemd, eine Hose, die knapp über die Knie reichte, ein Gürtel, in dem ein langes Messer steckte, und derbe, hohe Stiefel. Mehr hatte er nicht bei sich.

«Meine Frage ist immer noch offen», sagte Piro. «Woher kommt es … oder er?»

«Na ja, von irgendwo da … oben», meinte Tork und wies in die Baumkrone über ihnen.

Sie blickten unsicher nach oben. Das dichte Laubwerk der Bäume, unter dem sie so sicher und im Verborgenen lebten, tauchte den Wald in ein grünes Halblicht. Direkt über ihnen aber, dort, wo der Sturz des Fremden eine Bresche in die Krone gerissen hatte, zeigte sich offener Himmel.

«Vielleicht sollten wir ihn liegen lassen», schlug Piro vor.

«Ich könnte woanders ein neues Nest bauen.»

«Frrr, wie kannst du so etwas sagen?», erwiderte Ibi aufgebracht. «Wenn du hier liegen würdest … glaubst du, wir würden dich zurücklassen?»

«Das ist doch nicht dasselbe», antwortete Piro kleinlaut.

«Er ist kein … Nelvin, keiner … von uns.»

«Er lebt. Das genügt mir», widersprach ihm Ibi mit fester Stimme.

«Danke», hörten sie da plötzlich den Fremden sagen.

Die Freunde zuckten zusammen und starrten ihn an. Der Fremde war bei Bewusstsein! Er hatte sie gehört!

Der junge Mann hatte die Augen wieder geöffnet. Aber jetzt waren sie nicht mehr schwarz wie Steine. Jetzt waren es wirkliche Augen. Mit hellem Weiß um die graugrüne Iris.

Nicht weniger entsetzt über die plötzliche Veränderung stoben die Nelvins wieder auseinander und verbargen sich im schützenden Blätterdach.

Mühsam setzte sich der junge Mann auf und sah sich verwirrt um. «Wo bin ich? Bist du wach, Dhug, oder träumst du? Was waren das für Wesen? Wie Menschen in Vogelgestalt.

Von Kopf bis Fuß mit Federn bedeckt und mit … Schnäbeln im Gesicht. Und wie schnell sie waren. Wie ein Vogelschwarm.

Schwirr und weg! Was hat der eine gesagt? Nel … ja, Nelvin, das war’s. Aber vielleicht ist es nur ein Spuk, ein Waldzauber.»

«Frrr, Spuk, Waldzauber? Schneckenfurz!», stieß Klipper aufgebracht aus dem schützenden Dickicht hervor.

«Schscht!», zischte Tork.

Der junge Mann sah sich verwundert um. Doch da er niemanden entdecken konnte, rief er: «Ihr müsst euch nicht vor mir verstecken. Ich tue euch nichts. Seht her!» Er zog sein Messer aus dem Gürtel und hielt es ihnen entgegen.

Dann ging alles blitzschnell. Eine Federgestalt brach aus dem dichten Laub hervor, schwang eine Schleuder und ein Stein sauste auf den Fremden zu. Doch fast gleichzeitig tauchte ein zweites Vogelwesen auf, das ebenso rasch eine Schleuder schwang. Die beiden Steine prallten knapp vor der Stirn des jungen Mannes aufeinander, zischten an seinem Kopf vorbei und schlugen dumpf auf dem Waldboden auf. Alles geschah so schnell, dass er die Bewegungen mehr ahnte als sah.

«Frrr, bist du verrückt geworden, Tork?», stieß Ibi wütend hervor. «Du hättest ihn töten können.»

«Und das werde ich auch. Hast du nicht gesehn? Er hat sein Messer gezogen.»

Rasch zog er noch einen Stein hervor und ließ die Schleuder wieder bedrohlich kreisen.

«Ich habe das Messer nicht … gezogen», widersprach der Fremde eilig. «Ich wollte es weglegen. Ich will euch wirklich nichts tun. Das könnt ihr mir glauben!»

«Ich glaube ihm, Tork», sagte Ibi.

Tork zögerte, doch dabei ließ er den Fremden nicht einen Augenblick aus den Augen und hielt die Schleuder und einen Stein bereit.

«Du kommst von … da oben?», fragte Klipper, der wie Piro den Freunden zu Hilfe geeilt war, neugierig. «Kannst du denn fliegen?»

«Er ist nicht geflogen», sagte Tork, verärgert über die Unterbrechung. «Er ist gefallen.»

«Vielleicht hat er nur seine Flügel dabei verloren», meinte Klipper.

«Frrr, du Hohlschnabel», schalt ihn Tork. «Menschen fliegen nicht. Menschen haben keine Flügel.»

«Das ist nicht ganz richtig», sagte der Fremde. «Ich bin geflogen. Aber dann bin ich gefallen.»

«Siehst du, Tork!», triumphierte Klipper. «Wer ist nun der Hohlschnabel?»

«Was soll das? Kannst du nun fliegen oder nicht?», wunderte sich Piro.

«Nein, aber ich bin dennoch geflogen. Auf der Thusis.»

«Thusis? Was ist das?», fragte Piro. «Ein Vogel? Der muss ja ganz schön groß sein, um dich zu tragen.»

«Nein, die Thusis ist kein Vogel. Sie ist ein Propter.»

«Ein was?», entfuhr es Tork.

«Ein Propter», erklärte der sonderbare Ankömmling. «Ein Sonnwindfrachter.»

Die Nelvins schwiegen. Was soll man auch sagen, wenn die Antworten nur noch mehr Verwirrung stiften?

Ibi versuchte es mit einer einfacheren Frage: «Du hast zu Dhug gesprochen. Wer ist das? Ist er auch hier? Ist er auch … geflogen und gefallen?»

«Aber nein, das bin ich. Dhug Ansken ist mein Name. Ich habe mit mir selber gesprochen.»

«Na, so was», meinte Klipper verblüfft. «Hat zwei Namen, spricht mit sich selber, aber ist nur einer. Frrr, sind alle Menschen so?»

«Irgendwie verstehen wir uns nicht richtig», seufzte der junge Mann. «Ich will versuchen, euch alles zu erklären. Aber zuerst einmal, hier mein Messer. Nimm es ruhig … Tork. So heißt du doch?»

Er hielt ihm sein Messer entgegen. Tork zögerte, dann ließ er sich auf den Rand des Nests herab, nahm das Messer und betrachtete es nachdenklich.

Schließlich gab er sich einen Ruck. «Hier, du kannst es wiederhaben. Ich glaube dir … Dhug Ansken.»

«Das ist ein guter Anfang», erwiderte dieser und atmete erleichtert auf. «Ihr könnt mich Dhug nennen. Nur Dhug.

Dann erübrigt sich das mit den zwei Namen», schloss er mit einem Lächeln.

Die Nelvins drängten näher heran und stellten sich vor.

«Ich heiße Ibi.»

«Piro.»

«Ich bin Klipper. Und ich spreche nie mit mir selber.»

«Gratuliere», meinte Dhug. «Du scheinst ja ein … rundum gesunder Bursche zu sein.»

Tork und Piro prusteten vor Lachen. Es war offensichtlich, worauf Dhug anspielte. Auf Klippers untersetzte und ziemlich beleibte Gestalt.

Klipper warf ihnen wütende Blicke zu und seine Kopffedern stellten sich auf. Doch dann zuckte er mit den Schultern und legte die Klauen liebevoll auf seinen Bauch.

Dhug betrachtete seine unfreiwilligen Gastgeber. Feine Federn in grünen und braunen Farbtönen bedeckten ihre ganzen Körper. Kein Wunder, dass er sie zwischen den Blättern nicht hatte sehen können. Die Farben ihrer Federkleider verschmolzen mit der Umgebung und verbargen sie vor neugierigen Blicken.

