Der Hühnergott auf der Fensterbank - Karina Brauer - E-Book

Der Hühnergott auf der Fensterbank E-Book

Karina Brauer

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Beschreibung

Glück schert sich nicht darum, ob es dem Tüchtigen gehört oder durch längst verschlossene Türen kommt oder gar mit Hilfe eines Glücksbringers … Der Roman „Der Hühnergott auf der Fensterbank“ zeigt genau das. Die Heldin Valeska muss viel tun für ihr Glück, oft genug entrinnt es ihr, aber nie gibt sie sich auf. In ihrem Buch schreibt die Autorin von Freundschaft und Liebe, von Hass und Enttäuschung, von Vertrauen und Verrat. Das Glück, das lernt Valeska, kommt eben nicht von alleine, man muss etwas dafür tun und da ist es gut, wenn man Freunde und Familie hat, die da sind, wenn man sie braucht … PS: Den Hühnergott gibt es wirklich! LESEPROBE: Im Hotel hatte sie nur noch den Wunsch, schnell in ihr Zimmer zu kommen, um sich dort einzuschließen und sich von nichts und niemandem mehr stören zu lassen. Ihren Schlüssel hatte sie bereits, zielstrebig steuerte sie auf den Fahrstuhl zu, als sich ihr plötzlich ein Mann in den Weg stellte. Erschrocken wich Valeska mit einem kurzen „Huch“-Aufschrei zurück. Der Mann ging ebenso erschrocken einen Schritt rückwärts, der Portier hüstelte und blickte weiter aufmerksam zu den beiden Personen hinüber. Der Mann sah Valeska nun freundlich an, lächelte und fragte: „Erkennen Sie mich nicht?“ Valeska schüttelte den Kopf und antwortete, dass diese Anmache ihr sowieso zu dumm wäre. Dann wollte sie an ihm vorbei, er aber hielt sie am Arm fest, da drehte Valeska sich um und klatschte dem Unbekannten mit der Handfläche eine Ohrfeige ins Gesicht. Der Portier rief herüber, dass er sofort die Polizei und den Herrn Staatsanwalt holen würde. Der Fremde blickte Valeska ganz verdattert an. „Nein, lassen Sie das!“, rief er zum Portier herüber, und fügte dann noch hinzu: „Es ist wirklich alles in Ordnung.“ „Wirklich?“, fragte Valeska überrascht. Nun wandte der Mann sich ihr erneut zu: „Entschuldigen Sie bitte, dass ich Sie hier einfach so anspreche. Ich bin Frank Manske. Vielleicht erinnern Sie sich noch?“ Valeska lief, ohne ihm zu antworten, hinüber zum Portier. „Bitte, es ist alles in Ordnung. Ich habe den Mann nicht gleich erkannt, deshalb, war ich so …“ Der Portier nickte und gab vor, Verständnis zu haben. Auf seinem Gesicht war aber etwas anderes zu lesen, das wollte Valeska im Moment allerdings auch nicht weiter ergründen. Sie kehrte zu Frank Manske, der seine getroffene Wange rieb, zurück. „Entschuldigen Sie, das ist eigentlich nicht meine Art.“

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Impressum

Karina Brauer

Der Hühnergott auf der Fensterbank

ISBN 978-3-95655-372-1 (E-Book)

Die Druckausgabe erschien erschien 2009, in der überarbeiteten Fassung 2013 im Eigenverlag Karina Brauer.

Gestaltung des Titelbildes: Michael Gauer (www.fotogauer.de, [email protected])

© 2015 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

1. Kapitel

Die frühe Abendsonne blinzelte durch das farbige Glas der Fensterscheiben. Bunte Farbenspiele tanzten auf der weißen Tischdecke und verliehen dem ansonsten so sachlich eingerichteten Gastraum eine angenehme Atmosphäre.

Seit einer Stunde saßen die beiden jungen Mädchen bereits im kleineren Gastraum des Lokals. Zunächst hatten sie Kaffee getrunken und nun stand vor jeder ein Glas Club-Cola. Zweimal schon hatte der Wirt durch kräftiges Räuspern darauf aufmerksam gemacht, dass sie zu laut waren, dabei war der Lärmpegel im hinteren Teil, im sogenannten Tanzsaal der Gaststätte „Zur Rebe“ erheblich intensiver. Die Mädchen hatten genickt, ohne sich nach dem Wirt umzusehen. Warum sollten sie es auch tun? Heute war alles anders, das hatten sie bereits beim Eintreten bemerkt. Heute war die eigentliche Chefin, die Frau des Wirtes, wieder einmal erschienen und die duldete eben keine lachenden jungen Mädchen - im Gegensatz zu ihrem Mann. Wie oft hatten die beiden Freundinnen schon darüber gerätselt, was diese Frau, die sie noch niemals freundlich gesehen hatten, einst so begehrenswert für Herbert Schmalbier gemacht hatte. Schmalbier - ein passender Name für den Kellner eines Weinlokals! War sie früher netter oder war es einfach nur das Geld, das ihre Familie besaß? Zu einer Lösung fanden die Mädchen nie. Wenn sie über dieses Rätsel „sinnierten“, wie sie es nannten, wurden beide nur immer lustiger. Aber eigentlich, eigentlich interessierte die Mädchen Frau Schmalbier, diese verbitterte Frau, auch nicht wirklich.

Nun also ein erneutes Räuspern direkt neben ihnen. Das Lachen unterdrückend sah Valeska, das Mädchen mit der aschblonden Kurzhaarfrisur, zu ihrer schwarzhaarigen Freundin Susanna und dann auf die Beine neben ihrem Tisch. Das Herz blieb ihr fast stehen. Sie sah nicht wie erwartet schwarze Kellnerhosenbeine, sondern eine grüne Uniformhose! Schnell blickte das Mädchen auf. Ein Polizist! Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte sie, ohnmächtig zu werden. Der große blonde Mann lachte sie jedoch freundlich an und fragte mit angenehmer Stimme, ob er und sein Kollege sich zu ihnen setzen dürften. Susanna Seifert, die Freundin, hatte sofort, ohne Valeskas Zustimmung abzuwarten, bejahend geantwortet, also eigentlich hauchte sie dieses „Ja“ mehr. Währenddessen strich sie sich sogleich durch ihre langen Haare.

Noch während die beiden Männer Platz nahmen, verschwand Valeska eiligst zur Toilette. Der erstaunte Blick des Blonden entging ihr dabei natürlich. Aber außer ihm hatte sich ohnehin niemand über Valeska gewundert, niemandem sonst war ihre sonderbare Reaktion aufgefallen.

Valeska zog schnell die Tür zur Toilette hinter sich zu. An der Wand lehnend kam sie in dem kleinen Kabüffchen langsam wieder zur Ruhe. Nach einer Weile drehte das junge Mädchen den Wasserhahn auf und ließ das kalte Wasser über ihre Hände fließen. Das tat gut. Dann hielt sie auch ihr Gesicht unter den inzwischen eiskalten Strahl. Endlich betrachtete sie sich im Spiegel, noch immer war ihr Gesicht weiß, so weiß wie die gekalkten Wände um sie herum. Das Angstvolle darin war jedoch inzwischen verschwunden. „Du Dummchen, hast du wirklich gedacht, du sollst verhaftet werden! Reiß dich zusammen und geh wieder zurück! Dir passiert doch nichts!“, sprach sie leise zu sich. Nun straffte sie ihren Körper, lächelte ihr Spiegelbild an und sprach sich laut Mut zu: „Ich habe keine Angst!“

Valeska griff zur Tür, die im nächsten Moment energisch von außen aufgestoßen wurde. Die Schmalbiersche stand ihr gegenüber. „Ich dachte schon, Sie kommen gar nicht mehr raus!“, presste die garstige Frau mehr als vorwurfsvoll durch die fast verschlossenen Lippen. Wortlos ging Valeska an ihr vorbei. Am Tisch wurde sie bereits erwartet. „Du trinkst auch einen Weinbrand mit?“, fragte sie der Nichtuniformierte. Eigentlich hatte Valeska gerade verneinen wollen, da spürte sie einen ziemlich starken Tritt an ihr Schienbein. „Natürlich trinkst du auch einen mit, nicht wahr, Floh! Schließlich sind wir nur einmal so jung!“, antwortete Susanna für Valeska. Der Mann rief dem Wirt die Bestellung zu, ihn interessierte Valeskas Antwort ohnehin nicht. Valeska schwieg, enttäuscht blickte sie die Freundin an. Valeska schien es, als stünde auf Susannas Stirn in Leuchtreklameschrift: Sei jetzt bloß nicht schon wieder so ein Spielverderber!

Wahrscheinlich hätte die schwarzhaarige Susanna noch mehr gegen Valeskas Schienbein getreten, wäre nicht der Kellner mit den Getränken gekommen. Valeska schickte der Freundin einen bösen, einen bitterbösen Blick über den Tisch. Der wurde aber von der Freundin mit einem spitzbübischen Lächeln ignoriert. Valeska mochte Susanna Seifert wirklich gerne, aber sie hasste es, wenn die Freundin immer völlig ausflippte, sobald ein Mann in ihrer Nähe war, der ihr auch nur ein wenig Aufmerksamkeit schenkte. Susanna behauptete gar selbst, sie könne nichts dafür, dass sie so „mannstoll“ sei. Nach ihrer Meinung war es sehr wichtig für eine moderne Frau und so eine wollte sie schließlich sein, wenn sie jede Gelegenheit, die sich bot, auch nutzte. Aber wahrscheinlich war es nur die Angst, alleine zu bleiben. So ein Quatsch natürlich! Mit ihren 19 Jahren und ihrem Aussehen, aber vor allem wegen ihrer ansonsten so liebenswerten Art brauchte sie das nun wirklich nicht anzunehmen.

