Der Himmel über Tollet’s Ridge - Catherine Cookson - E-Book
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Der Himmel über Tollet’s Ridge E-Book

Catherine Cookson

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Beschreibung

Wird sie jemals sich selbst gehören? Der große Schicksalsroman »Der Himmel über Tollet’s Ridge« von Catherine Cookson als eBook bei dotbooks. Jinnie Howlett hat bereits früh die Härte des Lebens zu spüren bekommen: Als Waise eines Kesselflickers muss sie in einem Arbeitshaus im Norden Englands ihr tägliches Brot verdienen. Kurz nach ihrem fünfzehnten Geburtstag. öffnet sich für Jinnie jedoch eine Tür zur Hoffnung, als ihr auf der Schafsfarm Tollet‘s Ridge eine Stelle als Dienstmädchen angeboten wird. Doch auf dem Hof der Shalemans erkennt sie bald, dass sie nur eine Fessel gegen die nächste eingetauscht hat: Die kaltherzige Farmersfrau behandelt Jinnie kaum besser als ihre Tiere – und ihr ältester Sohn ist ein jähzorniger Grobian. Einzig Bruce, der jüngste Sohn der Familie, schenkt Jinnie das, was sie nie gekannt hat: ein Gefühl von Geborgenheit und Wärme. Doch das Schicksal fordert dieses zarte Glück ein ums andere Mal heraus … Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der mitreißende Englandroman »Der Himmel über Tollet’s Ridge« von Bestsellerautorin Catherine Cookson wird Fans von Lia Scott und »Poldark« begeistern. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 546

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Über dieses Buch:

Jinnie Howlett hat bereits früh die Härte des Lebens zu spüren bekommen: Als Waise eines Kesselflickers muss sie in einem Arbeitshaus im Norden Englands ihr tägliches Brot verdienen. Kurz nach ihrem fünfzehnten Geburtstag. öffnet sich für Jinnie jedoch eine Tür zur Hoffnung, als ihr auf der Schafsfarm Tollet‘s Ridge eine Stelle als Dienstmädchen angeboten wird. Doch auf dem Hof der Shalemans erkennt sie bald, dass sie nur eine Fessel gegen die nächste eingetauscht hat: Die kaltherzige Farmersfrau behandelt Jinnie kaum besser als ihre Tiere – und ihr ältester Sohn ist ein jähzorniger Grobian. Einzig Bruce, der jüngste Sohn der Familie, schenkt Jinnie das, was sie nie gekannt hat: ein Gefühl von Geborgenheit und Wärme. Doch das Schicksal fordert dieses zarte Glück ein ums andere Mal heraus …

Über die Autorin:

Dame Catherine Ann Cookson (1906–1998) war eine britische Schriftstellerin. Mit über 100 Millionen verkauften Büchern gehörte sie zu den meistgelesenen und beliebtesten Romanautorinnen ihrer Zeit; viele ihrer Werke wurden für Theater und Film inszeniert. In ihren kraftvollen, fesselnden Schicksalsgeschichten schrieb sie vor allem über die nordenglische Arbeiterklasse, inspiriert von ihrer eigenen Jugend. Als uneheliches Kind wurde sie von ihren Großeltern aufgezogen, in dem Glauben, ihre Mutter sei ihre Schwester. Mit 13 Jahren verließ sie die Schule ohne Abschluss und arbeitete als Hausmädchen für wohlhabende Bürger sowie als Angestellte in einer Wäscherei. 1940 heiratete sie den Gymnasiallehrer Tom Cookson, mit dem sie zeitlebens zurückgezogen und bescheiden lebte. Ihren ersten Roman veröffentlichte sie 1950; 43 Jahre später wurde sie von der Königin zur Dame of the British Empire ernannt und die Grafschaft South Tyneside nennt sich bis heute »Catherine Cookson Country«. Wenige Tage vor ihrem 92. Geburtstag starb sie als eine der wohlhabendsten Frauen Großbritanniens.

Bei dotbooks veröffentlichte Catherine Cookson ihre englischen Familiensagas »Die Thorntons – Sturm über Elmholm House«, »Die Lawsons – Anbruch einer neuen Zeit«, »Die Emmersons – Tage der Entscheidung«, »Die Coulsons – Schatten über Wearcill House« und »Die Masons – Schicksalsjahre einer Familie«.

Bei dotbooks erscheinen außerdem ihre Schicksalsromane »Das Erbe von Brampton Hill«, »Sturmwolken über dem River Tyne«, »Sturm über Savile House« und »Der Hutsalon am Willington Place«.

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eBook-Neuausgabe April 2024

Die englische Originalausgabe erschien erstmals 1995 unter dem Originaltitel »The Tinker’s Girl«. Die deutsche Erstausgabe erschien 1998 unter dem Titel »Im Herzen der Familie« im Heyne Verlag.

Copyright © der englischen Originalausgabe 1995 by The Catherine Cookson Charitable Trust

Copyright © der deutschen Erstausgabe 1998 by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München

Copyright © der Neuausgabe 2024 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz unter Verwendung von Shutterstock/Oaurea, Egorov Igos, marilyn barbone, Stephen Bridger und AdobeStock/raquel, Melinda Nagy, Masson

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (mm)

ISBN 978-3-98690-940-6

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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit gemäß § 31 des Urheberrechtsgesetzes ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Bei diesem Roman handelt es sich um ein rein fiktives Werk, das vor dem Hintergrund einer bestimmten Zeit spielt oder geschrieben wurde – und als solches Dokument seiner Zeit von uns ohne nachträgliche Eingriffe neu veröffentlicht wird. In diesem eBook begegnen Sie daher möglicherweise Begrifflichkeiten, Weltanschauungen und Verhaltensweisen, die wir heute als unzeitgemäß oder diskriminierend verstehen. Diese Fiktion spiegelt nicht automatisch die Überzeugungen des Verlags wider oder die heutige Überzeugung der Autorinnen und Autoren, da sich diese seit der Erstveröffentlichung verändert haben können. Es ist außerdem möglich, dass dieses eBook Themenschilderungen enthält, die als belastend oder triggernd empfunden werden können. Bei genaueren Fragen zum Inhalt wenden Sie sich bitte an [email protected].

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Catherine Cookson

Der Himmel über Tollet’s Ridge

Roman

Aus dem Englischen von Elisabeth Schulte-Randt

dotbooks.

TEIL 1

Kapitel 1

Jinnie Howlett stand am Ende des langen Tisches in der Kleiderkammer des Arbeitshauses. Dieser Raum wurde auch »Grabkammer« genannt, wegen der Regale an den Wänden, in denen die Kleidung und Habseligkeiten ehemaliger und gegenwärtiger Arbeitshäusler aufbewahrt wurden. Meist handelte es sich um das Eigentum früherer Bewohner, denn die Kleidung der neu Eingewiesenen wanderte häufig direkt in den Verbrennungsofen, weil sie sich in einem zu schlechten Zustand befand.

In dem Raum herrschte ein eigentümlicher Geruch, den Jinnie als »ingwerscharf« bezeichnete, weil er sie zum Niesen brachte.

Wenn es einen Bereich des Arbeitshauses gab, in dem sie sich gern aufhielt, dann war es die Kleiderkammer, denn hier konnte sie mit Miß Caplin allein sein.

Miß Caplin war Näherin, aber sie hatte auch andere Pflichten zu erfüllen. Ihr oblag es, sich um die Neuzugänge zu kümmern, damit sie entkleidet, gewaschen und mit der Einheitskleidung des Arbeitshauses versorgt wurden. Bei diesen Tätigkeiten und im Nähzimmer ließ Miß Caplin sich sooft wie möglich von der kleinen Jinnie Howlett helfen.

Jetzt rückte Miß Caplin Jinnies Strohhut zurecht und zog an dem Kragen des langen grauen Mantels, der bis an die Oberkante der Stiefel reichte. »Also, Jinnie«, sagte sie ruhig. »Merk dir gut, was ich gesagt habe. Solltest du auch von dieser zweiten Stelle zurückgeschickt werden, mußt du viele Jahre hier eingesperrt bleiben.« Sie legte den Kopf ein wenig schräg. »Viele Jahre«, wiederholte sie mahnend. »Denk an das Schicksal der armen Phoebe.«

»Ja, das werde ich, Miß Caplin. Ich denke immer an sie. Aber wegen der früheren Stelle habe ich Ihnen die Wahrheit gesagt, Miß Caplin, bei Gott, das schwöre ich. Er … kroch in meinen Verschlag unter der Treppe, und ich schrie und …«

»Ich glaube dir jedes Wort. Aber tu, was ich dir gesagt habe. Wenn so etwas noch einmal vorkommt, laß den Mann nicht ohne Spuren davonkommen. Zerkratz ihm das Gesicht und schrei aus Leibeskräften. Nun zu dem Hof, für den du bestimmt bist. Ich kenne ihn, obwohl ich noch nie dort war. Er liegt in den Bergen, und es wird dort ziemlich rauh zugehen, auf vielerlei Weise. Du hast den Farmer bereits gesehen. Er schien mir ein sehr seltsamer Mann zu sein, auch wenn man nicht nur nach der äußeren Erscheinung gehen kann. Er wirkte recht dümmlich, im Gegensatz zu seinem Sohn. Aber beide sind Männer, und vor Männern mußt du immer auf der Hut sein. Das verstehst du doch, Jinnie?«

