Der innere Ausstieg - Michaela Huber - E-Book

Der innere Ausstieg E-Book

Michaela Huber

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Beschreibung

Wer eigene Schreckenserfahrungen nicht verarbeitet hat, gibt sie direkt oder indirekt weiter an die nächste Generation. Traumatisierte Mütter etwa können sich oft nicht gut um ihre Kinder kümmern; wie geht es ihnen damit, wenn sie sich der Wahrheit stellen - und wie geht es den Kindern damit? Die Psychotraumatologin Michaela Huber hat Kolleginnen und von Gewalt betroffene Menschen befragt, um Antworten u.a. auf folgende Fragen zu finden: Wie kann man verstehen lernen, was einem wirklich angetan wurde, und wie schafft man es, sich von traumatisierenden Bindungspersonen zu lösen? Was hilft beim äußeren und inneren Ausstieg aus destruktiven Bindungen? Wie können sich Überlebende mit ihren inneren unterschiedlichen "Seelen in ihrer Brust" auseinandersetzen, und wozu lohnt sich das?

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Inhaltsverzeichnis

Danke Sagen

Der Weg heraus – eine Einführung

(vom Außenseiter sein, Bindungshunger, Verzweiflung u.a.… bis zu mit dem Herzen dabei sein, Mitgefühl und Lebensfreude)

Gebt mir Antwort! Transgenerationale Fragen

Ein Vater in Schwarz-Weiß

Ein fliehendes Pferd

Die grausame Mutter

20 Jahre nach der Flucht

Ich bin eine traumatisierte Mutter mit traumatisierten Kindern

Jetzt oder nie – oder immer wieder

Soldatsein

Vorsichtige Kontaktaufnahme

„Glauben Sie mir?“

Down and Out

Ich habe tausend Fragen

Erstgespräch

Auf der Schwelle

Nachtwelt

Eine Erzählung zu uns mit uns in uns

Kein Gänseblümchen mehr sein

Dass ich da war

Meine Woche „zwischen zwei Welten“

Wörter

Kameras herumdrehen!

Autistisch oder zugehörig?

Kindern helfen, äußerlich und innerlich „heraus“ zu kommen

Der äußere und innere Ausstieg der kleinen Sophie

Die Psychotherapie der kleinen dissoziativen Sara

Brief einer Adoptivmutter

Sich selbst helfen – trotz Einsamkeit, Scham, Angst und Schmerzen …

Bildung

Scham

Identität

Autistisch?

Scham 2

Unsichtbar sein Wollen vor Scham

Hinaus aus dem Dunkel

Euer Land

Wie schwer es ist zurecht zu kommen, wenn man Viele ist

Worte der Erkenntnis

Unterwegs, das Ungeheuerliche zu be-greifen

Luftballon

Was bedeutet mir im Vergleich zum äußeren Ausstieg aus destruktiven Beziehungen der „innere Ausstieg“?

Ich habe alles verloren, um mich zu gewinnen

The Dark Side of the Moon: Der innere Kampf

Dialog mit der inneren Stimme der hassenden Mutter

„Etwas in mir will mich umbringen“

Dass nicht jeder Mensch uns wehtun will

Schachmatt

Überstarke „Ressourcenorientierung“ bewirkt das Gegenteil

Sie sagte: „Als ich dachte, dass ich ganz integriert bin …“

Beziehung hilft Beziehungstrauma heilen

„Ich denke: Bleib bei dir!“

Der besondere Moment

Bin ich sicher – wirklich?

Lianen

Gedicht 1

Gedicht 2

Was mir im Vergleich zum äußeren Ausstieg der innere Ausstieg bedeutet …

Fast schon heil

„Es erfordert sehr viel Mut, tut auch oft weh, aber es lohnt sich“

Unser innerer Ausstiegs-Prozess

Weihnachten ohne Täter

Gespräch mit „Caroline“ über ihren inneren Ausstieg

Mütter, die sich der Wahrheit stellen

So stellt sich für mich der wechselseitige Lernprozess dar

Was bei meinen drei Töchtern in der Pubertät anders ist als bei mir

Aufbruch-Stimmung

AUFTAU_ch_EN

Im Trüben fischen

Ich gehe meinen Weg BUNT

Gelungen

Nachwort

Literatur

Danke Sagen

Dieses Buch wäre ohne die Mitarbeit vieler Frauen und (auch Innen- ) Männer nicht so schön geworden, wie es jetzt ist.

Als ich mitten während des Buchschreibens nämlich einmal ins Netz hineinfragte, was denn andere Menschen sich unter einem „inneren Ausstieg“ vorstellen, bekam ich so viele beeindruckende Texte, dass ich beschloss, ihnen einen guten Teil des Buches zur Verfügung zu stellen. Es bedurfte sehr viel Feinarbeit und Hin- und Her-Schreibens und gemeinsamen Tüftelns, bis alle AutorInnen und auch ich den Eindruck hatten, dass die Texte, die jetzt hier im Buch stehen, genau das ausdrücken, was alle Schreibenden haben sagen wollen. Und so danke ich erst einmal allen, die mir ihre Texte ausdrücklich anonym zugebilligt haben. Danke für Ihr/Euer/Dein Vertrauen! Eine schrieb, als sie ihren Text „absegnete“, dazu:

„Ich habe keine Worte. Ich bin sprachlos. Warum verstehen Siemeine Wortbilder? Können Sie sie sehen? Ich bin berührt oder gerührt, oder wie man sagt…. Ich habe Atem anhaltend gelesen, atmen und lesen geht zusammen nicht, sonst kann ich nicht sehen, was ich lese. Ich werde still…, ganz still oder traurig, ich weiß nicht, was es ist…, sowas wie Buchstaben-Nähe. Danke für den Moment des Wort an Wort Lehnens.“ Den Dank kann ich nur von Herzen erwidern.

Dann danke ich allen hinter Pseudonym Geborgenen und denen, die ihren Klarnamen zu nennen bereit waren, in alphabetischer Reihenfolge:

A.v.S.G, Adlerherz, Allerleirauh, Anna, Sophia Bhb, Anja Fiedler, Chantal Goedert, Jacqueline Keller, Caroline, Charlotte Kernig, Dörte Leuchtmann, Susanne Leutner, Mrs. Liberty, Bunte Lichtlilien, E.K., Mai, Alyah Morgenstern, Conny Müller-Gerlach, Sam N., Katja Paternoga, Rasselbande, Frau Rosenblatt, S., Jill S., Schatten, Schattenkelch, Anne Schmitter-Böckelmann, Emer Seilern, Shagyalove, Tabea, Team Silke, Klara Sommer, Sommersprossen, Renée W.