„Du heißt Floh?“, fragte nun der ältere der beiden Männer, der Zivilist, und er wollte dabei sehr witzig wirken. „Nein“, war die kurze Antwort Valeskas. Was ging diesen Fatzke ihr Name an. Er war ihr unsympathisch, sehr sogar, das konnte er ruhig merken. Der Mann sah sie ein wenig verwirrt an. Bevor die Peinlichkeit dieser Situation sich noch weiter ausdehnen konnte, zog Susanna den Typen auf die Tanzfläche. Der Freundin zeigte die nun Tanzende einen Vogel. Na und, das hatte sie umsonst!

Zurück blieb Valeska mit dem schweigsamen Polizisten. Er betrachtete sie die ganze Zeit schon unaufdringlich und freundlich. Nun nahm er sein Glas Cola und prostete ihr zu. „Ich heiße Jürgen, Jürgen Winterstein. Tut mir leid, dass mein Kollege so ...“, er suchte nach Worten. „Ich meine, ähm, also nehmen Sie es ihm bitte nicht übel. Wissen Sie, er ist heute geschieden worden und das will er feiern.“

Das Mädchen sah ihn freundlich an, nickte und sagte dann leise: „Ich bin Valeska. Freunde nennen mich Floh, aber eben nur meine wahren Freunde, wenn Sie verstehen, was ich meine?“ Er verstand ...

2. Kapitel

Die Sonne schien in das Dachzimmer durch das geöffnete Fenster. Staubpartikelchen tanzten auf den Sonnenstrahlen über dem Fußboden. Der uralte braune Plüschaffe, der auf dem Stuhl neben Valeskas Bett saß, blickte das strahlende Mädchen verwundert an, so als schien er sich zu fragen: „Was ist denn heute bloß mit Valeska los?“

Valeska war lange vor dem Weckerklingeln aus ihrem Bett gesprungen - nun, das tat sie eigentlich jeden Morgen, aber heute, heute strahlte sie mit der aufgegangenen Sonne um die Wette. Nein, der Affe konnte es nicht fassen! Seit Jahren hatte er das Mädchen nicht so fröhlich gesehen. Und was soll denn das nun noch? Bimbo, der Affe, konnte es nicht glauben. Verträumt nahm Valeska ihn, den guten alten Freund, in den Arm und drückte und knuddelte ihn. Nun tanzte sie sogar mit ihm durch das Wohnheimzimmer. Irgendwie wirkte jetzt sogar der bescheiden eingerichtete Raum verändert. Die alten Holzschränke, die eher in eine Garage oder Werkstatt passten als in ein Mädchenzimmer, die Schulstühle, ... Alles war wie verzaubert. Valeska schwebte fast über die alten Holzdielen des Zimmers. Selbst deren Knarren klang heute wie Musik. Vor dem Bett der Freundin, das wie immer akkurat gemacht, aber in der letzten Nacht unbenutzt geblieben war, hielt das Mädchen einen kurzen Moment inne, dann tanzte sie wieder lachend zurück und setzte Bimbo auf ihrem Kopfkissen ab. Jetzt ging sie ans geöffnete Fenster und blickte hinaus. Irgendwo klingelte ein Wecker. Während Valeska durch die Blätter des alten, knorrigen Apfelbaumes, der vor dem Wohnheim stand, hinaus auf die blühenden gelben Rapsfelder blickte, nahm sie den zarten Duft der vielen weißen und rosafarbenen Apfelblüten in sich auf. Plötzlich sagte sie, gerade so, als wäre es das Normalste von der Welt, mit einem Plüschaffen zu sprechen: „Bimbo, ich finde, die Welt ist so schön! So wunder-, wunderschön!“ Dann drehte sich die Achtzehnjährige um und ging zur Zimmertür. Von dort fragte sie lachend nach: „Hast du das auch gewusst?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, verließ sie den Raum. Fast schien es ihr, als hätte ihr der Affe noch zugezwinkert.

Natürlich war die Welt schön und natürlich wusste auch Bimbo das. Valeska bummelte nun gemächlich in ihrem blau-weiß gestreiften Frotteebademantel über den Flur ins Gemeinschaftsbad der oberen Etage des Wohnheims. Sie war allein. Suse nicht da, die Jungen durften hier nicht her und die anderen Mädchen schliefen scheinbar noch. Valeska genoss die Ruhe und wusch sich ohne Hektik.

Derweil saß der Affe Bimbo allein in dem Wohnheimzimmer. Wie so oft betrachtete er die Poster an der Wand, die über Valeskas Bett klebten. Die Männer darauf, davon war er fest überzeugt, die würden ihn ständig beobachten. Dabei war er doch der argwöhnische Beobachter. Woher aber sollte Bimbo auch wissen, dass der Indianer in Wirklichkeit kein Indianer war, sondern ein Schauspieler namens Gojko Mitić. Ja, und der Cowboy war Dean Reed. Ein Schauspieler aus den USA, der in der DDR lebte.

Manchmal war Bimbo schon ein wenig eifersüchtig, wenn die beiden in Valeskas Träumen ihre Retter spielten. Bimbo war eben ein Affe und er war immer ein bisschen traurig, wenn er nicht gemeinsam mit Valeska aufregende Abenteuer erlebte ... Nun ja, er konnte nicht immer in ihren Gedanken sein. Und doch war Bimbo eben nicht einfach nur ein Plüschaffe, er war Valeskas Freund.

3. Kapitel

Bimbo war ein Affe mit Geschichte und vor allem Geschichten. Eine davon war bereits sein Einzug in das Leben von Valeskas Familie. Der Urgroßvater, der Kaufmann Friedrich Mahlsen aus einer winzigen pommerschen Kleinstadt, hatte Bimbo zur Geburt von Irma, Valeskas Großmutter, gekauft. Nach vier Söhnen hatte Urgroßmutter Auguste Mahlsen ihrem Friedrich Ende der sogenannten „Goldenen Zwanziger Jahre“ endlich ein Töchterchen zur Welt gebracht. Da hatte sich der stolze Friedrich Mahlsen auf den Weg in die Hauptstadt Berlin gemacht, um etwas ganz Besonderes für seine Prinzessin Irma zu erwerben. Der Affe, den er in der Wilmersdorfer Straße in einem der ersten Kaufhäuser in Berlin erstand, sollte fortan immer an das erste weibliche Kind weitergegeben werden.

So geschah es auch. Irma, die im ersten Nachkriegsjahr den Heimkehrer Hugo Pilz heiratete, legte ihrer im Mai des darauffolgenden Jahres geborenen Tochter Irene den Bimbo in die Wiege. Sie hoffte so sehr, dass das Kind es einmal besser haben und der Affe bei Reni, wie sie die Kleine liebevoll nannte, mehr freudige Ereignisse erleben würde als bei ihr.

Friedrich Mahlsens Großvater Johann David hatte in der pommerschen Kleinstadt wenige Monate nachdem eine kaiserliche Verordnung den Verkauf von Heil- und Giftkräutern neben Apothekern auch endlich Drogisten erlaubte, ein kleines Haus erworben und darin ein Drogeriegeschäft eröffnet. Seitdem verkaufte der damals neununddreißigjährige Johann David Mahlsen selbst hergestellte Arzneidrogen, Kräutermischungen, Cremes und Pulver für alle möglichen Zwecke. Die Geschäfte liefen gut und alsbald gehörten die Mahlsens zu den angesehenen Familien der Stadt. Dreißig Jahre führte der alte Mahlsen das Drogenhaus Mahlsen & Sohn. Dann übergab er das Geschäft an seinen Sohn David Friedrich, der es dann an seinen Sohn weitergeben sollte. Lange hatte es jedoch nicht danach ausgesehen, dass es einen Nachfolger geben würde. Davids Frau Henriette hatte bereits zwei Totgeburten hinter sich, als endlich in einer Neujahrsnacht ein gesunder Sohn geboren wurde, den sie Friedrich Bernhard Johann nannten. Als David dann zwei Jahre nach dem Jahrtausendwechsel das Drogenhaus Mahlsen & Sohn übernahm, da stand der kleine siebenjährige Friedrich stolz neben seinem Vater. Friedrich war ein ehrgeiziger und zielstrebiger Junge, sein ganzes Leben war von klein auf stets auf die Geschäftsübernahme ausgerichtet. Vater und Großvater erfreute das, seiner Mutter Henriette machte das Wesen ihres Sohnes allerdings schon manchmal Angst. Nur dreizehn Jahre nach der Geschäftsübernahme verstarb Friedrichs Vater. So wurde Friedrich Mahlsen also im Alter von zwanzig Jahren bereits der Besitzer der gut gehenden Drogenhandlung. Der inzwischen achtzigjährige Großvater Johann David und Mutter Henriette unterstützten ihn, wo immer sie konnten. Das Geschäft lief wirklich ausgezeichnet. Zwei Angestellte und ein Lehrling fanden hier Arbeit. Die Familie hatte inzwischen sogar das Nachbarhaus mit großem Grundstück gekauft. Friedrich führte, nein, er regierte das ganze Unternehmen mit strenger Hand, erst recht als er die Nachricht erhielt, dass er nicht für den Kaiser und für Deutschland in den Krieg ziehen durfte. Nun zeigte er allen, wie wichtig er und vor allem sein Geschäft waren.