»O ja, Miß Caplin. Das verstehe ich.«

»Und du weißt auch, warum du auf die Farm kommst: Die Frau ist krank. Sie kann sich nicht um die Mahlzeiten und den Haushalt kümmern. Nun…« Miß Caplin lächelte verhalten. »Bei den Arbeiten im Haushalt wirst du sicher keine Schwierigkeiten haben, aber das Kochen mußt du im Laufe der Zeit lernen.«

»Oh, bei dieser anderen Stelle habe ich Frühstück gemacht, Miß Caplin, mit Bacon und Porridge.« Nach einem Moment schüttelte Jinnie den Kopf und sprach weiter: »Ich werde nie verstehen, warum die Herrin gelogen hat, nachdem sie zuerst so freundlich war und mir alles gezeigt hat im Haushalt. Dann zu sagen, ich hätte …«

»Schon gut, Kind.« Miß Caplin schob den Hut des Mädchens zurecht. »Denk nicht mehr daran. Und mm erinnere dich an das, was ich dir über meine Tanten erzählt habe. Du wirst auf dem Weg an ihrem Cottage vorbeikommen. Es liegt hinter Whitfield. Max zeigt dir die Stelle, denn das Haus befindet sich in einer baumumstandenen Senke und ist von der Straße aus nicht zu sehen. Aber wie ich dir schon sagte ‒ wenn wieder etwas Unangenehmes geschieht und du Angst hast, sie könnten dich zurückschicken« ‒ Miß Caplin hob mahnend den Finger ‒ »aber nur in diesem Fall, dann mußt du Zusehen, wie du von dort zum Cottage gelangst. Meine Tanten werden sich um dich kümmern, bis ich komme. Aber du weißt, daß ich sie nur einmal im Monat an meinem freien Tag besuchen kann. Also mußt du dich einige Zeit dort verstecken und abwarten. Letzte Woche, als ich ihnen erzählt habe, du würdest eine Stelle oben auf der Shaleman-Farm antreten« ‒ sie unterließ es zu erwähnen, daß die Tanten entsetzt die Hände gerungen hatten ‒ »meinten sie, du wärest hoffentlich kräftig genug für die Farmarbeit. Aber es soll sich nur um einen kleinen Hof handeln. Sie züchten hauptsächlich Schafe.«

In der folgenden Stille schluchzte Jinnie auf. »Oh, ich werde Sie vermissen, Miß Caplin. Niemand war so gut zu mir wie Sie.« Jane Caplin verspürte den Drang, die Arme auszustrecken und das schlanke junge Mädchen an sich zu ziehen. Es gab Augenblicke, in denen sie Jinnie als ihre Tochter betrachtete, als das Kind, das sie aufgrund des Verbotes eines überfürsorglichen Vaters nicht hatte haben dürfen.

Statt dessen umfaßte sie das schmale Gesicht des Mädchens mit den Händen und sagte mit sanfter Stimme: »Ich werde dich auch vermissen, Jinnie. Und wir bleiben durch meine Tanten in Verbindung. Aber wie ich dir bereits sagte, erwähne gegenüber deinem neuen Herrn niemals ihren Namen. Es ist besser, ihn glauben zu lassen, du würdest niemanden dort kennen.«

Jinnie nickte und wollte weitersprechen, als die Tür aufgerissen wurde. Eine große, knochige Frau blieb stehen und sagte in barschem Ton, der zu ihrem Gesichtsausdruck paßte: »Die Vorsteherin wartet auf das Kesselflicker-Mädchen.«

Jinnie trat nicht sofort zur Aufseherin, sondern starrte sie einen Augenblick an. Dann wandte sie sich wieder Miß Caplin zu. »Auf Wiedersehen, Miß Caplin. Auf Wiedersehen.«

»Auf Wiedersehen, Jinnie.«

»Nun beeil dich, Mädchen!« bellte die Aufseherin.

Jinnie zwang sich, die Augen niederzuschlagen, als sie an ihr vorbeiging. Wenn es irgendeine Person im Arbeitshaus gab, die Jinnie haßte, dann war es die Aufseherin. Seit dem ersten Tag, als Jinnie mit sieben Jahren hierher gekommen war, nannte sie sie nur »die Tochter des Kesselflickers«. Jinnie erinnerte sich noch lebhaft an den Befehl der Aufseherin, ihren Vater durch zwei Arbeitshäusler vom Wagen zerren und ins Krankenrevier schaffen zu lassen. Als Jinnie mitkommen wollte und die Aufseherin dies nicht erlaubte, schrie sie und schlug um sich. Die Aufseherin gab ihr zur Antwort eine Ohrfeige. Und obwohl der Karren und der Rest der Waren verkauft wurde, erhielt ihr Vater kurz darauf kein anständiges Begräbnis, sondern wurde in ein Armengrab gelegt. Jinnie sagte man, der Erlös aus dem Verkauf seines Eigentums werde für ihren Unterhalt gebraucht, bis sie selbst für sich arbeiten könne. Doch nachdem sie dann vor zwei Jahren ihre erste Stellung antrat, kehrte sie kurz darauf in Ungnade zurück.

Mit der Aufseherin hinter sich ging Jinnie über den Hof in den Hauptsaal, wo sie vor die Vorsteherin trat, die hinter einem Tisch wartete, auf dem verschiedene Kleidungsstücke lagen. Sie trat näher und knickste stumm. Die Vorsteherin sprach erst, als die Aufseherin neben Jinnie stand, und sie sprach auch nicht mit ihr, sondern mit der Aufseherin.

»Zählen Sie alles ab.« Sie wies auf die Kleidungsstücke.

»Zwei Nachthemden aus Kattun, ein Unterhemd, ein Unterrock, ein geblümtes Kleid, ein Paar Unterhosen, zwei weiße Schürzen, ein Arbeitskleid, eine Unterziehbluse, ein Paar Strümpfe, ein Paar Holzschuhe, sechs Leibbinden.« Als sie den letzten Posten nannte, breitete die Aufseherin sechs Lappen aus Baumwolle aus, an deren Enden Bänder befestigt waren. Zum Schluß legte sie noch eine kleine Bibel dazu.

Schließlich wandte sich die Aufseherin an Jinnie. »Du kannst dich glücklich schätzen, eine zweite Chance zu bekommen. Ich hoffe, du weißt das.«

»Ja, Ma’am«, entgegnete Jinnie gehorsam.

»Und wenn du wieder zurückgebracht wirst, weißt du hoffentlich, was dich erwartet.«

»Ja, Ma’am.« Dieses Mal klang die Antwort schärfer. Die Aufseherin und die Vorsteherin wechselten einen schnellen Blick, als wären sie über die Haltung dieses aufsässigen Mädchens erstaunt, das der Vorsteherin doch auf Knien für deren Güte hätte danken müssen.

Jinnie beobachtete, wie die Aufseherin ein Kleidungsstück nach dem anderen in einen kleinen Jutesack packte. Als sie bei den Baumwollbinden ankam, wandte sie sich an Jinnie. »Denk daran, sie jeden Monat zu waschen… Koch sie aus.«

Jinnie antwortete nicht. Für sie standen die Binden noch immer für etwas Furchterregendes, das älteren Mädchen widerfuhr, aber niemals ihr selbst. Miß Caplin hatte sie beruhigt, daß nichts Schlechtes oder Bedrohliches mit ihr geschehe, sondern die Natur ihren langen, mühsamen Weg der Fortpflanzung beginne.

Wieder sprach die Vorsteherin mit ihr. »Du magst sehr weit weg sein, aber ich habe ein Auge auf dich, vergiß das nie.«

Jinnie sah im Geiste das Bild hervortretender Pupillen aufblitzen und stellte sich vor, daß die Vorsteherin sie damit über Meilen hinweg wie durch ein Fernrohr beobachtete. Wie immer, wenn ihre Phantasie sich selbständig machte, spürte sie den Drang, zu lächeln oder gar zu kichern.

Die Aufseherin warf Jinnie den Jutesack zu, drehte sie mit harter Hand an den Schultern herum und schob sie zu der zweiflügeligen Tür am anderen Saalende.

Als sie näherkamen, öffnete eine Arbeitshäuslerin die Türflügel, und Jinnie mußte lächeln, als sie das Fuhrwerk und Max sah, der vom neben dem Pferd stand.

Die Vorsteherin war ebenfalls zur Tür gekommen und ermahnte Jinnie jetzt: »Du kannst sehr froh sein, daß du nicht den ganzen Weg zu Fuß gehen mußt.« Sie nickte zu Max hinüber. »Wenn er nicht bereits den Auftrag hätte, ein Stück Vieh aus Whitfield zu holen, läge eine schöne Strecke vor dir. Wie dem auch sei, hinter Whitfield wird dich jemand abholen. Max weiß Bescheid.« Wieder nickte sie zu Max. »Also, pack dich! Es wird Zeit.«

Der große Mann trat auf Jinnie zu, nahm ihr das Bündel aus den Händen und warf es auf den Kutschbock. Dann faßte er sie am Hinterteil und hob sie hinauf. Ohne ein Wort an die beiden Frauen, die ihm zusahen, schwang er sich mit einer für seine Größe und Körpermasse erstaunlichen Behendigkeit auf den Sitz. Er schnalzte mit der Zunge, und das Pferd zog den hochrädrigen Wagen ruckartig an. So fuhr er mit Jinnie Howlett durch das Haupttor des Arbeitshauses.

