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Helge Timmerberg

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Beschreibung

Mit siebzehn trampte Helge Timmerberg nach Indien, bereiste den legendären Hippie-Trail; in Kurdistan fiel er unter die Wölfe, im Iran wurde er verhaftet, und in Belutschistan traf ihn die Liebe – sie hieß Leila. Seither, seit vier Jahrzehnten, ist Timmerberg auf Reisen, Seßhaftigkeit hat ihm das Schicksal verboten – entstanden sind daraus ebenso abenteuerliche wie einzigartige Reportagen. Er erzählt, wie Hunter S. Thompson ihm in den Rocky Mountains die Freundin ausspannen wollte (und es nicht schaffte); wie Steven Seagal ihm beim Aikido einen Daumen und warum Havanna ihm das Herz brach. Er berichtet von einem wilden Kamelritt durch die marokkanische Wüste, von geheimen Haschisch-Oasen in Wien und davon, wie ihn am Amazonas um ein Haar der Jaguar gekriegt hätte. Und was noch? Geschichten über die Thaiboxer von Bangkok, die Astrologen von Varanasi, den Geheimdienst in Nordkorea und die Taxifahrer von Tel Aviv. Auf St. Pauli arbeitete Timmerberg als Nachtclub-Portier; in Marrakesch fand er sein Lieblingshaus. Aber auch hier konnte er nicht bleiben – unterwegs ist sein Zuhause. Ein Abenteuerbuch, das seinesgleichen sucht – hintergründig, lebensklug und vor allem: Packend von der ­ersten bis zur letzten Seite. «Dieser Reiseschriftsteller reiht sich ein unter die Großen des letzten Jahrhunderts wie Bruce Chatwin, Paul Theroux oder Hunter S. Thompson.» (Bayern 2) «Ein absolutes Muß … Man liest, lacht, träumt.» (Der Spiegel)

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Seitenzahl: 353

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Helge Timmerberg

Der Jesus vom Sexshop

Stories von unterwegs

Ein Hippie in Persien

(Kurdistan– Aserbaidschan– Belutschistan)

Angefangen hat es sicherlich mit Karl May, dem Simmel des 19.Jahrhunderts, aber richtig auf Trab gebracht wurde der Dämon erst mit der Lektüre eines Buches, das ein sportlicher Journalist geschrieben hatte: «Mit dem Fahrrad um die Welt». An den Namen des Autors kann ich mich nur noch unter Hypnose erinnern, unvergessen sind allerdings seine Schilderungen von den Nächten, in denen die Wölfe hinter ihm her waren. Und vor ihm waren die hohen Berge. Ich selbst reiste zum ersten Mal im Alter von siebzehn Jahren durchs wilde Kurdistan, und um ein Haar wäre es mir so wie dem Journalisten ergangen. Ich war zwar nicht mit dem Fahrrad unterwegs, aber bekanntlich ist es den Wölfen egal, wie man zu ihnen kommt.

Ich kam mit dem Zug von Istanbul. Drei Tage, zwei Nächte und immer mehr Schnee, immer höher, meterhoch hatten die Verwehungen ihn neben den Gleisen aufgehäuft, und die Endstation war Erzurum. Wir schrieben das Jahr 1970, es gab Pferdekarren und Reiter, und alle Männer trugen graue Mäntel und graue Bärte, und ich denke, alles in allem sah es in Erzurum so aus, wie sich Kafka Urlaub vorgestellt hat, eigentlich wie am Ende der Welt. Ein eisiger Wind trieb uns an schäbigen Holzhäusern vorbei, bis wir einen Minibus fanden, eine Art organisierter Linienverkehr zwischen dem Ende der türkischen Eisenbahn und der Grenze zum Iran. Sie lag nicht mehr als achtzig Kilometer entfernt, aber es wurde wirklich kurvig, und an den Seiten ging es wirklich schroff bergab, und was mich den Wölfen so nahe brachte, war ein Fehler, den ich machte: Ich begann mit den mitreisenden Moslems ein Gespräch über Mohammed, den Propheten. Eigentlich begannen sie damit. Sie wollten wissen, was ich über ihn denke, und ich hatte gerade ein enorm psychedelisches Jahr hinter mir, in dem ich unter Einfluß von LSD Hermann Hesse gelesen hatte, und antwortete in einem Englisch, das dem ihren nicht so unverwandt war: «Mohammed, holy man. But Jesus same, same. And same, same auch Buddha. We all same, same. Understand?»

Sie verstanden das zwar (auch inhaltlich), waren aber anderer Meinung und behielten aus eigener Kraft heraus recht. Wir waren nicht alle eins und nicht alle gleich, wir waren uns nicht mal ähnlich; ich zum Beispiel hätte niemals versucht, die Diskussion mit einem Rausschmiß aus dem Minibus zu beenden. Die Kurden schon. Sie rissen die Schiebetür auf, und acht Hände packten an, um einen Ungläubigen loszuwerden. Zehn Hände wollten mich zurückziehen. Zwei davon gehörten einer minderjährigen Architektentochter aus Hamm/​Westfalen, zwei weitere einem englischen Freund aus Bath, außerdem hielten mich noch ein starker Holländer und zwei Amerikaner fest, und ich selbst hielt mich natürlich auch fest, an allem, was ich zu greifen bekam. Es sind Bücher darüber geschrieben worden, Essays, Dissertationen (Kulturwissenschaft, Theologie, Soziologie), aber alles Geschriebene würde zur Not in einen einzigen und nicht mal langen Satz passen, der die siebziger Jahre erklärt und hundertprozentig stimmt: Sechs Hippies waren schwächer als vier Mohammedaner.

Noch bevor ich glauben konnte, was hier geschah, lag ich im Schnee, und als ich wieder aufgestanden war, konnte ich es noch immer nicht glauben und schrie den verblassenden Rücklichtern des Minibusses hinterher, bis sie gänzlich in der Nacht verschwanden. Das fiel ihnen nicht schwer. Frau Holles kurdische Verwandte schüttete Lawinen von Schneeflöckchen auf uns herunter, und jedes einzelne Weißröckchen wurde vom Wind zu einem Geschoß geformt. Sagte ich «auf uns herunter»? Wer ist noch in dieser Geschichte, die Freund und Feind im Minibus gerade verläßt?