Erst die Begegnung mit der fünf Jahre älteren Tochter des Schneidermeisters Karl Wilhelm Zumpe veränderte ein wenig das Verhalten von Friedrich Mahlsen. Plötzlich war er nicht mehr nur zu den Kunden freundlich, gelegentlich hatte er jetzt auch ein nettes Wort für die Angestellten in Geschäft und Haushalt übrig. An den Wochenenden ging er viel mit Auguste Zumpe spazieren. Ja, Friedrich war entspannter geworden. Wenige Wochen später wurde geheiratet und bereits zehn Monate nach der Hochzeit gebar Auguste einen Jungen, den sie Helmut nannten. Im Abstand von zwei Jahre kamen zunächst die Zwillinge Josef und Robert und dann Richard zur Welt. Und als nach drei weiteren Jahren dann auch noch durch ein Töchterchen, nämlich Irma, die Familie vergrößert wurde, da war das Glück perfekt.

Aber mit der Weltwirtschaftskrise und dem Erstarken der Nationalsozialisten veränderte sich das Mahlsensche Familienleben und vor allem das Familienoberhaupt Friedrich Mahlsen. Friedrich trat in die NSDAP ein und die Mahlsen-Söhne waren die ersten Jungen, die im Deutschen Jungvolk, bei den Pimpfen und später in der Hitlerjugend organisiert waren. Fortan spielte das Deutschtum, das „Wir sind die Herrenmenschen“-Gehabe im Hause Mahlsen eine große Rolle. Friedrich wollte es so! Friedrich kandidierte bei den nächsten Wahlen für seine Partei und saß dann sogar im Stadtparlament. Fortan hetzte er noch unerbittlicher gegen die Juden und die Kommunisten und daheim verstand Auguste die Welt nicht mehr.

Irma, die ihren Vater vergötterte, geriet immer mehr in einen Zwiespalt. Ihre besten Freundinnen Lea und Judith sollten plötzlich die Feinde Deutschlands sein.

Als dann in der sogenannten „Kristallnacht“ die Scheiben des Juweliergeschäftes von Leas Vater zerschlagen wurden und das Schild an der Arztpraxis von Dr. Aaron Grünspan, dem Vater von Judith, mit der Aufschrift „Lasst euch nicht von Juden behandeln!“ beschmiert wurde, da war die kleine Irma so verzweifelt, traurig und einsam. Niemand half ihr über ihren Kummer hinweg, niemand außer Bimbo, der geduldig zuhörte.

Wenige Tage nach diesem schrecklichen Ereignis waren die Freundinnen und ihre Familien, waren alle jüdischen Familien aus der Stadt verschwunden. Irma kuschelte sich an ihren Plüschaffen und betete fortan abends im Bett zu ihrem Gott, dass er den Verjagten beistehen solle und dass die Freundinnen ihr und ihrer Familie vergeben möchten. Trotz ihrer elf Jahre spürte das Kind, dass hier Unrecht, fürchterliches Unrecht geschah.

Irma hatte sehr wohl gesehen, dass die großen Brüder damals in jener Nacht unterwegs waren. Helmut schenkte seiner Freundin, der Bürgermeisterstochter, sogar eine Kette, die stammte aus dem Schaufenster des Geschäftes von Jacob Goldmann.

Und dann begann der Krieg. Ungeachtet seiner vierundvierzig Jahre war Friedrich Mahlsen einer der ersten Freiwilligen der Stadt. Von der vermeintlichen Schmach, im ersten Weltkrieg nicht für Deutschland und den Kaiser gekämpft zu haben, nicht gedurft zu haben, wollte, ja musste er sich nun reinwaschen. Siegessicher zog er bereits in der ersten Septemberwoche des Jahres 1939 ungeachtet der Tränen von Frau und Tochter fort. Die Söhne standen stramm und sahen den Vater schon in Gedanken siegreich zurückkehren. Glaubten sie doch auch seiner Vision von neuem Land im Osten. Bereits zehn Tage später war der Traum ausgeträumt. Der Briefbote überbrachte Auguste Mahlsen die traurige Nachricht vom Tode ihres Mannes, der von Feinden in einen Hinterhalt gelockt, erschossen wurde. Jahre nach dem Krieg erfuhr Irma dann, dass der Heldentod ihres Vaters ein tragischer Unfall gewesen war. Er selbst hatte durch Unachtsamkeit einen Schuss aus seiner eigenen Waffe ausgelöst. Aber das konnte man ja nicht schreiben!

Nach dem Tode des Vaters war Helmut nun der Chef, aber auch ihn drängte es ins Gefecht. Ein halbes Jahr später kam er zur Marine. An ihrem neunzehnten Geburtstag wurden Josef und Robert an die Ostfront eingezogen. Nun lag alles in den Händen von Auguste Mahlsen, die sich nur schwer mit der Situation abfinden konnte. Nach außen war sie die tapfere Kriegswitwe, die daheim das Geschäft ihres Mannes weiterführte, aber Irma spürte, dass die Mutter sich immer mehr zurückzog. Die Jahre vergingen. Letztendlich musste auch Richard zur Wehrmacht. Im Gegensatz zum Vater und seinen drei Brüdern hatte er die Sinnlosigkeit dieses Krieges trotz seiner Jugend erkannt. Aber es half nichts, es führte kein Weg daran vorbei. Nun hatte Auguste also alle vier Söhne im Krieg und dreimal brachte der Briefbote bereits die Mitteilung ins Haus, dass sie den Heldentod für Führer, Volk und Vaterland gestorben waren. Helmut starb beim Untergang der „Bismarck“ im Atlantik und die Zwillinge Josef und Robert kamen im Winter in Stalingrad ums Leben. Das war zu viel für Auguste, sie war eine gebrochene Frau.

Mit ihren jungen Jahren kümmerte sich Irma von nun an neben der Schule auch um den Haushalt und half im Geschäft, das der Angestellte Fritz Weigert seit Richards Fortgang leitete. Damit war Irmas Freizeit voll ausgefüllt und damit blieb ihr das Mitmachen im Bund deutscher Mädchen erspart. So hatte es denn auch etwas Gutes. Denn Irma hasste inzwischen nichts so sehr wie diesen verdammten Krieg.

Dann endlich war der Krieg vorbei. Deutschland hatte den Krieg verloren und Irma neben dem geliebten Vater auch die vier Brüder. Den jüngsten, den Richard, sogar nur wenige Tage vor Kriegsende. Daran war die Mutter dann endgültig zerbrochen. Nichts nahm die einst so lebenslustige und fleißige Kaufmannsgattin Auguste Mahlsen mehr wahr, sie saß nur noch in ihrem Lehnstuhl und blickte starr vor sich her.

Das Geschäft war zerstört, ebenso das Wohnhaus. Unterschlupf hatten Mutter und Tochter bei Freunden gefunden und nun bewohnten sie zu zweit eine kleine Mansardenwohnung, das heißt eigentlich zu dritt, denn den Plüschaffen Bimbo hatte Irma ebenso wie Mutters Lehnstuhl, ein Geschenk des Vaters, aus den Trümmern des Hauses noch retten können.

Im Frühjahr nach Kriegsende kam mit Hugo Pilz endlich wieder das Glück zurück in Irmas Leben. Hugo, der aus Danzig stammte und dessen Familie beim Untergang der „Wilhelm Gustloff“ umgekommen war, war auf der Durchreise nach Hamburg zu einem Cousin. Auf dem Marktplatz war ihm die rothaarige Irma sofort aufgefallen und als sie ihn dann aus ihren grünen Augen angelächelt hatte, da war es um ihn geschehen. Auch Irma hatte sich sofort verliebt in den hageren Mann, dessen bunte Pudelmütze so gar nicht zu dem alten, zerschlissenen Militärmantel passte, ihm aber den kahlen Kopf wärmte. Was es genau war, konnte Irma nie sagen, aber als Hugo sie ansprach, da wusste sie sofort, dass er ihr Mann werden sollte. So war Hugo auch ziemlich überrascht, als sie ihm auf die Frage, wo denn das nächste Hotel sei, mit „Ja“ antwortete. Irma hatte sich schon auf dem Standesamt gesehen. Hugo fand ein Quartier in der Nähe von Irma. Hamburg und der Cousin konnten warten! Wenige Wochen später heirateten sie und er zog mit in die Mansardenwohnung ein. Das Glück war mit der Geburt von Töchterchen Irene im Mai des darauffolgenden Jahres komplett. Bimbo gehörte nun dem Sonnenschein Irene! Aber von alledem bekam die Mutter Auguste Mahlsen nichts mehr mit. Sie atmete, aß und trank, sie lebte mit der Familie ihrer Tochter und war doch längst gegangen.

