Der Feind im Innern - Michaela Huber - E-Book

Der Feind im Innern E-Book

Michaela Huber

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Beschreibung

Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten, die mit Gewaltüberlebenden arbeiten, müssen sich auch mit den bösartigen Gedanken-, Gefühls- und Verhaltenszwängen ihrer Klienten beschäftigen – mit ihren Täterintrojekten. Während sich Wissenschaftler darüber streiten, ob nicht alle Gewalttäter „krank“ seien und eher in die Forensik als ins Gefängnis gehörten, ringen Therapeuten darum, Wege der Integration für ihre Klientinnen zu finden: Wie lassen sich zerstörerische Impulse unter Kontrolle bringen? Welche Möglichkeiten gibt es, rechtzeitig zu verhindern, dass jemand zum Täter wird? Michaela Huber bündelt in diesem Buch ihre Erfahrungen, die sie mit traumatisierten Menschen gemacht hat. In eigenen Texten und in zahlreichen Interviews mit Fachkolleginnen und -kollegen und Betroffenen ergründet sie, wie das „innere Monster“ denkt, was „die dunkle Seite“ will und wie der „Feind im Innern“ funktioniert. Und sie fragt, wie man ihn zur inneren Kooperation bewegen kann, damit er sich vom Zerstörer in einen inneren Beschützer verwandelt, der sich nicht mehr gewalttätig äußern muss.

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Seitenzahl: 625

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Michaela HuberDer Feind im InnernPsychotherapie mit TäterintrojektenWie finden wir den Weg aus Ohnmacht und Gewalt?

Copyright: © Junfermann Verlag, Paderborn 2013

Coverbild: © Marlene Biberacher

Covergestaltung / Reihenentwurf: Christian Tschepp

Alle Rechte vorbehalten.

Satz & Digitalisierung: JUNFERMANN Druck & Service, Paderborn

ISBN der Printausgabe 978-3-87387-583-8 ISBN dieses eBooks: 978-3-87387-940-9

Danksagung

Schreiben ist ein einsames Geschäft. In den immer wieder langen Phasen des Eintauchens in andere Welten braucht es Lebewesen, die „einfach da“ sind: liebevoll, im Kontakt, gute Laune bereitend und für jedes Gespräch zu haben. Glücklich, wer so jemand in der Nähe hat.

Daher mein besonderer Dank an vier weibliche Wesen, ohne die ich das alles nicht geschafft hätte:

Irma – the one and only Renate Vorwald – Geschäftsführerin, Vertraute, Freundin Heike Carstensen – freundliche und akribisch-kritische Lieblings-Lektorin Murphy – sanfte Geduld auf vier Pfoten

In herzlicher Dankbarkeit.

Einleitung: Brief aus Rom – und aus anderen Ecken der Welt

Warum sich ausgerechnet in Rom, in diesem Traum einer Stadt, mit dem Bösen beschäftigen? Hier, über den Dingen, von der Dachterrasse aus auf die Ziegel und Bögen blickend, auf Kuppeln und Putten, Engel und Quadrigen, Säulen und grüne Oasen, die sich zu einer weltweit bestaunten Perfektion ergänzen; im Westen der Petersdom, im Tal dort unten die lange Schlange des Tiber, überall historische Zeugnisse und atemberaubende Kunstwerke in einer Stadt, die immer wieder eine Schicht auf die andere gebaut hat, von der Antike bis heute, in scheinbar friedlich koexistierender Folge ... Über den sieben – nicht von Bausünden wie Hochhäusern zerschnittenen – Hügeln der unendliche Himmel, durchquert nur von Möwen und einigen dreisten Dohlen, zu Füßen der wuselnde Verkehr. Was kann hier oben schon mit den Anwandlungen des Bösen zu tun haben? Das ewige Rom ist heute eine beschauliche Pracht, jedenfalls von hier aus.

Und doch erliege ich der Versuchung (professionelle Deformation einer Traumatherapeutin?), mir vorzustellen, von welchem der gegenüberliegenden Hügel Nero wohl angeblich die Stadt, die er so geliebt und deren Senatoren er so gehasst hat, in rasendem Furor entzündete, wie die Legende sagt. Tatsächlich befand er sich wohl viele Kilometer entfernt, als das Feuer in der Nacht vom 18. zum 19. Juli des Jahres 64 – vielleicht ausgehend von einem Markt, vielleicht auch durch Brandstiftung, vielleicht sogar von Nero beauftragt – sich seinen Weg die Hügel hinabfraß, durch Häuser und Gassen hindurch, rennende und schreiende Menschen vor sich hertreibend, ein loderndes Inferno aus Tod und Verwüstung hinterlassend. Danach musste Rom in vielen Stadtteilen noch einmal aufgebaut werden. Übrigens kam es daraufhin zu einem Progrom, in dem viele römische Christen büßen mussten, was andere verschuldet hatten; Christen wurden verfolgt, gefoltert, ermordet als angebliche Verursacher des Brandes.

Und dann steige ich hinunter, speise an der Stelle, an der Cäsar 80 Jahre vor dem großen Brand in Rom ermordet wurde. „Et tu, Brute!“ soll er ausgerufen haben, vermutlich sogar griechisch: „Kai sy tecnon“ – „Auch du, mein Sohn“, als er erkannte, dass die Menschen, die auf ihn einstachen, ihm nur allzu gut bekannt waren, darunter Brutus, dem er väterlich verbunden war. Die Täter rechtfertigten die Tat als Tyrannenmord. Überhaupt die römische Antike: Ein einziges Gemetzel, nicht nur bei den Löwenspielen im Colosseum, in dem ausgewählte Sklaven sich gegenseitig erschlugen oder mit wilden Tieren um ihr Leben kämpften und eine johlende Menge angeblich dadurch das Schicksal der Kämpfer entschied, indem sie den Daumen senkte oder hochreckte ...

Und dann die berühmten Adels- und Patrizierfamilien: alles Barbaren! Heute scheint erwiesen, dass sie allesamt aus germanischen Stämmen hervorgegangen sind (die italienischen Faschisten waren sich des Erbes blond! blauäugig! scheint’s überaus bewusst). Ah, die Medici – nichts als altdeutsche Medickes! Die sich mit anderen Ex-Germanen hier das Herrschen teilten, sich gegenseitig die Köpfe einschlugen, gelegentlich einen Papst stellten, sich bis aufs Blut bekriegten.

Da drüben die Vatikanstadt: Wer ahnt heute noch inmitten all der gigantischen Pracht die Heuchelei und Durchstecherei, die auch hier, von christlichen und sehr profanen Machtbedürfnissen gespeist, Karrieren bahnte, verhinderte oder auslöschte?

Man kann hinschauen, wo man will: Die offiziell zur Schau gestellte Vornehmheit der Palazzi und Villen wie die kleinen Handwerksbetriebe bemühen sich um das Bild reiner Aufrichtigkeit; hier vielleicht die Pracht etwas hochgereckt-majestätischer, die Handwerksbetriebe etwas den Niederungen des Alltagslebens angepasster als anderswo. Im Verkehr, dem allgegenwärtigen, gleitet alles aneinander vorbei, haarscharf, aber meist erfolgreich, und erstaunlich selten wird geschimpft und gedroht – viel seltener, scheint mir, als bei uns im wohlgeordneten nördlicheren Europa.

A propos nördlich: Die Lega Nord möchte den reichen Norden Italiens (mit seinen hochgewachsenen, blond-blauäugigen und geschäftlich so erfolgreichen Einwohnern, heißt es gelegentlich nicht nur hinter vorgehaltener Hand) ja gern von den mafiadurchseuchten südlichen Regionen abspalten. Nur musste nur leider ein Lega-Nord-Funktionsträger nach dem anderen wegen Korruption gerade das Handtuch werfen ... Überhaupt, das italienische Regierungs-Fiasko: dass ein Land entweder eine ununterbrochene Abfolge von Kleinkriegen zahlreicher miteinander verfeindeter Parteien erlebt, oder andererseits einen derart hemmungslos alle offizielle Moral über Bord werfenden Regierungschef wie Silvio Berlusconi nicht nur so lange ertrug, sondern ihn immer wieder wählte, wirft auch ein bezeichnendes Licht auf eine italienische Mentalität, nach der man (Mann) augenzwinkernd den radikalen Machterhalt bewundert und den „Gockel“ für seine Dreistigkeit: „Der traut sich was – ein ganzer Kerl!“ Dass derweil die eigene intelligente Elite das Weite suchen muss, weil Vetternwirtschaft, Korruption und einfach Unfähigkeit von Politikern und anderen Entscheidern sie dazu nötigt, falls sie nicht für einen Hungerlohn in einem Callcenter schuften will, steht auf einem anderen Blatt. „Wir suhlen uns in unserer glorreichen Vergangenheit. Aber wem nutzen die alten Römer, wenn der Bus nicht fährt?“, stöhnt eine vorübergehend aus ihrem amerikanischen Exil heimgekommene Physikerin. Was fehle, seien Respekt und Bürgersinn, Mitmenschen, die sich nicht nur für sich selbst verantwortlich fühlen, sondern für das Gemeinwohl, die „res publica“, vertraut sie der sie begleitenden Spiegel-Redakteurin an (Nr. 32 / 2012, S. 50).

Und so kann man hier in Rom bestaunen, wie seit Jahrtausenden eine politische Schlacht nach der anderen Ruinen und Ausbeutung, aber auch wunderbare Kunst schuf und bestätigte – und eine Schicht von Steinen und Menschen nach der anderen, eine Generation von Armen und Reichen nach der anderen aufeinander aufbaute. Man schlägt sich so durch, und selbst die kleinen Leute versuchen noch auf bewundernswerte Weise, „bella figura“ zu machen. Die Grandezza der Herrschenden im Alltäglichen widerspiegelnd. Zivilisation und Barbarei – selten lassen sie sich so schön studieren wie hier.

Gut oder böse?