Einen Augenblick herrschte Schweigen. Und während seine Blicke über ihre Vogelgestalten glitten, begutachteten sie ihn nicht weniger neugierig und gespannt. Dabei legten sie ihre Köpfe von einer Seite auf die andere und gaben sanft gurrende Laute von sich.

Die Nelvins waren gut einen Kopf kleiner als er und zart gebaut. Selbst Klipper, trotz seiner rundlichen Fülle. Doch ahnte Dhug, dass in diesen Gestalten mehr Kraft steckte, als es den Anschein hatte. Unter diesen Federkleidern verbargen sich offensichtlich kräftige Muskeln, wie die Schnelligkeit, mit der sie sich bewegten, vermuten ließ.

Am deutlichsten war dies an den langen, starken Fingern zu erkennen, die in gekrümmten Nägeln endeten und etwas Klauenartiges an sich hatten. Ihre Füße unterschieden sich kaum von ihren Händen und hatten lange und bewegliche Greifzehen.

Doch trotz all dieser Merkmale, die sie Vögeln so ähnlich machten, hatten die Nelvins auch viel Menschliches an sich.

Nicht nur ihren aufrechten Gang und die Fähigkeit, mit kehligen, gurrenden Stimmen zu sprechen.

Es waren vor allem ihre Gesichter, die ihm wie ein wunderliches Spiegelbild seines eigenen erschienen. Und das erstaunte ihn noch mehr als alles Andersartige an ihnen. Denn diesen Gesichtern fehlte etwas Entscheidendes: Sie hatten keinerlei Mimik. Sie konnten nicht lächeln, keine Grimassen schneiden oder sich sonst irgendwie verziehen. Nicht mit diesem alles beherrschenden, gebogenen Schnabel.

Dennoch fehlte nichts. Denn alles war in ihren hellwachen Augen zu erkennen. Glück und Trauer, Abscheu und Freude, Spott und Schabernack, und wenn es sein musste, sicher auch Wut und ein unbändiger Mut, vor denen man sich besser in Acht nahm.

«Und?», fragte Klipper schließlich ungeduldig. «Wolltest du uns nicht etwas erklären?»

«Ja, richtig. Obwohl … ich weiß nicht so recht, wie ich beginnen soll. Ihr könnt sicher vieles nicht verstehen.»

«Keine Sorge», meinte Tork. «Fang einfach an. Uns werden die passenden Fragen schon einfallen.»

Dhug lachte. «Dass Fragen eure Leidenschaft sind, habe ich schon bemerkt.»

Doch noch zögerte er. Es kam ihm seltsam vor, zwischen diesen gefiederten Wesen zu sitzen und ihnen zu erzählen, was geschehen war. Als wäre er mal so eben auf einen Sprung zu einer harmlosen Plauderei mit Freunden vorbeigekommen.

Dabei waren sie einander doch fremd, und nicht nur, weil sie Nelvins waren und er ein Mensch.

Aber von diesen Wesen ging eine so unbefangene Neugier aus und eine Bereitwilligkeit zur Zuwendung, dass er sich unter ihnen geborgen und sicher fühlte. Wie in einem Nest, ging es ihm unwillkürlich durch den Kopf. Zudem schien ihm von ihren Steinschleudern keine Gefahr mehr zu drohen.

Diese hatten sie inzwischen wieder in den Beuteln, die sie trugen, versorgt. Und außerdem hatte er Hilfe bitter nötig.

«Also gut», sagte er und begann. «Vor etwa vier Tagen sind wir von Gona, einem Handelsposten am Rande der östlichen Marschlande, aufgebrochen. Mit einer sonderbaren Fracht …»

2. Kapitel

Der Flug der Thusis

Skane Blaken blickte zufrieden über das Deck des Schiffes.

Sie hatten gute Fahrt, der Himmel war blau und strahlend, und die Fracht, die sich fest vertäut auf dem Deck türmte, versprach guten Lohn. Was konnte das Herz eines Kapitäns mehr begehren?

Er wandte sich zu Dhug Ansken um, der am Steuer stand.

«Ay, Dhug. Alles klar?»

«Ay, Käpt’n, alles klar», antwortete dieser.

«Und bei dir da oben, Grusch?», rief Blaken in die Wanten hinauf. «Wie geht’s unseren Schoßtierchen?»

Grusch, ein vierarmiger Melrud aus den Baumkronen der Firnwälder, verzog sein breites Froschgesicht. Er schwang sich unter die Ballonhülle, hakte sich mit seinen sechs Gliedmaßen fest in die Wanten und knurrte: «Schoßtierchen? Verdammt, Käpt’n, das hier oben ist kein Streichelzoo!»

Und belehrend fuhr er fort: «Die Wartung der Aerophagen ist eine Wissenschaft, die mit Ernst zu betreiben und mit Achtung und Respekt vor den …»

Blaken lachte: «Schon gut, schon gut, erspar uns deine Vorträge. Ein einfaches ‹Ay, Käpt’n, alles klar!› tut’s auch.»

«Ay, Käpt’n. Alles klar, Käpt’n», brummte Grusch. Doch konnte er sich ein letztes Maulen nicht verkneifen. «Patati und Patata, Käpt’n.»

Blaken tat, als hätte er nichts gehört. Er kannte und schätzte seinen Tankmeister und ließ ihm gerne mal was durchgehen.

Als keine Reaktion kam, schwang sich der Melrud wieder zwischen Ballonhülle und Doppeltank und machte sich beleidigt an den Ventilen zu schaffen.

Blaken schmunzelte und blinzelte Dhug zu. Dann reckte er sich, lehnte sich an die Reling und ließ die Augen über den Frachter schweifen. Sein Blick glitt über die langgestreckte Ballonhülle, die festen Taue, die das Schiff mit der Hülle verbanden, und die seitlich am Rumpf angebrachten Sonnwindsegel, die aussahen, als würden sich durchscheinende Häute zwischen knochigen Fingern spannen. Schließlich blieb sein Blick an den Kisten hängen, die sich mittschiffs stapelten.

«Was für eine Fracht, Dhug!», meinte er. «Kwarn wird ein hübsches Sümmchen dafür springen lassen.»

«Mir ist nicht wohl dabei, Käpt’n. Wir wissen nicht, was in den Kisten ist. Geschweige denn, woher sie stammen und für wen sie bestimmt sind.»

«Was soll’s? Je geheimnisvoller die Fracht, desto höher der Preis. Das genügt mir.»

«Wie Ihr meint, Käpt’n. Aber ich werde das Gefühl nicht los, dass selbst Schmuggelware nicht so heiß ist wie das hier.

Schmuggeln ist ein ehrlicheres Geschäft.»

Blaken lachte. «Nun höre sich das einer an. Ich kenne ein paar Handelszonenwächter, die nicht sehr begeistert wären, solche Ansichten zu vernehmen.»

«Ach, Ihr wisst schon, was ich meine, Käpt’n.»

«Schon gut, Dhug. Lassen wir das. Das führt zu nichts. Wir haben die Fracht in Gona übernommen, liefern sie … ehrlich … in Boria ab, Kwarn zahlt und wir lassen es uns eine Weile gut gehen.»

Blaken ging langsam über das Schiff und prüfte die Seile, die die Fracht hielten. Am Bug wandte er sich um und sah nachdenklich zu Dhug hinüber. Als er über sich Grusch bemerkte, der sich wie eine Spinne in ihrem Netz durch die Wanten hangelte, rührte er sich nicht.