Einige Zeit sprach Jinnie nicht mit dem Mann neben sich, sondern sah sich um. Sie war draußen, wirklich im Freien! »O lieber Gott«, begann sie zu beten. »Laß mich niemals zurückkehren müssen. Ich flehe dich an!«

Max sah auf sie herunter, und in seinem großen, flachen Gesicht breitete sich ein Lächeln aus. Seine Augen standen weit auseinander und schienen im Moment von unbestimmter Farbe zu sein. Manchmal, wenn er zornig war, wirkten sie beinahe schwarz. Er hatte eine große Nase und riesige Nasenlöcher. Das einzig Normale an ihm, fand Jinnie, war der Mund. Aber die Worte, die daraus hervorkamen, unterstützten den allgemeinen Eindruck von geistiger Zurückgebliebenheit, denn er sprach unzusammenhängend und stotterte. Was er jedoch sagte, hatte immer einen Sinn.

»Gut!« Das Wort tönte tief und voll aus seiner breiten Brust.

Jinnie antwortete rasch. »Ja, Max. Gut. Weißt du, wohin ich gehe?« Sie mußte nicht viel sagen, um sich ihm verständlich zu machen.

Max nickte. »In die Berge. Hoch… oben eine Farm.« Er nahm eine Hand von den Zügeln und zeigte eine Spanne zwischen Daumen und Zeigefinger. »Klein«, bemerkte er dazu.

Jinnie nickte.

Während sie nach vorn sah, sprach sie mehr zu sich selbst. »Ich hoffe, es gefällt mir dort, und … hoffentlich mögen sie mich auch und … hoffentlich bekomme ich keinen Ärger.«

Max tätschelte ihre Schulter. »Etwas f-f-für dich.« Mit einer Geste, als wollte er die Fliegen um das Pferd verscheuchen, bewegte er die Hand. »Später.«

Jinnie fragte hastig: »Du gibst es mir später?«

»Ja.«

Manchmal glaubte Jinnie, die Gedanken von Max lesen zu können. Zumindest verstand sie immer, was er in seiner abgehackten Redeweise sagen wollte.

Max war der einzige Mann, mit dem sie jemals hatte sprechen dürfen. Er war auch der einzige Mann, der sich der Frauenabteilung des Arbeitshauses nähern durfte. Wahrscheinlich weil er als harmlos galt. Er war im Arbeitshaus geboren, und von der alten Aggie McMahon, die ihn auf die Welt geholt hatte, hatte Jinnie die seltsame Geschichte seiner Geburt erfahren.

Wie es schien, war vor dreißig Jahren eine tobsüchtige Frau eingeliefert worden, die in eine Zwangsjacke gesteckt in die Beruhigungszelle gebracht wurde. Allein der Gedanke an die Beruhigungszelle ließ Jinnie erschaudern, denn auch sie hatte man einmal dort eingesperrt. Es war der Tag nach dem Begräbnis ihres Vaters gewesen…

Die Frauen hatten Max’ Mutter bald wieder herausholen müssen, denn bei ihr hatten die Wehen eingesetzt. Nach Aggies Erzählung war Max ein großes Baby gewesen. Schon bei seiner Geburt hätte er der Größe nach gut sechs Monate alt sein können. Und deshalb war aus ihm ein riesiger Mann geworden. Aggie hatte Jinnie erzählt, daß seine Mutter nach der Geburt wieder normal geworden war. Aber sie mußte noch immer merkwürdig gewesen sein, denn sie bestand darauf, das Kind Maximilian zu nennen, weil er ein Abkömmling des römischen Kaisers sei. Aggie hatte gesagt, daß nichts an der Frau auf ihre Herkunft hingewiesen habe, aber ihre Kleidung hochanständig gewesen sei. Sie trug Spitzenunterwäsche und darüber eine Hose aus sehr weichem Stoff, der an Knickerbocker erinnerte. Als ihr Kind zehn Tage alt war, starb sie und wurde wie viele andere in einem Armengrab beigesetzt.

Max, wie der Junge genannt wurde, wuchs schnell heran, aber man hielt ihn für geistig zurückgeblieben. Als er mit fünf Jahren der dem Arbeitshaus angegliederten Farm zugeteilt wurde, stellte sich heraus, daß er zählen konnte. Max erklärte, daß die Hühner nicht mehr so gut legten wie vorher, und zur Erläuterung zählte er die Anzahl der Eier an den Fingern ab. Als der Pfarrer zu seinem wöchentlichen Besuch erschien, dessen Hauptzweck darin bestand, seiner Armenhäuslergemeinde die notwendige Gottesfurcht einzuprägen, erzählte der Farmer ihm von dem unglücklichen Kind. Es müsse, sagte er, einen Rest Verstand besitzen, weil es zählen könne und ihm dies seines Wissens niemand beigebracht habe. Von da an zeigte der Pfarrer Interesse an Max. Nach der Sonntagsschule, wenn er aus der Bibel vorgelesen hatte, kümmerte sich der Geistliche um den Jungen und erklärte ihm das Alphabet. Die Fähigkeit, sich an die einzelnen Buchstaben zu erinnern, galt als Beweis, daß Max nicht völlig verrückt sein konnte. Miß Caplin hatte schon früher herausgefunden, daß er vollkommen normal war. So wie Jinnie hielt sie ihn für einen Menschen, der nur das Unglück hatte, in seiner Artikulationsfähigkeit behindert zu sein.

Jinnie wußte seit langem, daß sie Max liebte, neben Miß Caplin natürlich. In gewisser Weise ersetzte er ihr den viel zu früh verstorbenen Vater; er strahlte sogar die gleiche Wärme aus. Andererseits wußte Jinnie von einem Vorfall, bei dem Max in wilden Zorn geraten und gewalttätig geworden war. Ein Hund auf der Farm hatte sich ihm angeschlossen, und als Max eines Tages dazukam, wie ein Arbeitshäusler dem Tier mit wütenden Tritten zusetzte, hatte er den Mann beinahe erdrosselt und ihn anschließend gegen eine Wand geschleudert. Für diese Tat wurde er in die Beruhigungszelle gesperrt, und man begann erneut, seine geistige Gesundheit anzuzweifeln. Nur die Tatsache, daß er mit dem Farmer, der gleichzeitig Aufseher war, auf gutem Fuß stand, bewahrte ihn vor dem Steinbruch oder der Mistgrube.

Nach ungefähr zwei Stunden durchquerten sie mit dem Fuhrwerk Haydon Bridge und bogen in die Straße nach Langley ein, die an den alten Schmelzhütten vorbeiführte. Als sie zu einer Grünfläche jenseits des Damms kamen, zog Max die Zügel an und brachte das Gefährt zum Halten.

»Pause … hier?«

»Ja, Max. Es ist wunderbar, nicht wahr?« Jinnie wies auf die im Sonnenschein schimmernde Wasserfläche. »So etwas Schönes habe ich noch nie gesehen.«

Das Pferd begann das frische Gras am Straßenrand zu fressen. Jinnie sprang vom Wagen und strich mit den Händen über das Grün am Boden. »Ein herrlicher Ort.«

Max blieb ebenfalls stehen und sah über das Wasser. Dann ließ er sich langsam neben sie auf die grasbewachsene Uferböschung sinken. »Etwas f-f-für…« ‒ er bewegte den Zeigefinger vor ihrer Nase, bevor er das Wort herausbrachte ‒» … dich.«

»Etwas für mich?«

Max senkte den Kopf, langte mit den Händen in die Innenseite seines Übermantels und zog ein längliches Päckchen heraus. Er knetete es zwischen den Händen, während er sprach. »Leder … steif. Lange … Zeit.«

»Du hast es schon lange? Was ist es, Max?«

»Ich … aufbewahrt. Nicht meins … gehört dir«, erklärte er und reichte ihr das Bündel.

»Was kann das sein?« fragte sie und betastete die Lederhülle.

Max legte seine Hand auf ihre und zog langsam ein Messer, eine Gabel und einen Löffel aus dem Bündel. Das Besteck hatte vom Alter verblichene Horngriffe, und das Messer war ein wenig rostig. »D-dein Vater.«

»Das gehörte meinem Vater?«

Max nickte bedächtig.

»Aber wie? Und warum?«

»K-Kleider verbrannt, mit Gürtel und allem. Das …« ‒ er wies auf die Lederhülle ‒ »war tief in … Rockfutter.«

Jinnie wandte den Kopf von Max und dem kleinen Lederbündel zur Wasserfläche, und mit einem Mal war ihr, als sähe sie ihren Vater, der lächelnd das Messer und die Gabel abwischte, mit denen er gegessen hatte, und dann den Löffel, den sie benutzt hatte. Jinnie sah ihn, wie er das Metall abrieb, bis es glänzte, und das Besteck in die Hülle zurückgleiten ließ.

Mit einer raschen Bewegung fuhr sie auf den Knien zu Max herum und streckte die Hand zu ihm aus. »Ich… erinnere mich, damit gegessen zu haben«, begann sie mit gebrochener Stimme. »Vater nahm das Messer und die Gabel, und ich hatte den Löffel… Ja, Max, so war es. Ich hatte es vollkommen vergessen.« Sie schwieg einen Moment, bevor sie fragte: »Weiß jemand, daß du das Besteck aufbewahrt hast?«

Max schüttelte den Kopf und schob trotzig die Lippen vor. »Nein… nein. Versteckt. Loch … in Kesselhaus.«

»Du hast es im Kesselhaus in der Mauer versteckt?«

Grinsend bestätigte Max: »In der Mauer. Lockere S-Steine.« Mit einer Geste zeigte er, wie er einen Stein herausgenommen hatte.