Wer ohne Sünde sei, werfe den ersten Stein. Haben wir doch alle, überall auf der Welt, den Wunsch nach Schönheit und Würde in uns – zusammen mit den primitivsten Machtbedürfnissen und Gewaltfantasien Auch diejenigen unter uns, die keine Menschen erschlagen, vergewaltigt oder gefoltert haben, kennen sie. Ob sie angeboren und damit genetisch verankert sind oder ob die verschiedenen Impulse in uns deshalb koexistieren, weil und wie sie uns vorgelebt wurden, wer weiß. Macht scheint bei all dem ein wichtiges Stichwort zu sein. Macht und die erzwungene Nähe von Menschen, die miteinander leben müssen, die ringen und kämpfen ums Überleben, um das Oben oder Unten, um Sein oder Nichtsein, um Gewinnen oder Unterliegen.

Dieses Thema beschäftigt mich seit Jahrzehnten: Was können wir wissen über die Tendenzen in Menschen, sich gut oder böse zu verhalten? Noch genauer, denn ich bin ja Psychotherapeutin und beschäftige mich mit den Heilungsprozessen von früh und langjährig gequälten Menschen: Wie können sich Erfahrungen von Gewalt im Innern von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen verwandeln in „böse“ Gedanken, Impulse und Handlungen – oder auch transformiert werden in gute? Falls Böses Böses gebiert: Wer wird sie dann auch ausführen, die bösen Taten? Schwache Menschen, Männer eher als Frauen, schwerer gestörte eher als „Neurotiker wie du und ich“? Diese Fragen können wir stellen, weil wir heute in einer anderen als in einer Sklavengesellschaft leben (jedenfalls die meisten von uns; über die Ausnahmen werde ich auch sprechen – Kinder, die eingesperrt, gequält und mit dem Tode bedroht werden). Wir wurden nicht entführt und zum Bösen unter Folter gezwungen wie die Kindersoldaten im Kongo (jedenfalls die meisten von uns; es gibt Ausnahmen auch in westlichen Industrieländern, über die wir sprechen sollten: Kinder zum Beispiel, die zu sogenannter „Kinderpornografie“ und „Kinderprostitution“ gezwungen werden). Wir werden nicht unter Todesdrohungen zum Schweigen verpflichtet wie in einer Diktatur (Ausnahmen auch hier: AussteigerInnen aus organisierten Formen von Ausbeutung – das sollten wir uns ansehen!).

Wir dürfen, ja, wir müssen uns in einer (ansonsten) freiheitlichen Gesellschaft Gedanken machen um böse und gute Handlungen. Unsere Kinder wachsen auf und werden Tausende von Entscheidungen treffen müssen, jeden Tag. Sie werden sich gut, böse und neutral verhalten. Wer von ihnen wird zum Täter, wer nicht? Wieso können manche Menschen fast alles an Furchtbarem erleben: Einsamkeit, Verlassenheit, abrupte Verluste, Gewalt, und doch nicht selbst grausam werden? Wie kann es sein, dass ein Kind, dass viele Jahre einem Sadisten ausgesetzt war, nicht selbst sadistisch wird – ein anderes aber doch? Können wir etwas darüber wissen, was Erbe und was Umwelterfahrungen sind, wenn es um zerstörerische Handlungen geht?

„Was du ererbt von deinen Vätern hast – erwirb es, um es zu besitzen.“ Und dieser Besitz kann froh und glücklich – aber auch unzufrieden und verzweifelt machen. Goethe, der seine vielleicht schönste Zeit in Rom verbrachte und seinen „Faust“, aus dem das Zitat stammt, hier schon durchdachte, hat mit diesem Menschheitsdrama eine Parabel auf den zum Letzten, auch zum Bösen bereiten Sucher der Neuzeit verfasst, der mit den Mythen des Mittelalters versucht, zu neuen Erkenntnissen zu gelangen – koste es, was es wolle. Im ersten langen Monolog des Faust klingt an: Erweise dich würdig dessen, was dir freundlich vererbt wurde – oder deine Suche wird zu einer Qual. Faust wird sich mit Mephisto einlassen, wird einen Pakt mit seinem persönlichen – gemeint ist: inneren – Gegenspieler wagen, der ihn, die Alltagsperson, von seiner Unzufriedenheit mit dem unzureichend banalen Wissen, von seiner Ruhelosigkeit, seiner ewigen Suche nach dem Besonderen befreien und ihm Erfüllung vermitteln soll. Verfolgt man dieses meistgespielte Stück der Theatergeschichte weiter, so erfährt man: Mephisto verwandelt Faust in einen jungen Mann und bewirkt, dass er sich in das junge Mädchen Gretchen verliebt, sie schwängert, sie verlässt, ihre Mutter vergiftet, ihren Bruder ermordet und sie in den Wahnsinn treibt, bis sie ihr Neugeborenes tötet und hingerichtet wird. So endet der Tragödie erster Teil zunächst. Faust (und mit ihm Goethe) wird erst später seine spirituelle Suche in Faust II fortsetzen, in dem Teil, den bis heute nur wenige Theater spielen. Den ersten Teil hingegen scheinen alle zu mögen und zu verstehen: Hier lässt sich ein Intellektueller mit dem Teufel ein und bringt Unglück über ein einfaches Mädchen. Oder: Ein Mann sucht, wie man heute sagen würde, den „absoluten Kick“, wirft alle Moral über Bord und überlässt sich seinen bösen und geilen Wünschen, ruiniert dabei das Leben eines jungen Mädchens und deren Familie und kommt am Ende ungeschoren davon; Fortsetzung folgt – vielleicht.

Die Kraft, die stets das Böse will ...

Interessanter- und für viele rätselhafterweise wird Mephisto – des „Pudels Kern“ – von Goethe beschrieben als „Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft“. Wieso das? Es ist ja wahrlich nicht so, dass Faust Gutes schafft durch seinen Pakt mit dem Teufel. Was vielleicht gemeint ist: Wenn es dem Menschen gelingt, seine bösen Seiten kennenzulernen, sie gedanklich durchzuspielen, und sei es zu ihrem schlimmen Ende, dann wird er zu Erkenntnissen gelangen, was von seinen Wünschen sinnvoll und lebbar ist und was nicht. Das ist zugegebenermaßen eine sehr freundliche Deutung dieses Satzes. Gängigere Interpretationen gehen davon aus: Da Gott im Prolog Mephisto erlaubt hat, den Menschen Faust in Versuchung zu führen, sei Mephisto auch nur „ein Geschöpf Gottes“. In beiden Fällen könnte das Faust‘sche Drama auch eine einfache Aussage enthalten: Gut und Böse sind in jedem Menschen vorhanden; den Versuchungen kann man erliegen – mit dramatischen Folgen –, man muss es aber nicht. Selbst Gretchen ist nicht nur Opfer; sie hätte sich gegen Faust entscheiden können. Anfangs wehrt sie sich ja auch: „Bin weder Fräulein, weder schön, kann ungeleitet nach Hause gehen.“ Auch sie erliegt der Versuchung in Form der – durch Geschenke eingeleiteten – Verführung durch den wiederum von Mephisto angeleiteten Faust.

Im Goethe-Haus hier in Rom las ich den fahrig hingehauchten Brief eines Mädchens, das sich ein Zeichen der (weiteren) Zuneigung des in eine Reihe von amourösen Abenteuern verstrickten Johann Wolfgang erhoffte und doch fast schon verzweifelt war. Goethe seinerseits war unterdessen unglücklich in eine andere Frau verliebt, versprach wieder einer anderen die Hochzeit – und reiste dann ab nach Weimar, wo er sich in Christiane Vulpius verliebte. Das alles, während er weiter den „Faust“ erdachte. Ein Schelm, der Böses dabei denkt.

Faust als Weltendrama zeigt, was Menschheitsdrama zu sein scheint: Wenn wir nicht das Gute schaffen, sondern das Böse ausleben, zerstören wir alles. Das ist der Kern jeder Moral. Jeder Mensch und jeder Staat muss sich dem Guten, Wahren, Reinen, Schönen verschreiben, wohl wissend, dass Menschen auch andere Seiten haben. Wir brauchen für unser Gemeinwohl, also für das gemeinsame Wohl, Regeln des Zusammenlebens, die Altruistisches belohnen und Destruktives bestrafen. Wir müssen uns diesen Regeln unterwerfen, auch wenn es lustvoll sein kann, sie zu überschreiten.

Mitgefühl

Vermutlich kann die Kunst bewirken, dass wir beide Tendenzen miteinander versöhnen. Oder gute Wissenschaft. Oder Philosophie. Vielleicht müssen wir unsere eigenen Erfahrungen machen – und sie dann transzendieren, um so viel wie möglich aus ihnen zu lernen und unseren Kindern weiterzugeben. Vor allem aber sollten wir eines üben, das uns selbst, uns untereinander und uns in globalisierten Zusammenhängen helfen könnte, mehr Freundlichkeit und Fürsorge, Achtsamkeit und Respekt, Würde und Wertschätzung – mit anderen Worten: Gutes, in die Welt zu bringen, das man unter dem Sammelbegriff Mitgefühl zusammenfasst. Gleichzeitig wären wir naiv (was ja nichts Schlimmes sein muss) und vermutlich wirkungslos (was schlimmer ist), wenn wir nicht gleichzeitig dafür sorgen, dass Politik und Sozialsysteme unserer Länder gründlichst reformiert werden. Das Ziel muss sein: Die Schere von Arm und Reich nicht weiter auseinanderdriften zu lassen, nicht global und nicht in jedem einzelnen Land (Italien hat es in Nord-Süd-Richtung, Deutschland in West-Ost-Richtung; Europa wiederum hat wie überhaupt der Globus – noch – ein Nord-Süd-Gefälle). Das Ziel muss sein, mehr Solidarität zu wagen und „res publica“ überall zu erhalten oder überhaupt erst einzuführen. Und das scheint momentan so schwer wie lange nicht.