„Wir alle“ haben zu Ihnen hin erzählt, und dies, wie Sie unschwer merken werden, ohne vorgestanzte Sätze, ohne Therapeutensprech und aufrichtig. Und „wir alle“ hoffen, es erreicht Ihr Herz und regt Sie an, sich mit Ihrer eigenen Lebensgeschichte ebenso auseinanderzusetzen wie mit der Notwendigkeit, Menschen zu unterstützen, die vielleicht nicht in der Lage sind, sich so gut auszudrücken, die aber aus den unerträglichen Lebensverhältnissen heraus wollen und/oder Unterstützung beim „inneren Ausstieg“ gut brauchen könnten.

Mein persönlicher Dank geht an meine kleine Familie. Und natürlich an meine geduldigen und unterstützenden FreundInnen. An meine loyalen und kompetenten MitarbeiterInnen, allen voran Renate Vorwald. An meine KlientInnen, LehrerInnen, Verbündeten und KollegInnen, die dieses Buchprojekt begleitet haben.

Ein ganz besonderer Dank für die gute Zusammenarbeit gilt Janina Röhrig, die das Buch mit ihrem liebevollen Strich als Illustratorin begleitet und das gesamte Buchprojekt technisch mit herausgegeben hat.

Göttingen/Lanzarote im Frühjahr 2018

Michaela Huber

Der Weg heraus – eine Einführung

Gibt es eine größere Anstrengung, einen größeren Schmerz als sich befreien zu müssen von Menschen, die einem am nächsten sind, weil man sonst zugrunde geht? Gibt es etwas Schlimmeres, als sich Menschen aus dem Herzen reißen zu müssen, Wurzel für Wurzel, die so nah, so verschmolzen mit einem waren – und doch in ihrer Art so grausam, so beinahe tödlich. Und gibt es etwas Schmerzhafteres, als diesen Prozess mitfühlend zu begleiten?

Die meisten von uns haben Trennungsprozesse hinter sich, die mehr oder weniger schwierig waren. Wenn es zum Beispiel gilt, sich von den Eltern abzulösen – viele beginnen das spätestens mit der Pubertät – ist das oft nicht einfach. Da geht es um Autonomie-Entwicklung. Doch eine Autonomie-Entwicklung – das ist etwas, das vielen in ihrer Entwicklung traumatisierten Kindern noch nicht als Jugendliche, sondern häufig erst als Erwachsene gelingen wird, wenn überhaupt. Zunächst geht es für sie um anderes. Ums Überleben. Später dann darum, sich irgendwie irgendwann äußerlich und innerlich loszureißen, während das ganze Bindungssystem immer noch aufschreit: Das geht doch nicht!

Das ist doch meine Mama, mein Papa, meine Geschwister, meine PartnerIn, meine spirituelle Gruppe, mein geheimer „Kreis“, mein…, während der Instinkt sagt: Sie wollen absolut nicht, dass ich gehe, aber wenn ich mich nicht abwende, dann, ja dann gehe ich wirklich zugrunde.

Und eine andere Stimme im Innern flüstert: Ich kann doch alles aushalten, alles, wenn ich nur nicht von ihnen wegmuss… Wenn ich äußerlich wegmuss, oder weggestoßen werde, dann möchte ich doch innerlich zurück. Finde mich selbst schrecklich, schäme mich zu Tode und finde, sie hatten doch recht, mit dem, was sie über mich gesagt und mit mir gemacht haben….

Wer aussteigen muss aus dem zerstörerischen Denken und Handeln der eigenen Herkunftsfamilie oder des Partners oder des Freundeskreises oder der Sekte… , um sich selbst zu retten, wird zögern. Wer sich aus den Händen naher, aber gleichgültiger, ja grausamer Menschen befreien muss, wird kaum glauben, dass das zu schaffen ist. Wer der Mafia oder einem destruktiven Kult entkommen will, hat schon so gut wie mit dem Leben abgeschlossen. Und doch ist dieser Bruch – dieser „äußere Ausstieg“, so schwierig er wird - noch harmlos, verglichen mit dem, was währenddessen und danach noch folgen muss, um wirklich neu und anders denken und handeln zu können: der „innere Ausstieg“.

Erst einmal auf Distanz gehen

Wie schafft man es, das Denkverbot loszuwerden? Das „Du sollst nicht merken, wie schlimm sie mit dir umgegangen sind, ja immer noch umgehen?“ Was muss geschehen, damit man ganz neu und anders über das nachdenken kann, was einem so normal, wie selbstverständlich und fast als Naturgesetz vorkam? Nämlich dass einem die Qualen – die Gemeinheiten, das Alleingelassensein, die Schläge, das Eingesperrtwerden, die gräßlichen Verfluchungen, die sexualisierte Gewalt… – zurecht angetan wurden. Wie stellt man sich dem, was wirklich passiert ist? Wie erkennt man sie, die steinernen Herzen, die gemeinen Rohheiten, die brutalen Machtspielchen, die Verachtung, ja den Hass, dem man ausgesetzt war? Wie grenzt man sich ab, wenn man alles das als Erfahrungen der Eltern spürt, die dies subtil oder offen weitergaben? Wann, wie und wo hört man auf, sich oder anderen noch etwas vorzumachen? Wie legt man ab, was man moralisch bislang für richtig hielt, weil die „eigenen Leute eben so denken“?

Sie werden in diesem Buch vielen Menschen begegnen, die alles gewagt und ihr Herz in die Hand genommen haben, um erst einmal äußere Distanz zwischen sich und die Menschen zu bringen, die ihnen seelisch, körperlich und/oder sexuell Grausames angetan haben. Und die unterwegs oder danach gemerkt haben: Jetzt fängt in gewisser Weise die eigentliche Arbeit erst an. Das Verstehenmüssen. Das Antwortensuchen auf die ewige Frage, den immerwährenden inneren Aufschrei: Warum?! Und die mit der nächsten Frage konfrontiert waren, sobald die erste verklungen schien: Und was jetzt? Beide Fragen begleiten „AussteigerInnen“ oft lebenslang.

Außenseiter sein

Die ersten Antworten auf die Warum-Frage, die neu und tastend anders formuliert werden, stellen sich erst langsam ein. Denn die meisten AussteigerInnen denken noch lange: Warum ich? Und antworten sich: Weil ich es verdient habe. Weil es eben so ist. Weil ich schuld bin. Weil es Mama (oder meiner Schwester, oder meinem Hund…) schlecht erginge, wenn ich was sagen würde. Weil ich dafür da bin und es meine Aufgabe ist. Weil man über sowas gar nicht spricht. Weil es eben so ist. Weil es eben so ist. Weil es eben so ist… Normal. Absolut normal.

Familien-Freuden, gar -Glück? Sicherheit? Ruhig schlafen können? Unbeschwert sein? Für mich, so denken viele Aussteigerinnen, gab es das nicht, gibt es das nicht, wird es das nie geben. Für mich ist das andere normal, und deshalb passe ich nicht in diese Welt da draußen, in die Welt der Spielfilme und Familienserien, in die Welt meiner KlassenkameradInnen, meiner Bekannten, meiner NachbarInnen….

