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"Jahrmarkt der Schatten" ist der literarische Psychothriller aus Manhattan, der leise beginnt und groß im Kopf bleibt. In Elias Crowls New-York-Roman kippt Alltägliches ins Unheimliche: Ein Fenster-Rechteck, das nur Leiter und Himmel zeigt. Ein Flur, der „nichts passiert“ sagt. Figuren, die ihren Autor beobachten. Mit poetischer Präzision und Slow-Burn-Suspense führt der Text tief in urbane Rituale, Wahrnehmungsränder und jenes leise Grauen, das man in alten Heizkörpern, Treppenhäusern und Nachtgängen hört. Das Ergebnis ist ein urbaner Thriller mit Horror-Edge – atmosphärisch, gegenwärtig, eigen: literarischer Thriller, leiser Horror, ein New-York-Roman und Manhattan Literatur. Elias, Schriftsteller in Manhattan, hält seine Welt mit Routinen in Schach – zwei Tassen Kaffee, Fenster auf Spalt, ein Rechteck aus Leiter und Himmel. Doch im Manuskript, dem "Jahrmarkt der Schatten", werden Mr. Grins, Lilalu und die Alte zu Kräften, die zurückschreiben. Türen bleiben zu, Töne werden leiser, die Stadt antwortet – bis ein kleiner runder Aufkleber "HIER" alles verschiebt. Dieser Roman ist Meta-Mystery und Großstadt-Psychogramm zugleich: präzise, unheimlich, tief menschlich. Wer Wahrnehmungsromane, Metafiktion, urbanen Psychothrill und New-York-Atmosphäre liebt, findet hier ein Buch, das nicht schreit – es flüstert und bleibt. Kurz, warum „Jahrmarkt der Schatten“ überzeugt: Urbaner Nervenkitzel: ohne Blutfontänen – Spannung über Geräusch, Rhythmus, Blick. Einzigartige Bildsprache (Fenster-Rechteck, „Kleine Bühne“, Karte: JETZT). Psychologische Tiefe: Kontrolle, Angst, Halten – und der Mut, „nicht heute“ zu sagen. Brillanter Schluss: überraschend, logisch, berührend – ein Ende, das man spürt. Dieser "literarische Psychothriller" ist ideal für Leser und Leserinnen subtiler "Suspense", Buchclubs mit Lust auf Symbolik und alle, die New York als Klangraum erleben wollen. „Jahrmarkt der Schatten“ vereint leisen Horror mit poetischem Nervenkitzel – ein Roman, der zeigt, wie viel Wirklichkeit wir aushalten, ohne sie zu erfinden. Jetzt entdecken: Manhattan, Metafiktion, Spannung – in einer Stimme, die man wiedererkennt.
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Seitenzahl: 360
Veröffentlichungsjahr: 2025
Jahrmarkt der Schatten
Urban Thriller – Eine Slow Burn Story
© 2025 Elias Crowl
Druck und Distribution im Auftrag des Autors:
tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Germany
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland
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Der Anruf
Die Probe
Der Wellenplan
Die Kante
Der Riss
Die Linie
Der Kreis
Die Rebellion
Die Schwelle
Nachwort der Dinge
Über den Autor
Jahrmarkt der Schatten
Urban Thriller – Eine Slow Burn Story
„New York ist nicht real.
Es ist die Idee einer Bande von Psychopaten.”
Elias Crowl
Die Tassen auf dem Küchentisch haben Ränder, die aussehen wie kleine Sonnenfinsternisse. Drei braune Monde, ein schwarzer, einer mit einer Lippe aus milchigem Staub. Elias schiebt sie mit dem Handrücken zusammen, als könnte er so die Zeit stapeln und wegschieben, doch die Tischplatte klebt an seinen Fingern. Zucker. Kaffee. Ein Hauch von etwas Metallischem, das vielleicht nur Einbildung ist – oder der Löffel, den er seit zwei Tagen nicht gespült hat.
In der Ecke lehnt das Foto von Anna gegen den Toaster, zu groß für einen Bilderrahmen, der nicht existiert. Ihr Lächeln ist eingefroren auf dem Moment zwischen zwei Schritten, der Schatten ihres Arms streift den Schatten einer anderen Tänzerin, deren Gesicht man nicht sieht. „Nur noch einmal“, hatte Anna damals gesagt. „Nur noch ein Auftritt, bevor wir ans Meer fahren.“
Elias streicht sich mit dem Handballen über den Nacken. Die Haare sind länger geworden, als gut ist, und necken seine Haut. Der Bildschirm des Laptops wartet, blauweiß und vorsichtig. Er hat zwei Sätze geschrieben und fünf gelöscht. Ein Cursor blinkt. Er blinzelt zurück und denkt, dass das Blinktempo seltsam ist. Zu schnell? Nein. Es ist normal. Sicher normal.
Das Telefon klingelt. Ein Ton, der zu hell für diese Wohnung ist.
„Ja“, sagt er und räuspert sich, als wäre das Räuspern ein Passwort.
„Elias.“ Claires Stimme hat diese Mischung aus Wärme und Anschlag, die ihm seit Jahren vertraut ist. „Bist du gut reingekommen in den Tag?“
„Ich…“ Er blickt zum Fenster. Draußen ist New York wie immer ein Apparat, der niemals abgeschaltet wird. Autos irgendwo. Eine Stimme auf der Straße, die an – und abflutet wie ein Radiokanal. „Es geht.“
„Schön. Hör zu: Ich will dich nicht stressen, aber das Quartal läuft uns davon. Die Läden stellen die Herbsttitel, im Dezember macht niemand mehr Launches. Wenn wir die Taktung halten wollen, brauchen wir in zwei— nein, sagen wir in drei Wochen eine belastbare Outline und drei Kapitel, die sitzen.“
Er sagt gar nichts. Seine Finger suchen den Löffel, obwohl er ihn eben erst verflucht hat.
„Ich weiß“, fährt Claire fort, „dass das letzte Buch groß war. Die Leser sind hungrig. Du bist hungrig—“
„Ich esse kaum“, sagt er und erschrickt darüber, dass er es laut sagt. „Ich meine, ich bin dran.“
„Elias.“ Diese Stimme. Ein Halbschritt hinein, ein Halbschritt heraus. „Ich bin auf deiner Seite. Nur: Wir dürfen den Schwung nicht verlieren. Man beobachtet uns.“
Er lacht kurz, ohne dass es sich anfühlt wie Lachen. „Wer denn?“
„Alle. Blogger, Buchhändler, der Vertrieb. Und der Zufall.“ Ein Atemzug von ihr. „Erzähl mir: Worum geht es? Was ist der Funken?“
Er sieht zu Anna. Dann zur Spüle, als gäbe es dort eine Antwort.
„Ein Wanderjahrmarkt“, sagt er. „Eine Kleinstadt. Sie kommen bei Nacht. Es ist… ein Jahrmarkt. Aber keiner, der feiert. Einer, der… frisst.“
Wie immer, wenn er laut sagt, was er schreibt, setzt eine Ruhe in ihm ein. Die Sätze finden sich, als habe jemand auf „Sortieren“ geklickt.