Denn während in Europa weitgehend Frieden herrscht, toben die (Stellvertreter-)Kriege anderswo. Während Europa prosperiert (noch), lässt es seine ehemaligen Kolonien verkommen, schottet es sich ab gegen deren Elend, gegen die Bedürfnisse dortiger Menschen nach Wasser, Nahrung, Arbeit, Bildung, Würde. Das Böse hat heute die Form von Gleichgültigkeit, mangelndem Engagement vieler und von fortgesetzter Ausbeutung, fehlendem Verantwortungsgefühl und dem Sich-Abwenden der Unternehmen und Regierungen, wie der sogenannten „kleinen Leute“. Alle handeln nach dem Motto: „Wenn ich nicht hinschaue und nicht darüber rede, dann existiert es auch nicht.“

Ein kleiner Blick vom schönen Rom hinüber nach Kinshasa. Im Kongo herrscht Gewalt, viel Gewalt, grausamste Gewalt. „In ihrer womöglich erschreckendsten Form, nicht ersonnen von ausgewählten Sadisten, die in Staatsgefängnissen foltern, nicht als Werk eines Psychopathen, der wild um sich schießt. Sondern als flächendeckendes Gemetzel wehrloser Menschen, ausgeführt von riesigen Gruppen von Männern und sogar Kindern, geduldet von einer internationalen Gemeinschaft, die ihre Ressourcen schont. Ihre Soldaten, aber auch ihre Ideen und schließlich ihr Mitgefühl“, schreibt Elke Schmitter in ihrer Besprechung von „Kongo. Eine Geschichte“ des Historikers David van Reybrouck (Spiegel Nr. 17, S. 148), einem Autor, der sich auf Überraschungen einlässt. Überraschungen, die geschehen können, „wenn das Erkenntnisinteresse des Forschenden sich zunächst vom Augenschein, von seinen Sinnen, vom Staunen und von Gesprächen leiten lässt“, und entdeckt, „dass Menschen überall Menschen sind. Wehrlos, brutal, der Hoffnung bedürftig. Und darauf angewiesen, dass man ihre Geschichte erzählt. Auch, damit sie sich nicht wiederholt“ (ebd., S. 150; siehe auch Kapitel 16 „Gewissenlos – sind Gewalttäter grundsätzlich krank?“ in diesem Buch).

Gegensätzliches zusammenbringen

Und so saß ich in Rom, in Stockholm und Göttingen, saß in Zürich und Wien, in Hamburg und München, in Berlin, in Luxemburg und in vielen anderen Städten, an Seen und Flüssen und am Meer. Saß und schrieb Erlebtes auf. Geschichten über Menschen, die – ähnlich wie die Kindersoldaten im Kongo und doch wieder ganz anders – genötigt wurden, Zeugen und vielleicht MittäterInnen zu werden von furchtbar bösen Handlungen; Geschichten von Menschen, die angeblich freiwillig und nach langen vorherigen Überlegungen getötet haben. Geschichten über Leid. Ich erzähle sie aus der Sicht derjenigen, die Opfer von Grausamkeiten geworden sind und mit sich ringen mussten; vielleicht lebenslang ringen müssen, nicht selbst (wieder) zum Täter oder zur Täterin zu werden. Manche schaffen es, andere nicht. Sie werden eine Geschichte lesen von einer verhinderten Amokläuferin und einige von selbst als Kind gequälten Amokläufern und Terroristen, die nichts anderes wollten als Vernichtung – und die ihr Vorhaben auch umsetzten. Und eine Geschichte erzählt auch ein verurteilter Mörder, der erst, nachdem er eine Frau schwer verletzt und eine getötet hatte, mit seiner Gefängnistherapeutin, die ebenfalls in diesem Buch zu Wort kommt, seine mörderischen Zwangsfantasien auflösen konnte. Er bleibt vielleicht für lange, vielleicht für immer inhaftiert und versucht doch, seine Menschenwürde zu finden und einen Weg, mit seiner Schuld umzugehen. Ich bin auch für viele andere Menschen – Opfer wie Täter – dankbar, dass er, so aufrichtig, wie er es vermochte, mir ein Interview gab. Nichts kann seine Taten weniger schrecklich machen, doch wie er sich ihnen gestellt hat davon können wir lernen.

Bei allen Begegnungen versuche ich den Blick zu werfen auf das, was uns Hoffnung machen kann: Dass Menschen lernfähig sind. Dass sie das Gute, das Richtige tun wollen. Dass sie sich an Dingen erfreuen, Gefühlsaufwallungen beherrschen oder sublimieren, daraus Musik oder Kunst formen können. Dass sie in Beziehungen und durch Beziehungen Mitgefühl spüren und selbst entwickeln können. Dass sie sich unendliche Mühe geben, ihren eigenen Kindern liebevoll und unterstützend zu begegnen oder zumindest eine Kompensation suchen für das Leid, das sie anderen angetan haben und / oder das ihnen selbst angetan wurde.

Dieses Buch versucht etwas Niedagewesenes: Es bringt Opfer und Täter, Opfer-TherapeutInnen und Täter-TherapeutInnen in einen Raum – unter einen Buchdeckel. Manche werden sich dagegen innerlich wehren: „Wie konntest du nur ...“ Doch ich bitte um Geduld: Lesen Sie dieses Buch und verstehen Sie: Die meisten Täter sind ehemalige Opfer von Bindungstraumatisierungen und Gewalt, von Rohheit und Verlassen-Sein, denen nicht rechtzeitig geholfen wurde, ihren Weg anders einschlagen zu können. Viele, sehr viele hätten das Angebot gern und rechtzeitig angenommen. Unbehandelbar sind nur wenige. Und: 99 % der Täter sind irgendwann wieder in Freiheit. Wenn wir uns nicht bemühen zu verhindern, dass sie wieder straffällig werden – dann produzieren sie wieder neue Opfer. Noch etwas wird in diesem Buch überdeutlich: In Opfern gibt es auch eine andere Seite. Eine, die meist gegen sie selbst losschlägt, manchmal aber auch gegen andere losschlagen kann. Eine Seite, die wir „Täterintrojekte“ oder täterimitierende Anteile nennen. Hören wir auf, Opfer und Täter, Opfer-Therapien und Täter-Therapien gegeneinander auszuspielen. Wir brauchen für beide ein Verstehen und für beide Seiten qualifizierte HelferInnen (siehe Interview 11 mit Frank Urbaniok in diesem Buch). Das entschuldigt Grausamkeiten in keiner Weise, aber es fordert zu etwas auf: zu einem grenzüberschreitenden Denken und Handeln, innerlich wie äußerlich. Das ist gar nicht so einfach. Denn gleichzeitig gilt ja: Bei Gewalt gibt es kein Einvernehmen. Man muss sich positionieren. Das gilt in Familien – hält man zum Täter oder zum Opfer? – wie in Gesellschaften. Ich behaupte: Man kann das eine tun – sich positionieren –, ohne das andere zu lassen: den Keim möglicher Täterstrukturen in Opfern und die Opferstrukturen in Tätern bemerken und entsprechend (be-)handeln.

Dabei werde ich nicht müde, darauf hinzuweisen, dass der Mensch eben nichts Einheitliches ist. Das Konstrukt der einen ganzheitlichen Persönlichkeit mit einem durchgängigen Bewusstseinsstrom muss aufgegeben werden. Es lässt sich nicht halten. Wir alle bestehen aus sehr verschiedenen Strebungen und Impulsen; aus vielen Seinsformen und Zuständen, in unserer „Alles-ist-machbar-und-globalisiert“-Welt erst recht. Manche – besonders die als kleine Kinder bereits Gequälten – bestehen oft sogar aus sehr verschiedenen Selbst-Zuständen, die sie nicht überschauen und nicht koordinieren können. Sie zu verstehen und zu kanalisieren, ohne sie nur in dunkle Ecken zu verbannen, von wo aus sie sich ihren Weg bei einer passenden Gelegenheit nach außen bahnen können – langsam und schleichend wie Gift, oder abrupt ausbrechend wie ein Geysir –, das ist die Aufgabe aller, die Menschen privat oder professionell begleiten.

Denn die Kleinfamilienerziehung (Mütter mit innerlich und / oder äußerlich nur allzu oft abwesenden Partnern) versagt heute sehr oft, leider: Unwissenheit, Laissez-faire-Impulse, Unberechenbarkeiten und (Wohlstands-)Vernachlässigung, aber auch die Sexualisierung, ja Pornografisierung vieler Lebensbereiche, zusammen mit der enormen Zunahme und Verdichtung von Arbeitsstress und Zukunftsangst sorgen bei vielen Müttern und bei noch mehr Vätern für eine Entfremdung von ihren Kindern. Immer mehr Kinder, Jugendliche, aber auch Erwachsene aller Gesellschaftsschichten verwahrlosen und brauchen professionelle Unterstützung (Pädagogik, Beratung, Betreuung, Psychotherapie, Psychiatrie und andere Heilkunst). KrankenkassenvertreterInnen stöhnen, GesundheitspolitikerInnen sind ratlos: Wie kommt es, dass unser Sozial- und Gesundheitswesen uns die Haare vom Kopf frisst, die Kosten für ambulante und stationäre Behandlungen von psychischen Problemen explodieren, ohne dass messbare Erfolge zu verzeichnen wären?

Eine der möglichen Antworten lautet: Weil wir seit der sogenannten Aufklärung (die notabene mit der Hexenverfolgung ihren Anfang nahm) immer noch so tun, als seien Menschen vernünftige Lebewesen, die rational denken und handeln – oder alternativ: Verrückte, Kranke, Auszusondernde, die repariert oder – falls das nicht geht – in Krankenhäusern, als (Früh-)RentnerIn, als TäterIn in Gefängnissen etc. entsorgt werden müssten. Doch was ist, wenn das ganze Konzept falsch ist? Was ist, wenn wir weder immerzu einen freien Willen haben noch im Zweifelsfall gestört, verrückt oder krank sind, jedenfalls die wenigsten von uns? Was ist, wenn unsere Gesellschaft in vielen ihrer Strukturen verrückt und krank ist und Menschen auf krank machende Lebensumstände mit der von der Natur vorgesehenen natürlichsten Form reagieren: mit Kampf-, Flucht-, Erstarrungs- oder Unterwerfungszuständen, die man Dissoziation nennt und die einen später immer wieder heimsuchen? Was ist, wenn die Zunahme von Stress, von Gewalt, von einem Mangel an Mitgefühl nicht nur die uns umgebende Natur und Tierwelt, sondern auch uns selbst zu zerstören droht? Wenn die Menschen fragmentieren unter Stress, nicht mehr, sondern weniger berechenbar werden, eher auseinanderfallen, als eine koordinierte zivilisierte Persönlichkeit auszubilden: Was müssen wir dann tun?