Jinnie antwortete mit einem Lächeln. »Ein Messer zu besitzen ist nicht erlaubt. Sie hätten es dir abgenommen.« Mit diesen Worten legte sie das Besteck zärtlich in die Hülle zurück und preßte das Päckchen an ihre Brust. »Danke, Max. Tausend Dank. Jetzt besitze ich etwas von Vater und fühle mich nicht mehr so … verloren. Du weißt, was ich meine?«

»Ich … weiß. Ja.«

»Du bist in vielem wie mein Vater, Max.«

Max neigte den Kopf in den Nacken und lachte aus vollem Hals. »Wie … ich … niemand.«

»Niemand? Vielleicht hast du recht.« Jinnie sah ihn ernst an und nickte. »Es gibt nur wenige Menschen, die so freundlich sind wie du. Bevor du mir ein Stückchen Zucker gegeben hast, kannte ich nicht einmal mehr den Geschmack von etwas Süßem. Ohne dich und Miß Caplin wüßte ich nicht, was aus mir dort geworden wäre.«

»Miß Caplin … gute Frau. Sehr gut.«

»Ja, sie ist eine sehr gute Frau. Sie hat mir gesagt, daß wir an dem Haus vorbeikommen, das sie an ihren freien Tagen besucht. Ihre Tanten leben dort.«

»Ja. Ich … weiß. Dyke … Cottage. Duckworth Ladies.«

»Ja, das sind ihre Tanten. Warst du schon oben auf der Farm, zu der ich gehe?«

Er schüttelte den Kopf. »Nein … nicht so … w-weit. Hoch … in Bergen. Viel Wind.«

»Ich mag den Wind. Es gefällt mir, wenn er mir durch das Haar bläst.« Jinnie faßte an ihren Hut.

»Hübsches Haar«, sagte Max.

Ihr Gesicht wurde wieder ernst. »Sie wollten es abschneiden, aber Miß Caplin hat mich gerettet. Weißt du, was sie gesagt hat?«

Max schüttelte den Kopf.

»Sie sagte der Aufseherin, wenn sie es noch ein oder zwei Jahre wachsen ließe, könnten die Zöpfe verkauft werden, und Haare wie meine brächten gutes Geld. Ich fühlte mich sehr elend deshalb, denn es war nur ein … ein …«

Jinnie suchte noch nach dem Wort, als Max ihr half. »Aufschub?«

»Ja, genau.« Ihr Gesicht hellte sich auf. »Du bist klug, weißt du das, Max? Aufschub, das meine ich. So wie bei Verurteilten, die gehängt werden sollen und eine Gnadenfrist erhalten.« Nun lachten beide.

Dann sprang Max auf. »Ich … gehängt… wenn nicht… eilig zurück.« Mit sichtlichem Bedauern zog er das Pferd von seinem Grasplatz weg und half Jinnie auf den Wagen hinauf. Als er neben ihr saß, begegneten sich ihre Blicke erneut in lächelndem Einvernehmen.

Die Straße führte in Kehren bergab, bis sie einen Fluß kreuzte und sich dann teilte. Max lenkte das Pferd nicht in Richtung Whitfield, sondern nahm die Straße, die nach Alston hinaufstieg. Nach wenigen Minuten passierten sie eine kleine Wegabzweigung. Max wies nach hinten. »D-Dyke Cottage.«

»Es ist genau, wie Miß Caplin sagte. Man kann es von der Straße nicht sehen.«

»Nein. Versteckt… nicht mehr weit jetzt, J-Jinnie.«

»Ich werde abgeholt.«

»Ja … beim D-Drehkreuz.«

»Es gibt ein Drehkreuz dort?« Jinnie war auf die vordere Sitzkante gerutscht und blickte angestrengt nach vorn und auf das zu beiden Seiten ansteigende Land. Trotz der teilweise baumbestandenen Straße wirkte die Gegend kahl und einsam. Sie wandte sich auf dem Sitz um und ergriff den Arm ihres Begleiters mit beiden Händen. »Du … vergißt mich doch nicht, Max?«

Einen Augenblick lang dachte sie, er würde das Pferd anhalten, doch dann legte Max beide Zügel in eine Hand und griff leidenschaftlich mit der anderen nach ihrer. »N-Niemals! Ich vergesse d-dich nicht. Kommt Tag… ich bitte um U-Urlaub.«

»Und du würdest mich besuchen?«

Wieder nickte er.

»Oh, danke, Max.«

»Ich … schreibe.«

»Einen Brief? Du schreibst mir einen Brief?«

»Haha … haha.« Ihre Überraschung schien ihn zu amüsieren und zu freuen.

»Oh, ich hätte gern einen Brief. Etwas lesen kann ich.«

Max zog wieder an den Zügeln. Im nächsten Moment hatten sie die Kurve passiert, und vor ihnen erschien das Drehkreuz. Darauf saß ein junger Mann.

Als sie näher kamen, glitt er herunter. Max brachte das Pferd auf der engen Straße zum Halten, während der Mann zu ihnen hinaufstarrte. Er sagte nichts, genausowenig wie Max, der nun heruntersprang und Jinnie die Arme entgegenstreckte. Als sie auf dem rauhen Boden stand, hatte sie Gelegenheit, den Mann aus der Nähe zu betrachten. Sie nahm an, daß es sich um einen ihrer neuen Herren handelte. Vage erinnerte sie sich an das Gesicht, denn sie hatte Vater und Sohn kaum eine Minute lang gesehen. Und diese Minute war hauptsächlich damit vergangen, daß sie der Vorsteherin zuhörte, die dem kleinen Mann und seinem hochgewachsenen Sohn Einzelheiten über Jinnies Charakter mitteilte.

Jetzt sagte der junge Mann: »Da bist du also. Und beinahe pünktlich.« Er sah von Jinnie zu Max und nickte anerkennend.

Max lächelte ihm zu. »Schneller … als der Z-Zug.«

Der Jüngling antwortete mit einem Lachen. »Nun, wenn du es sagst.« Dann wandte er sich an Jinnie. »Hast du Gepäck?« Noch während er sprach, griff Max hinter den Sitz und zog den Jutesack heraus. »Ist das dein ganzer Besitz?« fragte der junge Mann, als Max das Bündel herüberreichte.

»Ja, das ist alles«, antwortete Jinnie.

Es folgte ein Augenblick des Schweigens. Dann sprach der Mann von der Farm wieder. »Wir machen uns jetzt besser auf den Weg.« Bei diesen Worten wandte Jinnie sich abrupt zu Max, streckte die Arme aus, zog seinen Kopf zu sich herunter und küßte ihn auf die Wange. Dann griff sie ihr Bündel und sprang auf die Grasböschung neben der Straße. Die beiden Männer sahen sich an.

Max sprach mit einer tiefen Stimme, wie Jinnie sie noch nie bei ihm gehört hatte. »Sie … wird doch… gut b-behandelt?«

Der junge Mann schien zu zögern, bevor er antwortete. »Aber ja«, antwortete er dann. »Sicher. Mach dir keine Sorgen. Bist du ein Verwandter?«

»V-Verwandter? Nein.«

»Nun, jedenfalls scheint sie sehr an dir zu hängen… Eine gute Reise noch. Fährst du nach Whitfield weiter, um etwas abzuholen?«

»Kalb … junger Bulle.«

»Oh, ein Bullenkalb. Von Maddison’s, nehme ich an?«

Max dachte einen Augenblick nach. »Ja, Maddison’s«, erwiderte er dann.

Der junge Mann wies zur Straße. »Weiter hinten wird die Straße breiter«, sagte er. »Dort kannst du bequem wenden.«

Max sah in die gezeigte Richtung. Dann wandte er sich zu Jinnie. »Leb wohl«, sagte er ruhig.

Sie verharrte kurz auf dem Gras, bevor sie zum Drehkreuz ging. Der junge Mann stand bereits auf der anderen Seite. »Reich mir dein Bündel«, sagte er zu Jinnie, als sie darüberklettern wollte.

Sie gab es ihm. Mit einem Satz sprang sie von der Absperrung und folgte dem jungen Mann auf dem engen Pfad. Als Max’ Pferd wieherte, wandte sie sich noch einmal zum Fuhrwerk um, das eben am Drehkreuz vorbeikam, und hob zum Abschied die Hand. Max sah in ihre Richtung und winkte zurück. Jinnie blickte ihm nach, bis das Fuhrwerk um die nächste Straßenbiegung verschwunden war. Die Stimme des jungen Mannes lenkte sie ab.

»Du magst ihn?«

Jinnie blinzelte die Feuchtigkeit aus den Augen, bevor sie kurz antwortete. »Ja.«

»Er kommt auch aus dem Arbeitshaus?«

»Ja.«

»Gewaltiger Kerl. Könnte nicht sagen, jemals einen größeren gesehen zu haben. Ein richtiger Riese.« Der junge Mann lächelte ihr zu, als er weitersprach. »Mit ihm möchte ich nicht im Streit aneinandergeraten.«

»Nein«, bestätigte Jinnie und reckte das Kinn. »Das wäre nicht empfehlenswert. Aber ‒ er prügelt sich nicht.« Sie schwieg und dachte an den Vorfall mit dem Hund. »Wenn er allerdings zornig wird auf jemanden, der etwas Böses getan hat, könnte es schon geschehen.«

Der junge Farmer wandte sich um und sah Jinnie prüfend an. Sie erwiderte seinen Blick für einen Moment, bis er die Augen wieder geradeaus richtete. »Du hast früher schon mal auf einer Farm gearbeitet?« fragte er dann.