„Frisst?“
„Nicht Fleisch. Nicht direkt. Eher—“ Er lässt das Wort auf der Zunge schmelzen. „—Empathie. Sie nehmen Masken ab. Sie zeigen, was darunter fault. Und es ist nicht die Schuld der Leute, aber am Ende ist niemand unschuldig.“
„Okay“, sagt Claire. „Düster, aber kein Blutbad. Psychologisch. Das kannst du. Wer führt?“
„Mr. Grins“, sagt er und wundert sich, wie selbstverständlich die Silbe über seine Zähne springt. „Ein Clown, der lacht, bis man mitlacht, obwohl nix komisch ist. Und ein Beobachter. Jemand, der sieht. Und Lilalu, die Tänzerin—“ Er stockt, der Löffel rutscht ihm aus den Fingern und klingelt wie ein kleines, böses Glöckchen in der Spüle. „—sie spinnt Träume. Bindet sie. Man tanzt, und merkt zu spät, dass es Fäden sind.“
„Es klingt groß.“ Claire lässt das Wort stehen, als wüsste sie, dass groß beides sein kann: Versprechen und Drohung. „Ich brauche Fleisch. Szenen. Ein Einstieg, der drückt. Woran hakt’s?“
„Nichts“, sagt er zu schnell. „Nur… ich höre, was sie wollen, aber…“ Er blickt zum Cursor. Der Cursor blinkt. „…die ersten Sätze sind immer—“
„—plump, bis sie sitzen. Ich weiß.“ Ein helles Lächeln in ihrer Stimme. „Setz dir heute ein Minimum. Sagen wir: zwei Seiten. Morgen zeigst du mir was. Ein Auszug. Etwas, das atmet.“
„Morgen“, wiederholt er und fühlt, wie das Wort sich in ihm ausdehnt. Morgen ist eine Stadt, die man im Regen betrachtet, ohne sie betreten zu müssen.
„Elias.“ Claire lässt Luft in das Schweigen. „Du klingst… fern.“
„Nur müde.“
„Dann iss. Trink Wasser. Geh raus, wenn du kannst. Und—“ Die Stimme wird weicher. „Du musst nicht wieder alles allein tragen.“
Er nickt, obwohl sie ihn nicht sehen kann. „Danke.“
„Morgen“, sagt sie, und das Wort ist, wenn Claire es sagt, kein Gewicht, sondern ein Griff.
Das Gespräch endet. Die Wohnung klappt um ihn herum zusammen, als habe sie die Luft angehalten. Elias sitzt mit dem Telefon am Ohr, obwohl es still ist. Schließlich legt er es hin wie etwas Warmes, das auskühlen darf.
Es ist wieder nur er und der Bildschirm. Und Anna. Und der Löffel, der etwas in ihm aufgerührt hat, das er nicht benennen will.
Er öffnet das Dokument, das schon „Jahrmarkt der Schatten“ heißt, obwohl darin nur der erste Satz lebt wie ein einzelnes Tier in einem zu großen Käfig.
Der Jahrmarkt kam bei Nacht, und mit ihm die Schatten, die flüsterten.
Er liest den Satz zehnmal, und beim elften Mal flüstert das Wort „flüsterten“ nach. Ein Echo, das er für eine Sekunde für einen Tippfehler hält. Er löscht es nicht. Er lächelt in diese kleine Unlogik, als hätte ein Kind ihm einen Streich gespielt.
„Nicht witzig“, sagt er in den Raum und ist sofort erleichtert, dass nichts antwortet.
Er steht auf, holt den Wasserkocher, dessen Kabel in einem Winkel absteht, der alt aussieht. Während das Wasser aufheizt, starrt er auf die Spirale, die glüht, denkt an die Spiralen in den Zuckerbretzeln, die es früher auf den Jahrmärkten gab, die er gehasst hat, weil seine Finger klebrig wurden. Er war nie der Mensch für Feste. Zu viele Gesichter. Zu viele Augen.
„Man beobachtet uns“, hat Claire gesagt, fast beiläufig. Er lacht, dieses Mal laut. „Wer denn“, murmelt er, „der Beobachter?“
Anna hätte gesagt: „Mach das Fenster auf, Eli. Lass Luft rein. Sonst drehen die Gedanken im Kreis und werden zu Tieren.“ Anna wusste Dinge. Dinge, die er nicht hören wollte, damals, und dann war es zu spät.
Er gießt Wasser auf den Kaffee und schaut zu, wie der braune Schaum wirkt, als würde er atmen. „Zwei Seiten“, sagt er. „Morgen.“
Er setzt sich wieder, und weil Versprechen sich besser anfühlen, wenn man sie sofort anfängt, schreibt er.
Er schreibt von einer Kleinstadt, die nicht auf Karten steht, nur in Erzählungen, die man sich zuflüstert, wenn das Licht im Wohnzimmer aus ist und die Küche plötzlich groß. Er schreibt von Lastwagen, die nachts anrollen, so leise wie Schneefall, Planen, die sich heben wie Vorhänge vor einem Traum. Er schreibt von Mr. Grins, dessen Lachen man zuerst riecht: nach Popcorn und etwas Angesengtem, wie Kunststoff, der zu nahe an der Lampe war. Und er schreibt von Augen, die an den Zeltstangen wachsen, als wären die Stangen Bäume, und in den Rindenaugen spiegelt sich die Stadt.
Er tippt schneller. Die Worte folgen ihm, und das ist eine Seltenheit. Vielleicht, denkt er, ist das Ganze gar kein Kampf. Vielleicht ist es ein Tanz, und er muss nur die Schritte lernen, die er sich selbst ausgedacht hat.
Sein Handy vibriert. Claire.
Claire: „Nur einen Satz für mich? :)“
Er fotografiert den Bildschirm mit dem einen Satz und schickt ihn ab, ohne nachzudenken.
Claire: „Gut. Duft, Stimmung, Druck. Und jetzt bitte: Szene. Zeig mir eine Tür, die aufgeht.“
Er legt das Handy weg. „Eine Tür“, sagt er und blickt zur Wohnungstür, deren Farbe sich unter den Händen zahlloser Mieter abgenutzt hat. Er weiß, wie die Vordertür klingt, wenn Harold die Post reinwirft: ein halbherziges Klacken, dann Stille. Er weiß es zu gut.
Elias tippt Auszug in eine neue Zeile, nur um das Wort wieder zu löschen. Nein. Keine Marker. Keine Ausreden. Er atmet. Er lässt die Kleinstadt still werden, und dann öffnet er eine Tür.