Der Melrud hakte sich bequem in die Taue neben Blakens Kopf und brummte: «Der Junge ist gut, Käpt’n.»

«Du sagst es», antwortete Blaken. «Der beste Leichter, den wir je hatten.»

«Und wir haben schon einige kommen und gehen sehen.»

«Wohl wahr, Grusch.»

«War manche Krücke dabei», meinte der Melrud. «Dhug ist ein ganz anderes Kaliber.»

«Und wie viele Fahrten hat er mitgemacht, Grusch?», fragte Blaken.

«Drei, Käpt’n. Erst drei. Und Ihr lasst ihn schon ans Steuer.

Und tut recht daran.»

«Es ist unglaublich, wie schnell er lernt», meinte Blaken und man hörte ihm den Stolz an. «Er könnte eines Tages die Thusis führen, wenn ich nicht mehr …» Er verstummte.

Ein Weile herrschte Schweigen. Die beiden, die schon so manches Jahr gemeinsam auf der Thusis gesegelt waren und so manchen Sturm überstanden hatten, verstanden sich auch ohne weitere Worte.

«Der Junge scheint nicht sehr glücklich mit unserer Fracht zu sein», brach Grusch das Schweigen. «Hat Ahnungen, wie ich gehört habe. Was haltet Ihr davon, Käpt’n?»

«Nichts», widersetzte Blaken barsch. Doch dann seufzte er.

«Allerdings muss ich gestehn, dass er mich mit seinen Ahnungen etwas unruhig macht. Und wie steht es mit dir?»

«Ihr regelt die Geschäfte, Käpt’n, ich die Ventile.»

«Gut, lassen wir das Grübeln. Übrigens, Grusch, wenn wir schon von Ventilen reden … könnte es sein, dass wir sinken?»

«Sinken? Verdammt will ich sein, Käpt’n. Ihr habt recht.»

«Und was klebst du dann noch hier herum, als wolltest du Fliegen fangen?»

Grusch sperrte sein breites Maul nach Luft schnappend auf.

Dann gerieten seine sechs Glieder in Bewegung und er sauste in Richtung des Doppeltanks. Bald darauf stieg die Thusis wieder auf die richtige Flughöhe.

Skane Blaken ging zurück zum Heck und stellte sich neben Dhug. «Gute Straße voraus?»

«Ja, schnurgerade. Wie geschaffen für eine ruhige Fahrt.

Seht selber, Käpt’n.»

Er nahm die Brille mit den Sonnwindlinsen ab und reichte sie Blaken. Dieser setzte sie auf und blickte über den Bug der Thusis hinweg auf den freien Himmel. Deutlich sah er die Lichtteilchen der breiten Sonnwindlinie, auf der die Thusis Richtung Nordwest steuerte. Sie hatten einen starken Hauptstrang erwischt. Zufrieden gab er Dhug die Sonnwindlinsen zurück.

In diesem Augenblick hörten sie Grusch rufen: «Schiff in Sicht! Steuerbord! Richtung Nordost!»

«Nordost?», murmelte Blaken erstaunt und zugleich mit aufkeimendem Misstrauen. «Da gibt es doch keinen Handelsposten der Gilde. Donner und Plankenbruch, das gefällt mir nicht!»

Er kletterte in die Wanten, zog sein Fernrohr hervor und musterte das Schiff, das sich rasch näherte. Dann sprang er wieder herab und schob das Rohr mit einer entschlossenen Bewegung zusammen.

«Was habt Ihr gesehn, Käpt’n?», fragte Dhug.

«Nichts Gutes», erwiderte Blaken mit grimmigem Gesicht.

«Piraten?»

Blaken nickte und übernahm das Steuer. Er warf Dhug einen prüfenden Blick zu. Doch zu seiner Freude zeigte der junge Mann keine Anzeichen von Furcht. Gelassen wartete er auf die Befehle seines Käpt’ns. Diese ließen nicht lange auf sich warten.

«Grusch, komm runter und halt dich Steuerbord!», befahl Blaken. «Und du Dhug, ab nach Backbord. Haltet euch bei den Schnellsegeln bereit. Auf mein Zeichen kappt ihr die Seile.

Und achtet auf die Seile, die die Fracht halten. Das wird keine Vergnügungsfahrt.»

«Ay, Käpt’n!», riefen die beiden wie aus einem Munde.

Sie eilten zu den Schnellsegeln, die nur für den Notfall bestimmt waren, und zogen ihre Messer.

«Was hat er vor, Grusch?», fragte Dhug.

«Was er vorhat? Nun, er wird ein paar Halunken die Suppe mächtig versalzen. Blaken ist ein alter Hase, der so manchen Haken zu schlagen versteht.»

Inzwischen war das Schiff der Piraten so nahe herangekommen, dass Dhug es deutlich sehen konnte. Es war ein Schnellsegler, größer als die Thusis, mit zwei Ballonhüllen und acht Sonnwindsegeln auf jeder Seite. Das Piratenschiff trug keine Fracht. Es würde die Thusis bald eingeholt haben.

Doch Blaken machte keinerlei Anstalten, die Geschwindigkeit zu erhöhen.

«Warum unternimmt der Käpt’n denn nichts?», wunderte sich Dhug.

«Wart’s ab, mein Junge, wart’s ab!», knurrte Grusch und spannte jeden Muskel an, bereit, die Befehle des Käpt’ns blitzschnell auszuführen.

Die Piraten fuhren jetzt längsseits, auf derselben Sonnwindlinie wie die Thusis. Dhug konnte die schwer bewaffneten Gestalten zählen. Sieben Mann, die Schmährufe und Drohungen herüberbrüllten, darunter auch zwei Melrud, die in den Wanten hingen. Die Scharten an den Aufbauten des Schiffes sprachen eine bedrohliche Sprache.

«Ich wusste nicht, dass Melrud unter die Piraten gehen», sagte Dhug.

«Ob Mensch, ob Melrud, Gesindel gibt es überall», gab Grusch trocken zurück.

Das Piratenschiff näherte sich unaufhaltsam. Schon machten sich die finsteren Gestalten bereit, die Thusis zu entern.

In diesem Augenblick rief Blaken mit scharfer Stimme: «Dhug, kapp das Seil! Grusch, halt dich bereit!»

Dhug hieb das Seil durch. Das große Schnellsegel klappte auf und die durchscheinenden Häute blähten sich im Sonnwind. Die Thusis wurde herumgerissen und wendete fast auf der Stelle. Das Heck schwang haarscharf an der Bordwand des Piratenschiffs vorbei und riss die Segel des Gegners ab.

Das Piratenschiff schlingerte wild und kehrte sich im Sonnwind. Zwei Piraten stürzten mit einem schrillen Schrei in die Tiefe. Die anderen klammerten sich wild fluchend an allem fest, was ihnen gerade in die Hände kam.

«Grusch, kappen!», befahl Blaken mit lauter Stimme, die doch vollkommen ruhig und gelassen war.

Dhug war voller Bewunderung für den Käpt’n. Er hatte schon viel von Blakens Kühnheit und Unerschütterlichkeit gehört, doch heute erlebte er ihn zum ersten Mal in einem echten Gefecht.

Jetzt hieb auch der Melrud das Seil durch und das zweite Schnellsegel klappte auf. Die Thusis machte einen Sprung vorwärts und fuhr mit zunehmender Geschwindigkeit Richtung Südost. Durch den peitschenden Fahrtwind hörten sie hinter sich die wütenden Schreie der Piraten verklingen.

«Hurra!», rief Dhug. «Käpt’n, das war ein Meisterstück!»