Wolfsgeheul beantwortet die Frage.

Adrenalin ist an und für sich nicht bösartig, sondern ein befreundetes Hormon. Es macht wach und putzmunter, denn es rast wie Rasierklingen durchs Blut und tut den Nerven gut, tausendmal besser als Kokain. Adrenalin ist der letzte Joker des Lebens. Und ist dieses auch ein durchgehend verschlafenes gewesen, egal, im Angesicht des Todes verschafft es Mega-Aufmerksamkeit für die Situation. Es gibt Adrenalin-Klassiker wie den Schatten eines Schlachtermessers hinter dem transparenten Duschvorhang, oder wenn man durch ein Flugzeugfenster schaut, und die Turbine brennt. Adrenalin auch, wenn im Hals der Apfel klemmt oder ein hungriger Wolf seine Lieder singt. Ein hungriger Wolf? Mir schien, es waren mehrere.

In einer unheilschwangeren Situation gilt es, einen kühlen Kopf zu bewahren. Bei zwanzig Grad minus kein Problem. Was wußte ich über den Umgang mit Wölfen außerhalb des Zoos? Bitte nicht füttern! Was wußte ich noch? Daß ich mir durchaus komfortablere Möglichkeiten vorstellen konnte zu sterben. In der Palette der gewaltsamen Tode zählte ich den hier anstehenden zur Spitzengruppe des Grauens, in der die Folter der Champion ist. Wölfe jagen in Rudeln, ein Dutzend Tiere oder mehr fallen über dich her, und wenn du Glück hast, zerfetzen sie dir sofort die Kehle. Hast du aber Pech, kann’s passieren, daß dir ein Wolf die Hoden abreißt, während dir ein anderer das Gesicht zerfleischt und du so lange schreist, bis du keine Zunge mehr hast.

DIE FÜNF BANGEN FRAGEN:

Wie schnell sind Wölfe, wenn Hunger und Blutdurst sie treiben? (Auf jeden Fall schneller als satte Schäferhunde.)

Über welche Distanz können sie mich riechen? (Menschen haben zehn Millionen Riechzellen, Wölfe fünfhundert Millionen.)

Wie weit sind sie von mir entfernt? (Ich bin schwerhörig. Daß ich sie überhaupt gehört habe und immer wieder höre, beweist, daß sie praktisch hinter mir stehen.)

Wieviel Zeit bleibt mir?

Zeit, um was zu tun?

Wölfe fürchten sich vor Feuer. Das weiß ich von Karl May. Gibt’s hier Holz? Ja. Und wie zündet man nasses Holz an? Ein brasilianischer Goldsucher im Amazonas hat mir gezeigt, wie es geht. Nasses Holz muß geschält werden. Leider zeigte er mir das erst viele Jahre später. Trotzdem war es in Kurdistan zum Sterben zu früh und zum Stehenbleiben zu kalt, und der Grund, warum ich in dieser Nacht noch mal wie Rotkäppchen davongekommen bin, offenbarte sich schon sehr bald. Der Minibus war nicht nur wegen der Dunkelheit und des Schneetreibens so schnell verschwunden, sondern auch, weil die Straße in diesem Abschnitt um einen besonders dicken Felsen herumführte. Hinter dem Felsen warteten sie auf mich, und dank des Umstands, daß einige von ihnen die Wartezeit zur Verrichtung ihrer Notdurft nutzten, ging ich niemals vorher und niemals nachher in meinem Leben jemals wieder so erleichtert an scheißenden Moslems vorbei.

Drei Stunden später erreichte ich den Iran, drei Wochen darauf Pakistan, dann Indien, dann Thailand und nahezu jedes südostasiatische Land, auch Shanghai, Hongkong, Tokio, die kompletten USA (außer Alaska) und das komplette Europa (außer Norwegen und Irland), vom afrikanischen Kontinent sah ich Ägypten, Marokko und Uganda, und ich war auch noch im Libanon, in Syrien und Belize (Mittelamerika), bevor ich fünfzehn Jahre später ein zweites Mal ins wilde Kurdistan kam.

Diesmal bereits als Journalist, der sich die Reise dadurch finanzierte, daß er beschrieb, was auf der Traumroute der Hippies (Hamburg– Himalaja overland) noch immer so war wie einst und was nicht. Griechenland war 1985 keine Militärdiktatur mehr, sondern ein demokratischer Staat, die Türkei war nicht mehr länger eine Demokratie, sondern eine Militärdiktatur, der Iran gehörte nicht mehr dem Schah und seinen schnauzbärtigen Geheimpolizisten, sondern Chomeini und seinen vollbärtigen Revolutionsgardisten, Saddam Hussein bombardierte Teheran, und gab es noch Wölfe in Kurdistan?

In Kurdistan rissen noch immer wilde Flüsse in tiefen Schluchten alles mit sich, was dem Abgrund zu nahe gekommen war, und unweit der Stelle, an der ich mich mal zu Tode erschrocken hatte, standen jetzt eine Tankstelle und ein Restaurant. Wir hielten an. Es war am Abend, so gegen zehn, ein schmutziges Dutzend Lastwagenfahrer saß an schmucklosen Tischen, außerdem gab es zwei Soldaten in schäbiger Uniform. Ein Pornovideo lief. Was die Küche bot, wollte ich nicht probieren, ich nahm nur einen Çay (türkischer Tee), serviert in einem Wasserglas, und alles mögliche ging mir durch den Sinn. Alles mögliche und nichts Besonderes. Weil ich, wie nicht oft genug erwähnt werden kann, schwerhörig bin, brauchte es ein paar Takte, bis ich mitbekam, daß es ein deutschsprachiger Porno war. Er spielte in einem deutschen Krankenhaus. Deutsche Schwestern ließen deutsche Möpse raus. Das war normal (einer der zahllosen in Deutschland arbeitenden Kurden hatte ihn mitgebracht), aber illegal. Pornographie war in der Türkei verboten, und ein trauriger Polizist mußte deshalb nach draußen gehen und mit dem Rücken zur Eingangstür stehen, um den Gesetzesbruch nicht zu sehen.