Das Außenseitergefühl schleicht sich bei fast allen Menschen ein, die unverarbeitete körperliche und seelische Erschütterungen noch nicht verkraftet haben. Denn sie haben etwas erlebt, das so außerhalb dessen war, was andere Menschen kennen – so glauben sie es zumindest: Sie waren einmal dem Tode nah, seelisch und/oder körperlich. Davon redet doch niemand einfach so im Supermarkt oder der Schulklasse.

Was aber, wenn diese Wahrheit die wichtigste überhaupt ist: „Ich habe etwas so Abgedrehtes erlebt, dass mir nur ein namenloses Grauen im Innern geblieben ist?“ Ein Gefühl, das umso intensiver ist, wenn man von genau den Menschen verraten und verkauft wurde, vielleicht sogar wortwörtlich, die eigentlich liebevoll und beschützend sein sollten: den Eltern oder andere verantwortliche Erwachsene.

Für ein Kind, das bindungstraumatisiert ist, wächst mit dem „Trauma des Verrats“ auf, wie meine amerikanische Kollegin Jennifer Freyd es nennt (Freyd, 1996). Für ein solches Kind ist es normal, damit allein zu sein. Es ist normal, dass niemand sieht und niemand fragt und niemand etwas dagegen macht. Dieses Gefühl, eine schreckliche Normalität nun mal wie geerbt zu haben, wie für sie gemacht zu sein, die man aber trotzdem nicht aushält, und weswegen man irgendwie „verrückt“, „anders“ oder eben ein Außenseiter ist – es hat sich bei vielen tief verankert. Wer als Kind häufig seelische Qualen und Demütigungen, Todesangst, körperliche Gewalt oder das absolute Entsetzen eindringender sexueller Gewalt erdulden musste und es vielleicht immer noch muss, denkt: Da kann man doch nichts machen. Und wenn man es nicht aushalten kann und nicht äußerlich wegkann, dann muss man sich eben innerlich „wegmachen“. Eine Entwicklung, die das Kind auch bei den grausamen oder gleichgültigen Erwachsenen gesehen hat, innerlich immer wieder wie leer zu sein: körperlich anwesend, aber seelisch „keiner zu Hause“.

Bindungs-Hunger

Hinzu kommt, dass das Kind durch das absolut hilflose Ausgeliefertsein das biologisch bedingte Gefühl hat, von den quälenden erwachsenen Bindungspersonen existenziell abhängig zu sein. Ein Jugendlicher hat einmal zu mir gesagt: „Er (der Vater) hätte mich töten können. Hat er aber nicht – er war der Gott für mich.“ John Bowlby (s. 1975; 2001) hat es einmal sinngemäß ähnlich ausgedrückt: Für das gequälte Kind ist der quälende Erwachsene wie Gott – während es selbst sich nicht liebenswert findet. Diese Formen von Abhängigkeit zwischen einem Kind und seinen es quälenden Bindungspersonen sind noch viel tiefergehend als die Beziehungen zu den Eltern, die nicht gewaltvoll sind. Das ist eine besondere Tragik. Das Kind hat etwas, das ich einen Bindungs-Hunger nenne: Es hat nicht genug bekommen, deshalb hängt es besonders intensiv an Bindungspersonen, auch wenn diese nicht oder nur selten liebevoll sind.

Und doch gibt es auch in vielen Familien, in denen sich die Eltern wirklich nach bestem Wissen und Gewissen Mühe geben, Bindungs-Qualen für Kinder. Dann nämlich, wenn die Kinder mitbekommen, wie unglücklich ihre traumatisierten Eltern sind und wie diese sich selbst, einander und ihre Umgebung unglücklich machen. Die Geschichten „Ein fliehendes Pferd“ oder „Ein Vater in Schwarz-Weiß“ und „Ich bin eine traumatisierte Mutter mit traumatisierten Kindern“ finden Sie unter anderem zu diesem Thema hier im Buch.

Was muss geschehen, damit sich die Verzweiflung ändert? Bis man sagt: Nein das ist nicht normal. So geht das nicht weiter. Das muss aufhören. Ich will das nicht mehr. Ich will mich nicht mehr aufopfern müssen, nicht mehr meine Interessen hintanstellen müssen, will mein Unglück ernst nehmen und mich distanzieren. Was muss dazu geschehen?

Unzuverlässig werden

Die meisten Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen, die in unerträglichen Lebensbedingungen überleben, durch eigene Qual oder als Zeuge der Qualen anderer Familienmitglieder, versuchen irgendwann, sich dem Schrecklichen zu entziehen. Das machen so gut wie alle. Hin und Wieder. Aber sich Zurückziehen ist noch kein Ausstieg. Denn dann kommt es nur auf das Ausmaß der inneren Ambivalenz an sowie auf die Hartnäckigkeit der Familienmitglieder (oder der anderen, von denen man sich distanzieren will) an, ob man wieder hingeht oder aufgespürt wird. Sich entziehen, also sozusagen unzuverlässig werden für die VerursacherInnen der eigenen Qualen, das ist oft ein erster Schritt des äußeren Ausstiegs. Er geht einher mit inneren Befürchtungen: Das kann ich doch nicht machen. Dann geht es ihnen schlecht, und das würde ich nicht aushalten. Oder: dann kommen sie vielleicht unberechenbarerweise jederzeit vorbei, dann kommen Mails, Anrufe, WhatsApps, sie verfolgen mich bei Instagram, Facebook – oder stehen persönlich vor der Tür, belagern oder holen mich, dann wird es noch viel schlimmer. Oder: Dann ist meine Schwester dran, wird meine Mutter krank, dann holen sie mein Kind…. Die Annahme, dass alles nur viel schlimmer wird, wenn man sich selbst ernst nimmt und weggeht von denen, die einem Schmerz machen, ist in allen AussteigerInnen auf stets quälende Weise vorhanden.

Auf der anderen Seite gibt es das Vermeidenwollen von Schmerz. Das verzweifelte: Es soll aufhören, es soll einfach aufhören.