Auszug aus dem Roman: Die Zelte standen, bevor jemand sagen konnte, wer sie gebaut hatte. Morgens roch der Platz nach feuchtem Holz, abends nach Zucker. Ein Mann mit einer Pfeife schrieb Namen in ein Buch, das kein Papier hatte. „Nur wer aufgeschrieben ist, kommt heil wieder heraus“, sagte er, und die Leute lachten, weil niemand glaubte, dass man heile herauskommen musste. Mr. Grins lehnte an einem Pfosten und übte, sein Lachen einzurollen, bis es nur noch ein Zucken unter der Haut war. Kinder hielten Abstand, nicht aus Angst, sondern aus Höflichkeit. Man weiß ja, dass Clowns Arbeit haben, auch wenn es keiner versteht.
Eine Frau blieb stehen, drehte den Kopf, als hörte sie Musik, die noch nicht gespielt wurde. Der Wind hob ihr Haar an. „Hören Sie das?“, fragte sie. „Was denn?“, fragte niemand.
Elias spürt beim Tippen, wie eine Kühle über seine Arme wandert, als hätte jemand das Fenster geöffnet, ohne dass der Griff sich bewegt hätte. Er schaut nicht hin. Fokussieren, sagt er sich. Er ist Profi. Alles andere ist… Kreativität unter Anspannung. Nicht mehr.
Er speichert. Der Cursor blinzelt. Einmal. Zweimal. Er blinzelt mit. Blinzeln ist normal. Manchmal hat er das Gefühl, der Cursor blinzelt schneller, wenn er ihn ansieht. Das ist natürlich Unsinn. Natürlich.
Sein Magen meldet sich. Eine gute Nachricht: Der Körper ist noch da. Er findet ein Müsli, das schon lange offen war, und isst es ohne Milch aus der Schachtel. Er hört das Geräusch seiner Zähne, zu laut, als würde er über trockenes Holz gehen. Die Wohnung schweigt mit. Es ist eine freundliche Stille, denkt er. Eine, die nicht drängt.
Das Telefon vibriert noch einmal. Claire schickt ein Herz. Ungewöhnlich für sie. Er lässt es unbeantwortet und fühlt sich schuldig, ohne Grund.
Er kehrt an den Tisch zurück, der inzwischen wie ein Kompass ist, der auf nichts zeigt. „Noch eine Szene“, sagt er. „Nur noch eine.“
Er wählt die Kleinstadt, legt sie in eine Dämmerung, die kein Abend ist, eher ein früher Morgen, an dem niemand ausgeschlafen hat. Ein Junge sucht seine Mutter, mit Händen, die immer ein bisschen klebrig sind. Er folgt einer Spur aus roten Papierfetzen. An deren Ende steht ein Spiegelzelt, das Spiegel hat, die nicht sauber sind, weil niemand sie geputzt hat, seit es die Stadt gibt. Der Junge tritt ein und sieht sich, wie er gern wäre: größer, mutiger, mit einer Jacke, die sitzt. Der Spiegel lächelt ihm zu. Er lächelt zurück, doch das Lächeln bleibt im Glas, als er den Mund wieder schließt.
Elias schiebt den Stuhl zurück. Er geht zum Fenster, das im Winter undicht ist, jetzt aber Sommer durchlässt, und stützt die Stirn gegen das Glas. „Gut“, sagt er. „Guter Anfang.“
Er sieht hinüber zu Anna, die im Foto zwischen zwei Schritten gefangen ist. „Ich weiß“, sagt er. „Ich weiß, dass du das hasst, wenn ich dich benutze. Aber ich brauche dich. Nur ein bisschen.“
Das Glas ist warm. Die Stadt atmet durch ein offenes Maul. Jemand singt. Jemand schreit. Jemand lacht, irgendwo im Flur, dieses hallige Lachen, das vom Treppenhaus die Stufen raufläuft. Es ist eine gewöhnliche Nachtmusik, die jeder kennt, und er beschließt, dass sie es ist. Gewöhnlich. Laute Nachbarn. Kein Grund, schneller zu atmen.
Der Laptop pingt. Eine Systemmeldung, die nichts bedeutet. Er atmet aus. Er hat eine Seite. Fast zwei. Claire wird nicht zufrieden sein, aber sie wird das Herz schicken, und das ist heute genug.
Die Uhr über dem Gasherd zeigt 14:37, eine Uhrzeit, die wie eine Zwischenwelt aussieht. Er denkt daran, spazieren zu gehen, bis ihm einfällt, dass Spaziergänge Ideen verdünnen. Besser sitzen bleiben. Besser die Fäden halten, solange sie sichtbar sind.
Er setzt sich. Überlegt kurz, ob der Löffel wieder an seinen Platz gehört. Lässt ihn, wo er ist.
„Noch eine Tür“, sagt er leise. „Für Claire.“
Und als er die Finger auf die Tasten legt, erscheint der Gedanke, so leicht, dass er ihn zuerst für einen Staubfaden hält: Jemand schaut zu. Kein konkreter Jemand, keine Adresse. Nur ein Gefühl, wie das Wissen, dass man die Wohnungstür nicht abgeschlossen hat, obwohl man es sicher getan hat.
Er schnaubt, fast amüsiert. „Vertrieb, Blogger, der Zufall“, sagt er und grinst in den Raum, der nicht zurückgrinst.
Die Stadt, denkt er. Die Stadt ist der Beobachter. New York hat Augen überall. Das ist alles. Das ist vernünftig.
Er schreibt weiter. Die Wörter kommen. Manche laufen, manche hinken, aber sie kommen, und das reicht.
Der Nachmittag knickt an einer Kante, die man nicht sieht. Irgendwo in dem großen Gebäude, das auf fünf Straßen hört, fällt eine Tür ins Schloss, und der Klang legt sich über Elias’ Wohnung wie ein dünnes Blech. Er tippt. Er löscht. Er tippt wieder, bis ein Absatz steht, der nicht mehr von ihm weg will.
Dann holt er Luft, die nach altem Staub schmeckt.
Er beschließt, die Spüle zu leeren. Nicht, weil es wichtig ist, sondern gerade deshalb. Banale Siege sind die besten.
Der Wasserhahn spuckt lauwarm. Die Tassen kreisen in seinen Händen wie Planeten mit Dellen. Er nimmt ein Schwammtuch, das einmal grün gewesen sein muss, und reibt an einem Kaffeerand, der aussieht wie eine kleine Küstenlinie. Das Reiben wird zu einem rhythmischen Wischen, das seltsam beruhigt, und in diesem Rhythmus drängt sich ein anderes Geräusch: ein leises Kratzen, als ob sich Papier bewegt. Er hält inne. Lauscht.
Nichts.
„Elias, du bist allein, und alles ist ruhig“, sagt er halblaut, damit sein Körper es hört. „Das da war die Stimme des Schwamms.“
Er lacht über den Satz, der klingt, als stamme er aus einem Kinderbuch. Er spült die Tasse, stellt sie kopfüber auf ein Handtuch, das nach Zitronenreiniger riecht, obwohl seit Wochen keine Zitrone dieses Tuch gesehen hat. Noch zwei Tassen, ein Teller, ein Messer mit einem Loaf – Belag, der sich nicht an die genaue Zeit erinnern will. Es geht voran. Die Welt ist gewogen, die Welt ist machbar.