Mitte der fünfziger Jahre, kurze Zeit nach dem Tod der Mutter, zog die junge Familie Pilz ins Brandenburgische, in ein Dörfchen nahe der polnischen Grenze. Hugo hatte in dem dortigen Kraftwerk Arbeit gefunden. Und Bimbo zog mit.

4.. Kapitel

Inzwischen war Plüschaffe Bimbo schon weit über 50 Jahre alt, sein Äußeres hatte natürlich in den Jahren auch ein wenig gelitten, aber das störte Valeska nicht. Hatte sie doch vor allem von der Großmutter gelernt, jeden unabhängig von Aussehen und Ansehen zu achten. Warum also nicht auch den Plüschaffen Bimbo! Seit ihrer Geburt war er ihr Vertrauter, so wie er es dereinst der ihrer Großmutter und Mutter war. Und in der Tat, Bimbo war das einzige Wesen auf der ganzen Welt, dem sie wirklich alles anvertraute. Bimbo kannte Glück und Leid seiner Besitzerinnen und hatte allzu oft schwer an diesem Wissen zu tragen.

Doch heute war die Welt mal wieder so richtig schön.

Nach einer Weile kam das Mädchen Valeska aus dem Bad, zog sich ihren blauen Arbeitsanzug an, griff nach dem Kopftuch, das sie sich dann doch neckisch um den Hals band. Noch ein Küsschen zum Abschied für Bimbo. Jetzt fand er doch, dass sie es übertreiben würde. Aber gut, sollte sie es. Wie lange hatte er sie nicht mehr so glücklich gesehen!

Übermütig mehrere Stufen auf einmal nehmend, lief das gutgelaunte Mädchen die Treppe hinunter in den Speisesaal des Wohnheimes. Der alte Affe blieb nun ganz allein in dem sparsam eingerichteten Zimmer zurück, das Valeska mit ihrer Freundin Susanna seit zwei Jahren bewohnte. Vogelgezwitscher und Motorengeräusche drangen durch das offene Fenster hinein und verschmolzen mit dem Ticken des Weckers zu einem fast melodischen Gefüge.

Schon auf dem Flur hörte Valeska das Stimmengewirr, das aus dem Speisesaal kam. Gut gelaunt, noch einen schnellen Blick auf die Wandzeitung und die neuesten Meldungen werfend, betrat sie den riesigen Saal. Nur ein paar Jungen saßen an mehreren Tischen und frühstückten. Fast schien es jedoch, als würden die Lehrlinge der LPG „Roter Oktober“ eine Versammlung abhalten, auf der heftig diskutiert wurde. Bei näherem Hinhören stellte Valeska aber fest, dass es noch immer um das Fußballspiel ging, das die Jungen der LPG gegen die Mannschaft von Turbine Werderberg verloren hatten.

Valeska durchquerte, freundlich „Guten Morgen“ wünschend, den Speisesaal. Vom Tresen, dessen blanke Sprelakartplatte die Deckenleuchten widerspiegelten, nahm sie sich ihr Frühstück. Alle Gespräche waren plötzlich verstummt und als das schlanke Mädchen sich an einen Tisch zu den Jungen ihrer Brigade setzte, sahen alle sie verwundert und vor allem bewundernd an. Valeska schmierte sich ihre Brötchen und begann, die Blicke ignorierend, zu essen. Aus der Küche kam währenddessen die Köchin in den Saal gestürmt. Breitbeinig blieb sie in der Pendeltür stehen, die Hände in die üppigen Hüften gestemmt, sah sie von Tisch zu Tisch. Auf Valeska blieb ihr Blick haften. Langsam schob die Frau nun ihren gewaltigen Körper durch die Tischreihen. Stille im Saal. An ihrem Ziel angelangt, legte die dicke Frau ihre linke Hand auf Valeskas Schulter und sagte dann laut in die Runde: „Egal, wie du das angestellt hast, Kleine, wenn es künftig auch so ruhig beim Essen bleibt, dann ist es gut so.“ Nun streichelte sie der verlegenen Valeska, die puterrot im Gesicht geworden war, über den Kopf und packte noch einen schönen rotbackigen Apfel, den sie aus der Schürzentasche geholt hatte, neben Valeskas Brotdose. Vergnügt stampfte die Frau zurück in Richtung Küchenreich. Dem ersten Jungen, der auf diesem Weg zu reden begann, gab sie eine leichte Kopfnuss. Kurzes Lachen der anderen! An der Küchentür drehte sich die nette dicke Frau noch einmal um, drohte schelmisch mit der Faust und forderte alle auf, ja vernünftig zu sein. Damit schloss sich endlich die Tür hinter ihr. Die Jungen redeten wieder wie wild aufeinander ein. Nur einer schwieg. Steffen Klein!

Langsam leerte sich nach etwa zehn Minuten der Speisesaal. Valeska stellte ihr Frühstücksgeschirr auf den Tisch neben der Essensausgabe. Aus einer mit Spülwasser gefüllten Schale fischte sie einen Lappen. Während das Mädchen den Tisch abwischte, bemerkte sie den an der Tür wartenden Steffen. Als Valeska fertig war, gingen beide gemeinsam schweigend in Richtung Werkstatt.

Steffen Klein war bereits im dritten Lehrjahr und mit Abstand der schönste Junge weit und breit. Der klügste wohl auch. Nur noch wenige Wochen dann würde er Facharbeiter sein, Landmaschinen- und Traktorenschlosser mit Abitur, und Student werden.

Valeska hatte, seit sie vor zwei Jahren ihre Ausbildung hier in dieser Männerdomäne begonnen hatte, sehr viel von und mit ihm gelernt. Steffen, gut zwei Köpfe größer als Valeska, war dem Mädel ein guter Freund geworden, ein sehr guter, aber eben nur ein Freund. Diese Tatsache zu akzeptieren, hatte dem Jungen viel abverlangt. Es fiel ihm nicht leicht zu begreifen, dass es ein Mädchen gab, das ihm nicht zu Füßen lag. Er konnte sie doch alle haben, alle - nur Valeska, die eben nicht.

„Gehen wir heute nach Feierabend wieder zum See, Floh?“, fragte er leise, kurz bevor sie den Arbeitsplatz erreicht hatten. Nicht, dass ihn ihr „Nein“ überrascht hätte, im Gegenteil, gerade heute hatte er es befürchtet, sogar erwartet. Nein, es war die Schnelligkeit, die ihn überraschte. „Ich bin verabredet“, fügte sie errötend hinzu, dann streichelte sie dem Jungen freundschaftlich über die Wange. Steffen nickte, in seinen braunen Augen lag plötzlich so eine unendliche Traurigkeit. Eine Traurigkeit, die Valeska allerdings schon nicht mehr sah, denn Steffen blieb vor der Werkstatttür stehen. Er kramte die Zigarettenschachtel mit etwas zittrigen Händen aus seiner Arbeitshose hervor und steckte sich eine Zigarette an.

Jetzt also war es geschehen! Immer hatte er sich davor gefürchtet. Jetzt war scheinbar doch einer gekommen, der all seine Hoffnungen ein für alle Male zerstört hatte. Floh war ihm entsprungen - endgültig?! Floh, den Namen hatte er Valeska zu Beginn ihrer Lehrzeit gegeben, weil sie so klein und zierlich war. Hinter oder auf den meisten Landmaschinen kaum zu sehen. Für die Jungen, die natürlich gerne über das einzige Schlossermädchen redeten, war es so manches Mal peinlich geworden - oft hatten sie geplaudert und Valeska hatte alles mit anhören müssen und manchmal auch wollen.

Heute war Floh eben anders als in den vergangenen zwei Jahren. Von ihr ging so ein Strahlen aus und dem konnte sich auch Steffen nicht ganz entziehen. Von draußen beobachtete Steffen Valeska, die in der Werkstatt herumhantierte. Wie fröhlich, wie glücklich sie aussieht, dachte der junge Mann. Dann wurde sein Gesicht ernst. Die halbaufgerauchte Zigarette warf er wütend in die dafür vorgesehene Blechdose. Als er in der Werkstatt an dem Mädchen vorbeiging, war sein Gesicht zwar freundlich, seine Gedanken waren es nicht. - Ich kriege dich, irgendwann krieg ich dich ganz sicher!

In der Mittagspause traf die frohgelaunte Valeska ihre Freundin Susanna. Wie auch für Steffen endete deren Lehre in der Buchhaltung der LPG bald. Für Susanna jedoch bereits nach zwei Jahren, denn auf das Abitur „könne sie gut verzichten“, wie sie oft betonte. Im September sollte es nach Berlin gehen. „Weg aus diesem Dorf! Ab ins pralle Leben!“, das war ihr Leitspruch. Heute jedoch war nichts mit dem prallen Leben. Susanna sah bleich aus, wie der Tod auf Latschen. Das einzige an ihr, das Farbe hatte, waren die stark geröteten Augen. „Na, stürmische Nacht gehabt?“, wollte Valeska wissen. Das heißt, wissen wollte sie es eigentlich gar nicht. Aber aus Erfahrung wusste sie, dass Susanna diese Frage immer erwartete, um dann weit ausholen zu können und der Freundin ihre neuen Erlebnisse und Erfahrungen mitzuteilen. Aber statt einer Antwort gab es nur ein Kopfschütteln. Schweigend setzten sie sich in eine Ecke des Speisesaales und aßen ihren Eintopf, das heißt nur Valeska ließ es sich schmecken, während Susanna mit ihrem Löffel immer wieder das Essen umrührte. Sie hatte keinen Hunger.