»Nein. Aber Max. Er ist dem Farmer auf dem Hof des Arbeitshauses eine große Hilfe. Mit Tieren kennt er sich wirklich aus.«

Der Mann ging nicht auf ihre letzte Bemerkung ein. »Dann hast du keine Ahnung von Farmarbeit? Egal welcher Art?«

»Nein«, wiederholte Jinnie, dieses Mal entschiedener. »Ich war der Meinung, daß ich nur kochen und eine kranke Dame versorgen sollte.«

Der junge Farmer wandte abrupt den Kopf. Der Klang seiner Stimme wurde tonlos. »Es handelt sich um meine Mutter. Und sie ist keine Dame, sondern eine arbeitende Frau. Wenigstens war sie das früher. Was die Farm betrifft ‒ das Haus ist sehr klein.« Er hob die Stimme wieder. »Du mußt verstehen, daß das Leben dort oben sehr rauh ist.« Seine Hand wies hoch über seine Mütze hinaus, als würde er in den Himmel und nicht auf die vor ihnen liegenden Bergrücken zeigen.

Jinnies Antwort kam leise, beinahe geflüstert. »Ich bin harte Arbeit gewöhnt.«

»Es gibt Unterschiede ‒ je nachdem, wo und für wen man hart arbeitet.« Dann änderte er seinen Ton wieder und sah Jinnie an. »Aber ich nehme nicht an, daß du im Arbeitshaus verwöhnt wurdest.«

»Nein. Jeden Abend, wenn ein Nähtag zu Ende ging, mußte ich noch die Steinböden schrubben.«

»Es hieß, du könntest kochen. Warst du auch in der Küche?«

Es dauerte einen Augenblick, bis Jinnie antwortete. »Nein, nicht im Arbeitshaus.«

»Wo hast du es dann gelernt?«

»Draußen. Im Dienst.«

»Oh!« Sein Gang veränderte sich. »Du hast schon einmal als Magd gearbeitet?«

»Ja.«

Wieder folgte eine Pause. »Das haben sie uns nicht gesagt. Warum bist du zurückgekommen?« fragte er dann. Da Jinnie nicht antwortete, sprach er für sie. »Aus dem üblichen Grund?«

Verblüfft sah er Jinnie an, die sich jetzt vor ihm aufbaute und ihn mit nicht eben leiser Stimme anherrschte: »Nein! So war es nicht, oder was immer Sie mit dem ›üblichen Grund‹ meinen, Mister. Ich wußte sehr gut, warum ich zurückkehrte.«

Auf seinem Gesicht erschien ein versöhnliches Lächeln. »Ach so? Nun gut, wenn du es sagst. Wenigstens muß der Grund schwerwiegend genug gewesen sein, wenn du dich immer noch darüber aufregst.«

Sie kletterten jetzt einen steilen Hang hinauf, und als Jinnie atemringend stehenblieb, beruhigte der junge Farmer sie. »Daran gewöhnst du dich. Es gibt drei Anstiege wie diese. Sie sind nur kurz. Und danach geht es leicht.«

Es war, wie er sagte. Als sie die dritte Anhöhe erklommen hatten, blieb sie keuchend stehen, überrascht über den Anblick, der sich ihr bot. Das Gelände erstreckte sich sanft in die Feme, und weit hinten erspähte sie eine Gruppe dicht gedrängt stehender Gebäude. Neben ihr erhoben sich zu beiden Seiten steile Hänge, auf denen wie kleine Punkte überall Schafe weideten.

Der Mann blieb ebenfalls stehen und wies nach rechts und links. »Unser Land liegt zu beiden Seiten des Passes, aber hier beginnt es.« Bei diesen Worten bohrte er die Ferse in den harten Grund.

Jinnie sah ihn an. »Es ist schön. Das Land, meine ich.« Sie machte eine Pause. »Wie weit ist es bis zum Farmhaus?« fragte sie und wies dabei auf das Gehöft vor ihnen.

»Eine Meile«, antwortete er achselzuckend. »Vielleicht etwas mehr.« Dann lächelte er. »Die Entfernungen hier oben täuschen. Man glaubt, man wäre ein großes Stück gegangen, aber obwohl es aussieht, als läge das Haus direkt vor einem, muß man noch mehr als die gleiche Strecke zurücklegen, die man bereits hinter sich hat.«

Jinnie sah ins Tal zurück und dann auf die vor ihr liegende Hochebene. »Wirklich?« rief sie ungläubig.

»Ja. Ebenen wie diese täuschen. Aber nun komm. Wenn wir bald dort sein wollen, gehen wir besser weiter.« Er lächelte ihr freundlich zu, und sie lächelte zurück. Vielleicht könnte sie ihn mögen, dachte sie, falls er nicht… Jinnie verdrängte ihre Gedanken.

Sie waren einige Zeit gegangen, als sie bemerkte, daß der Farmersohn den Kopf gesenkt hielt, als suchte er einen nicht vorhandenen Weg. Da er in tiefe Gedanken versunken schien, sprach Jinnie ihn mit gedämpfter Stimme an. »Mister?«

»Ja?« Er hob den Kopf wieder.

»Ist Ihre Familie groß?«

»Nein. Es gibt nur meine Eltern, meinen Bruder und mich. Und du mußt mich nicht ›Mister‹ nennen. Spar dir das für meinen Dad auf. Ich heiße Bruce.«

»Nur Sie vier?«

»Mehr sind wir nicht.« Dann ergänzte er. »Meistens nur drei. Mein Bruder arbeitet in der Zinnmine.« Bruce warf den Kopf in den Nacken, als wollte er in die Richtung der Mine weisen. »Und er kommt nicht jeden Abend nach Hause. Meistens nur am Wochenende.«

»Ist Ihre Mutter sehr krank?« wollte Jinnie fragen, aber sie hielt sich zurück. Wenn es nicht so wäre, könnte sie sich selbst um ihren Mann und ihren Sohn kümmern. Außerdem würde Jinnie bald erfahren, was sie auf der Farm erwartete. Eines schien bereits jetzt klar zu sein. Die Familie war nicht sehr groß und gehörte nicht dem Adel an wie die letzte Herrschaft, bei der sie zu jeder Mahlzeit sechs Bestecke auflegen und hinterher das Silber putzen mußte, besonders die Gabeln, um zu verhindern, daß sich kleine Essensreste zwischen den Zinken festsetzten. Die Damen der Familie ließen sogar ihre Unterwäsche bügeln, und jeden Tag mußten die Stiefel gewichst werden. Hier oben wären auf Hochglanz polierte Stiefel ziemlich sinnlos, überlegte sie. Auch wenn der Grasboden hart wirkte, war sie an manchen Stellen mit den Schuhen im Morast steckengeblieben.

Als sie in Sichtweite der Gebäude kamen, wurden Jinnies Schritte langsamer. Bruce blickte auf sie hinab, sagte aber nichts.

Als Jinnie das Farmhaus sah, öffnete sie vor Verblüffung den Mund. Sie hatte angenommen, daß es sich bei den zusammengedrängt stehenden Hütten, die sie aus der Feme gesehen hatte, nur um Stallungen und Scheunen handelte, und nun erkannte sie ihren Irrtum. Der Eindruck eines großen, weit gestreckten Hauses mußte durch den unmittelbar dahinter aufragenden Berg entstanden sein.

Mit zögernden Schritten näherte sie sich dem Haus. Nicht nur ihre vom langen Aufstieg müden Beine, sondern auch die langsam in ihr aufsteigende Beklommenheit ließen sie zögern. Das Gehöft wirkte so klein ‒ und ärmlich. Dagegen war das Arbeitshaus groß gewesen, in jeder Hinsicht. Die Tagesräume, Schlafsäle, das Nähzimmer, die Wäscherei, alles weitläufig … und sauber. Sehr sauber. Scheuerbürste, Kernseife und schmerzende Arme sorgten dafür.

»Komm rein.« Bruce schob Jinnie zur Tür, denn sie war einige Schritte davor stehengeblieben. Nach kurzem Einatmen, das in ihren Ohren wie ein Seufzer klang, ging sie mit und betrat an ihm vorbei den Raum. Hinter dem Eingang blieb sie stehen und sah sich erstaunt um.

Der Raum war größer, als er von außen erschien. In der Mitte stand ein mit einem Wachstuch bedeckter Tisch, auf dem sich Töpfe und schmutziges Geschirr türmten. Über einer niedrigen Feuerstelle, in der schwache Glut glomm, baumelte ein großer schwarzer Eisentopf. Er war an einer Kette aufgehängt, die von einem Gestänge in der Kaminöffnung herunterhing. An einer Seite des Herdfeuers befand sich so etwas wie ein Ofen und auf der anderen ein gemauerter Kaminvorsprung, auf dem ein Wasserkessel stand. Weiter hinten erkannte Jinnie ein Wandbord, konnte aber nicht erkennen, was darauf aufbewahrt wurde, denn das Raumende verschwamm im Halbdunkel.

An der dem Kamin gegenüberliegenden Wandseite stand eine lange Holzbank.

Aus dem Augenwinkel erkannte sie links davon eine Tür. Doch ihr Blick wanderte zögernd auf die andere Seite, zu der in einer Wandnische liegenden Frau, auch wenn das Licht aus dem kleinen Fenster neben der Tür nicht ausreichte, um sie klar zu erkennen.

»Komm näher und begrüße meine Mutter.« Bruce legte die Hand auf Jinnies Arm und zog sie am Lehnstuhl vorbei, während er mit dem Fuß einen Hocker unter den Tisch stieß. Dann stand Jinnie beinahe in Blickhöhe der Frau des Farmers gegenüber. Die Augen der Kranken lagen in tiefen Höhlen, die von den eingefallenen Wangen gebildet wurden. Ihre Nase war dünn und spitz, und der Mund besaß keine klaren Konturen. Ihre Haut wirkte wie Pergament, das sich straff über die Gesichtsknochen spannte. Der Anblick der Frau war furchterregend, bis ihre Lippen sich bewegten und sie zu sprechen begann.