«Danke für die Blumen», brüllte Blaken durch den sausenden Fahrtwind zurück. «Aber freu dich nicht zu früh. Das war erst der Anfang.»

«Was soll das heißen, Grusch?», rief Dhug. «Wir haben die Piraten doch abgehängt.»

«Die Piraten waren das kleinste Übel, mein Junge», antwortete der Melrud. «Jetzt beginnt der Spaß erst. Wir segeln viel zu schnell mit zu viel Fracht.»

«Und?»

«Und ist gut. Wenn wir diese Fahrt gestoppt haben, werde ich mich gerne mit einem ‹Und?› anschließen.»

«Aber wir müssen die Schnellsegel doch nur wieder einziehen», schlug Dhug vor.

«Einziehen? Was du nicht sagst, Dhug. Hast du nicht eine Kleinigkeit übersehen? Wir haben die Seile gekappt, Dhug!

Tja, anders ging das leider nicht. Um so schnell wenden zu können, muss man die Seile kappen. Unser Sieg hat seinen Preis gehabt.»

In diesem Augenblick befahl Blaken: «Zieht die kleinen Segel ein. Schön langsam und vorsichtig. Gut so! Lasst euch Zeit. So einen Ritt werdet ihr selten genießen. Fertig?»

«Ay, Käpt’n. Segel sind eingeholt», kam die Antwort.

Die Thusis glitt noch immer wild voran. Obwohl sie die kleinen Segel eingeholt hatten, hatten sie kaum an Fahrt verloren. Dhug blickte in die Tiefe. Sie fuhren über eine endlos scheinende Waldlandschaft. Die Baumkronen unter ihnen verschwammen zu grünen Linien.

«Und nun das Hauptstück», rief Blaken mit kräftiger Stimme. «Grusch, hol zwei Äxte aus der Werkzeugkiste. Wartet auf mein Kommando, dann schlagt die Schnellsegel ab, so rasch ihr könnt. Und haltet euch fest! Das wird ungemütlich werden.»

«Jetzt hätte ich gerne zwei Hände mehr, Grusch», meinte Dhug, als ihm der Melrud eine Axt reichte. «So wie du.»

Grusch lachte grimmig. «Tja, kleiner Schönheitsfehler bei euch Menschen. Mach dir nichts draus», brummte er, während er sich steuerbord rittlings auf die Reling setzte. Dabei hielt er sich mit zwei seiner Hände fest, während er mit den anderen Händen die Axt schwang.

Dhug folgte seinem Beispiel und klammerte sich so gut es eben ging mit den Beinen an die Reling. Das Schiff ächzte gewaltig und knirschte in allen Planken. Über ihnen schwankte die Ballonhülle gefährlich hin und her. Würden die Taue halten?

«Jetzt!», befahl Blaken.

Wie besessen hieben sie auf die Halterungen der Segel ein.

Geschafft! Das Holz splitterte und zerbarst, und die Segel fielen wie die Flügel eines riesigen Schmetterlings taumelnd in die Tiefe. Der Frachter schlingerte noch einmal heftig, dann trieb er langsam Richtung Südost.

«Verdammt, die Kisten!», hörte Dhug Grusch in diesem Augenblick fluchen.

Dhug fuhr herum. In der Hitze des Gefechts hatten sie vergessen, auf die Fracht zu achten. Jetzt sah er, dass sich die Halteseile gelockert hatten. Die Kisten hatten sich verschoben, die Seile zerrissen und der ganze Stapel stürzte um.

Dhug warf sich wild gegen den Stapel, in der vergeblichen Hoffnung, das Unglück noch aufhalten zu können. Eine der Kisten streifte seinen Kopf. Ihm wurde schwindlig und kalter Nebel legte sich vor seine Augen. Wie durch Watte hörte er den Käpt’n verzweifelt rufen: «Grusch! Grusch! Was ist mit dir? Was? Was ist das?»

Dhug richtete sich mühsam auf. Das Sonnenlicht blendete ihn. Vor sich sah er Blaken wie einen riesigen Schatten auftauchen. «Dhug! Verflucht! Du auch? Nein, verdammt noch mal, nein! Das darf nicht sein!»

Blakens Hand bewegte sich wie eine Wand auf ihn zu und stieß ihn mit aller Kraft vor die Brust. Dhug stolperte rücklings gegen die Reling, seine Hände griffen ins Leere und er stürzte mit einem Schrei in die Tiefe.

3. Kapitel

Ein Riss in der Luft

Gespannt waren die Nelvins Dhugs Erzählung gefolgt. Nicht einmal Klipper hatte ihn unterbrochen. Es fiel ihnen schwer, sich das Gehörte vorzustellen. Sie wussten so wenig von der Welt außerhalb der Wälder, in denen die Nelvins fast unbeachtet lebten.

Nur selten verirrten sich andere Wesen in diese abgelegene Gegend. Manche von ihnen waren fahrende Händler gewesen, die versucht hatten, den Nelvins Waren zu verkaufen. Doch hatten sie bald einsehen müssen, dass in diesen Wäldern keine Geschäfte zu machen waren. Die Nelvins begegneten ihnen freundlich, aber trotz ihrer Neugier auch scheu und zurückhaltend. Sie zeigten kein Interesse an den Waren und waren erleichtert, wenn die Eindringlinge wieder fortzogen.

Vielleicht war es gut, dass sie nicht begriffen, warum dies so war. Die Wahrheit wäre nicht sehr schmeichelhaft gewesen.

Denn dass die Nelvins stets unbehelligt geblieben waren von den Wirren der Welt jenseits ihrer Wälder, hatten sie nur dem Umstand zu verdanken, dass sie in den Augen der Händler wertlos waren. Sie waren für diese seltenen Besucher uninteressant, nicht nur, weil sie nichts kauften, sondern vor allem, weil sie nichts besaßen oder herstellten, was ein Geschäft versprach. Das war ihr Glück. Anderen Völkern war es nicht so gut ergangen.

Als Dhug seinen Bericht beendet hatte, schloss er ihn mit den Worten: «Also, das ist meine Geschichte. Habt ihr noch Fragen?»

«Frrr, ich habe so viele Fragen, wie ich Federn am Leibe habe», meinte Tork und schüttelte sich.

«Und ich so viele Federn, wie ich Löcher im Bauch habe», klagte Klipper. «Zeit für eine Mahlzeit!»

Sie mussten lachen, und dieses keckernde Vogelgelächter war eine Erlösung für die Nelvins. Was ihnen Dhug erzählt hatte, erschien ihnen fremd und unheimlich. Doch zugleich zog es sie auch an, wie eine verführerische Stimme, die mit Abenteuern und unbekannten Fernen lockte. Dennoch hätten sie am liebsten niemals davon gehört oder gewusst, denn sie ahnten, dass es sie aus ihrem friedlichen Waldleben aufstörte. Ihre weite Heimat schien ihnen auf einmal zu eng zu sein, mit Grenzen, die aufzubrechen drohten.

Auch Dhug konnte sich den Schrecken, denen er so knapp entgangen war, nicht entziehen. Noch einmal nahm ihn das Geschehen gefangen und legte sich wie eine drückende Last auf ihn.

«Gegen einen Schluck Wasser hätte ich auch nichts», sagte er mit heiserer Stimme. «Ich verdurste.»

«Dem lässt sich leicht abhelfen», erwiderte Piro. «Los, zeigen wir ihm, was für Gastgeber Nelvins sein können!»

Tork, Klipper und Piro schwirrten davon wie aufgescheuchte Spatzen. Bald waren ihre Pfiffe nicht mehr zu hören.

«Piro hat es eilig», sagte Ibi. «Er hat wohl etwas wiedergutzumachen.»