Er geht zurück zum Tisch, streift mit dem Unterarm Krümel in seine Hand und lässt sie in den Mülleimer regnen. Der Laptop wartet wie ein Hund, der nicht bellen will. Er setzt sich, schreibt Tür auf einen Zettel und kreist das Wort ein, als wäre es ein Feind, den man umzingeln muss.
Die Wohnungstür macht ein Geräusch.
Nicht das „halbherzige Klacken“, das Harold macht, wenn er die Post einwirft. Eher ein sanftes „Hh“, als hauche die Tür aus.
Er hält inne. „Hol dir nicht alles“, denkt er. „Nicht jedes Geräusch für einen Satz.“
Trotzdem steht er auf. Er geht den schmalen Flur hinunter, an den drei Nägeln vorbei, die in der Wand stecken, seit der Vormieter irgendwohin verschwand, an dem dunklen Fleck, von dem kein Putzmittel weiß, auf welchem Planeten er erfunden wurde. Er legt die Hand auf die Klinke. Zögert. Öffnet.
Der Flur ist da, wo er immer ist: zu schmal, zu lang, mit einem Teppich, der so tut, als sei er rot. Die Luft ist kühler als in der Wohnung. Jemand hat frische Fußabdrücke auf dem Läufer hinterlassen, Kreuz und Quer, die Sohlenmuster von tausend Schuhen, die alle dieselbe Geschichte erzählt haben wollen.
Kein Harold.
Doch da liegt ein Brief. Er liegt nicht im Kasten, er liegt auf dem Boden, als hätte ihn jemand hinübergleiten lassen. Es ist kein offizieller Umschlag, nur ein gefaltetes Blatt, dessen Kante sauber ist wie die Kante eines neuen Jahres.
Elias beugt sich. Der Rücken protestiert nicht. Er nimmt das Blatt auf, spürt, wie die Oberseite kalt ist, als hätte der Flur ihm etwas abgegeben, das die Wohnung nicht hat.
Der Umschlag hat keine Marke, keine Adresse. Nur sein Name: Elias. Sauber geschrieben. Keine Schnörkel. Keine Spur von Eile.
Er hört sich „nein“ sagen, während er das Blatt bereits aufklappt.
Innen ist nichts als eine Zeile:
Wir sehen uns heute Nacht. – H.
Er starrt auf den Buchstaben am Ende, ein H, das man für vieles halten könnte. Harold, denkt er, und dann fühlt er sich albern. Harold schreibt keine Zettel. Harold kommuniziert, indem er im Treppenhaus stehen bleibt und von der Yankees – Saison spricht oder vom Müllplan oder von seiner Schwester, die „endlich den Kerl los ist“. Ein Zettel von Harold sähe anders aus. Ein Zettel von Harold hätte Fingerabdrücke aus Mustard.
„H wie…“, sagt er und findet kein Wort, das nicht lächerlich klingt. H wie Himmel, H wie Hund, H wie Hör endlich auf.
Er dreht das Blatt um. Leer. Er hält es gegen das Licht. Nichts als Papierfaser.
Ein Prickeln zieht ihm den Nacken hinunter bis zwischen die Schulterblätter. Er beschließt, dass er sich das nicht merken wird. Dass Zettel passieren. Dass Menschen manchmal Buchstaben schreiben. H. Warum nicht. Vielleicht hat das H gar nichts zu bedeuten. Vielleicht war es nur ein halbes M, das müde wurde.
Er faltet das Blatt, legt es auf die Kommode neben die leere Schlüsselablage und schiebt die Tür zu, bis sie richtig einrastet. Das Schloss bestätigt die Realität mit einem Geräusch, das er kennt.
Zurück am Tisch, sieht er, dass der Cursor aufgehört hat zu blinken. Natürlich nicht. Er hat aufgehört hinzusehen. Der Cursor tut, was Cursor tun: Er wartet. Wir sehen uns heute Nacht. Er atmet langsam aus, als könnte der Satz mit dem Atem gehen.
„Harold“, sagt er und lacht wieder, weil es so eindeutig falsch ist. „Harold, du alter Romantiker.“
Er tippt, um das Lachen abzustreifen.
Tür: Jemand klopft. Dreimal. Dann Stille. Dann der Ton eines Schlüssels, der in einem Schloss stecken bleibt. Er schreibt es rein. Er gibt der Tür einen kalten Griff und dem Zimmer dahinter eine Lampe, die flackert, obwohl sie neu ist. Er lässt den Erzähler – den Beobachter – zur Tür gehen und sie öffnen, und draußen steht nichts, was man sehen kann. Nur ein Geruch, der wie ein Lächeln ist, das man nicht zuordnen kann. Popcorn. Zucker. Ein Hauch von Lampenstaub.
Er stoppt. Die Haut seiner Arme antwortet mit Gänsehaut, die er nicht bestellt hat.
„Du bist nicht im Buch“, sagt er sich. „Du bist im Zimmer.“
Er holt sein Notizbuch, in dem Anna einmal eine Liste hinterlassen hat („Dinge, die nur hier wohnen: das Heizungsklackern; der Nachbar, der nie hustet, aber immer inhaliert; der Fleck im Bad, der eine Katze ist, wenn man ihn lange genug ansieht.“). Er fügt hinzu: Zettel auf dem Flur – H. Er setzt ein Fragezeichen, dann zwei, und beschließt, dem Zeichen nicht mehr Wert zu geben als nötig. Vielleicht ist es ein schlechter Witz eines Kindes. Vielleicht hat irgendwer sich in Namen geirrt. Vielleicht ist es von oben runtergefallen, ein Brief an „Hector“, „Hannah“ oder „Harris“, der die Schwerkraft für literarisch hält.
Er schreibt weiter.
Auszug – Jahrmarkt der Schatten: Es war die Stunde, in der die Straße ihren Atem anhielt. Die Haustüren lagen wie Karten auf einem Tisch, den niemand umwerfen wollte. Mr. Grins stand vor einer roten Tür und klopfte. Eins. Zwei. Drei. Dann legte er das Ohr an das Holz. Er hörte kein Herz dahinter. Menschen glauben, Türen hätten Herzen. Die meisten haben nur Scharniere. „Wir sehen uns“, sagte er, nicht laut, nicht leise, so, dass die Fugen es hören mussten.
Und etwas in der Tür – nur Holz, nur Lack, nur der kalte Atem alter Jahre – antwortete, indem es ein wenig nachgab, als neige es sich vor einem Witz, den es nicht verstand.
Elias lässt die Finger ruhen. Das Wort Scharniere fährt ihm in den Kopf wie eine kleine Maschine, die sich selbst anschaltet. Er begreift, dass er mit dem Wort nicht fertig ist. Er schreibt es in Großbuchstaben in die Randleiste. Scharniere. Scharnier ist ein gutes Wort. Ein Wort, das aus zwei Teilen besteht: Schar (klingt nach Schnitt) und Niere (klingt nach etwas Lebendigem im Innern). Er schüttelt den Kopf über sich selbst, weil er in Worte hineinliest, was nicht darin ist, und doch: Es hilft. Es richtet ihn aus wie ein Kompass.