Verhängnisvolle Mütter

In diesem Buch finden Sie einmal ausnahmsweise selten den Fokus auf misshandelnde Männer – die sind sozusagen im Hintergrund immer in vielen Berichten anwesend. Sondern da die meisten Beiträge von Frauen stammen, beschäftigen sich viele mit Frauen. Mit sich selbst und ihrer wichtigsten Bindungsperson, der Mutter vor allem. Als gleichgültige, wegschauende oder sogar als brutale Täterin; mit den transgenerationalen Übertragungen und mit deren inneren Widerspiegelungen. Mir erscheint es wichtig, dass wir gegen das Klischee, Frauen würden nur ohnmächtig allem zuschauen und Opfer sein, etwas tun, und die emotionalen und physischen Grausamkeiten von Frauen als Mütter genauer unter die Lupe nehmen. Manche Beiträge versuchen, diese wichtigste Person in ihrem Leben zu verstehen. Andere sind noch damit beschäftigt, sich selbst zu verstehen und sich gegen die geliebte Person, von der sie als unerfindlichen Gründen nicht geliebt, sondern gleichgültig behandelt, vielleicht sogar gehasst werden, innerlich zur Wehr zu setzen, abzuschotten, sich auch einfach vielleicht nur zu retten vor der so extrem zerstörerischen Art der Frau, die sie Mutter nannten und die sie doch geboren hat (siehe u.a.: „20 Jahre Flucht“ in diesem Buch).

Selbstverletzung, Dissoziation, Ausbrüche

Vor, während und nach dem äußeren Ausstieg kommen den Betroffenen vor lauter inneren Qualen sehr häufig Selbstzerstörungs-Phantasien, weil sie den Schmerz der Trennung und den Schmerz des Erinnernmüssens kaum aushalten. Es folgen Selbstverletzungen, ein Leben auf der Hochrisikospur, und Suizidversuche. Davon und von der Verzweiflung, die diesen Impulsen und Handlungen zugrunde liegen, zeugen einige Gedichte und Berichte in diesem Band.

Lange vor dem äußeren Ausstieg gibt es das Dissoziieren. Dissoziation, das ist das Verschwinden von Wahrheiten in irgendwelchen anderen Teilen des Gehirns, in anderen Regionen der Gesamtpersönlichkeit. Zu bemerken an zahlreichen Wahrnehmungs- und Erinnerungslücken, an Brüchen im Denken, an körperlichen und seelischen Entfremdungs-Erlebnissen. Man erschrickt vor einer plötzlich auftauchenden inneren Wahrnehmung und ahnt: Es ist wahr. Und widerspricht sofort: Es ist doch nicht wahr. Und fragt sich doch: Ist es wahr? Es fühlt sich doch so wahr an. Und zweifelt: Das kann doch nicht wahr sein. Man versucht, sich davon abzuwenden.

Man funktioniert. Und dann bricht man zusammen. Und steht wieder auf. Und funktioniert. Und bricht wieder zusammen. Und dann bricht man auch einmal aus, schreit, tobt, bricht wieder zusammen, vertraut sich irgendjemandem in Andeutungen an, läuft weg. Wird wieder eingefangen, weil man doch „zur Familie/ zum Partner/zum ‚Kreis‘ gehört“. Und weil die Hilfe nicht effektiv ist, einen nicht schützt. Oder man läuft der Familie etc. selbst hinterher, weil man doch dazugehören möchte. Und etwas im eigenen Innern ist zutiefst angewidert von alldem. Will weiter weg. Wieder anderes ist einfach nur unbeschwert und wie unberührt von jedem Grauen. Diese tiefen inneren Spaltungen nennt man strukturelle Dissoziation. Dann ist man nichts „Eigentliches“, hat kein kohärentes Selbst, sondern versteht sich selbst nicht. Dann besteht das Leben überwiegend daraus, irgendwie die Tarnkappe aufzuziehen und sich durch die Brüche des täglichen Lebens hindurch zu navigieren, ohne allzusehr aufzufallen. Bis zum nächsten Auf- oder Zusammenbruch….

Unvermeidliche Verzweiflung

Dieses Hin und Her und Vor und Zurück im Ausstieg aus unerträglichen Verhältnissen ist unvermeidlich. Es macht verzweifelt, aber genau das ist not-wendig im wörtlichen Sinne: Die Not, die man da erlebt, muss stark genug werden, um die zugrundeliegende Not zu wenden. Das ist eine schreckliche, oft monate- oder gar jahrelange Phase, die sehr zermürben kann, wovon unter anderem der Beitrag: „Mein Leben in zwei Welten“ in diesem Band zeugt.

PartnerInnen, FreundInnen, die eigenen Kinder und professionelle HelferInnen, falls es sie gibt, sind manchmal fassungslos. Sie sehen zu, sie raten, sie drängen, und manchmal zermürbt es sie, den so langen Prozess des äußeren Ausstiegs zu begleiten. Schafft sie, schafft er es da heraus – oder nicht? So meinen zum Beispiel viele KollegInnen: Wenn es noch „Täterkontakt“ gibt, dann kann man nichts machen, schon gar nicht therapeutisch arbeiten. Aber wie soll eine Person, die so sehr hin- und hergerissen ist in ihren Loyalitäten, den Ausstieg schaffen, wenn die HelferInnen nicht in den „Infight“ gehen mit der KlientIn/PatientIn, also nicht versuchen, sich mit der gesamten „Multivalenz“ der Persönlichkeit zu beschäftigen, sondern sich verabschieden, weil sie die Dauer-Krise einfach nicht aushalten? Angehörige haben stets eigene Interessen. Viele AussteigerInnen brauchen aber jemanden, der oder die nur ihrem, der AussteigerIn, Wohl verpflichtet ist. Und das kann eigentlich nur ein professioneller Kontakt sein. Oder besser noch: ein HelferInnen-Netzwerk.

Dabei ist Bindung und Beziehung doch das Entscheidende. Das ist die durchgängige Botschaft fast aller Beiträge in diesem Buch: Schaffen kann man es nur, aus zerstörerischen Bindungen herauszukommen, wenn da jemand ist, der oder die diesen schwierigen Prozess verlässlich und über lange Zeit mitgeht. Und diese Person/en sollte/n selbst gut vernetzt sein, damit sie den langen Weg auch tatsächlich mitgehen können. Dabei dürfen sie nicht unbedingt die ganze Zeit begeisterte Dankbarkeit erwarten.

Die meisten Menschen, die als Kind bei ihren Bindungspersonen in unerträglichen Verhältnissen lebten, hassen nämlich nicht die TäterInnen – das können sie gar nicht. Weil bis etwa zum 14. Lebensjahr das Bindungssystem biologisch wichtiger ist als ihr Verteidigungssystem. Weil also das Gefühl der absoluten Zugehörigkeit stärker ist als der Instinkt, Schmerz vermeiden zu wollen. Daher hassen und verachten sie sich selbst. Und nicht selten auch diejenigen, die ihnen nahe sind. Immer wenn etwas unerträglich wird, kippt die Verzweiflung in (Selbst-)Hass. Und in der äußersten Verzweiflung will man sich am besten zermetzeln, zerschneiden, wegmachen…, will so lange hungern, bis man verschwunden ist; will sich die Seele aus dem Leib kotzen; will sich auf die Schienen legen und überfahren werden – der Selbstzerstörungs-Phantasien und -Taten sind viele. Und die „Eigenen“ – das kann auch das HelferInnen-Netz sein – werden im Zweifel mit hineingerissen in das Toben, das Zerrissensein, das Spalten, das „Nicht mit dir und nicht ohne dich“.