«Weil er mich hier liegen lassen wollte?», fragte Dhug.

«Ja, das war nicht richtig. Verzeih.»

«Schon gut. Übrigens, wir sitzen hier so seelenruhig in diesem kaputten Nest», meinte Dhug und sah sich beunruhigt um. «Glaubst du denn, dass es hält? Ein Absturz reicht mir für heute.»

«Du hast recht», antwortete Ibi. «Komm, ich weiß einen besseren Platz. Kannst du laufen?»

«Keine Sorge. Außer ein paar Kratzern und einer Sammlung blauer Flecken bin ich heil geblieben.»

«Gut, dann komm!», forderte ihn Ibi auf.

Sie schwang sich aus dem Nest und lief aufrecht von Ast zu Ast, bis sie zwischen den Blättern verschwand.

Dhug sah ihr mit offenem Mund nach. Schon nach wenigen Augenblicken kehrte Ibi zurück und fragte erstaunt: «Frrr, was ist mit dir? Warum kommst du nicht mit?»

«Wie sollte ich? Ich bin kein Nelvin. Ihr spaziert durch die Bäume, als gäbe es hier Straßen und Gassen. Ich würde nach drei Schritten drei Stockwerke tiefer auf dem Boden landen.»

«Und was nun?», fragte Ibi ratlos.

Dhug lachte. «Na ja, ich bin zwar ein grober, schwerfälliger Klotz, aber immerhin … klettern kann ich. Und mit ein wenig Hilfe da und dort wird es schon gehen.»

«Gut», sagte Ibi erleichtert, «dann folge mir!»

Sie kamen recht gut voran. Ibi musste Dhug weniger helfen, als sie befürchtet hatten. Allerdings verstand sie es auch, einen Weg über breite und sichere Äste zu wählen, auf denen Dhug gut folgen konnte. Und wenn es gar nicht mehr weiterging, griff sie ihm hilfreich unter die Arme, wobei er nicht schlecht über ihre Kraft staunte. Er hatte sich nicht getäuscht. So leicht und zart sie und ihre Freunde erschienen, so kräftig waren sie doch.

Schließlich erreichten sie eine mächtige Astgabelung. Hier konnten sie wie in einer Hand sitzen. Bald tauchten Tork, Piro und Klipper wieder auf. Von Ibis Pfiffen geleitet, hatten sie die beiden schnell aufgespürt. Sie brachten Früchte und Nüsse mit und Wasser in geflochtenen Blättern. Während sie aßen und tranken, bemerkte Dhug, dass sich die drei heimliche Blicke zuwarfen und verstohlen kicherten.

«Was ist?», fragte er. «Ihr tut ja so verschwörerisch.»

«Sag du es ihm, Tork», meinte Piro.

«Nein, du», forderte ihn Tork auf.

«Ich? Warum ich? Das war nicht abgemacht. Dann schon lieber Klipper.»

«Kann nicht. Bin beschäftigt», brummte Klipper mit vollem Schnabel.

«Was ist denn los mit euch?», fragte Ibi.

«Wir haben was entdeckt», antwortete Tork. «Da … oben.»

«Genau, da oben», echote Piro.

«Sehr weit oben», ergänzte Klipper.

«Was denn?», drängte Ibi.

«Rat mal», sagte Piro. «Es ist groß …»

«… und hängt an etwas Großem …», fuhr Tork geheimnisvoll fort.

«Die Thusis!», platzte Dhug heraus. «Ihr habt die Thusis gesehn. Wo?»

«Frrr, das war viel zu leicht zu erraten», murrte Klipper und sah Tork und Piro vorwurfsvoll an.

«Hättest es ja selber besser machen können. Aber du wolltest ja nicht», entgegnete Piro.

«Nun spannt mich doch nicht so auf die Folter», stöhnte Dhug. «Wo ist sie?»

«Komm mit!», rief Tork.

Die Nelvins führten Dhug zu einem hohen Dolderbaum, dessen Krone weit über alle anderen Bäume ragte. Dort stiegen sie bis in die obersten Zweige, die unter Dhugs Gewicht gefährlich schwankten, und streckten die Köpfe ins Freie.

Piro wies Richtung Osten: «Da!»

«Das ist sie!», rief Dhug begeistert. «Heh, Käpt’n! Grusch!

Hier bin ich! Hier!», rief er und winkte mit einer Hand.

«Glaubst du, die hören dich?», fragte Klipper. «Das Schiff ist ziemlich weit weg.»

«Frag lieber, ob sie ihn hören wollen», meinte Ibi.

«Was soll das heißen?» Dhug sah sie verständnislos an.

«Der Käpt’n … hat er dich nicht hinabgestoßen?»

«Das ist wahr», antwortete Dhug. «Obwohl ich immer noch nicht verstehe, warum er das getan hat. Vielleicht war es ja ein Unfall. Vielleicht bin ich gefallen und er wollte mich festhalten.»

«Frrr, du hast aber was anderes erzählt», sagte Tork. «Das klang nicht nach Festhalten.»

«Und außerdem», wandte Piro ein, «wer weiß, ob da oben überhaupt einer ist, der dich hören kann.»

«Du hast recht, Piro. Ich muss auf das Schiff. Sofort!», stieß Dhug hervor.

Ibi sah ihn zweifelnd an. «Heute noch?»

«Heute noch. Wenn wirklich keiner auf dem Schiff ist, bedient auch niemand die Ventile. Wer weiß, wie lange sich das Schiff noch oben halten kann.»

«Also, worauf warten wir noch? Los!», trieb Tork sie an.

Sie kletterten tiefer, und wieder ging es von Baum zu Baum, von Ast zu Ast, bis Tork rief: «Hier muss es sein. Wartet!»

Er glitt den Baum hoch, auf dessen Ästen sie standen. Bald darauf war er wieder zurück und winkte ihnen. Sie stiegen hinauf, bis sie ins Freie sehen konnten.

«Hurra! Die Thusis!», rief Dhug. «Endlich! Aber …»

«Richtig, du sagst es. Aber … wie kommen wir da hinauf?», beendete Tork seinen Satz. «Keiner von uns kann fliegen. Das haben Nelvins und Menschen gemeinsam. Leider!»

«Du hast doch gesagt, dass sie irgendwann sinkt», dachte Piro laut nach. «Wir könnten doch einfach darauf warten.»

«Lieber nicht», sagte Dhug. «Das kann noch lange dauern.

Und wer weiß, ob sie bis dahin nicht schon davongetrieben und verloren ist.»

Ratlos blickten sie hinauf. Nun waren sie ihrem Ziel zum Greifen nahe und konnten es doch nicht erreichen.

Plötzlich stutzte Tork. «Frrr, was ist das?»

«Was?», fragte Dhug.

«Das Ding da an der Seite.»

«An der Bordwand?»

«Ja, so ein Ding mit Seilen und Hölzern.»

«Das ist das Fallreep.»

«Das was?», fragte Klipper.

«Das Fallreep. Seile mit Querhölzern», erklärte Dhug. «Eine bewegliche Leiter. Wenn du weißt, was ich meine.»

«Nein», erwiderte Klipper.

Dhug seufzte: «Also, so ein Fallreep kann man herablassen und daran zum Schiff hinaufklettern.»

«Das ist doch die Lösung. Lassen wir es herab und klettern wir hinauf», schlug Piro vor.

«Sicher», sagte Dhug. «Ganz einfach. Wenn man … auf dem Schiff ist.»

«Oje!», seufzte Piro.

«Womit ist das denn festgemacht, dieses Fall … reep?», erkundigte sich Tork.

«Es wird angebunden», antwortete Dhug. «Siehst du die Schnur da an der Reling?»