Es klopft.
Kein Buchklopfen. Gegenwart.
Er fährt herum, und obwohl er genau weiß, dass Leser hier die Fäuste ballen, weil sie gerne Monster hätten, sieht er nur: die Tür. Die echte. Die, die eine Nummer hat, und einen Spion, der blind ist, seit jemand Seife reingedrückt hat.
Er geht wieder hin. Öffnet nicht sofort. „Ja?“, fragt er durch Holz, weil das Holz ihn kennt.
„Harold“, sagt eine Stimme, und für einen Moment ist er so erleichtert, dass ihm heiß wird. „Ich hab was, das versehentlich bei mir gelandet ist.“ Dann ein kurzes Lachen. „Ist nichts. Aber du weißt ja, ich bin pedantisch.“
Harold also. Kein H. Oder doch. Er atmet in den Korridor und öffnet.
Harold steht da, das Baseball – Cap in der Hand, als sei die Luft drinnen teuer, und es bestehe Steuerpflicht beim Betreten. Er hat die Altersflecken eines Mannes, der mit Sonne sparsam umging, und die Hände eines, der trotzdem zu viel getragen hat. In seiner linken Hand hält er einen Umschlag mit einem Fenster, durch das Elias’ Name blickt, ordentlich gedruckt.
„Post“, sagt Harold, als müsse er das Offensichtliche erwähnen, um den Flur in die richtige Länge zu schieben. „Lag bei mir. Wir müssten die Kästen mal wieder…“, er macht eine vage Handbewegung, die „ölen“ meint, „aber der Vermieter… naja. Du weißt.“
Elias nickt. „Danke.“
Harold wiegt sich auf den Sohlen, als stünde er auf einem Schiff, das vom Atlantik gerade so viel weiß wie er. „Alles gut bei dir?“
„Ja.“ Die Antwort ist schneller als wahr. „Ich schreibe.“
Harolds Gesicht verzieht sich. Er mag einfache Sätze. „Das ist gut. Schreib mal was mit Happy End, was? Meine Schwester hat gesagt, dein letztes Ding… also, sie hat geheult wie’n Schaf im Regen. In gut! Nur, weißt du, ich… ich mag’s, wenn am Ende jemand ein Haus kauft.“
„Ich schau, was ich tun kann.“ Er nimmt den Umschlag. Stromrechnung. „Danke, Harold.“
„Gern. Und…“ Harold kratzt sich am Ohr. „Hast du einen Zettel bekommen? So’n komischer. Bei mir steckte einer unter der Tür durch. Ohne Marke, ohne nix. Nur: Wir sehen uns heute Nacht. – H.“ Er lacht, ein Lachen, das die Schräge nicht ganz trifft. „Ist bestimmt die Jugend von oben. Die mit dem Skateboard. Oder Kunststudenten. Die machen ja alles.“
Elias’ Hände werden schwer. „Ich… ja. Ich hatte auch einen.“
„Ha! Na siehste. Ich werf meinen weg. Du auch. Sonst quatscht man sich was zusammen.“ Er hebt das Cap. „Nicht zu lange in die Röhre gucken, ja? Sonnenlicht, Vitamin D, sag ich immer. Auch wenn ich vergessen hab, was D heißt.“
„Deal“, sagt Elias. Sie lächeln sich an, wie Männer es tun, die nicht wissen, wie man über anderes lächelt, und dann ist Harold weg, der Flur wieder lang.
Elias schließt die Tür und lehnt die Stirn kurz dagegen. Das Holz ist warm von der Sonne des Treppenhauses. „Heute Nacht“, sagt er, und das Wort klingt plötzlich albern. Nacht ist bloß die andere Hälfte vom Tag. Er legt den Stromumschlag zur Seite. Dann nimmt er den Zettel mit dem H doch wieder hoch, obwohl er beschlossen hatte, ihn zu ignorieren. „Kunststudenten“, sagt er. „Klar.“
Zurück am Tisch, setzt er sich. Er merkt erst jetzt, dass er bei Harolds Erwähnung einen Schritt nach hinten gemacht hat, als sei der Zettel eine Klinge. Er zwingt den Körper in den Stuhl. Tippt.
Er tippt, als wäre das Tippen eine Form von Passwort, das die Gedanken ordnet, die sonst querliegen.
Jahrmarkt – Türszene, weiter: Der Junge mit den klebrigen Fingern steht vor dem Spiegelzelt und denkt, er sei allein. Die Stadt weiß es besser. Als er die Plane berührt, fährt ein Windstoß dazwischen durch, so schmal, dass er einer Flöte gleicht. Der Spiegel, der ihm sein größeres Ich gezeigt hat, beschlägt. Er schreibt seinen Namen hinein, doch das M, das er malen will, wird ein H. Er lacht und wirft die Hand weg, als hätte ihn jemand angetippt.
Elias hält inne. Manchmal entsteht eine Drähteverbindung zwischen dem, was ist, und dem, was er schreibt. Er kennt das. Es ist kein Zeichen, nur eine Laune. Er trinkt kalten Kaffee und verzieht das Gesicht, weil Kälte gern bitter ist.
Die Wohnung beschließt zu knacken. Holz setzt sich, Wasser in den Rohren spricht in einer Sprache, die nur Klempner verstehen. Er packt all das in eine Schublade in seinem Kopf, auf der Wahrscheinlich steht.
Er schreibt wieder, und dieses Mal gleitet die Szene in etwas hinein, das näher ist:
Ein Mann sitzt am Küchentisch, schreibt einen Roman über einen Jahrmarkt und weiß, dass jemand draußen einen schlechten Witz spielen will. Er beschließt, sich nicht einladen zu lassen.
Er beschließt, etwas zu kochen.
Kochen gelingt ihm selten, aber er hat Nudeln und eine Soße, deren Etikett mit einer italienischen Flagge wedelt, als könne Herkunft Geschmack garantieren. Wasser auf, Salz rein, warten, bis es wie ein kleines Meer wütet. In der Wartezeit schaut er auf sein Telefon. Eine Mail von Claire – nur der Betreff: Atmen. Er öffnet sie nicht. Er weiß ungefähr, was drinsteht. „Raus. Wasser. Nicht vergessen, dass du ein Gehirn mit Körper bist.“ Es ist eine Liebe darin, die funktioniert; es ist eine Liebe, die Arbeit ist.
Der Wasserdampf beschlägt seine Brille. Er nimmt sie ab. Die Küche verwandelt sich in eine weiche Welt ohne harte Kanten. Für eine Sekunde gefällt ihm das: Grenzenlosigkeit als Erholung. Dann setzt er die Brille wieder auf, merkt, wie dieses simple An – und Absetzen etwas in ihm beruhigt. Kontrolle. Kanten wieder da. Gut.