»Da bist du also, Mädchen. Aber du bist viel jünger, als ich eigentlich erwartet hatte.«

Jinnie atmete erleichtert aus, denn obwohl die Stimme einfach und gewöhnlich klang, sprach die Frau so sanft wie ihr Sohn.

»Das Haus ist schrecklich verwahrlost, Mädchen. Männer sind nicht gut im Haushalt. Außerdem verbringen Bruce« ‒ sie nickte ihrem Sohn zu ‒ »und sein Dad die meiste Zeit draußen bei den Schafen. Und Hai schaut immer nur herein, wenn es ihm paßt. Hai ist mein anderer Sohn«, fügte sie erklärend hinzu. »Kannst du kochen, Mädchen?«

»Ja, Missis. Ein wenig. Ich kann Brot backen und etwas in der Pfanne braten. Knödel habe ich auch schon gemacht«, fügte Jinnie hinzu. Sie beobachtete, wie sich der Mund ihrer neuen Herrin weiter öffnete und den Blick auf eine Reihe abgebrochener, gelblicher Zähne freigab, als sie zum Weitersprechen ansetzte.

»Oh, das geht schon. Du wirst dich gut genug anstellen. Die letzte Magd konnte nicht einmal Wasser kochen, stimmt’s, Bruce?«

Ihr Sohn lächelte. »Wasser kochen konnte sie, Ma. Aber es schmeckte alles gleich, ob sie Tee damit machte oder Fleisch und Kartoffeln darin kochte.«

Die Kranke lehnte sich in die Kissen zurück und preßte die Hände gegen die bebende Brust, als müßte sie ein aufsteigendes Gefühl zurückdrängen. Jinnie fragte sich, ob Bruce’ Mutter ein Lachen verbarg.

Dann wandte sie sich mit dumpfer, murmelnder Stimme an ihren Sohn. »Und jetzt zeig ihr alles.«

Bruce wies auf eine Kommode, die neben dem Bett in der dunklen Wandecke stand. »In den Schubladen befindet sich Leinenzeug und andere Wäsche. Grob im Material, aber haltbar. Das meiste liegt schmutzig in der Waschküche.« Er wies mit dem Daumen zur Tür an der gegenüberliegenden Wand. Dann zeigte er in die andere Richtung. »Hier hinauf führt die Leiter in das Schlafquartier, das ich mit meinem Bruder teile.«

Jinnie glaubte Erleichterung in seiner Stimme zu hören, als er hinzufügte. »Meistens habe ich es für mich allein.« Dann zog Bruce eine der beiden Schubladen aus der Tischseite. »Messer, Gabeln und was du sonst brauchst, findest du hier.«

»Ja, gut.«

An der Tür, die in den anderen Raum führte, wandte er sich um und wies auf den Eisentopf, in dem kochendes Wasser brodelte. »Wir lassen ihn auf dem Feuer, dann haben wir immer heißes Wasser für den Abwasch und alles andere«, erklärte er. Dann stieß er die Tür auf. »Und hier findest du, was du sonst noch brauchst. Dort ist eine große Waschküche.«

Vor Jinnie standen eine Mangel und ein Waschkessel. Sie konnte erkennen, daß der Holzstampfer halb im Wasser steckte, was auf eingeweichte Wäsche schließen ließ. Eine Wand wurde von Regalreihen gesäumt, die leer waren bis auf eine große schwarze Pfanne und einen braunen, irdenen Kochtopf. Auf dem Boden standen eine fettgefüllte Bratpfanne und ein Backblech. Unter dem Fenster war ein flacher brauner Steintrog aufgestellt. Durch ein Loch in der Mitte führte ein Rohr zu einem darunter stehenden Eimer. Neben dem Trog befand sich eine Pumpe. Jinnie beobachtete, wie Bruce einige Male den Schwengel herunterdrückte und ein Wasserschwall aus der Öffnung rauschte. Sie hatte bereits überlegt, wie das Wasser ins Haus geschafft wurde, und Bruce schien ihre Gedanken gelesen zu haben.

»Das erspart es uns, das Wasser vom Teich herunterzuschleppen. Wir haben die Pumpe vor einigen Jahren einbauen lassen.« Erneut drückte er den Schwengel herunter und sah mit offensichtlichem Stolz auf die Errungenschaft. Dann wandte er sich wieder an Jinnie. »Jetzt folgt der Teil, den ich nie gern erkläre: dort oben, die Stufen hinauf, ist dein … Schlafplatz. Der Raum ist sehr niedrig. Es hat keinen Zweck, wenn du aufrecht zu stehen versuchst, selbst in der Mitte nicht. Das Stroh in deiner Matratze kannst du jede Woche wechseln, wenn du willst.« Mehr zu sich selbst sprach er weiter. »Manche ließen den Strohsack liegen, bis er von allein herauskrabbelte.«

Jinnie sah auf die Steintreppe. An einer Seite wurde sie von der Wand begrenzt, die andere war frei. Ein Geländer gab es nicht. Die Treppe hatte flache Stufen, die aber nicht sehr tief waren. Immerhin gab es nicht allzu viele, von denen sie herunterfallen konnte, dachte Jinnie. Große Höhen mochte sie nicht und schon gar nicht, wenn sich ein jäher Abgrund vor ihr auftat. Nur einmal hatte sie diese Höhe erlebt und keine gute Erinnerung daran behalten. Das war lange her. Damals war sie noch mit ihrem Vater umhergereist, der sie auf Ausflüge mitgenommen hatte. Sie hatten immer auf dem Feld eines freundlichen Farmers gelagert und ihre Habseligkeiten sicher bewacht zurückgelassen.

Jinnie war überrascht, als Bruce ihren Arm berührte. »Sieh nicht so ängstlich drein. Es ist ganz gemütlich dort oben. Und schließlich liegst du beim Schlafen, nicht wahr?« Er lächelte ihr wieder zu. Jinnie war sich nicht bewußt gewesen, daß ihr die Angst im Gesicht stand.

Ein lautes Grunzen unterbrach ihn bei seinen weiteren Erläuterungen, und er sah zu der Tür, die offenbar nach draußen führte. »Ein Mutterschwein«, erklärte er. »Ihre Zeit nähert sich, und wir erwarten einen guten Wurf.«

»Oh.« Jinnie erwiderte sein Lächeln. Auf der zum Arbeitshaus gehörenden Farm hatte sie schon einmal eine Sau mit Ferkeln gesehen. Im Gegensatz zu den meisten Menschen mochte sie Schweine.

»Komm und sieh sie dir an.«

Der Geruch draußen ließ vermuten, daß sie am Futterkessel vorbeigingen. Bruce erklärte weiter. »In diesem Schuppen verkochen wir die Essensreste zu Schweinefutter.« Im Schweinestall angekommen, sah er auf die schwer tragende Sau. »Du läßt dir immer noch Zeit, wie?« sagte er zu dem Tier. Jinnie streckte die Hand über die Trennmauer und kratzte das Schwein am Ohr. »Du hast keine Angst vor ihr?« fragte Bruce erstaunt.

»Nein. Ich glaube, ich mag Schweine.«

»Sehr gut! Das wird jedenfalls eine Hilfe sein. Komm weiter, hier herum.«

Am hinteren Ende des Gebäudes wartete eine Überraschung auf Jinnie. Sie hatte geglaubt, daß der Berg steil wie eine Wand hinter dem Haus aufragte. Aber es lagen noch gut dreißig Meter ebene Fläche dazwischen, bevor sich der Felsen, dann allerdings abrupt, erhob. In dem Zwischenraum befanden sich ein langgestreckter Hühnerauslauf sowie eine ziemlich große, wenn auch niedrige Scheune mit dahinterliegendem Stall. Er war leer, doch die Hinterlassenschaften am Boden ließen erkennen, daß es hier ein Pferd gab.

»Sie haben ein Pferd?« fragte Jinnie eifrig.

»Ja, Pferd und Wagen. Dad ist damit zum Markt gefahren. Einmal im Monat ist Vorratstag.« Bruce’ Gesicht war plötzlich ausdruckslos, und er sprach in einem Ton, den sie noch nicht an ihm kannte. Als er das letzte Wort wiederholte, lag Bitterkeit in seiner Stimme. »Vorratstag. Dort drüben«, fuhr er dann fort, »befindet sich ein Abtritt. Und weiter hinten« ‒ er wies auf die andere Seite des Hühnerauslaufs ‒ »ist der Misthaufen. Wir leeren natürlich unsere Nachttöpfe selbst«, fügte er schnell hinzu. »Du mußt dich nur um den von Ma kümmern.«

»Ja, Sir. Natürlich. Ich meine ‒ Mister.«

Er blieb stehen und sah auf sie herunter. »Du kannst Bruce zu mir sagen«, bot er ihr mit normaler Stimme an.

Jinnie zögerte mit der Antwort. »Danke«, sagte sie dann. »Aber ›Mister‹ ist angemessener.« Sie überlegte. »Miß Caplin würde auch sagen, daß ich Sie ›Mister‹ nennen soll.«

»Wer ist Miß Caplin?«

»Eine Dame aus dem Arbeitshaus. Sie war immer sehr freundlich zu mir.«

»Also dann bleibt es bei ›Mister‹.«

Jinnie ließ das Kinn langsam auf die Brust sinken, und Bruce beobachtete sie einige Sekunden.