«Und ob ich die sehe. Gleich wirst du staunen. Ich schulde dir noch was. Stein gegen Stein!»

Tork zog seine Schleuder und einen scharfkantigen Stein hervor, schätzte kurz die Entfernung ab, schwang die Schleuder und … traf. Der scharfe Stein zerschnitt die Schnur, das Fallreep entrollte sich und schlug ganz in ihrer Nähe auf den Blättern auf.

«Hurra!», rief Dhug. «Und diesmal wirklich Hurra! Ohne Wenn und Aber. Stein gegen Stein, Tork. Alles vergeben und vergessen. Also, ich kletter hoch. Ihr wartet hier unten.»

«Nein, du gehst nicht allein», widersprach Ibi ihm mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete. «Wir kommen mit.»

«Was hast du denn, Ibi?», wunderte sich Piro. «So kenne ich dich gar nicht.»

Doch Ibi gab keine Antwort. Kurz angebunden sagte sie nur: «Gehen wir!»

Ihre Freunde wechselten erstaunte Blicke. Dann folgten sie Dhug und Ibi, die bereits das Fallreep hinaufkletterten. Oben angelangt, schwang sich Dhug über die Reling.

Die Nelvins zögerten kurz. Mit dem Fallreep hatten sie keine Mühe gehabt, aber vor den glatten Planken des Schiffsdecks scheuten sie zurück. Allzu unsicher bewegten sie sich auf diesem ungewohnt festen Grund, der so ganz anders war als die ihnen vertrauten luftigen Wege. Dass das schwebende Schiff unter ihrem Gewicht sanft schaukelte, konnte sie nicht beruhigen, sondern erhöhte nur ihr Unbehagen.

Dhug ließ den Blick über das Schiff gleiten. Alles schien unverändert. Wild verstreut lagen die Frachtkisten auf den Planken, aufgebrochen, mit zersplittertem Holz. Die Halteseile ringelten sich lose durch den wirren Haufen.

«Käpt’n?», rief Dhug. «Grusch? Wo seid ihr?»

Ibi schrie erschrocken auf. «Da, hinter den Kisten!»

«Grusch!», rief Dhug, als er den Melrud erkannte.

Dhug bahnte sich hastig einen Weg. Der Melrud lag halb unter einigen Kisten und schien sich mit den Armen an den Wanten emporzuziehen. Dabei sah er mit seltsam abwesendem Blick ins Leere. Dhug fegte die Kisten zur Seite.

«Was ist mit dir? Grusch?» Er wollte nach dem Melrud fassen, doch Ibi hielt ihn zurück.

«Seine Augen! Sieh doch nur!», stieß sie hervor.

«Was denn?», rief Dhug ärgerlich. Dann verstand er, was sie meinte. «Himmel, sie sind … ganz schwarz.»

Er riss sich los, packte Grusch an den Schultern und schüttelte ihn wild. «Grusch! Grusch! Sag doch was!»

Der Melrud bewegte langsam den Kopf und schien zu lauschen. Er öffnete den Mund, als wollte er etwas sagen. Doch nicht ein Wort war zu hören, nur ein langgezogener Seufzer, beinahe wie ein Stöhnen, verzweifelt und doch zugleich auch wie erlöst.

Dann geschah Entsetzliches. Das Gesicht des Melrud, sein ganzer Körper, alles zog sich zusammen, als würde eine ungeheure Kraft ihn ineinander falten. Es war, als würde sich im Inneren des Melrud ein Spalt auftun, in den Grusch hineingesogen wurde. Dann war für einen Augenblick nur noch eine schwarze Linie zu sehen, wie ein Riss in der Luft. Doch auch diese Linie löste sich auf und nichts blieb zurück.

Wie erstarrt stand Dhug da, die Hände immer noch dort, wo eben noch Gruschs Schultern gewesen waren.

«Dhug! Dhug!», hörte er eine ferne Stimme rufen.

Dhug erwachte langsam aus seiner Erstarrung. Er nahm alles nur noch wie durch einen Nebel wahr. Mühsam drehte er sich nach der Stimme um. Wie Schatten standen vier dunkle Gestalten vor ihm.

«Dhug! Du auch? Oh, nein! Das darf nicht sein!»

Das hat Blaken auch gesagt, schoss es Dhug durch den Kopf. Alles wiederholte sich. Wie eine Wand kam eine Hand auf ihn zu. Gleich würde sie ihn vor die Brust stoßen, er würde über die Reling und in die Tiefe stürzen.

Aber dann war alles anders. Die Hand fasste ihn am Arm, hielt ihn fest und er erkannte Ibis Stimme. «Bleib hier, Dhug!

Geh nicht auch fort!»

«Ich … ich gehe nicht fort», brachte Dhug mühsam hervor.

Langsam lichtete sich der Nebel vor seinen Augen.

«Dem Himmel sei Dank! Es ist vorbei», sagte Ibi.

«Was ist vorbei?», fragte Dhug, der die vier Nelvins wieder klar und deutlich sehen konnte.

«Deine Augen. Sie sind nicht mehr schwarz.»

«Meine Augen? Du meinst wohl die Augen von Grusch?»

«Er weiß es nicht, Ibi», sagte Piro.

«Was weiß ich nicht?»

«Das mit deinen Augen», antwortete Piro.

«So redet doch», rief Dhug ungeduldig. «Was ist mit meinen Augen?»

«Sie waren schwarz», erklärte Ibi. «So wie die von Grusch.

Und nicht das erste Mal.»

«Nicht das erste Mal?»

«Nein, als du in Piros Nest gestürzt bist, da waren deine Augen auch so schwarz. Aber dann waren sie wieder … anders.

So wie jetzt.»

«Anders?»

«Na, grün halt», meinte Klipper.

«Schwarz, wie die von Grusch?», murmelte Dhug. «Aber dann … dann müsste ich mich doch auch … zusammenziehn und schrumpfen … und in diesen Spalt gesogen werden.»

«Frrr, wovon redest du da?», fragte Tork. «Bist du krank?

Was meinst du mit schrumpfen?»

«Und was meinst du mit ‹in einen Spalt gesogen werden›, Dhug?», wollte Klipper wissen. «Klingt ja ziemlich … unappetitlich.»

«Aber ihr habt es doch auch gesehn», rief Dhug. «Ihr müsst es gesehn haben. Das, was mit Grusch passiert ist.»

«Na ja, der ist verschwunden», sagte Piro. «Du hast ihn angefasst und dann war er … weg. Einfach so. Frrr, weg!»

«Weg? Und sonst habt ihr nichts gesehn? Nichts … von Grusch und …» Er schreckte hoch und schrie auf: «Blaken!

Skane Blaken! Der Käpt’n! Wo ist er? Was ist mit ihm?»

Bevor sie noch etwas erwidern konnten, rannte Dhug über den Frachter und durchsuchte jeden Winkel des Schiffes. Vorsichtig taten es ihm die Nelvins gleich.

Nichts! Keine Spur von Skane Blaken. Und nicht ein einziger Hinweis darauf, was mit ihm geschehen sein mochte.

Verwirrt und erschöpft setzte sich Dhug auf die Stufen, die zum Steuerdeck hinaufführten. «Ich verstehe das nicht. Was ist hier nur los?»

«Versuch dich zu erinnern», ermutigte ihn Ibi. «An alles, was geschehen ist. So genau wie möglich. Vielleicht hilft uns das weiter.»

«Du meinst die Piraten?»

«Nein, an später. Ich glaube nicht, dass die Piraten etwas damit zu tun haben.»