Er rührt in der Pfanne, kippt Soße, schüttet ab, mischt, probiert, verbrennt sich die Zunge und flucht, so freundlich, wie man fluchen kann. Es schmeckt nach Tomate und Zucker und etwas, das nach Plastik riecht, obwohl es keines ist. Essen ist Essen. Er setzt sich hin, isst, während der Bildschirm an seine Existenz erinnert. Mit jedem Bissen denkt er, dass er nachher, nur kurz, spazieren gehen könnte. Oder Musik anmachen. Oder die Sprachnachricht von Claire hören, die er nie angehört hat. „Später“, sagt er. Später ist der Ort, an dem nie etwas Schlimmes passiert.
Als er die Schüssel spült, bemerkt er, dass seine Hände ruhiger sind als vorhin. Das ist ein gutes Zeichen. Nicht, weil Hände etwas sagen, sondern weil sie etwas tun.
Er kehrt an den Tisch zurück. Die Wörter warten. Er verschenkt einen Blick an Anna. „Du würdest mich ‚Eli‘ nennen“, sagt er. „Und dann würdest du sagen: Du verdrehst die Welt, um sie zu retten, aber die Welt rettet sich nicht durch Verdrehungen.“ Er lächelt sie an. „Dann würdest du eine Zigarette stehlen, obwohl du aufgehört hast.“ Er schiebt das Foto sachte so, dass Annas Blick ihn nicht mehr direkt trifft. Er braucht ihre Stimme, nicht ihre Augen.
Es klingelt zum zweiten Mal.
Nicht Telefon. Tür.
Drei Schläge, die eher wie ein Proben sind als wie ein Wollen. Er bleibt einen Moment sitzen, als könnte Stillhalten ein Zauber sein. Dann steht er auf. Geht diesmal langsamer, zählt die Schritte (eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs), öffnet.
Kein Mensch. Nur der Flur, der roch – er wusste nie, nach was. Heute riecht er, als hätte jemand einen Sack Zucker offen stehen lassen.
Unter der Tür liegt etwas, das kein Zettel ist: ein Ticket. Alt, abgerieben, Kanten wie mit Zähnen gezupft. Darauf steht: Admit One – Jahrmarkt. Ein Retro – Ding, das man in Läden findet, die Gebrauchtwaren „Vintage“ nennen, damit sie mehr kosten. Die Nummer ist ausgeblichen, aber man ahnt: 00017. Oder 00071. Oder 00011, wenn man es auf den Kopf stellt.
„Harold“, sagt er in den Flur hinein, doch er weiß, dass es nicht Harold war. Harold macht keine Scherze, die Geld kosten. Harold macht Scherze mit Worten, weil Worte nichts kosten und beide lachen können, wenn sie runterfallen.
Er hebt das Ticket auf, dreht es um. Auf der Rückseite ein Stempel, halb verrutscht, eine Krone, vielleicht, oder ein lächelndes Maul. Ein schwarzer Ring am Rand, als hätte jemand eine Tasse darauf abgestellt. Er hält es neben die Kaffeetassenringe auf dem Küchentisch und fühlt sich kurz, als hätte ein unsichtbares Buch seine Seiten über seine Wohnung gelegt.
„Kunststudenten“, sagt er noch einmal, aber das Wort bleibt ihm trocken im Hals stecken.
Er legt das Ticket neben das H. Zwei Dinge sind weniger gefährlich als eins, denkt er, weil sie sich gegenseitig neutralisieren. Dann setzt er sich und tippt, und plötzlich geht das Tippen nicht mehr leicht. Es geht, aber nicht leicht. Die Wörter kommen, doch sie kommen aus einem Raum, vor dessen Tür jemand einen Stuhl gestellt hat.
Er schreibt trotzdem.
Jahrmarkt – Ticket: Am Eingang stand eine Frau mit einem Ticketknipser, der nicht knipste. Sie kniff stattdessen. Einmal in die Luft, einmal ins Fleisch, einmal in den Gedanken. „Admit One“, sagte sie, „aber zehn gehen hinein. Der Kopf ist ein Bus.“ Die Leute lachten, weil sie glaubten, sie wüssten, was sie meinte. „Der Bus fährt im Kreis“, sagte sie noch, „und am Ende steht man dort, wo man eingestiegen ist, nur ohne eine Kleinigkeit, die man später vermisst.“
Er merkt, dass er länger blinzeln muss, um den Satz zu sehen. Er reibt sich die Augen und erinnert sich, dass Claire mal sagte: „Wenn du länger als eine Stunde in denselben Pixel starrst, wird jeder Pixel zum Spiegel.“ Er steht auf. Dehnt den Rücken. Streckt die Arme, bis die Schultern knacken, angenehm wie Luftpolsterfolie.
Er öffnet das Fenster. Die Straße kommt herein: Frittierfett, Benzin, ein Hauch von etwas Süßem. Er will, dass der Wind die Wohnung abtastet und bestätigt: Hier ist nichts außer Luft und Dingen, die er kennt.
Dann hört er es. Nicht von der Straße. Nicht vom Flur. Von der Wohnungstür. Kein Klopfen. Ein leises, geschmeidiges Schaben. Als ob etwas Kleines unter der Tür durch will, das keine Form hat, die für den Spion gemacht ist.
„Katzen“, sagt er, obwohl er weiß, dass in diesem Haus niemand Katzen hat – der Vermieter erlaubt es nicht, und die, die’s trotzdem tun, haben gelernt, dass Mäuse raffinierter sind, wenn Katzen verbotene Tiere sind.
Er geht wieder hin. Er weiß gar nicht, wie oft er heute zwischen Tisch und Tür gegangen ist. Mach daraus eine Szene, denkt er. Lass den Beobachter gehen. Gib ihm eine Stirn, die sich gegen Holz lehnt. Gib ihm einen Geruch, der nicht sein darf.
Er öffnet.
Nichts. Nur die Tonspur des Hauses. Ein Mann, der eine Treppe heruntergeht, als würden die Stufen ihn tragen. Ein Radiogeräusch, das die falsche Musik macht. Eine Frau, die „Nein, nein“ sagt, ohne Wut. Und wieder: Zucker, ganz fein, ganz wenig, als sei irgendwo eine Tüte geplatzt.
Unter der Tür liegt jetzt ein zweiter Zettel, der eine Karte ist. Eine Skizze der Gegend um den Hudson, schlecht und doch treffend, mit einem X, wo es keine Kreuzung gibt. Neben dem X ein Kringel. Davor: Mitternacht. Und wieder ein H.
Der Körper ist schneller als der Kopf. Der Körper macht: Tür ins Schloss, Riegel vor, Schulter dagegen, als wäre er ein Mann, der belagert wird. Der Kopf sagt: „Du bist ein Mann, der angefüttert wird.“
Er lacht. Laut und kurz. Es klingt wie eine Sirene, die nie üben durfte.