Ist da jemand, der/die hilft – und bleibt?

Manchmal sehen private und professionelle HelferInnen zu, dass sie sich „aus der Schusslinie“ bringen“. Nicht selten drohen die Helfer-Netzwerke zu zerbrechen. Manche Beteiligte distanzieren sich abrupt, was mindestens eine Re-Traumatisierung auslösen kann, wenn nicht eine erneute Traumatisierung. Andere reagieren ohnmächtig, zermürbt, vielleicht auch ärgerlich und wütend und an ihrer/ihrem Schutzbefohlenen rüttelnd: Hör auf damit! Oder irgendwann gleichgültig: Mach doch was du willst…. Das aber ist fatal.

Denn genau so reagier(t)en viele Mütter, Tanten, Väter, NachbarInnen, LehrerInnen etc. in den zugrundeliegenden traumatisierenden Bindungssituationen. Gleichgültig dem Leid des Kindes gegenüber. Das Durchhalten aber ist auch für die HelferInnen häufig schwer. Ebenso wie ihre Schutzbefohlenen gilt es also, die HelferInnen zu unterstützen, damit sie nicht ausbrennen. Durch Fortbildungen, Supervision, Teamarbeit, gemeinsames Feiern auch der kleinsten Erfolge….

Zynismus hingegen ist tödlich, und Zynismus ist leider eine der häufigsten Burnout-Folgen bei Menschen, die nicht mehr mitfühlen können. Eine charmante Variante des Zynismus ist die ausschließliche Ressourcenorientierung nach dem Motto: „Sorge dich nicht, lebe!“ Oder: „Lach doch mal!“ Eine Kollegin hat sich in ihrem Beitrag darüber Gedanken gemacht, weil sie ihre Klientin fast durch einen Suizidversuch verloren hätte – nachdem der Klientin in der Klinik gesagt wurde: Sie haben doch alles, was Sie brauchen, Sie schaffen das schon….

Viele AussteigerInnen „ver-brauchen“ ganze Helfersysteme, bis sie vielleicht – vielleicht! – den äußeren Ausstieg schaffen. Und kaum geht eine der neuen Bindungen zu den helfenden Menschen in die Brüche – zieht es sie doch zurück zu den früheren destruktiven Bindungen. Und wieder weg. Und wieder zurück. Und weiter weg. Bis viele es letztlich doch schaffen. Während andere irgendwann aufgeben, und manche sich schließlich doch noch suizidieren. Doch meine Erfahrung ist: Wenn es erst einmal irgendeine sichere gute Bindung irgendwo gibt – dann klappen die Suizidversuche meist „irgendwie“ am Ende nicht und/oder es gibt eine erneute Chance, es doch noch zu schaffen.

Wenn es nicht normal war, was ich erlebt habe – was war es dann? Und dann? Dann fangen die Fragen erst recht an: Wieso ist mir das alles passiert? Wieso „durften“ die mir das antun? Die hätten mich doch schützen müssen, die waren doch meine Eltern (oder andere verantwortliche Erwachsene). Was war/ist mit mir los, was war/ist mit denen los? Wenn das nicht normal war, was war es dann? Wieso konnte ich das solange mitmachen – und bin immer wieder schwankend: War es wirklich so schlimm? Bin nicht ich in Wirklichkeit das Problem, nicht sie? Haben sie nicht doch recht, und ich unrecht mit meinem Gefühl?

Dann fühlt sich die Außenseiterrolle noch schlimmer an. Bodenlose Einsamkeit. Uferlose Verzweiflung. Zwischen Baum und Borke hängen. Nichtweiterwissen. Nicht mit ihnen, nicht ohne sie leben können. Denn „das neue Land ist euer Land“, wie es in einem der Gedichte in diesem Buch heißt, es hat andere Regeln, fordert zu selbständigem Denken heraus – und auch im „neuen Land“ gibt es schlimme, vernachlässigende Menschen, im Gesundheitswesen, auf Ämtern und im Privatleben.

In dieser Phase ist es von entscheidender Bedeutung, dass da möglichst immer, möglichst 24 Stunden rund um die Uhr irgendjemand unerschütterlich Verlässliches da außen prinzipiell ansprechbar ist. Wenigstens eine Person, eine PartnerIn, eine FreundIn, eine BeraterIn, eine TherapeutIn…, die man mit den Fragen löchern kann, die ermutigt und hilft und vielleicht auch beschützt und weitere Hilfe herbeiholt. (Siehe z.B. das Gedicht: „Ich habe tausend Fragen“ in diesem Buch.)

Also: Ja, es gibt eine größere Anstrengung, es gibt größeren Schmerz, als sich äußerlich zu lösen von nahen Menschen. Es ist die Anstrengung zu bemerken, wie tief die überlieferten, eingeübten und eintrainierten Überzeugungen und Impulse sind. Man glaubte zunächst, mit der (gelegentlichen) äußeren Trennung von destruktiven Eltern, PartnerInnen, den Freunden, der Sekte, dem „Kreis“ oder anderen als irgendwann unaushaltbar erlebten Personen sei der Cut vollzogen. „Ich bin raus, das war’s jetzt.“ Nein, das war’s nicht. Noch lange nicht.

In diesem Buch werden Sie erleben, was es wirklich heißt, sich den Dingen zu stellen. Oder sich ihnen nicht zu stellen.

Sich das Unerträgliche anschauen

Sie können hier nachlesen, was passiert, wenn Menschen es nicht, noch nicht oder überhaupt nicht, schaffen, das Unerträgliche anzuschauen, sich tatsächlich auseinanderzusetzen mit „all dem, was man hinter sich lassen wollte“, wie eine Frau einmal zu mir sagte. All das, was man hinter sich lassen wollte, lässt sich aber nicht zurücklassen. Wenn man ein Trauma nicht realisiert, ist man gezwungen, es zu wiederholen oder zu reinszenieren, hat der französische Trauma-Pionier Pierre Janet vor einhundertzwanzig Jahren einmal gesagt. Was bedeutet das? Dass man das weitermacht, vielleicht sogar in unterschiedlicher Rollenverteilung, was man gelernt und erfahren hat.