Ich gesellte mich zu ihm. Die Luft in dem Laden war zu stickig, das Neonlicht zu grell, der Porno zu dilettantisch. Pornos mit Rahmenhandlung sind immer dilettantisch, weil die Akteure keine Schauspieler sind, sondern Leute wie du und ich. Also rauchten wir eine, und der Polizist wollte wissen, was ich von Mohammed halte. Ich war nicht mehr siebzehn. Diesmal antwortete ich korrekt: «Allah Akbar, Mohammed rasul Allah». (Allah ist groß, und Mohammed ist sein Prophet). Des Polizisten bis dato graue Augen leuchteten auf, auch die Sterne schienen etwas heller, und dann rauchten wir noch eine und noch eine und schauten lange in den Mond. Der Grund ist leicht zu erraten: Wir wußten einfach nicht, wohin. Denn vor uns heulten die Wölfe und hinter uns die Masturbanten.

Siebzehn Jahr, blondes Haar, und es war ja eigentlich nichts geschehen außer dem Aufbruch nach Indien, mit einem Schlafsack, einem Rucksack, einer Gitarre und einem ganz einfachen System: Alles hat Sinn, solange es vorangeht, weitergeht, immer weiter, von Land zu Land, von Stadt zu Stadt und über die Brücken. Es war wirklich nichts geschehen, nur daß alle Brücken abgebrochen waren und sich im Kopf nichts mehr an dem Platz befand, wo es vorher mal stand. Und bald gab es nur noch eine Lehre und einen Lehrer, und Bäume zogen wie Kommata vorbei, Häuser wie Punkte, Landschaften wie Seiten, und Gebirgsketten schlossen Kapitel ab.

So kamen sechs Hippies aus den Bergen der Osttürkei in einer Winternacht des Jahres 1970 in ein Tal hinunter und konnten links den Ararat sehen, auf dem nach der Sintflut die Arche Noah landete, und vor sich den nächsten Gebirgszug und den Paß, der hindurchführte, und das Licht auf seinem Kamm. Ein kaltes Licht, das allen Grenzen eigen ist, ein Licht für Stacheldraht, scharfe Hunde und lauernde Lastwagen. Das Tor nach Persien. Bazargan.

Die Lastwagen gehörten, wie sich bald herausstellte, einem Afghanen in mittleren Jahren, von dem ich guten Gewissens sagen kann, daß ich Menschen wie ihn bis dahin nur in Bilderbüchern gesehen hatte. Lederhaut-Menschen, Kaftanträger, bunte Turbane, wilde Bärte, Augen wie Pferdehändler, Autohändler in diesem Fall. Der Afghane hatte vier Lkws, einen Bus und einen Pkw gebraucht in München erstanden, und an der persischen Grenze kamen ihm die türkischen Fahrer abhanden, und dann hat er uns gesehen. Sechs Hippies ohne Fahrzeug, sechs Fahrzeuge ohne Fahrer. Schrott aus dem Westen, der zusammengehört. Allah hat es arrangiert.

Der Deal: Wir fahren seine Karawane nach Afghanistan und bezahlen nichts dafür. Das Problem: Der einzige ohne Führerschein bekommt das größte Gerät. Warum? Weil ich lange blonde Haare hatte? Weil ich ein Milchgesicht war? Oder weil eine Erinnerung in mir schlummerte, wie ich mich auf Vaters Schoß an einem Lenkrad festhielt, als ich drei Jahre alt war? Man weiß es nicht. Ich bekam den Bus. Fünfzig Sitzplätze und, wie mir schien, auch fünfzig Meter lang.

Ein Benz. Ein Diesel, vier Gänge, drei Pedale. Eins für Gas, eins, um den Kopf an die Windschutzscheibe zu knallen, und eins, dessen Funktion ich nicht sogleich verstand. Wichtig wurde zudem das Zusammenspiel von Fuß und Hand, und wäre der Bus ein Karnickel gewesen, dann würde ich sagen, es war artgerecht, wie ich ihn vom Straßenrand aus in Bewegung setzte.

Die ersten tausend Kilometer bis Teheran erwiesen sich dann in der Tat als ideal für den Anfänger am Steuer, denn sie waren asphaltiert. Nach drei Tagen konnte ich kuppeln und zwischenkuppeln und die Kupplung langsam kommen lassen, und ich konnte auch mit der Kupplung bremsen, denn die Bremse selbst hatte die Eigenart, daß sie zweimal getreten werden mußte, bevor sie beim dritten Mal ihre Arbeit aufnahm. Unter Automobilisten wird das «pumpen» genannt. Ein ganz normaler Vorgang. Nur der Schaltknüppel verhielt sich unnormal. Er schien aus Gummi zu sein. Das war mein erster Eindruck. Mein zweiter: Er ist ein übergroßer Suppenlöffel, den man durchs Getriebe rührt. Und der dritte: Hier geht es nicht mehr ums Schalten, sondern um spirituelles Movement. Also um Mitschwingen und den richtigen Moment.

Thema Lenkrad: Am liebsten würde ich es hier aufzeichnen, so gern habe ich es in der Hand gehabt. Es war groß und grau und hatte in der Mitte eine Hupe, und an der wurde ich zum Mann, sobald am Horizont irgend etwas auftauchte, was ein Hindernis zu werden versprach. Menschen, Esel, Hunde, Hühner wurden gewarnt, denn ich veränderte mich radikal. Ich lenkte einen zwanzig Tonnen schweren ehemaligen Münchner Linienbus durch die persische Provinz Aserbaidschan und gewöhnte mir an, ein Stirnband zu tragen. Noah war hier, Xerxes war hier, Alexander der Große war hier, später auch Harun al-Raschid und Dschingis Khan. Jetzt war Helge, der Trucker, geboren. Staub und Schweiß wurden sein Lieblingsparfum.

In Teheran bekam der Bus nagelneue Stoßdämpfer. Die Stadt war damals die westlichste aller orientalischen Metropolen, und Mercedes-Niederlassungen gab es überall. Sie reparierten auch das Differential und die Scheibenwischer. Die Stadt liegt auf demselben Breitengrad wie Zypern und Kreta, nach Teheran standen Temperaturen wie in Südalgerien an. Dafür hätte ich eine Klimaanlage gebraucht. Aber die haben sie nicht eingebaut. Der Bus blieb zwei Tage in der Werkstatt, und der Verkehr in der persischen Hauptstadt bot genügend Dichte, um mir die nächste Lektion in der Schule des Lebens zu erteilen: urbanes Fahren. Die Kombination von urban und Turban bedeutet zwar überall auf der Welt Anarchie (keine Macht für niemand) und Darwinismus (der Stärkere hat Vorfahrt), aber in Teheran war mir so, als würde ich meinen Führerschein mitten im Urknall machen.