Was ist in diesem Buch zu finden?

Das sind die Themen, denen ich in meiner Arbeit weiter und weiter nachgehe. Dabei begegne ich Menschen, die meine „PatientInnen“ oder „KlientInnen“ sind, mit der gleichen Neugier wie den KollegInnen und den ZuhörerInnen, die mir nach meinen Vorträgen oder über meine Webseite ihre Geschichten erzählen. Ich fahre herum – jedes Jahr zusammen genommen mindestens zweimal um die Erde – und höre zu. Ich sammle Geschichten, manchmal auch die meiner eigenen Familie und meines eigenen Gewordenseins. Dabei orientiere ich mich vor allem am Erfolg, denn ich möchte wissen, was hilft. Was hilft, wenn die eigene Kindheit überschattet wurde von Grausamkeiten? Was hilft, wenn man zum Verbrauch in einem destruktiven Kult gezeugt wurde? Und was, wenn man namenlosem Grauen in einer ständig alkoholisierten und übergriffigen Familie entkommen ist? Was hilft, wenn man sexualisiert benutzt wurde, schon als Kind? Und was, wenn man dem sadistischen Psychoterror einer psychotischen Mutter entronnen ist? Wie überlebt man Krieg, Folter und Vertreibung? Und wie versucht man, nicht selbst böse zu werden ob all der bösen Taten, die an einem oder einer begangen wurden oder deren Zeuge man wurde? Davon handelt mein Buch, das ich in zehn Jahren geschrieben und immer wieder aktualisiert habe – an vielen Ecken immer neu beginnend und es schließlich zu einem Ganzen zusammenwebend, in der Hoffnung, es möge sich in der Textur aus vielem ein Bild ergeben. Ein Bild, das Menschen anregt, sich mit schlechten Verhältnissen nicht zu begnügen. Niemals.

Lesen Sie dieses Buch also von vorne nach hinten oder von hinten nach vorn. Oder fangen Sie mittendrin an und schauen nach links und rechts. Lesen Sie die Interviews mit Fachleuten und Betroffenen, blättern sie in den Ergebnissen wissenschaftlicher Studien, von denen ich einige Hundert zusammengefasst habe. Lesen Sie sich fest in kleinen Essays, die einzelne Punkte vertiefen, und vergleichen Sie zwischendurch immer das Gelesene mit Ihren persönlichen Lebens- und Berufserfahrungen.

Beim Lesen und Nach-Denken werden Sie einem Thema immer wieder begegnen: Ohne gute Beziehungserfahrung wird es nicht gehen. Nur wer von anderen lernt, wie sich Sicherheit, Unterstützung, Mitgefühl und Akzeptanz in möglichst allen, auch den dunkelsten Bereichen der eigenen Persönlichkeit anfühlen, wird lernen, sich selbst entsprechend zu behandeln – und eigene Schutzbefohlene ebenfalls. Und doch gibt es in manchen Menschen etwas, das mich stets aufs Neue wundert: Sie haben Liebe nicht kennengelernt – aber sie sind liebesfähig. Sie sind bereit, sich auf einen anderen Menschen fürsorglich und achtsam und neugierig einzulassen – obwohl sie grausam und verroht behandelt worden sind. Allerdings: Das Sich-Einlassen ist das eine – das Verinnerlichen das andere. Viele sind freundlich zu anderen, aber nach innen zerquält von Süchten, Selbsthass und Todesgedanken. Um das innere „Heilewachsen“, wie es einmal eine meiner Klientinnen ausgedrückt hat, zu befördern, braucht es ein liebevolles und das Lernen förderndes Gegenüber. Ein Gegenüber, das zudem eine gewisse Kompetenz haben sollte, sich mit einem Menschen unterstützend zu beschäftigen, der vielleicht nicht „eins“ ist mit sich und in sich. Sondern vieles. Oder Viele. Vielleicht lässt sich diese Kompetenz nicht nur in Studien und Selbsterfahrung erwerben, sondern nur dann, wenn wir offen sind für das Anderssein in anderen Menschen. Wenn wir uns überraschen lassen können. Wenn wir Abschied nehmen von der Vorstellung eines hermetisch geschlossenen Welt- und Persönlichkeitsbildes.

Mit der buchstäblichen Vielfalt in Menschen in der Extremform einer multiplen Persönlichkeit – heute als dissoziative Identität bezeichnet – habe ich mich seit Jahrzehnten intensiv beschäftigt. Ganz besonders sie, die von frühester Kindheit an in der Regel Vernachlässigung und Gewalt in vielfältigster Form erlebt haben, zeigen uns, was ein Gehirn, was ein Körper schaffen kann, um auch unter unwürdigsten und krankhaftesten Bedingungen zu überleben. Und sie zeigen uns, was alles möglich ist, wenn man versucht, mehr zu tun als zu überleben und fragmentiert zu bleiben. Wenn man „heilewachsen“ will. Wenn man sich aussetzt, ein letztes Mal vielleicht sich aussetzt einer Erfahrung, die „Nachreifen“ und Persönlichkeitswachstum bedeuten können. Von ihnen will ich natürlich besonders erzählen; aber auch von vielen anderen, die nicht ganz so fragmentiert, aber doch auch aufgeteilt sind in ihrem Innern, in „Hell“ und „Dunkel“, in „Gut“ und „Böse“, in Opferanteile und dem, was sie aufnehmen mussten vom Täter oder der Täterin, einfach weil sie ihm oder ihr ausgesetzt waren.

„Der Feind im Innern“ – diesen Buchtitel trage ich seit vielen Jahren mit mir herum, und er passt vielleicht heute so gut wie nie zuvor, denn wir alle haben nicht nur unseren inneren Feind in unserer Seele, sondern auch in unseren Gesellschaften Feinde, die uns verbrecherisch behandeln (könnten) – und nicht alle diese Feinde werden vor Gericht landen. Das Buch erzählt davon, wie man vielleicht den eigenen inneren destruktiven Impulsen und Anteilen die Hand hinstrecken sollte, um eine Chance zu bekommen, ihnen nicht länger hilflos ausgesetzt zu sein. Nur schafft man das so schlecht bzw. fast gar nicht allein. Sondern man braucht die Hilfe und Unterstützung mindestens eines außen stehenden Menschen, der dieses „Den-‚bösen‘-Anteilen-die-Hand-Hinstrecken“ anfangs übernimmt, als Vorbild, als Beispiel, wie es gehen könnte. Wenn das nicht ein Elternteil sein kann – wer kann es dann übernehmen? Mit Mitgefühl der „bösen“ Erfahrung und allen ihren inneren Repräsentanten zu begegnen ist der Schlüssel zur Veränderung. Davon vor allem wird das Buch erzählen, denn es präsentiert nicht nur Studienergebnisse, sondern Menschen, die sich engagieren – für sich selbst und für andere. Sie finden hier Gespräche mit Opfern und Tätern, mit Kindertherapeuten und forensischen Psychiatern, mit Frauen und Männern, die eins verbindet: Sie lassen sich auf ihre Arbeit an sich selbst und die Arbeit mit ihren Schutzbefohlenen ein. Auch wenn diese Arbeit nicht selten schmerzhaft sein kann – sie ist auch sehr befriedigend und vermittelt allen Beteiligten das Gefühl, etwas zu tun, das zutiefst sinnvoll ist und über die eigene Biografie hinausreicht.

In Rom, Tessin, Stockholm, Karlshamn und Göttingen ist die Endfassung dieses Buches entstanden. Überall bin ich freundlichen GastgeberInnen begegnet, denen ich herzlich für die Überlassung ihrer Wohnungen und Häuser danke. Viele Menschen haben Teile des Manuskriptes gelesen, kommentiert und korrigiert, darunter Irma Knipper, Jocelyne Buchmeier, Karl Heinz Brisch, Renate Stachetzki, Harald Schickedanz, Ute Bluhm-Dietsche, Annelie Wagner, Frank Urbaniok, Marianne Wick, Daniel Oesch, Jacqueline Schmid, Gabriele Schmitz, Katja Paternoga, Onno van der Hart, Frauke Rodewald, Renate und Josef Vorwald sowie etliche Menschen, die mir ihre Geschichten erzählt und viele Anregungen gegeben haben und gern anonym bleiben möchten; ihnen allen sehr herzlichen Dank. Der Blick „über die Grenzen“ war sehr anregend und ich hoffe, dass etwas von der Freude, die ich beim Teilen und Mit-Teilen hatte, bei Ihnen ankommt.

Wie immer freue ich mich über Rückmeldungen unter [email protected]

(Website: http://www.michaela-huber.com)

Von Rom bis Göttingen, im Frühjahr, Sommer, Herbst und Winter 2012

Michaela Huber

1. Lieber nichts fühlen?

I’ve been through the desert on a horse with no name It was good to be out of the rain In the desert you can’t remember your name For there ain’t no one for to give you no pain Lala-la-lalalala-lalala-la-la ...

Dewey Bunnell (America)

Als der Song „A Horse with No Name“ 1972 herauskam (nein, es war nicht Neil Young, der ihn als Erster sang, auch wenn sich Songwriter Dewey Bunnell der Band „America“ von Youngs typisch lakonischem Stil inspiriert fühlte), dauerte es noch einige Monate, bis er auch in Deutschland bekannt wurde. Mich als Anfang Zwanzigjährige hat er sofort angesprochen. Ein Ohrwurm, den man beim Laufen wieder und wieder innerlich singen konnte: „For there ain’t no one for to give you no pain, lala-la-lalalala ...“ Das Lied ist einerseits völlig durchgeknallt, andererseits erschien es der jungen Frau mit ihrer milden Form von Verzweiflung, die ich damals war, wie ein inneres Echo: Mit einem namenlosen Tier in der Wüste sein, einfach nur raus aus dem Regen, und in der Wüste kann man sich nicht an den eigenen Namen erinnern, denn da ist niemand, der einem Schmerzen bereitet, lala-la ...