Kurze Zeit später nahmen die beiden Mädchen draußen unter der Linde Platz, abseits von den anderen. Weinend und schluchzend erzählte Susanna leise Einzelheiten ihrer vergangenen Nacht. Nach zehn Minuten und drei gerauchten Zigaretten wusste Valeska nun, dass die Freundin mit dem frischgeschiedenen Typen, der Udo Kunz hieß, noch in der Nachtbar in der Nähe der „Rebe“ gewesen war. Dort hatten beide weiter ordentlich dem Alkohol zugesprochen. Nachts um halb drei waren sie dann sturzbetrunken aus der Bar geworfen worden, weil Susanna sich mitten auf der Tanzfläche übergeben hatte. Super!, dachte Valeska, viel schlimmer kann es ja nicht kommen! Kam es aber doch! Susanna berichtete weiter, dass sie sich noch zweimal auf der Straße entleert hatte und dann im Stadtpark gestürzt war. Von Udo verlassen, war sie liegen geblieben und am Morgen gegen 5.30 Uhr von Polizisten aufgesammelt und mit der „grünen Minna“, dem Polizeiwagen, ins Dorf gebracht worden. Der Wohnheimleiter Krusche hatte sie natürlich gesehen. Wie hatte sie sich geschämt! Schnell hatte sie geduscht, mit eiskaltem Wasser! Dann war sie zu Harry Krusche gegangen und hatte darum gebeten, ja gebettelt, dass er ihr das bitte nachsehen möchte, schließlich wäre sie volljährig und in wenigen Wochen wäre doch sowieso die Lehre vorbei. Der Wohnheimleiter, nun ganz in seiner Machtposition aufgehend, hatte ein Nachspiel angedroht. Er könne das nicht so durchgehen lassen, hatte er sie wissen lassen.

Mit den Worten „Ich kläre das für dich!“, beendete Valeska die Pause und ließ die verheulte Freundin allein unter dem Baum zurück. Valeska kehrte in die Werkstatt zurück. Wie sie das klären wollte, das war ihr jedoch noch nicht klar. Der Krusche hatte doch eigentlich recht. So etwas gehört sich einfach nicht! Wenn nun alle Lehrlinge ...! Valeska, du bist keine Heilige!, ermahnte sie sich nun selbst.

Die Zeit bis zum Feierabend verging wie im Fluge. Endlich! „Na, du hast wohl heute noch was vor?“, fragte der Lehrmeister Joachim Berndt ein wenig indiskret, als sie bereits eine Minute nach Feierabend vom Hof radeln wollte. Irritiert sah sie den stämmigen Mann an.

„Ist schon gut! Du siehst heute so fröhlich aus, da dachte ich, es würde bei dir auch mal etwas Schönes passiert sein.“

Nun nickte das Mädel ihm zu, trat schneller in die Pedale, denn sie spürte, wie sie errötete und das sollte der Meister nun nicht unbedingt sehen. Valeska war so mit sich beschäftigt, dass sie fast in den Traktor gesteuert wäre, den Steffen gerade auf den Hof fuhr. Entschuldigend zuckte sie mit den Schultern, warf dem Freund, ohne ihn jedoch weiter zu beachten, ein Handküsschen zu und schon war sie auf der Straße in Richtung Wohnheim unterwegs. So blieb ihr der wütende Blick des Freundes verborgen. Zum Glück ...

Auf dem kurzen Weg ins Wohnheim gingen ihr die Bemerkungen, die am heutigen Tag zu ihrer Person gefallen waren, durch den Kopf. Heftig schüttelte sie diesen. Nein, das konnte doch nicht sein! War es wirklich so, dass die gestrige Begegnung mit Jürgen Winterstein, dem netten Polizisten, sie so verändert hatte?

Ihre Gedanken und ihre Fahrt wurden jäh unterbrochen. Vor ihr stand plötzlich der Wohnheimleiter Krusche, beide Hände auf ihrem Lenker, das Vorderrad zwischen seinen Beinen. Durch diese unsanfte Bremsung wurde Valeska von Sattel gerissen, konnte sich jedoch gerade noch abfangen, sonst wäre ihr Kopf noch näher an den unsympathischen Mann geschleudert worden.

„Sind Sie verrückt geworden?“, schrie sie ganz erschrocken den Heimleiter an. Der grinste Valeska jedoch unverschämt an, dabei wurden seine gelben Zähne sichtbar. Ekel überkam das junge Mädchen. Es war nicht nur sein Mundgeruch, nein, einfach alles an diesem Mann war widerlich. Ihre Wut ignorierend, raunte er ihr zu: „Na, hat die kleine Schlampe sich gleich bei dir beschwert? Sollst du wieder die Kohlen für sie aus dem Feuer holen? Meint sie wirklich, weil du in der FDJ-Leitung ... “ Der Mann beendete seinen Satz nicht, stattdessen fuhr sich Harry Krusche nun mit der Zunge über die Lippen, betrachtete das Mädchen anzüglich von oben bis unten. Mit der rechten Hand schob er eine Strähne seiner ungepflegten Haare aus der Stirn. Schamlos blieb sein Blick nun auf Valeskas Brust haften, während er mit gedämpfter Stimme herauspresste: „Komm jetzt mit in mein Büro, dann vergesse ich alles!“

Valeska wollte dem Mann gerade ihr Fahrrad entreißen, um bloß weg von diesem Widerling fortzukommen, da fuhr ein Streifenwagen um die Ecke. Geistesgegenwärtig ließ sie nun ihr Rad los und ging zu dem aussteigenden Polizisten, in dem sie sofort Jürgen erkannt hatte. Laut rief Valeska ihm zu: „Guten Tag, Genosse Leutnant. Das ist aber nett, dass Sie und Ihr Kollege doch kommen konnten, um meine Anzei...“. Weiter kam sie nicht. Scheppernd war ihr Rad zu Boden gefallen. Erschrocken drehte sich Valeska danach um.

Krusche, der bis eben ihr Fahrrad noch am Lenker festgehalten hatte, war auf sie zugeeilt. Da stand der Widerling schon direkt hinter ihr, griff nach ihrem Arm und nuschelte hektisch in ihr Ohr: „Jetzt halte um Himmels Willen deinen Mund. Es ist alles in Ordnung, wenn du nur schweigst.“ Valeska wurde fast schlecht, als dieser Typ sie so untertänigst anflehte.

Noch bevor Jürgen sie erreicht hatte, war Krusche wie ein geschlagener Hund verschwunden. „Na, du lieferst hier ja filmreife Szenen ab!“, begrüßte Jürgen sie leise und reichte ihr die Hand.

„Entschuldige, ich kann dir das erklären, ich ...“

Das kannst du später …“, er machte eine kurze Pause, um sich zu sammeln, denn am liebsten hätte er das Mädchen hier geküsst. Aber er war im Dienst! Zudem spürte er, dass es gerade in dieser Situation fehl am Platze wäre. „Ich wollte dir eigentlich nur Bescheid sagen, dass wir uns heute ...,“ weiter kam er nicht. Valeska kullerten bereits Tränen über die Wangen, hastig wischte sie sie weg. Es war zum Verrücktwerden, es kamen immer mehr. Dabei wusste sie doch gar nicht ...

Jürgen griff in seine Hosentasche und reichte ihr ein sauberes Taschentuch. „Hey, Kleine, ich wollte dir sagen, dass wir uns schon früher treffen können. Jetzt weine doch nicht mehr!“ Nun fing auch noch die Nase an zu laufen. Valeska schnaubte in das Taschentuch. Der im Polizeiwagen sitzende Polizist hupte. Jürgen blickte sich um und gab seinem Kollegen ein Zeichen. „Ich freue mich auf dich“, flüsterte er dem weinenden Mädchen ins Ohr, dann drehte er sich um und lief eilig zum Auto. Bevor Jürgen einstieg, rief er Valeska noch einmal betont laut zu: „Das mit der Anzeige besprechen wir dann später!“

Wenige Sekunden danach stand Valeska alleine vor dem Wohnheim. Noch einmal schnaubte sie ins Taschentuch, schob ihr Fahrrad langsam zum Ständer und schloss es dort an, dann betrat sie den Altbau.

Während Valeska die Holztreppen hinaufstieg, versuchte sie noch einmal, über den heutigen Tag nachzudenken. Hatte sie sich wirklich seit gestern so verändert? Nein, das konnte nicht sein! Nun ja, ein Kribbeln verspürte sie schon am ganzen Körper, wenn sie nur an den Jürgen dachte und als sie ihn da eben gerade vor dem Heim getroffen hatte, da wäre sie ihm fast vor lauter Freude um den Hals gefallen. Glücklicherweise konnten sie sich beide beherrschen. Dem Jürgen schien es ja auch wie ihr zu ergehen, ansonsten hätte der Bluff dem Krusche gegenüber auch nicht funktioniert. War sie etwa wirklich verliebt?