Von Teheran bis Afghanistan waren es dann noch mal tausend bis tausendfünfhundert Kilometer, aber unasphaltiert. Die vier neuen Lektionen:

Was tun, wenn Treibsand nach dir greift?

Fahren unter dem Einfluß von Drogen.

Fahren ohne Bremse im Gebirge.

Autoritätsanmaßung gegenüber einem Muselmanen.

Der letzte Punkt war im Grunde die Führerscheinabschlußprüfung, während ich mir bei Punkt eins und zwei nicht wirklich sicher bin, ob die Reihenfolge stimmt. Es könnte durchaus sein, daß ich zuerst gekifft habe und dann von der Straße abgekommen bin. Denn unser Chef, der Afghane, hatte nicht nur in Teheran seine Bestände an Suchtgiften aufgefüllt, sondern fuhr neuerdings auch gern mit mir und nicht mehr in dem einzigen Pkw der Karawane, was ihm anfangs wohl standesgemäßer erschienen war. Aber ein Bus ist ein Bus, vor allem wenn man fünfzig Plätze für sich hat plus eine Rückbank, auf der man ausgestreckt liegen kann, um den generalüberholten Dieselmotor schnurren zu hören. Er fuhr also mit mir, und bei dem Haschisch, das wir rauchten, handelte es sich um Ware aus seinem Heimatland. «Schwarzer Afghane» aber ist eine Sorte, die vorsichtig konsumiert gehört, wenn man nicht mit ihr aufgewachsen ist. Was also tun, wenn man von der Piste abkommt und die Hinterräder im Treibsand durchdrehen?

Zweiten Gang rein und Kupplung gaaaanz langsam kommen lassen? (Brachte nichts.)

Den Afghanen vor die Räder legen, damit sie Halt finden? (Machte er nicht.)

Den Afghanen schieben lassen? (Schaffte er nicht.)

Den Afghanen in der Pfeife rauchen? (Richtige Antwort.)

Wir warteten, bis am Horizont eine klitzekleine Staubfahne auftauchte, die zur Staubwolke anwuchs und größer und größer wurde, bis sich endlich ein befreundeter Hanomag mit Abschleppseil aus ihr herausquälte. Problem gelöst! Problem? «Stoned im Treibsand» gehört nicht in die Kategorie Probleme. Es brauchte noch ein paar Tage, bis ich wirklich eins hatte.

Die Wüste Kavir, die wir so unverdrossen durchquerten, wird im Osten von einem Gebirgszug begrenzt, der sich in diesem Abschnitt als besonders unwegsam erwies. Unwegsam, weil die Steigung selbst Bergziegen Mühe macht. Das war noch immer nicht das Problem. Das kam erst, als es wieder abwärts ging. Zwanzig Prozent Gefälle, ununterbrochen über siebenhundert Meter, und das so schnurgerade, daß die Angelegenheit mehr einer Rampe als einer Straße glich. Und wenn man heruntergeschossen war, knickte das Ganze in einem Winkel von neunzig Grad sauber nach rechts ab, um einem Felsen auszuweichen.

Ich erwähnte bereits die Eigenart der Bremsen. Zweimal pumpen, bevor sie beim dritten Mal greifen. Warum ich ausgerechnet hier dreimal pumpen mußte, weiß nur Gott allein. Es kann auch sein, daß sie beim dritten Mal gegriffen haben, aber so, daß es mir nicht auffiel, weil die Bremsbeläge von den rasenden Rädern wie Schimmelkäse angenommen wurden. Dreimal, viermal, fünfmal, dann ließ ich das Pumpen sein und begann so überzeugend zu schreien, daß sich der Afghane wie vom Blitz getroffen von der Rückbank auf die Knie warf und meine Flüche mit einem Stoßgebet begleitete. Alles klar. Allah ist groß, Allah ist mächtig, doch auch die Wirkung der Handbremse blieb eher klein und schmächtig, und so geschah, was ich kommen sah: Ich kriegte die Kurve nicht.

Der Rest der Fahrt ist schnell erzählt.

Wir waren offensichtlich nicht die ersten und vermutlich auch nicht die letzten, denen hier die Bremsen versagten, denn man hatte vor dem eigentlichen «Schluß-mit-lustig-Felsen» in einem Abstand von rund zwei Metern Steinsperren aus losem Geröll aufgeschichtet, jede gut ein bis anderthalb Meter hoch. Durch die erste bretterten wir, als wäre sie Fliegendreck, aber nach der vierten hatten wir genügend Schwung verloren, um den Aufprall am Felsen zu überleben. Ohne Brüche, ohne Blutverlust. Nur dem Bus ging’s ziemlich schlecht. Vorderachse gebrochen, Radlager geborsten, Lenksäule verbogen, Karosserie verzogen, Scheinwerfer zersplittert, und im hinteren Teil des Busses ein Loch im Boden, das so groß wie eine Waschmaschine war.

Das Wunder in der Werkstatt. Man schleppte den Bus in die alte Pilgerstadt Meschhad, und die persischen Kfz-Mechaniker zeigten uns, was man macht, wenn es keine Ersatzteile gibt. Die Werkstatt sah wie eine Schmiede aus. Selbst Schrauben haben sie aus herumliegendem Eisen geformt, und schon drei Tage später war diese Fusion eines Mercedes mit dem Schrott der hindukuschnahen Welt wieder fahrbereit. Eine Mutation, ein Persedes, und alles wäre o.k. gewesen, hätte sich nicht plötzlich ein Polizist mit ausgebreiteten Armen vor mir aufgestellt. Solche Penner gibt es überall. Sie haben zu Hause nichts zu sagen und machen deshalb draußen den dicken Max. Er fragte nach meinem Führerschein.