Doch, ich kann mich noch in die Stimmung von damals hineinfühlen. In das beobachtende Nichteinlassen, das einsame Laufen und Flüchten, immer wieder durch die Großstadt gehen, den Bürgersteig entlang, keinen ansprechen, nicht gesehen werden, nur beobachten, und niemand kann dir etwas tun, und den Rhythmus von „Horse with No Name“ in den Füßen, die Melodie in den Stimmbändern, im Kopf.

Neulich kam eine Klientin zur Tür herein und summte die Melodie vor sich hin – der Song war gerade wieder populär. Ob sie die gleiche beziehungslose, trotzig-einsame Beziehungs-Sehnsucht mitbringt, dachte ich. Wie ich sie damals hatte, als das Lied so gut passte und ich mir nie eingestanden hätte, dass hinter dem „Ihr könnt mich alle mal“ diese Sehnsucht steckte nach Begegnung? Ob die Klientin das Gefühl von „splendid isolation“, von beinahe schön schmerzvoller Einsamkeit bemerken würde, das in dem Lied zum Ausdruck kommt?

Manche, die meine Räume betreten – meist sind es junge Frauen mit langjährigen und frühen, wirklich äußerst schmerzhaften Beziehungs-Traumatisierungen –, haben schon einen Teil des Weges heraus aus der Wüste hinter sich. Bei anderen bin ich eine Weile sozusagen das namenlose „Pferd“, mit dem sie durch ihre Wüste traben, dem sie erzählen, dass ihnen dann wenigstens niemand wehtun kann. – So lange, bis sie wahrnehmen, dass ich auch eine Beziehungspartnerin bin; wie das Pferd in dem Song natürlich ein wichtiges, nicht nur rhythmisch tragendes lebendiges Element ist, so sind die Termine bei mir für sie nicht nur Möglichkeiten zur Selbstreflexion, sondern auch Einladungen, in Beziehung zu gehen und sich dabei auszuprobieren, aber auch den Schmerz zu benennen, der aus früheren Beziehungserfahrungen stammt.

„A horse with no name“ enthält ein Traumbild: Wenn du dich zurückziehst und keine Beziehungen eingehst, kann dir keiner etwas tun. Dann kannst du unterwegs sein, irgendwohin, kannst immer in Bewegung sein, und du musst trotzdem niemand Bestimmtes sein, wirst nicht angesprochen, nicht dingfest gemacht, nicht beschuldigt, nicht verletzt. Was ein junger Mensch vielleicht nur phasenweise erlebt – es gehört zum Heranwachsen dazu, sich gelegentlich so zu fühlen –, kann bei anderen auch chronisch sein. Wenn man sich sehr lange so sehr bemüht, sich vor (weiteren) Verletzungen zu schützen, kann das in eine namenlose innere Wüste führen. Eine innere Wüste, die wir Depression nennen, Angst, Einsamkeit, Aufgeben, wütende Verweigerung ...

Andererseits: Sich dem Schmerz der Begegnung mit der Gefahr erneuter Verletzung auszusetzen, kann eine/n weiterbringen. Kann weicher machen, offener, lebendiger, kann persönliche Entwicklung bedeuten. Das habe ich natürlich selbst erfahren, sonst würde ich meinen Beruf nicht mit solcher Freude ausüben, auch noch Jahrzehnte, nachdem ich ihn begonnen habe. Ja, ich kann gut nachvollziehen, wie schwer es ist, nicht nur freundlich-zugewandt zu sein, das können viele, es kann reine Äußerlichkeit sein. Sondern sich wirklich zu öffnen, mit dem unkalkulierbaren Risiko, sich zwischenmenschlichen Situationen auszusetzen, die man nicht hundertprozentig, manchmal nicht einmal zur Hälfte kontrollieren kann. Es wird für mich und die meisten Menschen nie einfach sein – wir alle möchten am liebsten jederzeit Kontrolle über Situationen haben und behalten –, und doch ist es das, was das Abenteuer der Begegnung und das Abenteuer Psychotherapie ausmacht: Um selbst weiterzukommen, gilt es, Risiken einzugehen; das Bisherige ein Stück loszulassen, um Neues zuzulassen.

1.1 Warum Alleinsein wichtig sein kann

Als Gegenstück zur Begegnung sind der Rückzug, das Alleinsein und die bewusst gefühlte Einsamkeit wichtig. Auch wenn man in Beziehung ist und dort lernt, dass es Begegnung geben kann, Trost, Hilfe, freundliches Angenommensein. Den bitteren Krug voller Erkenntnisse und schmerzvoller Wahrheiten bis zur Neige zu trinken, das kann man erst einmal nur allein. Sich versteckter, tabuisierter, vermiedener, geleugneter, verschämter, schuldbewusster Emotionen klar zu werden, sie sich einzugestehen – das geht zuallererst nur für sich allein. Durch das Tal der Tränen zu wandern, einzubrechen und unten zu liegen und das Gefühl zu haben: „Ich bin zu schwach, um je wieder aufzustehen“, und es dann doch zu tun – das muss man selbst tief im eigenen Innern erleben. Bei all dem kann man begleitet werden, doch erleben und durch alles das Hindurchgehen muss man selbst. Der Mythos von der „Reise des Helden“, vieltausendfach erzählt, von Jesu „40 Tagen in der Wüste“ bis zu heutzutage bewusst gesuchten Outdoor-Abenteuern, in Tausenden von Geschichten der Weltliteratur, in zahllosen Liedern wird diese Reise besungen. Wenn man am anderen Ende der Reise wieder herauskommt, aus dem Tal der Tränen, der Wüste, der Einsamkeit, der Kargheit, der Dunkelheit, fühlt man sich wie gehäutet. Es wurde etwas abgestreift, es kommt etwas hervor. Noch fühlt man sich wie rohes Fleisch und jeder Windzug schmerzt, doch da ist etwas neu und anders. Etwas, das immer da war und jetzt hervorkommt, das zu einem gehört hat, immer, und jetzt mehr gelebt werden kann – an der frischen Luft.

Die Rolle der anderen Menschen ist bei diesem Prozess: zu lassen und geduldig zu sein, zu ermutigen und herauszufordern, ohne je zu drängen oder zu zwingen. Auszuhalten, dass der oder die Suchende durch diesen Prozess geht, ohne ihm oder ihr etwas abnehmen zu können. Freundlich zu bleiben, ohne zunächst zu wissen, wer oder was einen da gegenüber gerade wütend anfunkelt. Das Fremd- und Anderssein zu ertragen. Und doch da zu sein und da zu bleiben. Sehr gute FreundInnen können das, sehr gute PartnerInnen können es und gute PsychotherapeutInnen sollten es können. Sie bestätigen: „Ja, das tut weh. Doch das schaffst du.“ Sie haben Mitgefühl: „Gerade ist es sehr schlimm, nicht wahr? Das tut mir leid für dich, dass du das jetzt erleben musst.“ Und sie hören nie auf zu ermutigen: „Da geschieht jetzt offenbar etwas Wichtiges. Vertrau auf deine Intuition, wohin auch immer sie dich führt.“ Meine Erfahrung ist: Wann immer ich die Geduld und die Sorgfalt hatte, mit jemand genau hinzuschauen, ohne etwas von mir aus drängend, abkürzend, wegmachend aktiv verändern zu wollen – dann konnte etwas im Innern dem kleinen oder großen Menschen, mit der oder dem ich beruflich oder privat zusammen war, „wie von selbst“ wachsen, sich sortieren, sich ausrichten, groß und stark werden. Es gibt dabei nur wenige Regeln einzuhalten. Die wichtigste: Keine Gewalt, weder nach innen noch nach außen, im Zusammenhang mit dem, was wir hier tun. Und schon das kann unendlich schwer einzuhalten sein.

1.2 Allein gelassen

Immer habe ich gut verstanden – auch aus meinem eigenen inneren Erleben –, dass es die Tendenz in einem Menschen geben kann, nichts mehr von der Welt zu wollen. Wer nichts fühlt, dem tut auch nichts weh. Wer einfach nur vorwärtstrabt, schmerzfrei und wie namenlos, kann nichts benennen. Wer nichts benennen kann, kann nichts begreifen, denn wir begreifen über Begriffe. Und so kann die „splendid isolation“, kann der Ritt durch die Wüste ein stolzes und abgegrenztes Gefühl machen – vielleicht sogar eines, das einem das Gefühl gibt, alles unter Kontrolle zu haben. „Alles easy“, „No problem“, „Alles klar“, „Alles o.k.“ – und wie’s da drinnen aussieht, geht niemanden etwas an. So leben durchaus viele Menschen. Und in vielen Menschen leben Zustände, Wesenheiten ..., die so denken.