Nun hatte sie die Zimmertür erreicht. Kaum, dass sie aufgeschlossen hatte und eingetreten war, fuhr sie vor Schreck zusammen. Zeitgleich mit ihr hatte nämlich auch Susanna den Raum betreten - allerdings durch das offene Fenster. „Mensch, Seife, bist du verrückt geworden?“, zischte Floh die Freundin an. Susanna zuckte mit den Schultern. Leise, mit der rechten Hand eine wegwerfende Geste machend, antwortete diese: „Sag nicht immer Seife zu mir! Außerdem ist es wieso egal!“

„Ja, Seife, aber das heißt sowieso!“, verbesserte Valeska wütend die Freundin. „Außerdem ist es nicht egal. Ich glaube übrigens, dass nichts weiter passiert.“

Gerade war sie im Begriff ihrem Gegenüber von der Begegnung mit dem Wohnheimleiter Krusche und auch von Jürgen zu berichten, da wurde ohne Klopfen die Tür aufgerissen. Wütend blickten die beiden Mädchen den Störenfried Steffen an. Ohne die Blicke weiter zu beachten, begann der Junge, ihnen das Neueste zu erzählen. Er hätte eben im Büro des LPG-Vorsitzenden ein Telefonat mitgehört, sprudelte es nur so aus ihm heraus. Susanna Seifert wollte ihn unterbrechen, aber er winkte energisch ab. So schwieg sie und lauschte dem Jungen, in den sie eigentlich bis über beide Ohren verknallt war, der aber keine Augen für sie hatte. „Also“, fuhr Steffen nun gewichtig fort, „also, der Krusche hat vor ein paar Minütchen beim Chef angerufen. Ich dachte zuerst, ich hätte mich verhört. Der Chef hat dann aber alles wiederholt, was der Krusche gesagt hat. Frau Schmitt hatte nämlich nicht alles verstanden.“

Susanna saß auf ihrem Bett und fast schien es, als würde sie immer mehr in sich zusammensinken. Ja, sie glaubte nun aus Steffens Mund ihre Schandtaten der vergangenen Nacht hören zu müssen. „Ehrlich, Mädels, ihr glaubt es nicht ...!“ Jetzt legte er auch noch eine Pause ein! Valeska riss nun wirklich der Geduldsfaden, schließlich wollte sie noch duschen und .... Endlich, bevor Floh richtig wütend wurde, platzte es aus Steffen heraus. „Der Krusche hat mit sofortiger Wirkung gekündigt!“ Nun blickte er die Mädchen gespannt an. „Na, das hat euch wohl die Sprache verschlagen, was?“

In der Tat, diese Nachricht hätte niemand erwartet. „Warum“, fragte Susanna leise, kaum hörbar, von ihrem Bett.

„Er hat etwas von einem schweren persönlichen Schicksalsschlag gestammelt. Es wäre besser, wenn er sofort wegkönne, nur so könne er Schaden von sich und anderen fernhalten. So ähnlich hatte er sich jedenfalls ausgedrückt. Der Chef hat dann Schmittchen gebeten, die Papiere für Krusche fertig zu machen. Der Krusche fährt heute noch fort!“ Er machte eine winzige Pause. Diese plötzliche Stille wurde durch das Knattern eines alten, startenden Trabanten beendet. Steffen rannte zum Fenster. „Jetzt! Der alte Sack haut jetzt ab!“ Dann kehrte er zur Raummitte zurück und stand einfach grinsend da. Er genoss die Aufmerksamkeit der Mädchen.

Inzwischen hatte Susanna sich erhoben, ihre braunen Augen leuchteten wieder fröhlich. Bevor sie allerdings den jungen Mann erreicht hatte, um ihm um den Hals zu fallen, ergriff dieser bereits die Flucht. Schnell schloss Steffen hinter sich die Tür, er wollte auch den anderen die Nachricht überbringen, dass der verhasste Wohnheimleiter sie verlassen würde, verlassen hatte.

Nun hüpfte Susanna ausgelassen wie Rumpelstilzchen um die Freundin herum. Aber Valeska wollte nicht in den Jubel einfallen. „Du stellst sofort die Leiter zurück! Sofort! Ansonsten ist nämlich alles für die Katz, Seife!“ Valeska sagte das sehr ernst und befehlend.

Instinktiv spürte Susanna Seifert, es gab hier und jetzt keine Widerrede, obwohl sie sich nun doch auch ein wenig darüber ärgerte, dass sie schon wieder ‚Seife' genannt worden war. Es war aber keine Zeit, grimmig zu sein. Hastig rannte das Mädchen aus dem Raum und war schon wenige Minuten später wieder zurück. Das gemeinsame Zimmer fand sie nun jedoch verlassen vor. Valeska war bereits im Waschraum, um zu duschen. Sie dort zu stören, hatte keinen Sinn, das wusste Susanna nur zu gut. Dort duldete die Freundin niemanden! Niemals!

5. Kapitel

Endlich war Valeska alleine! Sie hatte die Tür zum Waschraum verriegelt. Es war zwar verboten, aber wer sollte oder wollte das ausgerechnet jetzt, ausgerechnet heute kontrollieren. Während das Wasser aus der Dusche auf sie herabströmte, gingen ihr die letzten knapp 24 Stunden erneut durch den Kopf. Was ist heute bloß los? Schmunzelnd erinnerte Valeska sich daran, wie sehr sie sich erschrocken hatte, als Jürgen gestern Abend in seiner Polizeiuniform neben ihrem Tisch gestanden hatte. Glücklicherweise hat er es nicht bemerkt, dachte sie. Ahnte sie doch nicht, wie sehr sie hier irrte. Meine Güte, was hatte sie Angst gehabt. Nun gut, der Krusche war beim Anblick der Polizisten vorhin auch erschrocken gewesen. Allerdings hatte der ja scheinbar doch etwas zu verbergen, anders als Valeska. Nun, so ganz stimmte das auch wieder nicht, aber das war nun wirklich doch nicht miteinander zu vergleichen. Schwamm drüber!

Ja und dann, als Susanna am gestrigen Abend mit dem anderen Typen, diesem Scheidungs-Udo, ohne ein Wort verschwunden war, hatten Jürgen und sie sich so wunderbar unterhalten. Irgendwann tanzten sie dann auch miteinander. Der Gedanke daran ließ das junge Mädchen so wohlig erzittern. Es war ein Zittern, das sie so noch nie in ihrem jungen Leben erfahren hatte. Sie drehte den Wasserhahn zu, ergriff ihr Handtuch und rieb sich trocken. Ach, Jürgen!

Dann hatte er sie nach Hause bringen wollen. Anders als andere begann Jürgen nach ihrer Ablehnung jedoch nicht zu betteln. Das gefiel dem Mädchen. Jürgen gab ihr zum Abschied die Hand, was ihm wieder einen Pluspunkt einbrachte. Dann hatte er gefragt, ob sie sich nicht am nächsten Tag wieder treffen könnten, so gegen sieben Uhr am Abend. Sie könnten ja spazieren gehen oder so. Daraufhin hatte Valeska lachend geantwortet: „In Ordnung. Spazieren gehen finde ich gut. Oder so - ist aber nicht!“ Dann war sie losgelaufen. Ohne zurückzusehen hatte sie „Bis morgen!“ gerufen und war auch schon aus Jürgens Blickfeld verschwunden gewesen.

Kurz hinter dem Ortsausgang von Werderberg überholte ein Auto sie. Sekunden später hielt der Wartburg und eine ältere Frau öffnete die Beifahrertür und fragte: „Bist du nicht die Valeska, die Schlosserin?“ Als das Mädchen bejahte, forderte der Mann auf der Fahrerseite sie auf einzusteigen. Seine Stimme ließ keine Widerrede zu. Aber wer hätte das zu dieser späten Stunde schon getan? „Um diese Zeit sollten so junge Dinger wie du nicht alleine unterwegs sein“, hatte die Frau, die Valeska nun auch erkannt hatte - es war Frau Johann, die nette Verkäuferin aus dem Berberiner Konsum, noch ermahnt. Dankend nahm Valeska das Angebot an. Im Wagen selbst bedauerte sie dies jedoch sofort. Das hatte ihr wirklich noch gefehlt! Fast wäre sie wieder ausgestiegen, der Wartburg rollte aber schon weiter und nach dem strafenden Blick des älteren Herrn ließ das Mädchen also von ihrem Vorhaben ab.

Sie teilte sich die Rückbank mit einem Hund, einer Dogge! Die Dogge wurde ihr als Hasso vorgestellt. Aber das war Valeska völlig egal. Sie spürte, wie ihr einerseits heiß und heißer wurde, andererseits begann sie am ganzen Körper leicht zu zittern. Ganz dicht an die Tür des Wartburgs gedrängt, bereit jederzeit auch aus dem fahrenden Auto zu springen, saß sie nun also hinter dem Ehepaar, neben einem Hund. Hasso schlief, sehr fest sogar. Fast schien es, als würde das Tier schnarchen. Na super, dachte das Mädchen, das sich jetzt vorsichtig, das Tier immer im Auge behaltend, die Schweißperlen von der Stirn wischte. Hoffentlich ist Hasso so nett wie seine Besitzer, falls er wach wird. Das Ehepaar, so erfuhr sie nun, war in der Bezirksstadt mit dem Tier gewesen. Hasso war dort operiert worden und dann hatten sie noch die Tochter besucht ... Valeska beobachtete das Tier, während Frau Johann redete und redete.