Wenn ich heute das Foto in meinem Reisepaß betrachte, mit dem ich damals unterwegs gewesen bin, dann sehe ich einen Siebzehnjährigen, der so dämlich aus der Wäsche schaut, daß es mir graut. Aber das Foto wurde vor dieser Reise gemacht. Mit dem Mann, der in Meschhad der Staatsgewalt zu trotzen begann, hatte der Knabe nichts gemein. Ich war weg, weit, weit weg von dem Haus, in dem meine Mutter schlief. Und ich hatte lichte Momente. Ich tat so, als verstünde ich ihn nicht.

«Driving license!» sagte er noch einmal.

«No speak English!» sagte ich.

Wir bekamen schnell Publikum, der Bus stand abfahrbereit vor der Werkstatt, die am Rande des großen Basars lag, und da war viel los. Perser, Türken, Usbeken, Afghanen, schmutzige Männer, verschleierte Damen, Kinder, Alte, Kranke und Arme wollten wissen, was hier Sache war und was draus wurde, denn a) hatten sie nichts Besseres zu tun, und b) kam es nicht alle Tage vor, daß die Geduld eines stiernackigen Straßenpolizisten an einem blonden Hippie zerbrach.

«Driving license!!» schrie er und fuchtelte mit den Armen und zeigte mal auf den Bus und mal auf mich. Ich konnte mich nur wiederholen. «No speak English», sagte ich. Er besann sich. Er kramte in den Taschen seiner Uniform. Er fand seinen Führerschein. Er hielt ihn mir vor das Gesicht, er zeigte ihn dem Publikum, und er plapperte dabei ständig auf mich ein. Den Text kennen wir schon. «Driving license!!»

Ich verstand ihn noch immer nicht und wollte ihn nicht verstehen, aber es war nicht zu übersehen, daß die Zeit gekommen war zu handeln. Der Mann begann Drohungen zu formulieren. Mit der Linken hielt er seinen Führerschein hoch, mit der Rechten faßte er sich an die Brust. Text: «Me, my driving license.» Dann zeigte er auf den Bus. Text: «Me, I drive.» Und zeigte auf mich. Text: «No driving license. No drive!»

Ich sprach eingangs dieser Szene von hellen Momenten. Dieser hier war einer. Ich nahm dem Mann einfach seinen Führerschein aus der Hand, ging, ihn hoch über dem Kopf wedelnd, zum Bus und stieg ein. Der verdutzte Polizist folgte mir, ebenso das Publikum. Natürlich paßten nicht alle rein, darum versammelten sie sich vor der Windschutzscheibe und vor der Tür. Ich knallte den Führerschein auf den Fahrersitz und redete auf das Stück Papier ein und konnte plötzlich Englisch und wurde lauter und begann zu schreien (für die Zuhörer in den hinteren Reihen). «Drive!» befahl ich dem Führerschein. Hörte er mich nicht? Verstand er mich nicht? Wollte er mich nicht verstehen? «Drive!» schrie ich noch mal und noch mal. Keine Reaktion. Ich nahm das Dokument vom Fahrersitz, zeigte es wieder dem Publikum und schüttelte den Kopf. «Driving license no drive», sagte ich, und man kann sich denken, wie es weiterging. Ich gab das Papier dem Polizisten zurück, setzte mich hinters Steuer, warf mit der einen Hand den Motor an und ballerte die andere auf die Hupe.

«I drive!»

Da ließen sie mich fahren.

Es schien, daß mein Schutzengel abgeflattert war. Wohin, weiß ich nicht. Vielleicht gibt es Schutzengel-Urlaubsparadiese. Oder schutzengelfreie Zonen. Vielleicht gibt es auch für menschliche Augen gänzlich unsichtbare Schutzengel-Stoppschilder und Schutzengel-Umleitungstafeln, auf denen «Schutzengel – links abbiegen» steht. Geradeaus jedenfalls ging’s zur Grenzstation Islam Qala.

Das war nicht Gottes Lieblingsfleckchen auf Erden. Ein alter Ventilator hielt Staub und Fliegen auf Trab, und der Offizier in dieser Grenzstation Marke Lehmbau sah aus, als habe er schon eine Menge Fingernägel mit der Zange ausgerissen, weil Ausreisevisen verfallen waren. Er wollte meine Gaspistole sehen. Geht nicht, sagte ich. Das muß gehen, sagte er. Deine Kollegen haben sie mir bei der Einreise in den Iran abgenommen, sagte ich. Und genau das steht da auch in meinem Paß geschrieben. Das steht da nicht im Paß geschrieben, sagte er.

Papier des Anstoßes war die Seite sieben meines Reisepasses, auf der, von fünf Stempeln umgeben, etwas in einer Schrift zu lesen war, die mich inzwischen ein bißchen an Sanskrit erinnert und ein bißchen an Arabisch, aber damals sah sie für mich so aus, als habe ein Vögelchen ein bißchen in den Paß geschissen, quasi auf Farsi (iranische Amtssprache). Hier wurde offenbar unter iranischen Offizieren eine Nachricht ausgetauscht, von der ich aus irgendeinem Grund glaubte, daß sie für mich sprach. Ich war jung und dumm wie Brot.

In deinem Paß steht nicht konfisziert, sondern plombiert, sagte der Her-mit-den-kleinen-Fingernägelchen-Offizier. Sie haben dir die Pistole plombiert wieder mitgegeben. Haben sie nicht, sagte ich. Haben sie doch, sagte er. Und dann hast du sie verkauft. Stimmt nicht, sagte ich. Stimmt doch, sagte er. Illegaler Waffenhandel, er schätzte auf grob fünf Jahre. Ich fragte, ob er ein Telefon habe.

Das war die falsche Frage. Warum Telefon? Für ein Telefongespräch! Mit wem? Mit Bazargan, wo meine Gaspistole ist. Wir haben kein Telefon. Da steht doch eins. Nein, da steht keins. Da steht kein Telefon?! Nein. Ich ging zum Telefon und legte meine Hand auf den Hörer. Das ist kein Telefon? Nein. Es waren zweitausendfünfhundert Kilometer bis Bazargan. Long distance, lonely planet. Plötzlich war ich ganz allein in dieser gottverlassenen Kies- und Geröllwüste im Dreiländereck Iran– Turkmenistan– Afghanistan und schlug etwa zwanzigtausend Fliegen tot.