„Nein“, sagt er dann. „Nicht heute. Nicht Mitternacht. Nicht ich.“
Er trägt Ticket und Karte und H in die Küche, öffnet die Schublade mit der Alufolie, in der er Dinge verstaut, die nicht ins System passen, und legt sie hinein, unter den Korkenzieher und die abgebrochene Schere. Er schiebt die Schublade zu, langsam, damit die Welt unten nichts davon merkt.
Zurück am Tisch, wechselt er die Perspektive, weil Perspektivwechsel hilft, wenn etwas zu nah kommt. Er wechselt in den Beobachter, gibt ihm einen Rhythmus, den er selbst hören kann, und schreibt:
Beobachter – Notiz, 1: Man kann erkennen, wann jemand glaubt, dass er beobachtet wird. Es ist meistens an den kleinen Dingen, den Dingen, die nichts mit den Augen zu tun haben. Sie atmen anders. Sie prüfen den Boden, als wäre er neu. Sie halten die Hand kurz in der Luft, bevor sie eine Klinke drücken, als wüssten sie, dass Klinken Memoiren haben.
Manchmal sind sie nicht verfolgt. Manchmal sind sie nur müde. Müdigkeit macht Schatten länger, als sie sind.
Er sitzt eine Weile so, das Kinn in die Hand, und merkt, dass die Wohnung leiser geworden ist. Nicht stiller. Leiser, wie eine Bühne vor dem Auftritt.
Er holt die Mail von Claire auf, weil er plötzlich etwas braucht, das ihn in ein Netz aus Routine bindet. Er öffnet „Atmen“.
Claire: „Einmal raus, Eli. Zehn Minuten. Nichts hören, nichts denken. Nur die Beine zählen. Daneben: ein Glas Wasser. Danach schick mir fünf Sätze, die du selbst gern liest. Und einen Satz, den du hasst, aber drinlassen willst.“
Er lächelt, trotz allem. Claire hat einen Trick mit Sätzen, die man hasst. Oft sind es die, die später jemand zitiert. Er trinkt Wasser, das seine Kehle neu macht, wie ein Tuch, das man durchzieht.
„Zehn Minuten“, sagt er. „Danach Tür.“
Er zieht Schuhe an, die am Eingang hinter der Matte liegen und sich wie zwei halbe Entschuldigungen anfühlen. Jacke. Schlüssel. Die Hand bleibt einen Moment am Riegel, der zum ersten Mal heute wahr wirkt. Dann dreht er ihn um. Öffnet. Tritt in den Flur, der jetzt riecht wie Kaugummi in einem Kino, in dem niemand lacht.
Er geht die Treppen hinunter, die Stufen zählen mit: „Ja, ja, ja.“ Unten nickt der Mann aus dem Erdgeschoss, der nie grüßt, heute aber sagt: „Schöner Tag“, als wäre das Wetter etwas, das er sich vorgenommen hat.
Draußen ist es heller, als er gedacht hatte. Die Stadt macht, was sie immer tut: Sie betrachtet sich selbst durch Menschen, die glauben, sie seien unsichtbar. Er geht. Links am Deli vorbei, dessen Besitzer jedem „friend“ sagt, ohne jemanden zu meinen; rechts an der Frau mit dem Hund, der aussieht, als wäre er sich ständig unsicher, ob er Hund sein will; geradeaus an dem Spielplatz mit dem Quietschen, das aus Metall kommt, aber in die Ohren zieht wie eine Erinnerung.
Er zählt Schritte, dann zählt er nicht mehr. Die Luft ist keine Geschichte, und das ist gut. Nach fünf Blocks merkt er, dass etwas in ihm heruntergefahren ist. Als hätte jemand die Helligkeit des inneren Bildschirms reduziert. Es ist angenehm. Es ist gesund. Er würde es Claire schreiben, wenn er der Mensch wäre, der beim Gehen sein Telefon zückt. Ist er nicht.
Er dreht beim siebten Block um. Als er wieder vor seinem Haus steht, sieht er Harold auf der Treppe, der eine Plastiktüte trägt, in der eine Pflanze steckt, die aussieht, als sei sie bereits dreimal gestorben und werde es noch ein viertes Mal versuchen.
„Für die Schwester“, sagt Harold, ohne dass Elias gefragt hat. „Ein Friedhof, aber mit Hoffnung. Du weißt schon.“
„Schön“, sagt Elias. „Grüß sie.“
„Mach ich. Und…“, Harold beugt sich vor, die Stimme tiefer, „falls die Kinder heute Nacht Lärm machen, ruf mich. Ich geh hoch und sag denen, dass Mitternacht eine Uhrzeit ist, keine Ausrede.“
„Ich rufe“, sagt Elias, und Harold nickt, zufrieden, etwas zu tun zu haben.
Oben in der Wohnung ist die Luft anders. Nicht schlechter. Nur… benutzt. Er schließt die Tür, dreht den Riegel, hängt die Jacke auf, als sei sie ein Flaggenzeichen für Sicherheit. Die Schublade mit dem Ticket bleibt zu, das H bleibt unter Metall. Er setzt sich, und weil Claire es so will, schreibt er Sätze, die er selbst gern liest:
Der Jahrmarkt kam bei Nacht, und mit ihm die Schatten, die flüsterten.
Scharniere sind Herzen mit einer Entscheidung.
Kinder wissen, wo man nicht hinsieht, wenn man sehen will.
Es gibt Türen, die erst aufgehen, wenn man sie gar nicht meint.
Man weiß, dass ein Lachen falsch ist, wenn es im Rücken beginnt.
Und einen, den er hasst, aber drin lassen will:
Der Bus fährt im Kreis, und am Ende steht man dort, wo man eingestiegen ist, nur ohne eine Kleinigkeit, die man später vermisst.
Er schickt sie an Claire, ohne Kommentar. Sofort die drei Punkte. Dann:
Claire: „Ja. 2, 4, 5 sind groß. Halte die 6 warm, sie wird dich verfolgen. Wie läuft’s?“
Er tippt: „Ich habe Post bekommen.“ Löscht es. Tippt: „Ich habe eine Tür aufgemacht. Es war niemand da.“ Löscht auch das. Tippt schließlich: „Ich war zehn Minuten draußen. Es hat geholfen.“
Claire: „Gut. Heute Abend früh zu, Morgen früh laut. Und wenn du kannst: eine Szene, die in sich steht. Eine kleine Stadt. Eine Tür. Ein Mensch, der zu spät kommt.“
„Ein Mensch, der zu spät kommt“, wiederholt er. Er weiß, wer das sein könnte. Er weiß es so genau, dass er das Foto auf dem Toaster umdreht, nur kurz.
Er setzt an. Diesmal schreibt er ein Stück, das sich wie Schluss anfühlt, obwohl es der Anfang ist. Eine Szene, die man notfalls drucken kann, wenn der Rest brennt. Er gibt dem Ganzen eine Uhrzeit (23:58), eine Straße (deren Name sich ändert, je nachdem, wer ihn ausspricht), eine Frau, die rennt, obwohl sie nie rennt, und ein Zelt, das im falschen Licht glitzert. Er gibt ihr einen Namen, den er nicht sagen will. Er schreibt ihn trotzdem: Lilalu.