»Du bist ein merkwürdiges Mädchen«, sagte er dann. »Aber ich hoffe, du wirst es hier aushalten, weil meine Ma eine Hilfe wie dich braucht. Es ging ihr nicht immer so elend wie jetzt. Früher konnte sie lustig sein und war sogar hübsch. Bis diese Krankheit sie zu fassen bekam. Aber sie hat dagegen gekämpft. Meine Ma ist sehr stark. Auch wenn die Krankheit am Ende siegen wird. Aber bis dahin braucht sie Hilfe.«

Eine große Welle von Mitgefühl überwältigte Jinnie. Merkwürdigerweise nicht nur für die Kranke in ihrem Wandbett, sondern auch für deren Sohn, der sehr fürsorglich war, wie er Jinnie bereits gezeigt hatte. »Ich werde mein Bestes tun, Mister. Das verspreche ich Ihnen. Und ich mache das Haus sauber, damit alles hell und luftig wird. Dann koche ich so gut ich eben kann, und kümmere mich um Ihre Mutter. Mit alten Leuten kenne ich mich aus, wissen Sie, obwohl Ihre Mutter nicht wirklich alt aussieht. Im Arbeitshaus gab es viele Alte und Schwache. Einmal habe ich einen Monat lang das nasse Zeug weggemacht und …« Jinnie beendete den Satz durch ein einfaches Nicken, und Bruce fragte nicht, was sie mit »nasses Zeug« meinte.

»Ich bin sicher, du machst deine Sache gut«, antwortete er statt dessen. »Das sagt mir mein Gefühl. Und nun komm; ich hebe den Eisentopf vom Haken, damit du heißes Wasser zum Spülen hast.«

Als sie wieder in der Wohnküche waren, sah Bruce zu, wie Jinnie Hut und Mantel ablegte. Er nahm ihren Jutesack vom Stuhl und reichte ihn ihr. »Du nimmst besser deine Sachen und gehst nach oben in deine Unterkunft. Dort ziehst du dir etwas Gröberes an, bevor du zurückkommst. Du hast sicher noch ein anderes Kleid, oder?«

»Ja, ein Arbeitskleid.«

»Dann zieh dich um.«

Jinnie hatte den Raum beinahe fluchtartig verlassen, und Bruce sah reglos auf die offene Tür, durch die sie verschwunden war. Dann wandte er sich zu seiner Mutter. »Ich glaube, sie wird es schaffen, Ma.«

»Das… hoffe ich, Junge.« Ihre Stimme klang leise. »Nur schade, daß heute Markttag ist.«

»Ja, das stimmt. Aber ich habe ihr alles gezeigt, und nun muß sie selbst sehen, wie sie zurechtkommt.«

»Könntest du ihr nicht beim ersten Mal mit dem Geschirr auf dem Tisch helfen?«

»Ma, ich hätte schon vor einer Stunde auf dem oberen Feld sein sollen. Du weißt, was Dad sagen wird, wenn er nach Hause kommt. Und wenn sich wieder einige von den Tieren über den Berg davongemacht haben, was Gott verhindern möge, erleben wir das gleiche wie beim letzten Mal. Nicht, daß er sich selbst darum kümmern würde! Lange werde ich mir das nicht mehr bieten lassen, Ma.«

»Schon gut. Aber nun mach dich auf den Weg. Ich setze mich auf die Bettkante und sage ihr, was sie tun soll.«

»Du machst nichts dergleichen, sondern bleibst, wo du bist. Von deinem Platz aus kannst du ihr alles erklären.« Bruce trat zu seiner Mutter und schob ein weiteres, noch unbezogenes Kopfkissen hinter ihren Rücken. »So siehst du alles, und außerdem ist deine Stimme immer noch laut genug.« Während er sprach, war seine eigene Stimme sanft und leise geworden.

»Viel mehr ist auch nicht mehr von mir übrig«, entgegnete seine Mutter.

Bruce beschwichtigte sie rasch. »Nun klage nicht. Du weißt, was ich dir gesagt habe.«

»Gut, gut.« Ihr Ton wurde wieder kräftiger. »Und jetzt fort mit dir. Denn eins ist sicher: Du darfst nicht im Haus sein, wenn er kommt… Das heißt, sollte er tatsächlich direkt zurückkehren.«

»Darauf würde ich nicht bauen, Ma. Trotzdem muß ich jetzt fort.« Bruce beugte sich tiefer und berührte mit dem Finger sanft ihre Wange. An der Tür nahm er einen alten Mantel und einen ausgeblichenen Hut vom Nagel und wechselte die Kleidung. Mit einem letzten Blick auf seine Mutter eilte er aus dem Raum.

Jinnie hatte das Wachstuch abgewischt und spülte nun das benutzte Geschirr. Zuerst wusch sie das Steinzeug. Die angetrockneten Teeränder in den Henkeltassen ließen sich nur durch Scheuem entfernen. Um die Töpfe und Pfannen zu reinigen, ging sie nach draußen, hinter das Haus. Dort kniete sie sich neben einen offenen Abfluß und kratzte die verkrustete Rußschicht ab. Nachdem sie auch die Innenseiten gesäubert hatte, brachte sie die Töpfe und Pfannen in die Waschküche und reihte sie säuberlich in den Regalen auf. Tassen und Teller stellte sie in das offene Küchenbord.

Während sie hin- und herging, hatte die Frau im Bett kein Wort gesagt, aber jede ihrer Bewegungen verfolgt. Erst als Jinnie fragte, ob sie ihrer neuen Herrin etwas zu trinken bringen solle, sprach sie.

»Ja, Mädchen; und mach dir selbst auch etwas.« Jinnie nahm die Einladung dankbar an.

»Aber wie bekomme ich den schweren Eisentopf aufs Feuer, Missis? Er steht auf dem Kaminvorsprung. Ich habe frisches Wasser eingefüllt und ihn zurückgebracht. Aber hochhieven konnte ich ihn nicht.«

»Ach so.« Die Frau schob mühsam den Oberkörper vor und drehte sich im Bett zur Seite, damit sie zum Feuer sehen konnte. »Siehst du die Zahnstange und den Haken? Hole den Haken zu dir heran und hänge den Topf am Henkel ein. Dann kannst du ihn mit der Zahnstange in der Höhe verstellen.«

»Ja, ich verstehe. Danke.«

Nach einigen Versuchen schaffte Jinnie es, den Mechanismus zu bewegen, und senkte den Topf über die glimmende Glut.

Das Teewasser brodelte bereits, als sie von draußen zurückkehrte, wo sie den schweren Flechtteppich, der vor dem Kamin lag, ausgeschüttelt und die Rückseite mit den Füßen bearbeitet hatte, um die Rußreste zu entfernen, wie sie es im Arbeitshaus gelernt hatte. Hastig schob Jinnie den Topf zur Seite, bevor sie wieder zum Bett ging. »Was soll ich Ihnen machen? Haben Sie Tee?« fragte sie die Herrin.

»Ja, Mädchen, auf dem Sims, die Dose links. Die Teekanne steht unter dem Geschirrbord drüben. Fülle zwei Löffel hinein. Dann wird er nicht zu stark, denn wir haben keine Milch.

Die bringt Bruce erst heute abend mit. Er holt die Kanne von der Grenzmauer, wo einer der Knechte vom Hof sie stehenläßt. Dadurch spart er sich nach seinem harten Arbeitstag den langen Fußweg.«

Jinnie brühte den Tee auf, ließ ihn eine Weile ziehen und füllte dann eine Tasse, die sie ihrer Herrin ans Bett brachte. Bruce’ Mutter umfaßte die Tasse mit beiden Händen, als wollte sie sich daran wärmen. »Danke, Jinnie. Du sagtest doch, daß du so heißt, nicht wahr?«

Jinnie konnte sich nicht daran erinnern, ihren Namen genannt zu haben. Als sie nicht antwortete, fügte die Frau hinzu: »Bruce muß ihn gehört haben.«

Bei der Frage, was sie zu essen wünsche, lehnte sich Jinnies neue Herrin in die Kissen zurück, als müßte sie überlegen. Dann wies sie zur Decke, wo zahlreiche große Haken mit Fleischstücken an einem Balken hingen. »Dort oben sind zwei Schinken, eine Schulter und ein Lammschlegel«, sagte sie. »Die beiden letzten könnten etwas zu alt sein, aber die Schinken sind gerade richtig. Doch was nützt es? Deine Arme sind zu kurz, und du mußt warten, bis …«

»Wenn ich mich auf den Tisch stelle, schaffe ich es schon, Missis.«

Wieder erschien ein angedeutetes Lächeln im Gesicht der Farmersfrau. »Ja, Mädchen, du hast recht. Aber wenn du auf dem Tisch stehst, mußt du den Kopf einziehen, sonst brichst du durch die Decke. Also los. Hol mir den da runter.«

Auf den Ellenbogen gestützt, beobachtete die Hausherrin, wie das so zart wirkende Mädchen auf den Tisch kletterte, mit zusammengezogenen Schultern die Arme ausstreckte und den Schinken vom Haken nahm. Doch das Fleischstück war zu schwer, und sie ließ es auf den Tisch poltern.