Welche Folgen hat es für Kinder, wenn ihre Eltern sich dem Schmerz der eigenen Traumatisierung nicht stellen? Wenn die Kinder die ganze Arbeit allein machen müssen: Ihre eigenen Qualen verarbeiten plus die Altlasten, die sie von ihren Eltern „vererbt“ bekamen? Sie werden das nach der Lektüre kognitiv wie emotional nachvollziehen können. Wie geht das: etwas verarbeiten, das die Eltern durch ihr Nichtsehenwollen oder Nichtkönnen einfach weitergegeben haben? Sie werden dazu sehr persönliche Geschichten in diesem Buch finden. Was bedeutet es, spät – vielleicht zu spät – erkannt zu haben, was man den eigenen Kindern angetan hat, indem man selbst traumatisiert war und die Kinder das abbekamen? Auch dazu finden Sie einen Beitrag, für den ich dankbar bin: Eine traumatisierte Mutter beschreibt, dass ihre Kinder sich überwiegend von ihr losgesagt haben, und sie versucht zu verstehen, warum. Und eine Kollegin beschreibt, wie zwei Mütter, die sie psychotherapeutisch begleitet hat, sich trauten hinzuschauen, dass sie ihre Kinder ihren Partnern zur Gewaltausübung ausgeliefert hatten, ohne es bewusst zu wollen.

„Ich glaube nicht, dass wir es schaffen, indem wir schweigen.“ Sagte eine Frau in der ZDF Sendung „37 Grad: Das dunkle Geheimnis“ (Sendung vom 30. Januar 2018). Dennoch schweigen viele Überlebende selbst erlittener und übertragener Traumata, wollen sich nie wieder mit dem Grauen konfrontieren. Doch das nutzt nichts. Man kann so weit laufen, wie die Füße tragen – man nimmt das eigene innere Leid immer mit. Und wenn man es nicht anschaut, sich stellt, es zu überwinden versucht, dann sucht es sich körperliche (Krankheiten; Schmerzsyndrome…) oder seelische Wege. Einer davon ist die transgenerationale Weitergabe, also das „Vererben“ des Kummers direkt – durch Nachmachen der Täterschaft – oder indirekt – indem die Kinder und Enkel den Kummer der Ahnen bemerken und das etwas mit ihnen macht, das fast so schlimm ist, als hätten sie es selbst erlebt. Oder die Partnerin nimmt wahr, dass der Partner die Geschichte seiner Familie auf die neue Partnerschaft überträgt, auch dazu gibt es einen Beitrag in diesem Band.

Schweigen nutzt also nichts. Das Reden aber kann dazu führen, dass man aus dem Verbund derjenigen, die sich um den oder die TäterInnen geschart oder in Loyalität zu ihnen verharrt haben, regelrecht „herausgebissen“ wird. Oder für verrückt erklärt. Oder sich selbst für verrückt hält. Vor dem öffentlichen Reden ist erst einmal das innere Schweigen zu überwinden. Und die inneren Ambivalenzen.

Fragen über Fragen tauchen auf – und für viele davon finden Sie kleine Beiträge in diesem Buch: Darf ich mich ernst nehmen mit meinem Leid? Was habe ich da eigentlich erlebt, wie nennt man das, wie findet man Wörter dafür? Was haben die Anteile von mir, die ich im Alltag nicht mehr haben wollte, da innen die ganze Zeit an unaussprechlichen, schrecklichen, schambesetzten Geheimnissen gehütet? Und wehe, wenn diese einfach so nach vorn stürmen, ausgesprochen werden wollen. Die inneren Opfer-Anteile und schlimmer noch: die inneren täterimitierenden und täterloyalen Anteile erschrecken dann – und innen denkt es: Dann bin ich für andere unausstehlich, unaushaltbar, werde ausgegrenzt. Manchmal, gar nicht so selten, geschieht das auch. Unter Umständen wieder und wieder. Bis jemand außen da ist, die/der sich nicht von den Schrecken einschüchtern lässt, sich nicht vertreiben lässt durch rotzig dahingeraunzte oder wie die Wasserstandsmeldungen tonlos dahingesagte brutale Details von Verwahrlosung, Vernachlässigung, Gewalterfahrung.

Kindern helfen

Was ist, wenn das alles in einem Kind passiert? Und es tatsächlich auch so reagiert, dass es andere verbal oder sogar tätlich angreift und für die ErzieherInnen unaushaltbar ist? Meine Kollegin Katja Paternoga hat für diesen Band ein anrührendes Beispiel einer therapeutischen Begleitung eines schwerst traumatisierten Mädchens aufgeschrieben, das niemanden kalt lassen kann, und das glücklicherweise, wie viele Geschichten in diesem Buch, ein Happy End hatte. Auch deshalb, weil ein ganzes Netz an HelferInnen und gut ausgebildeten oder zumindest interessierten Profis mitgeholfen haben. Und ihre Kollegin Anne Schmitter-Böckelmann hat eine andere Geschichte aufgeschrieben, die von der sechsjährigen Sara, und an diesem Beispiel erläutert, was therapeutisch machbar ist, um so ein vielfach gequältes Kind gut zu begleiten und ihm beim Verarbeiten zu helfen.

Glücklich das Kind, das so eine sorgsame und notwendigerweise gut vernetzte Hilfe bekommt. Was aber, wenn es lange niemanden gibt, der oder die hilft? Wenn man unsagbar gequält wurde, von denen, die sich die Eltern nannten, und diese sogar noch mit anderen Quälenden verbunden waren, in einem Täterkreis, in dem Sexpartys abgehalten werden, Kameras während der Vergewaltigungen surren, Folterszenen dokumentiert werden? Dann wird ein Kind das nur aushalten, indem es sich massiv aufspaltet. Dann lebt es auch später lange ein zerfleddertes Leben, weil es vielleicht nicht einmal ein funktionsfähiges Alltags-Ich aufbauen kann. Sondern „Viele“ wird.

Mir geht es so wie vielen PädagogInnen, BeraterInnen, PsychotherapeutInnen, die sich ernsthaft auf die Bindungs- und Beziehungsarbeit mit gequälten Menschen einlassen: Meine besonders Solidarität gilt denjenigen, die absolut herzlos behandelt worden sind, und doch so tapfer kämpfen. Um ein bisschen Würde, ein Gesehenwerden, um jemanden, der oder die versteht. Kinder, Jugendliche und Erwachsene, die jemanden brauchen, der oder die nicht weggeht, sich auch nicht vertreiben lässt, sondern immer wieder die Hand hinstreckt. Und wenn man es macht, die Hand hinstrecken, zuhören, „da“ sein, sich nicht vertreiben lassen durch „schlechtes“ Benehmen – dann passieren leise Wunder. Dann fängt jemand an, ganz zaghaft zu vertrauen. Und sich selbst etwas zuzutrauen. Dann entsteht etwas, das zumindest mich immer wieder beglückt: Da wächst jemand zu der Persönlichkeit, die in ihr, in ihm steckt. Kommt in die eigene Kraft, lernt sich auch die schwierigsten Dinge anzuschauen, etwas aufzubauen, sich immer mehr und mehr zuzutrauen. Die Freude ist nur vergleichbar damit, einen großen Garten wachsen und gedeihen zu sehen. Oder aus einzelnen Tönen ein gemeinsames Konzert zu schaffen. Oder aus Buchstaben eine anrührende Geschichte. In diesem Buch werden Sie viele solcher Geschichten finden.