Die wenigsten meiner schwersttraumatisierten KlientInnen – sie sind fast alle als Kind vielfach misshandelt und sexuell ausgebeutet worden, viele waren Opfer sogenannter „Kinderpornografie“ und „Kinderprostitution“, etliche sind immer noch mit Menschen verwickelt, die ihnen geschadet haben und es nach wie vor tun – die wenigsten also dieser KlientInnen würden im Alltag irgendwo auffallen. Sie gleiten durch die Schule, die Ausbildung, die Uni – bis sie irgendwann ganztags irgendwo berufstätig funktionieren müssen. Und dann geht auf einmal gar nichts mehr. Dann starren sie stundenlang auf ihren Bildschirm, ohne sich zu bewegen. Dann ertragen sie keine anderen Menschen mehr. Dann laufen sie türenknallend davon. Dann verkriechen sie sich im Bett und ziehen die Decke über den Kopf. Dann vermüllt ihre Wohnung. Dann brauchen sie eine Kur oder Hals über Kopf einen Psychiatrieaufenthalt, weil sie sonst nicht mehr leben könnten und sich immer wieder an den Bahngleisen wiederfinden. Dann schlucken sie, kaum wieder daheim, eine Überdosis gehorteter Tabletten und werden gerade noch gefunden. Dann fällt plötzlich auf, dass sie an den Innenseiten der Arme, der Oberschenkel oder anderswo Schnittnarben haben. Dann nehmen sie immer mehr Schmerzmittel oder trinken noch mehr Alkohol. Dann folgen Aufenthalte in psychosomatischen oder Suchtkliniken. Dann werden sie frühberentet, mit Anfang 30 zum Beispiel. Irgendwann im Laufe dieser „Karriere“ versuchen sie, eine ambulante Psychotherapie zu bekommen, möglichst von der Krankenkasse bezahlt. Dann beginnt ein Spießrutenlaufen: Alle guten TraumatherapeutInnen oder überhaupt gute PsychotherapeutInnen sind ausgebucht, ebenso alle guten stationären Traumatherapieprogramme. Die Kasse will nicht zahlen. Widerspruch. Es gibt ein paar Probestunden. Dann eine quälend lange Wartezeit. Wieder lehnt die Kasse den Antrag auf ambulante oder stationäre Psychotherapie ab. Suizidversuch. Albträume, Verlust der Alltagsstruktur. Verzweiflung. Es droht die dauerhafte Berentung und damit die lebenslange Armut ...

Dass es in ihrem Innern Zustände oder „Wesenheiten“ gibt, die mehr oder wenige milde oder wütend den Kopf schütteln und der Alltagspersönlichkeit sozusagen den Vogel zeigen: „Was strengst du dich eigentlich so an? Meinst du, es bringt etwas, wenn du deinen Jammer zu irgendwem trägst? Es kann dir doch sowieso niemand helfen – schau dir das Desaster doch an!“ – das verstehe ich gut (siehe auch Interview 7, das Gespräch mit Sandra in diesem Buch).

Übertrieben? Keineswegs. Die Traumaabteilungen und psychosomatischen Kliniken sind voll mit jungen Frauen (und ein paar jungen Männern), die klug, begabt und kreativ sind und nicht – derzeit nicht, vielleicht nie mehr – arbeitsfähig. Viele andere Traumatisierte, vor allem männlichen Geschlechts, werden nicht in Kliniken landen – sondern im Gefängnis. Ein lebender Albtraum: So viele junge Menschen zu verlieren kann sich eigentlich keine Gesellschaft leisten. Aber warum ist das so?

Meine Vermutung ist: Unser Sozial- und Gesundheitswesen sowie unser System der Strafvereitelung oder juristischer Sanktionierung sind extrem ineffizient für diese jungen, früh traumatisierten Menschen. Statt ihnen so früh wie möglich so dezent und freundlich und niedrigschwellig wie möglich Unterstützung anzubieten – damit sie nicht sehr lange allein durch ihre „innere Wüste reiten“ und so tun müssen, als wäre alles in Ordnung –, wird das Thema familiärer Gewalt, sexueller Ausbeutung und komplexer Traumata weitgehend ausgeblendet. Man schaut nicht genau hin, geht nicht an die Seite dieser Mädchen und Jungen, fragt nicht: „Sag mal, du bist so blass, kann es sein, dass es dir gerade gar nicht so gut geht?“ Oder: „Du schlägst derart um dich – komm, ich setze mich neben dich und du sagst mir mal, was dich wirklich so zornig macht.“ Aufmerksame und mitfühlende PädagogInnen, NachbarInnen, Familienmitglieder scheuen sich nachzufragen, weil sie Angst vor den Eltern haben, Angst, sich etwas „ans Bein zu binden“, mit dem sie nicht fertig werden. Und die jungen Menschen tun sehr lange so, als sei nichts. Auch vor sich selbst.

Nur den Dingen keine Namen geben, sich durchschlängeln, irgendwie durchkommen, sehr lange. Und wenn sie zusammenbrechen oder immer mehr ausrasten, verweigern ihnen die Institutionen die Hilfe: Es gibt viel zu wenige, vor allem längerfristige, pädagogische sowie Beratungs- und Psychotherapiemöglichkeiten. Wenn KlientInnen nicht selbst zahlen können – und viele fallen einfach über kurz oder lang aus dem bezahlten Berufsleben heraus –, dann verweigern die Krankenkassen sehr oft und sehr lange die Behandlung. Ambulant gibt es – wenn man das Glück hat, in Deutschland eine Kassen-PsychotherapeutIn zu finden – maximal 80 bis 100 Stunden Psychotherapie. Das sind zusammen genommen zwei- bis zweieinhalb Arbeitswochen; für eine Kindheit und Jugend, oft auch noch eine gegenwärtige Situation voller Schrecken und Gewalt ist das ein Tropfen auf den heißen Stein. Zumal es bei schwer bindungs-traumatisierten Menschen lange dauern kann, bis überhaupt ein ausreichend sicheres Vertrauensverhältnis aufgebaut ist, um eine tiefere psychotherapeutische Arbeit beginnen zu können.

Wenn man dann eine Therapie begonnen hat, müsste man dranbleiben können, denn zunächst geht es den Menschen oft gar nicht so gut: Alles „kommt raus“. Wenn erst einmal jemand zuhört und dem Leid einen Raum gibt, dann quillt es geradezu aus dem verzweifelten Menschen heraus. Und wenn der Geist erst einmal aus der Flasche ist – wer will ihn wieder hineinstopfen? Und doch müssen die Rat- und Hilfesuchenden genau das immer wieder tun: Ihr Leid wieder hinunterstopfen, ihre Tasche packen und gehen. Weil die Stunde (oder die pädagogische / therapeutische Maßnahme) zu Ende ist. Weil die Kasse nicht mehr zahlt. Weil die wenigen Wochen (heute manchmal weniger als sechs Wochen!) bewilligter stationärer Therapie zu Ende sind. Weil die TherapeutIn in Urlaub oder krank ist. Weil man kein Geld für die Fahrkarte hat. Weil man manchmal nicht mal aus dem Bett kommt vor Verzweiflung oder sich – wenn man sehr dissoziativ ist – im inneren Grabenkrieg so verheddert, dass man den Therapietermin „vergisst“ oder sich so aufführt, dass man weggeschickt wird (etwa wenn man dann kommt, wenn die TherapeutIn da schon jemand anderen sitzen hat, oder indem man völlig betrunken oder voll mit Drogen oder in einem akut suizidalen Zustand ankommt).

1.3 Defizite im Gesundheitswesen

Weiter: Es gibt die unselige evidenzbasierte Medizin auch im Bereich der Psychotherapie. Was nicht doppelblindgetestet sich für alle Menschen in allen ähnlichen Situationen als effizient herausgestellt hat, wird nicht bezahlt. Was für ein Blödsinn! Als ob sich ein Mensch – ein Universum von Gedanken, Gefühlen, Erinnerungen, Handlungsimpulsen, Erfahrungen, sozialen Situationen –, was seine / ihre seelische Entwicklung angeht, in das Prokrustesbett solcher Gleichmacherei pressen ließe. Dabei hat jede Psychotherapie-Wirkungsstudie, seitdem es solche überhaupt gibt, immer wieder ergeben, dass der wichtigste Wirkfaktor überhaupt in einer Psychotherapie – ebenso wie in jeder pädagogischen Maßnahme die Beziehung ist (siehe Grawe et al. 2003; Eirund et al. 2009). Internationale Psychotherapieforscher haben das so formuliert: „Etwa 85 % der Wirkung von Psychotherapie sind auf Beziehungsvariablen zurückzuführen und nur 15 % der Technik geschuldet“ (Lambert et al. 1983).

Bei frühen Bindungs-Traumatisierungen muss die therapeutische Beziehung langfristiger und verlässlicher als bei allen anderen Hilfesuchenden sein, damit ein tragfähiges therapeutisches Arbeitsbündnis überhaupt zustande kommt. Langfristig aber wollen die Krankenkassen, wollen die Sozialsysteme keine Behandlung mehr zahlen, da es immer mehr schwer seelisch verletzte Menschen gibt, die nicht mehr sozial eingliederungs- bzw. arbeitsfähig sind. Außerdem werden immer mehr Kliniken privatisiert. Von daher sind sowohl die ambulanten wie die stationären Therapien einem Gewinnstreben und einem Effizienzdenken ausgesetzt, die zynischste Kosten-Nutzen-Rechnungen enthalten. Doch selbst nach diesen müssten für so viele junge Menschen, viele davon mindestens mit Realschulabschluss plus Berufsausbildung, wenn nicht mit Abitur und sogar Studienabschlüssen, Wege gefunden werden, sie so gezielt zu unterstützen, dass sie von ihren schweren frühen Wunden heilen und „produktive“ SteuerzahlerInnen werden, die weder immer wieder teure (z. B. Psychiatrie-)Klinikaufenthalte noch Arbeitslosengeld oder andere Transferleistungen benötigen; von den ersparten sozialen und Gesundheitskosten für ihre Kinder ganz zu schweigen. Und wenn man die horrenden Kosten für Strafmaßnahmen und Gefängnisaufenthalte sieht und wahrnimmt, wie wenig in der Prävention für die gefährdeten Kinder und Jugendlichen getan wird, kann man sich manchmal nur fragen, mit welcher Blindheit unsere Gesellschaft wohl geschlagen ist. Kann man oder will man die Zusammenhänge nicht erkennen?

1.4 Ein einsam-zweisamer Weg

Noch scheint das Tabu, in Familien, in sozialen und gesellschaftlichen Zusammenhängen zu erkennen, dass frühes Eingreifen entscheidend ist, stärker zu sein; man reicht den gequälten Kindern nicht die Hand und treibt sie in ihre innere Einsamkeit. Kein Wunder, dass viele junge traumatisierte Menschen sich enttäuscht, frustriert oder noch gerade eben im Funktionsmodus in ihre „innere Wüste“ zurückziehen.