Schnell waren sie im Dorf angekommen. Artig bedankte Valeska sich fürs Mitnehmen. Hastig stieg sie aus, glücklich, dass Hasso nicht aufgewacht war. Dann winkte Valeska den weiterfahrenden Leuten noch kurz nach. Leise hatte sie ein wenig später die Wohnheimtür geöffnet. Geräuschlos, auf ihren Socken schleichend, erreichte sie unbemerkt das oberste Stockwerk. Ohne Licht einzuschalten, zog sie sich aus und war dann zuerst in ihr Nachthemd und danach ins Bett geschlüpft. Sofort war sie eingeschlafen und erst am Morgen aufgewacht. Zum ersten Mal seit einer gefühlten Ewigkeit hatte Valeska eine Nacht ruhig durchgeschlafen, ohne Angstträume. Auch jetzt - noch Stunden später - fragte sich Valeska, ob das wirklich alles Jürgens Verdienst war. Hatte er ihr die Ruhe, ihr den Seelenfrieden zurückgebracht? Durchschlafen, ja das war für das achtzehnjährige Mädchen fast ein Wunder.

So, nun musste sie sich aber beeilen!!

Im Bademantel huschte sie über den Flur in ihr Zimmer zurück. Susanna saß wieder auf ihrem Bett und strahlte wie ein Honigkuchenpferdchen. Als Valeska eingetreten war, wollte sie sich sogleich auf die Freundin stürzen, aber diese wehrte schon von weitem ab. Hinter der geöffneten Schranktür zog sich Valeska an. Sie zeigte sich nie unbekleidet.

„Floh, wie hast du das eigentlich geschafft? Ich meine, das mit dem Krusche und dass ich bleiben kann? Und was ist eigentlich mit dir und dem Bullen?“, wollte Susanna, die vor Neugier längst am Platzen war, wissen.

„Suse Seife, zu viele Fragen auf einmal!“, war Valeskas kurze Antwort.

„Ach, Floh, nun komm schon! Du weißt doch genau, was ich wissen will. Bitte, bitte, bitte,...!“

„Ist ja gut! Ehrlich Suse, du nervst.“ Valeska war angezogen. Sie blickte auf die Uhr und stellte fest, dass sie noch ein wenig Zeit hatte. So setzte sich das Mädchen auf ihr Bett, griff nach Bimbo, nahm ihn auf ihren Schoß und schlang die Arme um das treue Plüschtier und begann zu berichten: „Also, für die Sache mit Krusche kann ich streng genommen nichts, gar nichts. Na ja, vielleicht ein bisschen. Ich hatte Glück, als der Typ mich angequatscht hat und mir ein eindeutig zweideutiges Angebot zum Vergessen deines Vergehens gemacht hatte, hielt ein Polizeiwagen an der Straße. Jürgen, der übrigens kein Bulle, sondern Leutnant der Volkspolizei ist, stieg aus.“ Valeska spürte ihre Aufregung und dass sich ihr Gesicht rötete. „Du, Suse, der - also Jürgen, der hat, als ich meinen Spruch abgelassen habe, so von wegen ‚Gut, dass Sie kommen, bla, bla ,bla ...', na jedenfalls hat er gut reagiert. Und als er, also der Jürgen, merkte, dass es besser wäre, nicht näher zu kommen - ich hatte ihm ein Handzeichen gegeben, blieb er tatsächlich in einiger Entfernung zurück, sozusagen auf dienstlicher Distanz. So hatte der Krusche dann auch die Chance zu verschwinden. Ja, mehr war da eigentlich gar nicht.“ Es war wieder da. Das Kribbeln in ihrem Bauch!

„Floh, was wollte Krusche von dir? Der hat gekündigt, da muss es doch einen wirklich wichtigen Grund geben?“

„Suse, begreifst ausgerechnet du das nicht? Der wollte Sex, der wollte immer Sex, dieses Schwein“, gab Valeska nun doch etwas gereizt von sich. Sie empfand plötzlich ein so starkes Ekelgefühl, als sie dies alles noch einmal berichten musste, dass sie sich fast übergeben musste. „Ach, Suse, der war doch hinter allem her, was einen Rock hätte tragen können. Der war wie mein … Ach, ...“, nun stockte Valeska, sie atmete einmal tief durch, dann sprach sie nach einer Weile ihren Satz zu Ende, „du musst nicht alles wissen, Seife.“

Susanna schwieg, nicht einmal die Anrede ‚Seife‘ störte sie im Augenblick. Sie war blass geworden. Leise fragte das Mädchen nun: „Wenn dein Bulle, ich meine, der Jürgen nun nicht gekommen wäre, was wäre dann?“

Valeska war noch ganz in ihrer bösen Erinnerung, die das Gespräch über Krusche wieder hervorgeholt hatte. Sie fühlte sich so niedergeschlagen. Dann aber erhob sich Valeska. Das Böse sollte heute, ausgerechnet heute, keine Chance haben. Langsam ging Valeska zur Freundin, die inzwischen auch aufgestanden war. Sie umarmten einander. „Suse, dann wäre auch alles gut geworden, ehrlich! Denke nicht mehr daran!“ Ein Geräusch ließ sie aufhorchen. Rasch rannte sie auf den Flur, um aus dem Fenster auf die gegenüberliegende Bus-Haltestelle zu sehen. Dann blickte sie auf die Uhr. 17.43 Uhr! Verflucht, ausgerechnet heute fuhr der Bus zwei Minuten vor der eigentlichen Abfahrtszeit. Wütend und traurig ging sie zurück ins Zimmer, knallte die Tür zu und schrie: „Scheiße!“. Erschrocken fuhren beide Mädchen zusammen.

Susanna lächelte aber bald darauf wieder. Mit dem erhobenen Zeigefinger ging sie auf Valeska zu, schüttelte den Kopf und sagte nun schon richtig albern: „Jugendfreundin Kurtjakowitz, das ist aber ein Wort, das nicht in ihren Sprachgebrauch gehört!“

Jetzt lachte auch Valeska wieder. „Du Seife, kannst du mich mit meinem Moped schnell in die Stadt fahren?“

„Na klar! Aber sag doch nicht immer Seife zu mir!“, war die prompte Antwort. „Der Jürgen hat dir ja ganz schön den Kopf verdreht, wenn du mir sogar dein Heiligtum anvertraust.“ Während Valeska die beiden Helme von ihrem Schrank herunterholte, antwortete sie leise: „Ja, ich glaube, das hat er wirklich.“

Kurz vor der verabredeten Zeit stieg Valeska vom Moped. Bevor sie die Freundin verabschiedete, gab sie ihr noch ein paar Ermahnungen mit auf den Weg. Suse nickte immer nur. Sie nickte, als sie aufgefordert wurde, vernünftig zu fahren, nachher mit den anderen nicht zu sehr zu saufen - ja Valeska sagte wirklich ‚saufen‘. Zum Schluss kam dann noch: „Und Suse, lass dich nicht mit jedem Kerl ein!“

Nun war Schluss mit Nicken. Jetzt hatte Susanna wirklich genug. „Es ist in Ordnung, Mutti!“, gab sie genervt von sich. „Ich verschwinde jetzt! Viel Glück!“ Sofort gab sie Gas, mehr als gut war. Genau in diesem Augenblick bereute Valeska ihre Großzügigkeit, aber sie hatte keine andere Wahl gehabt.

Ungeduldig blickte Valeska auf ihre Armbanduhr. 17.59 Uhr und 55 Sekunden, 56 Sekunden, ... 59 Sekunden ... Wo blieb Jürgen nur? Vielleicht würde er doch nicht früher kommen? 18.00 Uhr - die Glocken der Sankt-Georg-Kirche begannen gerade zu läuten, da hielt von hinten jemand Valeska die Augen zu. Schnell drehte sich die Achtzehnjährige um, dabei strahlte sie Jürgen an, fiel ihm um den Hals und gab ihm sogar einen Kuss, also eigentlich nur ein Küsschen. Kurzzeitig war der Mann so verwirrt, wirklich nur ganz kurz, aber doch zu lange. Als er Valeska nämlich festhalten und weiter küssen wollte, hatte sie sich schon blitzschnell wieder von ihm losgelöst und war ein wenig davongerannt. Aus der Entfernung betrachtete er nun das Mädchen, die junge Frau, die ihm seit gestern Abend den Kopf total verdreht hatte. Auch Valeska blickte Jürgen an. Wie gut er doch aussah, das hellgelbe Hemd betonte seine sonnengebräunte Haut. Seine blonden kurzen Haare, seine wasserblauen Augen ... Sie war fasziniert. Und doch! Da war auch für einen winzigen Moment ihre Angst, diese fürchterliche Angst! Nicht einmal Susanna wusste von Valeskas Ängsten, niemand kannte die bösen Träume, die jede Nacht kamen. Jede Nacht, außer in der vergangenen, wurde Valeska seit Jahren um ihren Schlaf gebracht. Das war alles SEIN Werk. Jetzt würde vielleicht alles anders werden?! Irgendwie war das Mädel völlig durcheinander. Das hatte es noch nie in ihrem Leben gegeben. Verliebt, nein, verliebt war sie noch nie zuvor gewesen, jedenfalls nicht so und sie hätte sich das auch nie vorstellen können, jedenfalls nicht so.