«Ich … wir haben die Schnellsegel gekappt. Dann sind die Seile gerissen und die … Verdammt! Die Kisten! Die Fracht!»

Er sprang auf, eilte zu den Kisten zurück und durchsuchte sie. Nichts! Sie waren leer. Alle. Zerbrochen und leer.

«Wie … wie ist das möglich?», stammelte Dhug und blickte ratlos auf eine geborstene Holzlatte, die er in den Händen hin und her wendete. «Es muss doch etwas in den Kisten gewesen sein. Etwas, das jetzt auf dem Deck herumliegen müsste. Die Kisten sind offen. Alle.

Das stinkt doch gewaltig. Ich wusste es. Irgendetwas war faul an dieser Fracht. Doch der Käpt’n wollte ja leider nicht auf mich hören. Aber was? Was war faul?»

«Ist das denn alles, woran du dich erinnern kannst?», fragte Tork. «Nur an diese Kisten?»

«Du hast recht, Tork. Das kann nicht alles gewesen sein. Da war wirklich noch was. Und … ja, und ich habe das nicht nur einmal erlebt.»

«Was? Wovon sprichst du?», fragte Ibi.

«Als Grusch … verschwunden ist, da habe ich alles nur noch wie durch einen Nebel gesehen. Ihr wart wie Schatten und deine Hand wie eine Wand, die auf mich zukam.

So ist es schon einmal gewesen. Als die Kisten umgestürzt sind. Da hat mich etwas berührt. Wie ein kalter Nebel. Und der Käpt’n war auch wie ein Schatten und seine Hand wie eine Wand.»

«Aber vorher … du hast da noch etwas erzählt», meinte Klipper. «Ich hab’s aber vergessen. Etwas, was der Käpt’n gesagt hat. Über diesen Kerl mit den vier Armen.»

«Über Grusch? Aber natürlich. Er sagte: Was ist mit dir, Grusch? Und … was ist das? Was hat er damit gemeint? Was hat er gesehen? Und warum hat er gesagt: Dhug, du auch?

Und … das darf nicht sein! Kurz bevor er mich über Bord gestoßen hat.»

«Er muss es auch gesehen haben», sagte Tork.

«Was?», fragte Ibi.

«Das mit den Augen. Und vielleicht nicht nur das. Vielleicht noch Schlimmeres. Bei Grusch und … bei Dhug auch. Ja, so muss es gewesen sein.»

«Schon möglich, Tork», meinte Dhug nachdenklich. «Das macht Sinn. Aber bei mir war es vielleicht noch nicht so schlimm. Noch nicht so weit wie bei Grusch. Sonst wäre ich nicht mehr hier. Sondern auch einfach weg, so wie Grusch.»

«Und dann … nein, und deswegen hat er dich gestoßen», sagte Ibi. «Weil er dich retten wollte.»

«Ja, so muss es gewesen sein», rief Dhug erleichtert. «Das würde alles erklären. Es kann nicht anders sein. Der Käpt’n hätte mir niemals etwas angetan. Niemals!»

«Woher weißt du das so genau?», fragte Piro.

«Ich weiß es eben. So wie auch ich ihm niemals etwas antun könnte. Aber wo ist er jetzt? Und was ist bloß aus ihm geworden?»

«Vielleicht ist er auch weg. So wie dieser Grusch», erwiderte Klipper.

Dhug packte Klipper und schüttelte ihn heftig. «Wie kannst du so etwas sagen? Ich glaube das nicht! Er ist nicht weg!

Das kann nicht sein! Das darf nicht sein!»

«Frrr, du tust mir weh», jammerte Klipper. «Ich kann doch nichts dafür.»

«Tut mir leid», entschuldigte sich Dhug und ließ ihn los.

«Ich wollte dir nicht wehtun. Es will mir zwar nicht in den Kopf, aber vielleicht hast du recht. Vielleicht ist er wirklich weg. Vielleicht muss ich mich damit abfinden.»

«Und wie geht es jetzt weiter?», fragte Piro. «Was willst du nun tun?»

«Ich weiß es nicht. Ich weiß es wirklich nicht», antwortete Dhug müde.

«Fährst du zurück?», fragte Ibi.

«Zurück?»

«Ja, nach … ich meine, dorthin, woher ihr auf der Thusis gekommen seid.»

«Nach Gona? Wird wohl das Beste sein. Kwarn wird wissen wollen, was mit der Fracht geschehen ist. Kwarn!», stieß er plötzlich wild hervor. «Er muss es wissen! Er muss wissen, woher die Kisten stammen. Und sicher auch, für wen sie bestimmt waren.»

«Was nützt dir das denn?», fragte Klipper.

«Ich weiß es nicht. Aber wenn ich den in die Finger kriege, der an diesem ganzen Unheil schuld ist, dann …»

«Wie willst du das denn machen?», fragte Ibi. «Ich meine, kannst du allein mit diesem Schiff fahren? Geht das denn? Ihr wart immerhin zu dritt.»

«Ich … daran habe ich noch gar nicht gedacht. Ich weiß es nicht. Aber ich muss es versuchen. Irgendwie wird es schon gehen.»

«Irgendwie klingt nicht gut», meinte Tork.

«Für mich klingt das wie losfahren und nirgendwo ankommen», sagte Piro.

«Für mich klingt das nach besser hierbleiben und eine gute Mahlzeit zu sich nehmen», schloss sich Klipper an. «Und du, Ibi? Was denkst du?»

Ibi antwortete nicht. Sie trat dicht an die Reling und blickte hinab. Er hat es zu mir gesagt, dachte sie. Warum hat der alte Mann zu mir gesprochen? Und warum hat er ausgerechnet mich ausgesucht? Weil Dhug mitten unter uns gelandet ist? Nur deshalb? Woher wusste der Alte das? Und warum soll ich den anderen nichts davon erzählen? Warum muss ich darüber schweigen? Wird er wiederkommen? Wieder zu mir?

Was hat das alles zu bedeuten? Was ist meine Aufgabe? Ich werde das nie erfahren. Außer … ja, nur so geht es. Nur so.

Entschlossen drehte sie sich um. «Du bist nicht allein, Dhug.

Ich gehe mit dir.»

«Frrr, Ibi?», rief Piro. «Bist du verrückt geworden?»

«Nein, Piro, sie ist nicht verrückt geworden», sagte Tork ruhig und an Ibi gewandt fuhr er fort: «Glaubst du wirklich, dass das richtig ist, Ibi?»

«Ich glaube es nicht, Tork. Ich weiß es.»

«Ich kann das nicht annehmen», widersprach Dhug. «So eine Reise ist gefährlich. Und niemand weiß, was noch alles geschehen wird.»

«Du musst es annehmen, Dhug», sagte Ibi. «Alleine wirst du es nie schaffen.»

«Und zu zweit auch nicht. Ich gehe mit», meinte Tork.

«Ich auch», rief Piro hastig.

«Ich bin natürlich auch dabei», sagte Klipper, obwohl man ihm ansah, dass er ein ungutes Gefühl dabei hatte. Aber das spielte jetzt keine Rolle für ihn. Wenn die anderen gingen, würde er mitgehen. Er würde seine Freunde nicht im Stich lassen. Niemals!

Doch Ibi war nicht damit einverstanden. «Das kommt gar nicht in Frage!»

«Frrr, glaubst du wirklich, wir lassen dich allein gehen?», brummte Tork.

«Das müsstest du doch wirklich besser wissen, Ibi», stieß Klipper hervor.

«Also gut», gab Ibi nach und sah ihre Freunde dankbar an.

«Was meinst du, Dhug? Kannst du mit uns etwas anfangen?»