Blick zurück im Zorn, erster Teil: Mein Vater, wie er mir zum Abschied im heimischen Ostwestfalen eine Gaspistole in den Rucksack steckt.

Blick zurück im Zorn, zweiter Teil: Der iranische Offizier, der sie bei meiner Einreise findet und einbehält.

Blick zurück im Zorn, dritter Teil: Der iranische Offizier, der sie bei meiner Ausreise nicht findet und mich einbehält.

Es war Vollmond, als ich komplett von Sinnen kam. Der Mann hatte mich nicht über die Grenze nach Afghanistan gelassen, und ich mußte die tausend bis tausendfünfhundert Kilometer zurück nach Teheran, um bei meiner Botschaft vorzusprechen. Ich machte mich per Anhalter auf den Weg und bin in einem Lastwagen gefahren, der gut und gerne aus den Armeebeständen des Feldmarschalls Rommel hätte geklaut sein können. Fünfundzwanzig Stundenkilometer Höchstgeschwindigkeit, und durch ein Loch über dem Motorblock strömte so heiße Luft ins Führerhaus, daß der steinalte Fahrer seinen Kopf aus dem Seitenfenster halten mußte, und der Kopf des etwas jüngeren Beifahrers hing aus dem anderen Fenster, und nur mir wurden die Lippen zu Trockenpflaumen entsaftet, weil ich direkt vor dem Loch zum Motor saß. Daß mir die Fahrt trotzdem angenehm in Erinnerung blieb, mag daran gelegen haben, daß sie mir irgendwann Opium zu essen gaben.

Blick zurück im Opiumrausch, erster Teil: Mein Vater hatte es gut gemeint. Natürlich machte er sich größte Sorgen. Ich war noch nicht volljährig und wollte nach Indien, und das ist ziemlich weit und ziemlich unübersichtlich. Er machte sich Sorgen, sicher auch Vorwürfe. Vielleicht tat ihm etwas leid. Es war ein Akt väterlicher Fürsorge, gepaart mit einer kompletten Fehleinschätzung der Lage, denn er hat in seinen Wanderjahren (1940–45) an den Grenzen mehr oder weniger gern Waffen vorgezeigt.

Blick zurück im Opiumrausch, zweiter Teil: Der Offizier, der mir die Gaspistole abnahm, war ein armes Schwein. An eine Grenzstation verdammt zu sein, wo Nacht für Nacht die Wölfe heulen, ist kein Schicksal, um das man jemanden beneiden kann. Und er verdiente praktisch nichts. Er wurde vom Staat verarscht, also verarschte er mich. Für die Pistole bekam er fünfzig Dollar auf dem Schwarzmarkt. Und mir war sie egal. Ich war Pazifist.

Blick zurück im Opiumrausch, dritter Teil: Der Typ, der mir eben (eben?), vor Stunden (wie lange fahren wir schon durch diese Nacht?), die Fingernägel herausreißen wollte, war ebenfalls ein armes Schwein und hatte Familie und vielleicht ein krankes Töchterlein. Völlig normal, daß er von mir den Verlust ersetzt haben wollte, der ihm entstand, weil er keine Gaspistole mehr fand. Und fünfzig Dollar für zehn heile Finger ist eigentlich noch ein ganz guter Preis.

Ich erreichte Teheran am frühen Morgen des darauffolgenden Tages. Ich fühlte mich krank. Ich suchte mir ein Zimmer, aber ich konnte nicht schlafen. Ich mußte zur Botschaft, ich mußte aufs Klo, eine Diarrhöe begann den Darm zu peitschen. Die Botschaft konnte mir nicht helfen. Sie schickten mich zum Polizeihauptquartier von Teheran. Die schickten mich zum Hauptquartier der Ausländerpolizei, und die hatten bereits geschlossen, als ich kam. Ich schleppte mich in mein Loch zurück und klapperte den Rest des Tages mit den Knochen. In der Nacht fingen die Fieberphantasien an. Haushohe Energiebälle rollten über mich. Das Programm am nächsten Tag: Von der Ausländerpolizei quer durch die Stadt zur Zollbehörde und von der Zollbehörde quer durch die Stadt zur Nebenzollbehörde, und zwischendurch habe ich ein bißchen Joghurt gegessen und bin ein bißchen weiter gestorben, und als ich via Militärbehörde wieder beim Hauptquartier der Polizei landete, wo man mich ein zweites Mal in die Umlaufbahn zu setzen gedachte, torkelte ich aus dem Gebäude, hockte mich auf die Stufen vor dem Portal und weinte bitterlich.

Im Himmel klingelte ein Wecker.

Wie mein Schutzengel wohl ausgesehen haben mag, als er plötzlich kerzengrade auf der Wolke stand? Klient in Not! Diagnose: bakterielle Attacke, seelischer Kollaps, akuter Flüssigkeitsmangel, Opiumentzug. Und eine Art psychosomatische Epilepsie. Es bestand in der Tat Handlungsbedarf für meinen Schutzengel in Sachen Gaspistole.

Ich hatte noch nicht mal ausgeweint, als ich eine Hand auf meiner Schulter fühlte. «Kann ich dir helfen?» fragte eine nette Stimme. Es war ein Perser namens Zadid, der fließend Deutsch sprach. Er hatte in Berlin studiert, und er haßte den Schah. Er nahm mich bei der Hand, setzte mich in ein Taxi und fuhr mit mir zu vier Waffengeschäften. Im letzten fanden wir eine passende Gaspistole. Gleiche Marke, gleiches Modell. Möglicherweise gleiche Seriennummer. Habe ich im alten Basar von Teheran meine eigene Pistole für fünfzig Dollar zurückgekauft? Zadid meinte, das sei egal. Hauptsache, Papiere und Gepäck seien wieder in Harmonie. In relativer Harmonie.

Fünfzig Dollar für den Durchgeknallten an der Grenze zu Afghanistan, fünfzig Dollar für den Rückkauf meiner Pistole im Basar von Teheran, zehn Dollar für Zadid und sieben Dollar für das Busticket nach Pakistan. Blieben noch sechzig Dollar für die restlichen dreitausend Kilometer bis Indien. Und die 39,9Grad Fieber blieben auch. Keine wirklich problematische Situation, wenn man mit Schutzengel reist. Er hatte mir die Pistole zurückgegeben, er würde mich auch kurieren oder jemanden finden, der es für ihn tut. Jemanden wie Zadid. Ich verabschiedete mich von dem freundlichen Perser, schleppte mich in den Bus und fuhr los. Es war noch ein weiter Weg bis zur Grenze nach Pakistan. Und wir mußten durch die große Wüste Lot.