Nun stand Jürgen wieder ganz dicht vor ihr und sie spürte dieses Kribbeln, von dem alle sagen, es wären Schmetterlinge im Bauch. Sanft streichelte Jürgen ihr eine blonde Strähne aus der Stirn, dann küsste er sie zärtlich. Valeska ließ es geschehen, hielt sich an seinen starken Armen fest.

„Na, wollen wir spazieren gehen“, fragte der junge Mann sie nun lächelnd. ‚Natürlich wollen wir‘, dachte Valeska. Sie nickte, sprechen konnte sie nicht, zu groß war der Kloß, den sie in diesem Moment im Hals hatte. Wortlos ergriff Jürgen ihre Hand und so schlenderten die beiden Verliebten in Richtung Stadtpark.

Seit zwei Jahren lebte und lernte Valeska nun schon in Berberin, dem kleinen Dorf in der Nähe der Kreisstadt Werderberg, aber hier im Stadtpark war sie noch nie gewesen. Jürgen erzählte Geschichten über die Burg, die hier einmal gestanden hatte, und und und ... Valeska hörte ihm interessiert zu. Immer wieder sah sie ihn erstaunt, aber auch bewundernd an. „Du liebst deine Heimatstadt sehr, nicht wahr?“, unterbrach sie ihn unvermittelt.

Jürgen hielt inne, schüttelte den Kopf. „Werderberg ist nicht meine Heimatstadt. Ich lebe hier auch erst seit drei Jahren. Aber ich interessiere mich sehr für Geschichte.“

Verwundert blickte sie ihn an. „Wie, du bist nicht von hier? Woher kommst du denn?“

„Ich bin aus Wulfetzin, einem Dorf aus dem Kreis Gadebusch. Ist ein paar Kilometerchen von hier entfernt. Du wirst es nicht kennen.“ Da staunte Jürgen nun aber nicht schlecht, als sie ihm widersprach. Noch bevor er fragen konnte, erzählte sie ihm, dass sie im letzten Sommer mit ihrem Freund dort sogar Urlaub gemacht hatte. Die Fröhlichkeit war plötzlich aus Jürgens blauen Augen verschwunden, die Bräune aus seinem Gesicht wich einer Blässe. „Ach, du hast einen Freund?! Na ja, dann ist es wohl besser, wenn ich jetzt verschwinde!“

Schon wollte er sich zum Fortgehen umdrehen, als Valeska ihn am Arm festhielt. „So schnell gibst du auf? So ganz ohne Nachfrage? Da hab ich mich ja in einen tollen Mann verliebt!“ Kaum war das Gesagte über ihre Lippen gekommen, da errötete sie.

„Du hast dich in mich verliebt?“, fragte Jürgen nun ganz leise und wieder wechselte seine Gesichtsfarbe, jetzt war er auch knallrot. „Und was wird aus deinem Freund?“

Valeska, die von ihrer Liebeserklärung selbst überrascht war, blickte Jürgen tief in seine blauen Augen. Ihr Herz schlug bis zum Hals, statt einer Antwort drückte sie ihren zarten Körper fest an Jürgen. Beide schwiegen. Nach einer Weile, Valeska spürte, dass ihre Aufregung ein wenig nachließ, sah sie den Mann, der ihr Herz erobert hatte, an und erwiderte in scherzhaft strafendem Ton: „Wenn ich sagte ‚mein Freund', dann meinte ich auch FREUND. Verstehst? Der Steffen aus ...“

Weiter kam sie nicht. „Steffen Klein aus Wulfetzin, der Sohn vom Tierarzt, das ist dein Freund!?“, brachte Jürgen in einer Mischung aus Ungläubigkeit und Unverständnis hastig hervor.

Valeska ließ sich durch seine Bemerkung nicht aus der Ruhe bringen. „Ja, Steffen und ich sind befreundet. Es ist Freundschaft, nicht Liebe, die uns verbindet. Ich weiß, das können viele nicht verstehen. Steffen manchmal übrigens auch nicht immer.“

Nun nahm Jürgen das hübsche Mädchen in den Arm, küsste sie und sie küsste ihn. „Dann bist du das Schlossermädchen mit den goldenen Händen, das meinem Vater seinen Uralt-Traktor repariert hat?“

„Ich habe bei einem Gerdchen ... Ja, also wenn Gerdchen dein Vater ist, dann war ich da.“

Schweigend saßen sie nun schon eine Weile am kleinen Bach, der sich durch den Stadtpark schlängelte. „Es ist doch verrückt. Da fährt man nach Bulgarien, um tolle Frauen kennen zu lernen und dabei ist die Traumfrau schon im eigenen Elternhaus.“ Wieder folgte ein verlegenes Schweigen. Langsam wich beiden auch wieder die Röte aus den Gesichtern. Plötzlich klopfte Jürgen sich auf seinen Bauch, sein Magen hatte sich gerade laut bemerkbar gemacht. „Sag mal, hast du eigentlich auch so großen Hunger wie ich?“ Valeska zuckte kaum merklich zusammen. Sie war so in dem glückseligen Gedanken vertieft, dass Jürgen sie als seine Traumfrau betrachtete. Heftig nickte die verliebte junge Frau.

Hand in Hand schlenderten sie beide geradewegs zur „Stadtpark-Perle“. Das Schild war auf den ersten Blick das Einzige, was hier irgendwie einen Hauch von Schönheit, von Perle versprühte. Der Gastraum war zwar bescheiden, aber liebevoll eingerichtet. Das riesige Aquarium stellte im wahrsten Sinne des Wortes einen Lichtpunkt, den einzigen, dar. Ansonsten war hier alles dunkel. Die Decke, die Wände und der Fußboden, alles war aus dunklem Eichenholz gefertigt. Wären da nicht die blendend weißen Tischdecken gewesen, man hätte glauben können, dies wäre ein Sarg.

Nach dem Essen war beiden Verliebten klar, der Name „Stadtpark-Perle“ bezog sich gar nicht auf das Gebäude, sondern war einzig und allein der Hinweis auf die Köchin. Das Bauernfrühstück, das die beiden Verliebten gegessen hatten, war einsame Spitze.

Jürgen und Valeska blieben noch eine Weile. Jürgen erzählte und erzählte, Valeska lauschte seinen Worten wie verzaubert. Plötzlich, so ganz unvermittelt und überraschend flüsterte sie ihm ins Ohr: „Du bist der Prinz aus meinem Märchenbuch!“

Da schwieg er - glücklich, aber verwirrt. Nur wenige Sekunden später strahlte er. Erst jetzt erkannte er den Zusammenhang. Aus dem alten Radiogerät erklang Frank Schöbels Lied „Das ist der Prinz ...“. Nun, Jürgens Musikgeschmack war das nicht wirklich, zumindest war er bis eben kein Schlagerfan gewesen. Das schien sich gerade zu ändern.

Nachdem er bezahlt hatte, ging Jürgen zur Toilette. Die Wirtin Ingelore Herbst, die sozusagen Köchin und Bedienung in Personalunion war, trat an den Tisch zu Valeska. Sie räumte die Gläser ab. „Ist ein netter Kerl unser ABV. Das ist kein Typ für nur eine Nacht“, sagte die Frau scheinbar nebenbei und doch klang es sehr bestimmt, so als sollte es heißen: ‚Wenn du es nicht ehrlich meinst, dann lass' die Finger von ihm!‘ Nun schob sie Valeska ein flaches, viereckiges Etwas hinüber. Valeska errötete. Verlegen flüsterte sie: „Soweit sind wir noch nicht.“

Bevor Jürgen zum Tisch zurückgekehrt war, verschwand das Kondompäckchen wieder in der Schürzentasche der Frau. Als die beiden Verliebten das Lokal mit den besten Wünschen der Wirtin verlassen hatten, wischte diese sich schnell und unauffällig eine Träne fort. ‚Hoffentlich haben die beiden Glück!‘ Ihr Sohn Markus wäre jetzt auch in Jürgens Alter - aber als es mit der großen Liebe beim ersten Mal nicht klappte, hatte er sich „totgesoffen“ - als wenn nicht andere Mütter auch noch schöne Töchter gehabt hätten. „Chefin, 'n Bier und 'nen Kurzen!“, rief der einzige Gast ihr zu. Emsig ging Ingelore Herbst zum Tresen. Das Leben geht eben weiter!

Vor der Stadtpark-Perlen-Tür blickte Valeska auf ihre Armbanduhr. Erschrocken stellte sie fest, dass es bereits nach 23 Uhr war. „Ich muss jetzt zurück ins Wohnheim. Bringst du mich noch bis zum Ortsausgang?“

„Wie? ... Ich dachte ...“

Zärtlich streichelte das Mädchen dem stotternden Jürgen über die rechte Wange. „Ich muss morgen wieder früh raus. Außerdem habe ich nicht jede Nacht so viel Glück, dass mich jemand aus dem Dorf mit zurücknimmt.“

„Valeska, ich dachte, ich meine, du könntest doch bei mir ... Ich fahre dich dann rechtzeitig nach Berberin. Ich schwöre dir, du kommst pünktlich zur Arbeit.“

„Ich bin nicht so eine, die gleich mit jedem in der ersten oder zweiten Nacht mitgeht, kapiere das endlich!“, schrie sie ihn nun mit tränenerfüllter Stimme an und rannte, ohne sich umzudrehen fort.