«Ich glaube nicht, dass je ein Propter so eine absonderliche Mannschaft hatte, aber sei’s drum. Danke. Tausend Dank.»

«Um auf meine Frage zurückzukommen … und wie geht es jetzt weiter?», fragte Piro.

Sie lachten und es war, als würde ein festes Band zwischen ihnen geknüpft.

«Erst einmal, klar Schiff machen», antwortete Dhug. «Das heißt, jemand muss die Kisten aus dem Weg räumen. Und ich werde mir mal die Tanks und Ventile ansehen.»

«Oje, mit jemand kann wohl niemand anderer als wir gemeint sein», stöhnte Klipper. «Das klingt nach Arbeit.»

Dhug schmunzelte. «Genau. Aller Anfang ist schwer. Wenn ich jetzt der Käpt’n bin, seid ihr wohl oder übel die Leichter.

Also, an die Arbeit!»

Während die Nelvins damit begannen, die aufgebrochenen Kisten zu stapeln und mit Seilen zu befestigen, kletterte Dhug zur Ballonhülle hinauf und kontrollierte die Ventile und den Doppeltank.

Plötzlich fiel sein Blick auf die beiden Füllstandsanzeigen.

«Verflucht», murmelte er. «Das kann doch nicht wahr sein.

Nur noch so wenig? Wie ist das möglich? Irgendetwas muss nicht in Ordnung sein. Oh nein, ich hätte es mir denken können. Eine Leitung zum Ballon hat sich losgerissen. So, die sitzt wieder fest. Aber was nützt das? Mit dem, was übrig ist, kommen wir nicht weit.»

Er kletterte hinab und trat zu den Nelvins.

«Was ist mit dir, Dhug?», fragte Ibi. «Du machst ja ein Gesicht wie Hagelwetter.»

«Ich hab auch allen Grund dazu. Die Tanks sind fast leer.

Ich fürchte, das war’s. Unsere Reise ist zu Ende, ehe sie begonnen hat.»

4. Kapitel

Ein ganz besonderer Saft

Sie hatten sich um den Doppeltank versammelt. Mit ratlosen Gesichtern hingen sie in den Wanten und blickten auf die kupfernen Tankwände, die Leitungen und Instrumente.

Auch wenn die Nelvins nichts von dem verstanden, was sie vor sich sahen, so begriffen sie doch nur zu gut, was die kleinen roten Säulen in den Anzeigen bedeuteten.

«Frrr, was ist das alles?», fragte Piro. «Ich meine, wie …»

«Wie das funktioniert?», beendete Dhug Piros unausgesprochene Frage. «Nun ja, warum sollte ich euch das nicht erklären? Jetzt haben wir sowieso alle Zeit der Welt.

Schaut her, das ist der Doppeltank. Darin ist das Seth, die Nährflüssigkeit für die Aerophagen, dick wie Honig. Und durch diese Schläuche fließt das Seth zur Ballonhülle.»

«Und die … Aerophagen? Was sind das?», fragte Tork.

«Seht sie euch selber an. Hier enden die Sethleitungen an der Ballonhülle, direkt unterhalb des Sichtfensters. Und das da, dort drinnen in dem Ballon, das sind die Aerophagen.»

«Das … das sind ja Würmer», rief Klipper erstaunt.

«Richtig. Oder noch besser, Maden.»

«Lecker!», meinte Klipper und schmatzte deutlich hörbar.

Dhug klopfte ihm sanft auf den Schnabel. «Komm bloß nicht auf den Gedanken, davon zu naschen. Das würde uns schlecht bekommen.»

«Wieso?», fragte Ibi.

«Ganz einfach. Ohne diese Leckerbissen kann die Thusis nicht fliegen.»

«Frrr, haben wir dir schon mal gesagt, dass wir gerne klare Antworten auf klare Fragen wünschen?», stöhnte Tork.

Dhug lachte. «Also gut, hört zu. Diese Maden, die Aerophagen, ernähren sich vom Seth. Und solange sie genug Seth bekommen, sondern sie ein Gas ab. Das füllt den Ballon, der Ballon schwebt, das Schiff wiederum hängt am Ballon und fliegt. So einfach.»

«Und diese Dinger da?», erkundigte sich Piro.

«Das sind Ventile, die den Sethfluss steuern. Mehr Seth bedeutet mehr Nahrung für die Aerophagen. Mehr Nahrung heißt mehr Schwebgas und wir steigen höher. Weniger Seth dagegen und wir sinken.»

«Und gar kein Seth, heißt wohl abwärts im Schnellgang.

Autsch!», rief Klipper.

«Du sagst es. Autsch!» Und mit einem besorgten Blick auf die Füllstandsanzeigen fuhr Dhug fort: «Lange brauchen wir darauf wohl nicht mehr zu warten. Den Schnellgang kann ich uns zwar ersparen, aber eine unsanfte Landung in den Bäumen wird’s auf jeden Fall.»

Entmutigt sahen sie den Aerophagen zu, die über die Innenseite der Ballonhülle krochen. Immer wieder näherte sich eine der Maden den Leitungsenden und fraß mit langsamen Bewegungen von dem Seth. Dann kroch sie davon und machte der nächsten Platz.

«Was stinkt hier bloß so fürchterlich?», fragte Tork.

«Das ist das Seth», antwortete Dhug. «Nicht gerade appetitanregend, nicht wahr?»

«Kommt mir irgendwie bekannt vor», meinte Tork. «Aber nichts, was mir schon mal in den Schnabel gekommen wäre.»

«Aber diese Maden … sehen einfach lecker aus», murmelte Klipper sehnsüchtig. «Wie Kelchlinge. Jetzt eine Wurzeleule sein und die lange Zunge einfach mal so voll reinstecken und dann … frrr.» Er leckte sich mit der Zunge über den Schnabel und machte ein schlürfendes Geräusch.

«Das ist es!», rief Tork. «Daran erinnert mich der Gestank!

Klipper, du bist …»

«Was denn?», fragte Klipper, der schon wieder Schelte befürchtete.

«Einfach unglaublich!», schloss Tork und verbeugte sich vor Klipper, der ihn misstrauisch anblickte. War das nun ein Lob oder doch nur wieder der gewohnte Spott?

«Glaubst du wirklich, Tork, dass das geht?», fragte Piro.

«Warum nicht? Versuchen können wir’s. Was verlieren wir schon dabei?»

«Wovon sprecht ihr eigentlich?», mischte sich Dhug ein.

«Von Wurzeleulen», erwiderte Tork. «Und von ihren Zungen und den Kelchlingen.»

Dhug seufzte. «Wie war das mit den klaren Antworten auf klare Fragen?»

Tork lachte und erklärte: «Wurzeleulen leben in den Wurzeln von Dolderbäumen. Besser gesagt, sie sind ein Teil der Wurzeln. Sie können nicht fliegen, sie können nicht auf die Jagd gehen. Sie können nur warten. Aber sie haben eine ganz besondere Zunge. Ganz besonders lang und ganz besonders klebrig. Die legen sie schön lang aus, voll mit einem dicken klebrigen Saft. Der stinkt zwar gewaltig, aber da gibt es ein paar Maden, die Kelchlinge, die können gar nicht genug von diesem Saft kriegen. Also lassen sie sich ködern, bleiben kleben, die Wurzeleule zieht ihre Zunge ein und … Ade, du schöne Madenwelt!»

«Und weiter?», fragte Dhug, der allmählich ahnte, worauf Tork hinauswollte.

«Nichts weiter, Dhug! Aber der Saft der Wurzeleulen und das Seth …»

«Sind dasselbe, denkst du, oder haben vielleicht dieselbe Wirkung?», fragte Dhug.

«Richtig!»