Erstes Etappenziel (fünfhundert Kilometer) war die alte Kaiserstadt Isfahan, in der der mongolische Eroberer Tamerlan im Jahr 1387 achtzigtausend Menschen abschlachten ließ, um aus ihren Schädeln Pyramiden zu errichten. Zweites Etappenziel (noch mal achthundert Kilometer) war die Stadt Kerman, und als wir dort am Busbahnhof ankamen, war ich auch fast tot. Ich saß in einer Joghurtbude am Straßenrand und konnte nicht mehr aufstehen, als der Bus abfuhr. Ich war zu schwach, ihm auch nur hinterherzuwinken. Was hat der Engel gemacht? «Mustafa», hat er tief im Herzen des Budenbesitzers gesagt, «Mustafa, du Mildtätiger, du Freude Allahs, hilf diesem kranken Ausländer mit den langen Haaren, bevor er krepiert.»

Ich blieb drei Tage und drei Nächte als hochgeschätzter Gast im Haus des Joghurtbuden-Inhabers, der noch mehr Buden in der Stadt haben mußte, denn das Haus war groß, und es gab ein schönes Gästezimmer mit Tür und Fenster zum Innenhof. Ich schlief auf sieben übereinandergelegten Perserteppichen, und ich hatte das Grammophon der Familie, falls mir das Plätschern des Springbrunnens nicht mehr genügen würde. Die Frau des mildtätigen Mustafa versorgte mich mit frischen Früchten, Joghurt und Tee, ein Arzt wurde hinzugezogen, am zweiten Tag spielte ich bereits mit den Kindern der Familie, am dritten war ich gesund.

Blieb noch das Problem mit der nichtplombierten Gaspistole an der Grenze zu Pakistan. Mirjaveh hieß die Grenzstation. Sie war genauso verrottet wie die nach Afghanistan. Auch sie roch nach Willkür, Verrat, Fliegen und Tod, und ich habe mir fast in die Hosen gemacht, als ich vor den Uniformierten trat. Er sah kein Stückchen freundlicher aus als das Fingernägelreißerchen von Islam Qala. Was wird er dazu sagen, daß in meinem Paß eine Plombe erwähnt wird, die auf meiner Pistole nicht zu finden ist? Und was werde ich daraufhin sagen? Und was dann wieder er? Bakschisch? Wovon? Das waren so insgeheim meine Fragen. Und so wurde das Wüstenfort Mirjaveh im Herzen der landschaftlich ganz und gar nicht reizvollen Provinz Belutschistan in diesem Moment erhöhter Adrenalinausschüttung sicherlich zu mehr als das, was es, nüchtern betrachtet, wirklich gewesen ist. Aber ich wollte lieber verrecken als noch einmal zurück zum Hauptquartier der Polizei von Teheran. Der Engel schnappte sich also das Gehirn des iranischen Blödmanns, um da auch den letzten Schalter auszumachen, und die Gaspistole interessierte niemanden mehr.

Das war die gute Nachricht. Die schlechte: Der Orient hat drei wirklich eklige Krankheiten anzubieten. Die Lepra, die Pest und die Elephantiasis. Haben Sie auf Ihren Fernreisen schon mal Menschen mit Beinen gesehen, die so dick wie die eines Elefanten waren? Diese Leute haben die Elephantiasis in den Griff gekriegt. Bei den weniger Glücklichen schwellen die Beine so lange an, bis sie platzen. Welches Los war mir beschieden, als ich sie bekam, im Niemandsland zwischen dem Iran und Pakistan?

Ich fuhr in einem Zugwaggon dritter Klasse, der keine Sitze und keine Bänke hatte, und erfreute mich der Gastfreundschaft einer mitreisenden pakistanischen Familie. Sie hatten Teppiche auf dem Boden ausgebreitet und den Teekocher aufgestellt, und weil man die Schiebetür während der Fahrt aufließ, setzte ich mich in die Luke und ließ meine Beine nach draußen baumeln. Draußen war die Wüste und die Nacht, was mich entspannte und die Sterne zählen ließ. Warm war der Wind, süß waren die Träume, und noch hatte ich schlanke Beine.

Hörte ich Musik? Ein Lied, so alt wie die Eisenbahn. Singende Räder, trommelnde Achsen, ölverschmierte Kolben am Baß. Die Dampfmaschine hat den Blues erfunden. Vom Herzen getriebene Menschen haben ihn nachgemacht. Van Morrison hatte gerade das Album «Moondance» veröffentlicht, und Jimi Hendrix war vor drei Monaten gestorben. Mit ihm starb das Jahr. Es war im Dezember 1970, in drei Tagen würde ich in Lahore und damit an der Grenze zu Indien sein. Weihnachten in Goa? Oder Weihnachten im Himalaja? Das war noch nicht ganz klar.

Der Zug stoppte nach zwei Stunden. Wir hatten das Ende des Niemandslands erreicht. Hier begann Pakistan. Vor jedem Waggon wurde ein schmuckloser Tisch aufgestellt, auf jedem Tisch brannte eine Lampe, jede Lampe erhellte ein Gesicht. Arschgesichter, durch die Bank. Pakistanische Zollbeamte wollten Gepäck und Pässe sehen. Vor den Tischen häufte sich der Hausstand von Nomaden (Säcke, Kisten, Schweine), und einer der Zöllner meinte, für diesen Zug bräuchten sie die ganze Nacht. Er bot mir ein Bett in der Grenzstation an. Ein Bett? Sein Bett? Schwuler Muselmane, ick hör dir trapsen.

Nicht eine Stunde war vergangen, da lag er schon neben mir und machte sich am Reißverschluß meines Schlafsacks zu schaffen. Vergeblich. Es war ein beidseitig zu nutzender Schlafsack mit einem beidseitig zu ziehenden Reißverschluß, und ich hielt auf meiner Seite heimlich fest. Und begann gleichzeitig, auf ihn einzuquatschen. Im Orient ein guter Trick. Egal, wie triebgesteuert der Orientale ist, der Kommunikation kann er sich nicht verwehren. Auch eine Art von Tausendundeiner Nacht. Solange man redet, wird man nicht gefickt.