Sie daraus hervorzulocken muss jeden Versuch wert sein. Seien wir also der treue, namenlose „Klepper“ (Begleiter) für unsere scheue und verwirrte KlientIn in der Wüste; tragen wir sie ohne Murren sanft durch das schwere Gelände. Geben wir ihr Halt und Würde und Stolz und das Gefühl, im Zweifelsfall immer „alles im Griff“ und die Zügel in der Hand zu haben. Vermitteln wir ihr auf ganz dezente Art, dass sie nicht allein ist. Denn wenn sie aus ihrer Trance gelegentlich erwacht, wird sie merken, vielleicht erschreckt, dass sie abhängig ist von uns. Das wird ihr Angst machen: Wenn wir sie jetzt verlassen – dann wäre sie ganz allein in der Wüste und würde sich absolut verloren fühlen. Dann wird es Phasen in unserer Begegnung geben, in denen sie uns kritisch beäugt: Ob wir auch durchhalten, ob wir auch den Weg wissen, ob wir auch da bleiben, ob wir das alles auch können? Manche KlientInnen weigern sich auch ganz lange, die Abhängigkeit überhaupt wahrzunehmen: Da ist diese „Thera“, dieser „Shrink“, diese „Psycho-Tusse“ bzw. der „Psycho-Heini“, nichts wirklich Ernstzunehmendes. Man bleibt ohnehin einsam, ob man mit der / dem jetzt redet oder nicht ... KollegInnen, die geliebt werden wollen, sollten sich einen anderen Beruf suchen, denn oft zeigen uns unsere KlientInnen eher die kalte Schulter. Sie behandeln uns (und sich selbst) nicht selten so, wie ihre Eltern sie behandelt haben: kalt, verächtlich, zynisch, abwertend. Ganz besonders die Jungs. Gefühle? „Alles fit im Schritt oder was?“ Nur ja nicht. „Das einzige Gefühl, das ein Mann in unserer Gesellschaft benennen darf, ist – Durst“, habe ich einmal einen Kollegen sagen hören, der mit männlichen Spielsüchtigen arbeitet. Viele Betroffene sind so misstrauisch. Andere nur in manchen Teilen ihrer Persönlichkeit, während andere Bereiche in ihnen – dazu gehört meist auch die Alltagspersönlichkeit – höflich, freundlich, liebenswürdig dankbar, wenn wir es nicht verhindern, sogar versorgend sind. Sie bemühen sich, nicht unangenehm für uns zu sein, nicht aufdringlich; sie sind pünktlich, halten alle Vereinbarungen ein – alles in dem Bemühen, nur ja die Kontrolle über die Situation zu behalten. Nur die „kleinen und bedürftigen“ bzw. die „komischen anderen Seiten“ in ihnen torpedieren manchmal den guten Willen. Und wir traben dann brav weiter mit ihnen durch die Wüste, nicken und tragen, sind anspruchslos und auf eine basale Art freundlich und ermutigend „da“. Jedenfalls sollte es so sein, wenn wir unsere Arbeit wirklich ernst nehmen.

Wir, das sind die KollegInnen, die als LehrerInnen, ErzieherInnen, BeraterInnen, PfarrerInnen, PsychotherapeutInnen sich dieser Menschen annehmen, die so in Not sind, dass sie ohne uns aus der Wüste nicht herausfinden könnten, und gleichzeitig so bindungsgeschädigt, dass sie noch keine reife private Lebensbeziehung eingehen können. Unsere KlientInnen haben keine Lobby, also sind wir das. Mit unserem freundlichen „Mögen“, mit der Art, wie wir sie fraglos annehmen und mit unseren Möglichkeiten unterstützen, geben wir ihnen eine Basis, mit der sie sich durch ihre schwierige Welt bewegen können; wenn es gut geht, finden wir gemeinsam den Weg heraus und dann werden sie uns irgendwann verlassen und zu Fuß bzw. mit anderen Menschen ihrer Wege gehen.

Dies ist eine so anspruchsvolle Arbeit, dass die Gesellschaft eigentlich äußerst dankbar dafür sein müsste. Doch die KollegInnen wissen, dass das nicht so ist.

Dennoch: Meine Ermutigung gilt beiden Seiten. Den so scheuen und gequälten Menschen: Trauen Sie sich, sich jemanden an die Seite zu holen, der nur Ihrem Wohl verpflichtet ist, und kämpfen sie dafür, dass Sie diese Möglichkeit auch bekommen. Und den KollegInnen: Trauen Sie sich, sich jemanden „aufzuladen“, der oder die nicht einfach ist, aber unterwegs. Und an beide: Gehen Sie zusammen durch dick und dünn, in guten und in schlechten Tagen. Es ist das Beste, was gequälten Menschen passieren kann, dass jemand für sie „da“ ist und sie begleitet. Natürlich gehört zu einer guten PsychotherapeutIn noch mehr: Handwerkszeug, Kompetenz. Die kann und muss man vorher, währenddessen und immer weiter im Leben erwerben, in eigener Psychotherapie, in zahlreichen Aus- und Fortbildungen und Supervisionen. Es wird uns ohnehin mit unseren KlientInnen oft so gehen: Der Weg entsteht, während wir ihn gehen. Wo nur Wüste zu sein scheint, wird ein Pfad sein, aber wir werden ihn erst entstehen lassen. Unser Proviant sind unsere fachlichen Kompetenzen, doch das Wesentliche sind wir selbst: Unsere Sinne, unsere Fähigkeit zu empfinden, sich einzulassen, mitzugehen und im richtigen Moment das Richtige vorsichtig anzubieten. Früher sprach man von „Herzensbildung“, die dazu notwendig ist. Vielleicht ist sie von allen Bildungsarten die wertvollste.

In dem von mir herausgegebenen Band „Viele sein“ (2011) haben viele Menschen, die selbst durch ihre Gewalterfahrungen zutiefst gequält und innerlich zerrissen waren, berichtet, was ihnen geholfen hat. Und die meisten sagten, sinngemäß: Dass da jemand war, der einfach nicht wegging. Dass da jemand ausgehalten hat und dabeigeblieben ist. Dass mich /uns eine gemocht hat, so wie ich, wie wir waren. Das war das Wichtigste.

Vergessen wir das nie. Beide nicht. KlientInnen sollten nicht aufgeben. Und TherapeutInnen schon überhaupt nicht, solange es immer weitergeht, hinaus aus der Wüste, der Namenlosigkeit; hin zum – ja, erst schmerzhaften – Fühlen und wieder (und besser) heraus. Das Abenteuer einer Therapie ist vor allem für jene die größte Herausforderung, in denen viel gemeine, entwertende, schuldbeladene und schamvolle Gedanken kreisen. Meist haben die Täter so mit ihnen gesprochen: „Du bist es nicht wert, du bist viel zu blöd, zu faul, zu schlecht, zu böse ..., als dass man dich mögen könnte.“ Und wir TherapeutInnen: Wir mögen sie. Es ist gar nicht so leicht, das als hilfloser und Rat suchender Mensch auszuhalten, „trotz allem“ gemocht zu werden – und nicht leicht, als BeraterIn, SeelsorgerIn, LehrerIn, PsychotherapeutIn ... das Echo aus der „dunklen Ecke da innen“ in dem verzweifelten Gegenüber auszuhalten.

Davon handelt dieses Buch: Von der Begegnung „trotz allem“. Es wird darum gehen, woher die abweisenden, die „bösen“ und andere Stimmen und Impulse kommen und die gleichgültigen und abgeschalteten und andere innere Zustände. Es wird darum gehen, was passieren kann, wenn wir uns gemeinsam auf den Weg machen und wenn wir mit allem, wirklich allem umgehen, was dann kommt.

Der Weg durch die Wüste in Begleitung ist schwer, und er ist wirklich eine „Reise des Helden bzw. der Heldin“. Er ist einsam und zweisam, schrecklich und schön, furchterregend und tröstend, langwierig und aufregend. – Vielleicht ist es die abenteuerlichste Reise, die ein Mensch unternehmen kann.

2. Krieg im Alltag – und was wir tun sollten

Alle Menschen sind Brüder – aber das waren auch Kain und Abel.

Hans Kasper

Befinden wir uns in den deutschsprachigen Ländern nun in einem Nachkriegs- oder in einem Vorkriegszustand? Wer „The German Angst“ überall auf der Welt beschrieben hört, muss sich das fragen. Die Deutschen gelten als auf geradezu hysterische Weise ängstlich. Sie haben Angst vor „le Waldsterben“, sie haben Angst vor der Atomkraft, sie haben Angst vor wirtschaftlichem Zusammenbruch, sie haben Angst vor der Verwicklung in neue Kriege und dem Zusammenbruch des Euroraums; sie haben Angst, dass ihre Kinder in Krippen zu seelischen Krüppeln heranwachsen, sie fürchten sich vor neuen Niederlagen im Pisa-Wettstreit, sie schaffen den Wehrdienst ab, spielen sich als Umweltapostel auf – sie können es sich ja finanziell leisten – und gelten in Europa als Mischung aus hartherziger reicher Diva und Prinzessin auf der Erbse. Deutschland – ein Land der Un-Männer, der Weicheier und Warmduscher, der reichen Neurotiker und gnadenlosen Egomanen? Mag sein. Vielleicht aber auch ein Land im Wandel, mit empfindlicher gewordenen Menschen, die sich bemühen, bewusster mit sich, der Umwelt, dem wirtschaftlichen und Wertewandel der sogenannten Globalisierung umzugehen. Jedenfalls auf bestimmten Ebenen.

Man könnte sagen: Auch die deutsche Gesellschaft hat Ego-States: Zustände von Behutsamkeit, Wachheit, Vorsicht und tastendem Fortschritt. Und Zustände, in denen sich alles widerspiegelt, was die Tradition nicht nur der Dichter und Denker, sondern auch der Despoten und Destrukteure an negativen Folgen mit sich gebracht hat.