Mit dem Herzen dabei sein

Doch der Weg wird kein leichter sein, wie einmal ein Musiker gesungen hat. Er dauert, er ist nie geradlinig, und unterwegs wird man gemeinsam durch so manche Untiefe, ja auch immer wieder regelrecht durch die Hölle gehen. Man wird als BegleiterIn ZeugIn schlimmster, entsetzlichster Schreckens-Szenen werden, die man erfährt, weil es aus der anderen Person, mit der man da sitzt, einfach herausbricht, sobald das zarte Pflänzchen Vertrauen ein wenig Wurzeln geschlagen hat. Wer da nicht mit dem Herzen dabei ist und dabei bleibt, allen Widerständen, Erschöpfungen, auch manchem Nichtmehrkönnen und Sichabwendenwollen zum Trotz – wer da nicht mit dem Herzen dabei bleibt, hält diese Arbeit nicht aus. Auch wenn wir den KlientInnen immer sagen: Bitte nicht so viele Details, denn die ziehen die Abreaktionen nachher nach sich – wir werden nicht verhindern können, dass uns in Andeutungen, gemalten Bildern, in zugesteckten Briefen und bei Kindern in Spielszenen mehr als deutlich wird, worum es geht. Da können wir noch so viele Therapietechniken gelernt haben: Wenn unsere Schutzbefohlenen merken, dass wir wirklich „da“ sind, kommt vieles innen sozusagen mit fliegenden Fahnen angerannt und will endlich, endlich gezeigt werden: Schau mal, so geht es mir tief innen. Wer da nur sagt: „Sie haben doch Ihren inneren Tresor und ihren inneren sicheren Ort, dann machen sie mal Ihre Skills-Übungen“ etc., wird nicht wirklich hilfreich sein können.

Schwere Arbeit ist es immer, als PädagogIn, BeraterIn, PsychotherapeutIn, ÄrztIn, Adoptivmutter, Pflegevater, PartnerIn, FreundIn etc. eine Persönlichkeit zu begleiten, die sich dem „inneren Ausstieg“ stellt. ZeugIn zu werden all der Qualen, die jemand durchmacht, der oder die etwas noch nicht anders denken oder machen kann als das, was sie oder er gelernt hat, aber es so gern anders machen möchte – das alles kann sehr anstrengend sein.

Mehr noch: HelferInnen kommen mit ihrem eigenen Leid in Berührung. Notgedrungen. Denn man kann nur bei jemandem bleiben, der durch dieses tiefe Tal der Tränen und der Erkenntnisse hindurchgeht, wenn man sich berühren lässt und berührbar bleibt. Das aber setzt immer wieder die Auseinandersetzung mit der eigenen Lebensgeschichte und den Traumatisierungen in der eigenen Herkunftsfamilie und, falls vorhanden, der Familie der PartnerIn voraus.

Von daher war ich nur wenig überrascht, dass ich, als ich über mein großes Netzwerk KollegInnen nach Berichten von KlientInnen fragte, auch von den KollegInnen häufig Erinnerungs-Geschichten und -Vignetten angeboten bekam, die sich mit ihrer eigenen Lebens- und Familiengeschichte auseinandersetzten.

Wir sind alle „Betroffene“

Dies zeigt: Wir sind alle „Betroffene“. Ausnahmslos. In unterschiedlicher Intensität und unterschiedlichem Ausmaß, aber niemand von uns kann sich von Leid freisprechen, dem übertragenen wie dem Leid, dessen Zeuge wir werden. Denn wir stammen zum Beispiel so gut wie alle von Eltern und Großeltern ab, die Kriege, Verluste, Vertreibungen, Rohheiten und seelische Erschütterungen erlebt, und vielleicht nur wenig davon je verarbeitet haben.

Dennoch sind die Betroffenheiten verschieden: Wer die ersten Lebensjahre das Glück hatte, geliebt in Sicherheit zu leben, der oder die hat ganz andere Möglichkeiten, mit Stress aller Art umzugehen, als jemand, der oder die von allem Anfang des Lebens an ungewollt, grausam behandelt und gequält wurde. Wer einem Fremdtäter in die Hände fiel, kann sich unter Umständen leichter abgrenzen, als wenn der Täter oder die Täterin eine nahe Bindungsperson war. Wer nur einem einzigen Täter oder einer Täterin ausgesetzt war, vielleicht nur eine kurze Zeit lang, hat bessere Verarbeitungschancen als jemand, der/die von der ersten QuälerIn aus weitergereicht wurde an viele andere und über lange Zeit nichts anderes kannte, als eine „Ware“ zu sein. Wer eruptive emotionale Durchbrüche erdulden musste, kann eventuell sogar besser damit klarkommen als jemand, der in die Hände von SadistInnen gefallen ist, die elaboriert und kalt bis ans Herz ganz bewusst versucht haben, sie zu zerstören.

Die meisten „Profis“ im pädagogischen sowie im Sozial- und Gesundheitswesen würden sagen, sie mögen ihre Schutzbefohlenen. Das hoffe ich jedenfalls. Auch wenn wir als Profis die Nasenspitze voraus haben sollten, um unsere KlientInnen, die dringend auf uns angewiesen sind, sorgsam begleiten zu können, so rühren die Schilderungen ihrer Lebensgeschichten uns nicht nur an, weil sie uns leidtun. Sie rühren auch bei uns an alte Wunden und fordern uns heraus, sie „triggern“ uns, wie es in der Fachsprache heißt. Und umgekehrt gilt: Manche Schritte können unsere KlientInnen nur dann tun, wenn wir selbst diese Schritte schon in unserem Leben gegangen sind und/oder eine bestimmte Haltung entwickeln konnten, mit deren Hilfe wir unsere KlientInnen an entscheidenden Gabelungen ihres Lebensweges ermutigen können. Siehe zum Beispiel die Geschichte „Erstgespräch“ von Conny Müller-Gerlach in diesem Buch.

Es lohnt sich zu kämpfen

Manche Texte in diesem Buch sind durchaus harte Kost, weil sie zwar nur selten direkt Bezug auf Traumatisierungs-Inhalte nehmen, aber doch sehr deutlich machen, was frühes und langjähriges Beziehungs-Leid bedeutet, was es für einen tiefen, manchmal bodenlosen Kummer verursacht. Dennoch finde ich – und meine Probe-Leserinnen haben es bestätigt -, dass die Texte durchweg vermitteln: Es lohnt sich zu kämpfen. Nicht nur, weil der Spruch der Bremer Stadtmusikanten stimmt: „Etwas Besseres als den Tod findest du überall.“ Sondern weil es für die eigene Würde, für das Sich-Aufrichten und für die eigenen Kinder wichtig ist, sich niemals zu begnügen. Dass man auch das Schrecklichste überwinden kann: das Ausgeliefertsein in einem destruktiven Kult, in dem die Eltern noch zusätzlich zu anderen Menschen das Kind gefoltert und zu Grausamkeiten gezwungen haben – dass man so etwas auch überwinden kann, selbst dafür gibt es Beispiele in diesem Buch.