Wieder auf dem Boden stehend, lachte Jinnie. »Er wiegt viel mehr, als ich dachte, Missis.«

»Bring ihn her.«

Jinnie gab den Schinken Bruce’ Mutter, die ihren langen, knochigen Daumen hineindrückte. »Den kannst du nehmen. Er eignet sich gut zum Braten.« Sie machte eine Pause und neigte den Kopf zum Sims, auf dem eine Uhr stand, die von zwei romantisch umschlungenen Figuren aus Staffordshire-Porzellan gehalten wurde. »Gegen sechs Uhr sollte Bruce zurück sein. Er holt dir den schweren Topf vom Haken, und bis dahin mußt du eine große Pfanne mit Kartoffeln vorbereitet haben. Die Kartoffeln findest du in einem Sack in der Schelme. Um die Ecke, wenn du dich erinnerst. Die Schalen bringst du ins Nebengebäude, wo der Kessel für das Schweinefutter steht. Er war ein oder zwei Tage nicht in Betrieb … und die Sau mußte alles roh fressen. Aber sie mag das heiße Gemisch, und in ihrem Zustand braucht sie es auch. Ich werde Bruce bitten, daß er dir zeigt, wie du das Feuer unter dem Kessel in Gang bringst und ihr Futter kochen kannst. In der Zwischenzeit, während die Kartoffeln kochen, schneidest du sechs Scheiben Schinken von diesem Stück ab.« Bruce’ Mutter wies auf die Schinkenhälfte. »Die ersten vier ungefähr so.« Sie zeigte, wie dick die Scheiben sein mußten. »Die letzten zwei machst du etwas dünner. Sie sind für dich und mich«, fügte sie hinzu. »Hast du mich verstanden?«

»Ja, Missis.«

»Dann mach dich an die Arbeit und lege die abgeschnittenen Scheiben in den Vorratsschrank, bis sie gebraucht werden.« Zur Erklärung wies Bruce’ Mutter über ihre Schulter.

Jinnie nahm den Schinken und ging auf die andere Seite des Raums. Etwas ratlos suchte sie nach dem bezeichneten Schrank, ohne ihn zu finden. Dann entdeckte sie in einer Ecke neben der Kommode eine Klappe. Sie hob die Klappe an und erkannte ein Regal, das tief in die Mauer eingelassen war. Nachdem sie den Schinken auf ein Bord gelegt hatte, kehrte sie zum Bett zurück und lächelte ihre Herrin an. »Ich mußte eine Weile danach suchen; es ist ein Versteck in der Wand, nicht wahr?«

Bruce’ Mutter nickte. »Ja, diese Hausseite ist sehr dick, über einen Meter. Sie haben dort angebaut.« Sie wies auf die Wand hinter ihrem Bett. »So entstand der Zwischenraum. Der Großvater meines Mannes hat das veranlaßt, als das Haus errichtet wurde.« Die Kranke ließ sich schwer in die Kissen zurücksinken und seufzte.

Der Laut machte Jinnie traurig und ließ sie fragen: »Soll ich Ihnen etwas bringen, Missis? Möchten Sie vielleicht eine Schüssel Wasser?«

»Nein, Mädchen. Ich habe mir heute morgen mit einem feuchten Tuch das Gesicht gewaschen. Darum hat sich Bruce gekümmert. Aber wenn du mir den Nachttopf geben möchtest … Er steht hinter dem Vorhang dort.« Sie zeigte zum Fußende des Bettes. »Dort, wo er bis zum Boden reicht.«

Jinnie folgte der Beschreibung und entdeckte ein eingerissenes Vorhangstück, das von einer über dem Bett angebrachten Stange fiel. Sie hob den Stoff hoch und sah wieder ein Wandregal, auf dem ein Nachttopf aus Porzellan stand. Ein Übelkeit erregender Geruch ging davon aus. Jinnie schloß kurz die Augen und biß sich auf die Lippen, um ihren Widerwillen zu verbergen.

Nachdem sie der Kranken den Topf gereicht hatte, vernahm sie überrascht, wie diese sagte: »Ich weiß, daß er riecht, Mädchen. Seit Monaten war ich zu schwach, um ihn zu scheuem, aber wenn besseres Wetter kommt, kann ich vielleicht aufstehen und … zum Häuschen gehen.«

»Schon gut. Machen Sie sich keine Sorgen, Missis«, bemühte sich Jinnie rasch zu versichern.

Die Frau hielt inne, bevor sie den Nachttopf unter ihr Bettzeug schob, und sah Jinnie an. »Du scheinst wirklich ein gutes Mädchen zu sein. Ich hoffe nur, du wirst es ertragen können.«

»Ganz bestimmt, Missis. Mir macht es nichts aus, mich um Sie zu kümmern.«

»Wenn es nur das wäre«, entgegnete die Frau und schloß die Augen. »Aber hier gibt es mehr als nur mich, womit du fertigwerden mußt. Wir werden sehen.«

»Wo kann ich ihn ausleeren?« fragte Jinnie einige Minuten später.

»Vor der Tür steht ein Eimer. Gieß alles dort hinein. Wenn der Eimer voll ist, trägst du ihn zur Grube. Sie befindet sich hinter dem Hühnerauslauf. Oft wirst du dich nicht damit abmühen müssen, denn Bruce kümmert sich darum, es sei denn, er muß bei lahmenden Schafen bleiben oder aus anderen Gründen nachts wach bleiben…« Sie schwieg abrupt.

Einige Zeit später, als Jinnie die schmutzverschmierten Fensterscheiben putzte, sprach die Herrin erneut. »Hast du Hunger, Mädchen?«

Jinnie antwortete hastig: »Ja, ein wenig, Missis.«

»Nun, es wird noch eine Weile dauern, bis die Männer heimkommen. Geh in die Waschküche und sieh dort im Schrank nach. Bruce hat mir gesagt, daß noch etwas Schweineschmalz und ein Rest Brot da ist. Aber es wird steinhart sein; die letzte konnte nicht backen.«

Auf Jinnies fragenden Blick antwortete die Farmersfrau. »Das letzte Mädchen, meine ich… Eigentlich war sie kein Mädchen mehr, sondern eine Frau. Und sie stank vor Faulheit. Sie gehörte hinter den Schanktisch. Daran war sie gewöhnt. Gott weiß, warum sie ausgerechnet hier arbeiten wollte. Ich dachte mir schon, worauf sie aus war. Aber das hat sie nicht gefunden.« Da keine weiteren Erklärungen zu dieser rätselhaften Bemerkung folgten, lief Jinnie in die Waschküche. Im Speiseschrank fand sie einen Krug mit Schmalz. Sie strich etwas davon auf eine Scheibe trockenes Brot und streute Salz darüber. Es schmeckte gut. Als sie die zweite Scheibe abschnitt, überlegte sie, daß eine wunderbare Mahlzeit daraus werden würde, wenn sie das Brot röstete …

Ungefähr zwei Stunden später richtete sich die Kranke im Bett auf. »Geh zur Tür und höre, ob ein Wagen kommt«, sagte sie.

Jinnie folgte der Aufforderung und kehrte dann zum Bett zurück. »Nein, Missis. Ich konnte nichts hören. Draußen ist es ruhig, und es geht auch kein Wind.«

Die Kranke hatte die Hände vor der Brust zusammengepreßt. »Also, Mädchen. Wenn mein Mann nach Hause kommt, bitte ich dich, überhaupt nicht auf das zu achten, was er sagt, weil er wahrscheinlich … nun, früher oder später wirst du es selbst herausfinden. Er wird betrunken sein. Natürlich ist das nichts Ungewöhnliches für einen Mann … aber an Markttagen scheint er dem Drang besonders großzügig nachzugeben.«

Während der zwei Wochen, die Jinnie in Newcastle im Dienst verbracht hatte, hatte sie bereits einige Erfahrungen mit einem betrunkenen Mann gemacht. Der Hausherr war des öfteren in gehobener Stimmung heimgekehrt und zweimal zu Jinnie in die Küche gekommen, um sich mit ihr zu unterhalten. Bei beiden Gelegenheiten war die Herrin nicht zu Hause. Der Herr stellte eine Menge Fragen zum Arbeitshaus und über Jinnie selbst, und sie mochte ihn ‒ bis zu jener Nacht, als er in ihren Verschlag kroch und sich auf sie legte. Jinnie hatte fest geschlafen und fuhr schreiend hoch. Ja, sie wußte, wie sich betrunkene Männer benahmen.

Sie hatte den Tisch mit dem einfachen Geschirr und Besteck für drei Personen gedeckt. In der Kommode fand sie ein sauber gewaschenes, passendes Leintuch, das sie auf das Tablett für die Hausherrin legte. Während sie auf die Heimkehr der Männer wartete, füllte sie den Kohlenschütter auf, indem sie die Kohle schaufelweise hereinbrachte, denn sie konnte nicht einmal den leeren Messingbehälter heben. Dann kümmerte sie sich um das Kaminfeuer und fachte es mit dem Blasebalg an, bis die fröhlich flackernden Flammen den Raum mit weichem Licht erfüllten.

Beide Frauen fuhren zusammen, als die Tür plötzlich aufgerissen wurde und Bruce hereingestürzt kam, als suchte er Streit, zumindest in Worten. Abrupt änderte er seine Haltung und sah von Jinnie, die neben dem Tisch stand, zu seiner Mutter im Bett. Während er in den Raum trat, fragte er überrascht: »Noch nicht zurück?«

»Nein, Junge. Er ist noch nicht da.«

»Es ist beinahe sieben.«

»Ja, ich weiß.« Leise fuhr seine Mutter fort: »Vielleicht macht er es wie Hai und bleibt die ganze Nacht unten.«

»Hoffen wir, daß es so ist. Aber an soviel Glück glaube ich nicht.«

»Du sagst es, Junge. Auf soviel Glück dürfen wir nicht hoffen … Hattest du viel zu tun?«