Vielleicht könnten wir auch sagen: Die Formen des Krieges haben sich gewandelt. Deutschland lässt Krieg führen, es führt sie kaum noch selbst. Deutsche Waffen spielen in fast jedem Krieg und Bürgerkrieg auf der Welt die entscheidende Rolle. Deutschland ist der drittgrößte Waffenexporteuer der Welt. Deutsche Vernichtungs-Ingenieurskunst beliefert die eine wie die andere Seite der weltweit Aberhunderte von Konflikten und Kriegen – nie waren sie so zahlreich wie heute! – mit passendem teuren Kriegsgerät. Die deutsche Exportnation boomt, nicht nur der Autos und Industrieprodukte wegen, sondern auch mit den vielen Milliarden, die in der Waffenindustrie verdient werden – am Bundestag und den Bürgern weitgehend vorbei, und damit auch vorbei an jeglicher Kontrolle.

Erstaunlich: Trotz der größeren Bewusstheit allenthalben im so lange schon äußeren friedlichen deutschsprachigen Raum für humane und Umweltbelange gibt es große blinde Flecken: Die Waffenindustrie als großer Industriezweig ist praktisch unkontrolliert; die Pharmaindustrie als viertgrößter Industriezweig in Deutschland verhindert zusammen mit der Medizingeräteindustrie, dass Menschen auf weniger invasive Weise geheilt werden können und entsprechende Forschungen, Projekte, Kliniken, Praxen gefördert werden. Die Tabakindustrie hat es bis heute geschafft, dass Zigaretten, deren Gesundheitsschädlichkeit ohne Zweifel feststeht, immer noch beworben werden dürfen und schon gar nicht verboten werden. Die Spieleindustrie sorgt dafür, dass weiterhin brutale Vergewaltigungs-, Verstümmelungs- sowie Tötungs-Filme, -Spiele und -Videos den Markt und die Gehirne der jungen Menschen (Männer) überschwemmen. Und der internationalen Konzentration von immer mehr global „vagabundierendem“ Geld in immer weniger Händen auf Kosten der Ausbeutung und Verarmung immer größerer Bereiche der Bevölkerung wird allen Ankündigungen zum Trotz so gut wie nichts entgegengesetzt. Interessanterweise scheinen – so der Psychopathen-Forscher Robert Hare – gerade in Entscheiderkreisen viele Menschen zu sitzen, die fast sämtliche Kriterien für eine antisoziale Persönlichkeit erfüllen: wortgewandt, skrupellos, egozentrisch und narzisstisch. (Näheres siehe im Kapitel 16 „Gewissenlos – sind Gewalttäter grundsätzlich krank?“) Einiges davon gefährdet mindestens den sozialen Frieden auf Dauer, wenn nicht überhaupt die Möglichkeit, in unseren Ländern mit weniger Gewalt zu leben. Fast scheint es, als hätte sich das Kriegführen einfach nur verlagert. Und das ist kein rein deutsches Problem. Schauen wir auf unser Vorbild USA, dann können wir erkennen, wohin eine Politik führt, die Maß und Mitte verloren hat. Mag es eine Warnung sein an alle, die auch hierzulande dem völlig moralfreien „Spiel der Kräfte“ das Wort reden.

2.1 USA: Bis an die Zähne bewaffnet – und voller Angst

Nach dem Amoklauf in Aurora 2012, als ein 24-Jähriger in einem Kino – den im Film gezeigten Bösewicht wortwörtlich nachspielend – wahllos um sich schoss und zwölf Menschen tötete, wurde wieder einmal über das Waffengesetz der USA diskutiert. Nach dem Schulmassaker in Newtown wiederholte sich die Diskussion. Ein Sprecher der Waffenlobby jedoch verkündete, der Einzige, der einen bösen Mann mit einer Waffe aufhalten könne, sei ein guter Mann mit einer Waffe. Stattdessen wurde vorgeschlagen, die DNA des jungen Täters zu analysieren – hatte er nicht eine Erbkrankheit?

Seit den Anschlägen vom 11. September 2001 sind dort weit über 250 000 Menschen erschossen worden (Stand Juli 2012). Krankenschwester Mary Kershner, die selbst Angehörige durch Waffengewalt verloren hat, kommentiert: „So viele Tote durch Terroristen würden die USA erst gar nicht zulassen. Amerika würde ein Sondergesetz nach dem anderen zur Terrorbekämpfung verabschieden. Der Feind käme von außen und wäre schnell ausgemacht. Den heutigen Feind von innen erkennen die meisten nicht. Sie sehen ihn gar nicht als Feind an“ (Stern, Nr. 31 / 2012, S. 3). „Was soll sich auch ändern in einem Land, in dem Jugendliche mit dem Selbstverständnis aufwachsen, dass sie sich mit 20 vielleicht wieder aus dem Leben verabschieden müssen, mit einer Kugel im Kopf“ (ebd., S. 44). Bereits seit vielen Jahren kämpft Kershner mit ihrer Gruppe „Krankenschwestern für mehr Waffensicherheit“ noch nicht einmal für ein generelles Waffenverbot, sondern nur für ein Gesetz, das Eltern verpflichtet, die Waffen vor den Kindern wegzusperren. Vergeblich, die Waffenlobby ist zu stark. – Und übrigens: Nicht wenige der Waffen stammen aus Deutschland. Amerika, du hast es besser? Wohl kaum: „Wird auf der Welt ein Kind unter 15 Jahren erschossen, geschieht es mit einer Wahrscheinlichkeit von 83 % in den USA“, haben Stern-Reporter recherchiert (ebd., S. 45). Dabei ist die amerikanische Bevölkerung eine der ängstlichsten weltweit. Viele US-Amerikaner haben – besonders seit der Wirtschaftskrise, die Abermillionen in wenigen Jahren vom Mittelstand in die Fast-Obdachlosigkeit getrieben hat –, geradezu irrsinnige Angst um ihre Sicherheit. Und die Waffenlobby ist mächtig, sie sponsert zu 88 % republikanische Kandidaten, die es bisher verstanden haben, jeden Versuch der Demokraten um Präsident Obama, das Waffengesetz anzutasten (oder: Wohlhabende zu besteuern, um ein besseres Sozialsystem zu finanzieren oder wenigstens die inzwischen drittwelthafte Infrastruktur zu verbessern etc.), erfolgreich zu verhindern. Nach jedem Amoklauf weisen alle, die ein wenig Verantwortung tragen sollten, die Schuld weit von sich: „Wir waren es nicht!“, rufen die Eltern des Täters. „Wir haben damit nichts zu tun!“, ruft die Spielgeräteindustrie, die jene realitätsnahen Egoshooter-Spiele herstellte, welche sich alle Amokläufer vor ihrer Tat in Massen „reingezogen“ haben. „Wir können nichts dafür!“, rufen die Bildungspolitiker und LehrerInnen. „Nicht weniger Waffen – wir brauchen mehr Waffen!“, fordert die Waffenindustrie. Was sagt Andreas Beier, ein Seelsorger, der sich um die Überlebenden des Schulmassakers von Winnenden kümmert, dazu? „Wie ich das satthabe! Wenn wir wirklich wollen, dass zumindest die Wahrscheinlichkeit einer solchen Tat sinkt, müssen wir anders denken ... Wir sollten unsere gemeinsame Verantwortung dafür entdecken, dass es uns allen nur gut gehen kann, wenn es jedem Einzelnen von uns gut geht.“ Denn es gebe eine mörderische Einstellung in der Gesellschaft, die vor allem schwache junge Männer trifft, denn „gerade die haben es schwer, in unseren gesellschaftlichen, privaten und beruflichen Riten und Spielen zu bestehen, die nur darauf ausgerichtet sind, andere zu besiegen“ (Stern Nr. 52 / 2012, S. 51).

Krieg – also jene „Riten und Spiele, die nur darauf ausgerichtet sind, andere zu besiegen“ – gibt es also in vielen Ländern längst im Alltag – auch in solchen, die angeblich im Frieden leben. Eines der weltweiten Schlachtfelder: die Börse.

2.2 Krieg an der Börse

Moral ist an den internationalen Börsen eine Lächerlichkeit. Man glaubt, sich ethische Maßstäbe nicht leisten zu können – von kleinen „Öko-Ecken“ einmal abgesehen.

Ein Beispiel: Börsenanalytiker fanden heraus, das Anleger, die in Aktien „sündhafter“ Produkte wie Waffen, Alkohol, Zigaretten, Glücksspielautomaten etc. investieren, im Schnitt mindestens 2 % mehr Rendite erhalten als diejenigen Anleger, die darauf verzichten. Deshalb tun es auch so viele (s. Gattringer 2012).

Die Turbulenzen auf dem, wie es immer so schön heißt, „internationalen Parkett“ der Börse können durchaus als vollwertiger Kriegsersatz herhalten. Hier einige Zitate aus einem Stern-Artikel (Nr. 23 / 2012, S. 86 ff.); offenbar haben einige Geldmarkt-Arbeiter sich buchstäblich einmal erleichtern wollen: „Um als Topbanker in der City Erfolg zu haben, braucht man fünf Dinge. Eine erstklassige Ausbildung, Verlangen nach Geld. Dann viel Testosteron, man muss gewinnen wollen und notfalls dem anderen die Haut vom Gesicht reißen. Dann gehört das Bedürfnis dazu, die Dinge zu kontrollieren. Disziplin ist wichtig“ (ein PR-Manager und ehemaliger Broker, ebd., S. 86).

„Vielleicht fünf bis zehn Prozent der Händler (an der Börse, Anm. MH) sind Psychopathen. Ein paar andere verrückt oder abhängig. Abgesehen von denen: Die meisten werden gefressen vom System. Sie verändern sich. Ich verändere mich. Als mein Freund mich am Telefon mit jemandem von der Arbeit sprechen hörte, sagte er: Du klingst wie jemand anderes“ (eine Personalmanagerin, ebd., S. 87).

„Ich pfusche, lüge, manipuliere – alles im Namen von Zielen. Das Verrückte ist, dass ich darin gut bin. Ich bekomme Boni“ (eine Headhunterin, ebd., S. 88).

„Händler sind Krieger in unserer Welt ... Ich bin seit über 20 Jahren im Bankgeschäft. Viele Jahre davon bei einer der großen Investmentbanken. Ich habe herausgefunden, dass ich einfach kein hinreichend großes Arschloch bin, um es da zu schaffen“ (ein Physiker, ebd., S. 88).