Eines ist mir bei der Lektüre all der „Geister die ich rief“, als ich ins Netz hinaus fragte und bat, mir Beiträge zum Thema „Der innere Ausstieg“ zu schicken, deutlich geworden: Es gibt keine Hitparade von Leid. Zusehen zu müssen, wie die eigenen Eltern an ihrem Leid schier zugrunde gehen, kann ähnliche Verzweiflung auslösen wie körperliche oder sexualisierte Gewalt. Vom (Stief-)Vater gequält zu werden und die Mutter schaut weg, kann subjektiv genauso viel Leid verursachen wie die Qualen in der sogenannten „Kinderprostitution“ oder einer grausamen Sekte. Mehr noch: die „Gehirnwäsche“ in einem Kult und die eingesickerten depressiven Glaubensüberzeugungen in einer traumatisierten Familie schenken sich gegenseitig nichts, wenn es um die langfristigen Folgen und die Mühen geht, sich davon zu befreien. Leid ist Leid, und jeder leidende Mensch ist ein Universum für sich. Auch wenn ich oben beschrieben habe, dass es Traumatisierungen gibt, die schwerer zu verarbeiten sind als andere.

Die Wege heraus aus dem Schlamassel können vielfältig sein. Doch immer, ich behaupte: wirklich immer muss es, wenn es besser werden soll, Menschen geben, die sich von Leid anrühren lassen, die mit aufrichtiger Menschlichkeit und Herzenswärme reagieren. Und was sollten diese HelferInnen, egal ob professionell oder privat im Kontakt mit der Person, die so kämpft, tun?

Mitgefühl und sich Zeit Nehmen statt Pseudo-Neutralität

Eigentlich ist es ganz einfach, wenn wir es uns nicht so schwer machen würden, behaupte ich. Warum nicht einfach folgendes tun? Zuhören. Nicht werten. Da bleiben. Sich einfühlen, ohne dasselbe zu fühlen, also echtes Mitgefühl zeigen statt Pseudo-Neutralität. Sich nicht aufdrängen, sich aber auch nicht vertreiben lassen. Und wenn beide Seiten sich „eingetuned“ haben in der Kommunikation, und der/die Betroffene sich gehört, gesehen, verstanden fühlt – dann, und erst dann kann man versuchen, vorsichtige Vorschläge zu machen oder etwas zu erklären. Dabei gilt es immer rückzufragen: Was meinst du/meinen Sie dazu? Und im Gespräch – besonders, wenn man es mit einer vielfach dissoziierenden Persönlichkeit zu tun hat –, ist es sinnvoll, immer wieder einmal zusammenzufassen, was man gerade besprochen hat, und auch dabei zu fragen: Hab ich es richtig verstanden, dass…? Und weiter zu fragen: Gibt es noch etwas, das wichtig sein könnte?

Das klingt gar nicht so kompliziert, nicht wahr. Ist es im Grunde auch nicht.

Nach 40 Jahren als Psychotherapeutin ist mein Rat an die KollegInnen also ganz einfach: Lass dich ein. Hör zu. Frag nach. Sei behutsam mit Vorschlägen. Frage mehr, als Antworten zu versuchen und Vorschläge zu machen, denn vielleicht kann deine GesprächspartnerIn gerade gar nicht gut zuhören, will sich nichts vorschreiben lassen, braucht schon gar keine BesserwisserIn um sich. Sieh die Person an deiner Seite als eine, die auf jeden Fall mehr weiß als du. Tatsächlich. Sie weiß mehr als du. Viel mehr. Über Versuch und Irrtum, Hinfallen und Aufstehen und wieder Hinfallen, über Verluste und Bitterkeiten, über unendliche Schmerzen, über Dissoziation und das roboterhafte Funktionieren, über Schlaflosigkeit und Medikamente, über Angegriffensein und sich nicht wehren Können, über Unterwerfung und inneren Widerstand. Darüber, wie es sich anfühlt, ganz unten zu sein, wirklich ganz unten. Und das nicht nur einmal. Willst du solchen ExpertInnen von Leid mit irgendwelchem billigen Trost kommen? Bitte nicht. Und erzähl mir nicht, du hättest keine Zeit, weil zu viel zu tun. Ich kann es nicht mehr hören. Dann NIMM dir Zeit! Kämpfe darum, dir Zeit für diese Menschen nehmen zu können! Dieser Kampf lohnt sich mehr, als der Ringkampf um schnelle Lösungen, den du bisher mit deinen PatientInnen/KlientInnen geführt hast, weil die sich nicht so schnell abspeisen lassen mit Rat-Schlägen.

Natürlich ist mir klar, dass die Bedingungen, sich Zeit für Menschen in Not zu nehmen, institutionell alles andere als einfach sind. Nicht genug Finanzierungsmöglichkeiten, Termindruck etc. Alles klar. Nur: Wenn du und ich, Sie und Sie, uns nicht konsequent Zeit nehmen für Menschen in Not; wenn wir nicht stets und ständig und Jahr um Jahr darum kämpfen, dass sie gehört und dass ihnen auch angemessene Unterstützung in professionell wie persönlich gut begleiteten Helfer-Teams zukommt, dann haben wir unseren Beruf verfehlt.

Ja, sagte ich neulich zu einer Kollegin, du kannst nicht alle retten, das stimmt. Aber einige schon. Du kannst jedenfalls den Unterschied machen. Und du darfst dir und wirst dir ohnehin natürlich aussuchen, für wen du dich mit aller Kraft einsetzt. Das können wir alle nicht immerzu und für alle Menschen gleichermaßen tun.

Ja es ist anstrengend

Ich persönlich nehme nur jemand in Therapie, die/der bereit ist, sich enorm anzustrengen. Denn ich werde es auch tun. Ein „Schön dass wir darüber geredet haben“ und dann zurück in die alten Verhältnisse, das gibt es bei mir nicht. Natürlich dauert es, bis auch nur der äußere Ausstieg geschafft ist, und doch werde ich in jeder einzelnen Therapiestunde immer ausstrahlen: Doch, du schaffst das, da herauszukommen. Du schaffst das, dich auf die eigenen Füße zu stellen und zu wachsen und die Person zu werden, die in dir steckt. Ich werde herausfordern: Wie findest du/finden Sie das? Soll das so bleiben? Nein? Was machst du dann bis wir uns wiedersehen, welches kleine Experiment, das du sonst nicht machen würdest? Ich zupfe – im übertragenen Sinne, manchmal auch wörtlich – ständig am Ärmel: Komm, begnüge dich nicht, ich tu’s auch nicht.