Und als er die Silbe tippt, die tanzt, hält er inne, als ob das Wort einen Teppich ausrollt, über den man nur gehen sollte, wenn man tanzen kann.
Er geht. Er schreibt.
Er schreibt Lilalu hinein, als wäre sie eine Bewegung und kein Mensch.
Lilalu trägt ein Kleid, das keiner Farbe angehört, weil es von jeder Farbe eine Spur aufgesogen hat. Es raschelt, als gehe man über eine Bühne aus alten Programmen. Sie ist zu spät, weil die Zeit in dieser Stadt Löcher hat, durch die Menschen fallen, ohne zu stürzen. 23:58, die Luft mit Zucker belegt, die Laternen wie Zungen. Sie bleibt vor der roten Tür stehen, die ohne Haus in die Nacht gehängt ist, und hebt die Hand, als wolle sie klopfen und tanzen gleichzeitig.
„Nicht“, sagt er leise, ohne zu merken, dass er es nicht im Text, sondern im Zimmer sagt. „Warte.“
Er lässt ihre Hand sinken. Er gibt ihr einen Atem, der viel kann: lachen, weinen, zählen. Er gibt ihr ein Ohr, das Musik hört, die noch nicht spielt.
Auszug – Jahrmarkt der Schatten: Lilalu legte die Hand an die Tür und fühlte ein Pochen, das nicht ihres war. Die Tür hatte ein Herz – nicht überall, nur unter ihrer Hand. „Wer ist da?“, fragte sie, nicht laut, und das Holz war glatt wie Haut vor einer Vorstellung. Hinter der Tür bewegte sich etwas, das ein Lachen sein konnte oder ein Wind, der vergaß, kalt zu sein. „Wir sehen uns“, flüsterte etwas, und die Worte waren wie Seide, die über eine Kante gezogen wird.
Er hält an. Der Satz Wir sehen uns hängt im Zimmer. Er denkt an die Karte, an das H, an das Ticket. Er tippt das Wort Mitternacht und löscht es wieder, als sei es zu schwer für den Absatz. Er schaut auf die Uhr des Gasherds. 22:41. Noch Zeit für Vernunft, sagt er sich. Noch Zeit, diesen Tag zu schließen wie ein ordentliches Buch.
Er steht auf, füllt ein Glas Wasser, trinkt, bis das Schlucken eine kleine Maschine wird. Er stellt das Glas ab. Es hinterlässt einen Ring auf dem Tisch – ein sauberer Kreis, der ihm gefällt, weil er sein ist.
Er setzt sich, doch sein Blick gleitet zur Tür, als wäre dort etwas, das sehen will, ob er schaut. Er zwingt den Blick zurück, in den Text, in die Stadt, in die Zelte.
Er schreibt den Beobachter in die Nähe von Lilalu, unsichtbar, wie es seine Art ist:
Beobachter – Notiz, 2: Manche Schritte sind zu spät, weil sie warten, bis der Boden sie ruft. Lilalu trat mit dem Fuß auf, und der Boden sagte „jetzt“. Man kann das hören, wenn man gelernt hat, die Pausen zu lesen, nicht die Töne.
Elias merkt, dass er zu oft auf Enter drückt, als brauche jeder Gedanke einen Rand. Er lässt die Leertaste in Ruhe. Er lässt die Sätze enger sitzen, damit sie Wärme behalten.
Er schreibt Lilalu in das Spiegelzelt, obwohl er weiß, dass er damit etwas riskiert, denn Spiegel sind maßlos. Er lässt sie vor der Plane stehen, die in der Nacht ein bisschen so wirkt wie Wasser, das stehen gelernt hat. Er lässt sie eintreten.
Auszug – Spiegelzelt: Innen roch es nach Metall und Staub und nach den Händen, die hier gehadert hatten. Die Spiegel waren nicht sauber, weil niemand sauber gesehen werden wollte. Lilalu trat vor einen Spiegel, der ihr nicht gehörte, und sah sich, wie sie sein konnte, wenn niemand sie beobachtete: klein und groß, ruhig und schnell. Sie hob die Hand, und ihr Spiegelbild hob die Hand später. So spät, dass es keine Parodie war, sondern ein Versprechen.
Er hört auf zu tippen, weil ein Geräusch von hinter ihm kommt. Kein Klopfen. Eine Verschiebung. Als schiebe jemand ein schweres Buch auf einem Tisch, den er nicht besitzt.
„Atmen“, sagt er. „Wasser. Du bist da. Hier ist eine Küche, ein Tisch, ein Foto, ein Löffel.“
Er dreht sich um. Die Wohnung ist eine Wohnung. Er steht auf, geht einen Schritt, nur um zu merken, dass das Geräusch aus dem Flur gekommen sein muss. Vielleicht hat die Frau aus dem zweiten Stock ihre Tasche fallen lassen. Vielleicht hat jemand den Müll gezogen. Vielleicht. Wahrscheinlich.
Er setzt sich. Er schreibt weiter, jetzt mit einer Eile, die nicht unfreundlich ist, sondern so, wie man eilt, wenn man einen Bus erwischen will, den man kennt.
Er gibt Lilalu einen Satz, der später zitiert werden könnte, und hasst ihn im Moment seines Schreibens:
„Man denkt, man sieht sich, und merkt zu spät, dass man gesehen wird.“
Er lässt sie lachen, ein Lachen, das sie leise hält, damit es nicht gehört wird. Er lässt sie sich an einen Spiegel lehnen, der nachgibt. Er lässt sie spüren, dass man manchmal durch Glas gehen kann, wenn man aufhört, es Glas zu nennen.
Er speichert. Ein Reflex, der ihm gut steht.
Das Telefon klingelt.
Es ist der Ton, der zu hell ist für die Wohnung. Es ist nicht Claire. Es ist Unbekannt.
Er betrachtet das Wort, als wäre es ein Insekt, das man bestimmen müsste. Er lässt es zweimal klingeln, dreimal. Beim vierten Mal hebt er ab, weil Abheben eine Art von Ordnung ist.
„Ja?“, sagt er. Die eigene Stimme klingt wie eine Zutat, die nicht vorgesehen war.
Stille. Dann Atem. Kein schwerer, kein kranker. Ein Atem, der nichts will. Die Leitung hat die Körnung alter Filme.
„Hallo?“, sagt er.
Ein Geräusch, wie wenn jemand die Hand über ein Mikrofon legt, das keins ist. Dann eine Stimme, die leiser ist als ihr eigenes Echo. Sie sagt: „Admit one.“
Er könnte lachen, wenn er nicht die Haut auf den Armen hätte, die plötzlich zu eng ist. „Wer ist da?“
Die Stille sortiert sich. Dann, fast freundlich:
„Wir sehen uns.“