Als ich erwachte, war ich allein. Das goldene Licht der frühen Sonne überschwemmte das Bett. Und durch die offene Tür sah ich ein Kamel vorübergehen. Vögel zwitscherten nicht. Es gibt keine Singvögel in der Wüste. Ich richtete mich auf, ich wollte raus, ich hoffte, noch den Zug nach Lahore zu kriegen. Als ich mich aus dem Bett schwang, fiel ich sofort zu Boden. Ein Schmerz, als wäre ich in aufgestellte Bajonette gesprungen. Ich versuchte noch einmal aufzustehen, und wieder schien sich Eisen von den Fußsohlen bis zum Gesäß durch die Beine zu bohren. Auf dem Bauch kroch ich zur Tür hinaus.

Ich hatte die Örtlichkeit bisher nur bei finsterer Nacht inspizieren können. Da hatte sie besser ausgesehen. Es gibt Kino, und es gibt Wüsten. Und im mühelos greller werdenden Licht der Realität sah ich weder majestätische Wanderdünen noch liebliche Oasen, sondern Kies und Geröll, soweit das Auge reichte, plus ein einziges (bereits erwähntes) Kamel, das abgemagert und räudig in der Hitze briet. Ich schaute nach rechts. Da stand eine Bank an der Außenwand des Zollhauses, Marke Pakistan.

Krank auf der Bank. Todkrank, wie ich bald erfuhr. Meine Beine sahen aus, als hätte sie jemand über Nacht aufgepumpt, und setzte sich eine Fliege drauf, glaubte ich, man mache eine Zigarette an ihnen aus. Ich müsse sofort in ein Krankenhaus, wurde mir gesagt. Aber nicht in ein pakistanisches. Dafür sei ich weder geboren noch gebaut. Also zurück in den Iran. Mit dem nächsten Bus. Und was kam dann? Ich verlor wieder ein bißchen mehr von dem Grün hinter meinen Ohren.

Bisher hatte ich geglaubt, arm sei gut. Diese Busfahrt belehrte mich eines Besseren. Arm tritt böse zu. Die Sitzbänke waren aus kaltem Stahl, eng aneinandergeschraubt und komplett überladen mit den Ärmsten der Armen. Und alle saßen zusammengekauert da, die Beine angewinkelt. Aber ich mußte sie ausstrecken, sonst war das Brennen nicht zu ertragen, und in dem Gedränge sind sie draufgetreten, obwohl sie sahen, daß ich am Verrecken war. Wechselbad des Schicksals, könnte man sagen. Zwischen der glückseligen Zugfahrt nach Indien und diesem Highway to Hell lag nur eine Nacht. Soviel zu Himmel und Hölle im Niemandsland.

Und so viele Fragen:

Sind schwere Krankheiten (a) Schicksal oder(b) falsches Leben?(Wenn a, dann interessiert vielleicht auch die nächste Frage.)

Ist Schicksal (a) Zufall oder(b) die Hand Gottes? (Wenn b, dann stellt sich Frage drei.)

Ist Schicksal (a) Strafe oder (b) Chance?(Wenn b, dann fragt man sich…)

… Eine Chance wofür?

… Für die Liebe?

Noch bevor an diesem Tag die Sonne unterging, tupfte mir eine bildschöne persische Krankenschwester sanft den Po mit Alkohol, um mir eine Penicillininjektion zu geben, und sie tat das von nun an alle zwei Stunden, Tag und Nacht, eine Woche lang, und obwohl die Spritze selbst recht unangenehm war, begann ich bald die Minuten zu zählen, bis sie wieder in das Zimmer kam, um mir die Hose herunterzuziehen. Ihr schien es ebenso Gefallen zu bereiten, denn sie spritzte mich auch dann noch weiter, als es gar nicht mehr notwendig war.

Alle waren nett in diesem Krankenhaus. Es lag im Herzen von Zahedan, der ersten Stadt hinter der Grenze zum Iran, und die Ärzte hatten in Deutschland studiert. Sie erzählten mir immer wieder davon, und ihre Augen glänzten dabei, als hätten sie das Paradies geschaut. Kurzer Zeitcheck: Dezember 1970.Regierungsform des Gastgeberlands: Monarchie. Wer hing eingerahmt an jeder Wand? Der Schah. Lebensstil: Go West. Europäisches Bruderland: BRD. Ich hatte lange Haare, keine Schuhe und trug Hippiefetzen am Leib, war dazu rauschgiftsüchtig und bettelarm, aber ich war made in Germany. Ich brachte den Ärzten die Erinnerung an die beste Zeit ihres Lebens zurück. Dafür haben sie sich bedankt. Ich bekam die beste Medizin, das beste Essen und die schönste Krankenschwester, die sie hatten.

Nach drei Tagen hatte sie die Schwellungen soweit heruntergespritzt, daß ich wieder gehen konnte. Humpelnd noch, aber ich ging. Sie sah es nicht gern, ich sollte mich schonen, und natürlich gefiel es ihr insgeheim dann doch, daß ich nicht zu domestizieren war. Ich erkundete das Krankenhaus. Es war recht klein, und wenn mich die Erinnerung nicht trügt, ein Rundbau. Und es hatte einen Park, mit all den Pflanzen, die in der Wüste wachsen, wenn regelmäßig gegossen wird (Rosen, Orchideen), sowie einen künstlich angelegten Teich, an dem ich träumend verweilte, bis mich ihre süße Stimme an die nächste Wumme Breitbandantibiotika gemahnte.

Anfangs teilte ich das Krankenzimmer mit einem alten Mann, der ein untertassengroßes Loch im Bauch hatte, viel stöhnte und wimmerte und drei Tage nach meiner Ankunft starb. Jetzt wurden wir intimer, und fortan streichelte sie nicht nur mit alkoholgetränkten Wattebäuschen meinen Po, sondern kämmte mir auch das Haar. Einmal fragte sie mich, ob ich ein Foto von mir hätte. Ich besaß noch ein Paßfoto für eventuelle Visaanträge, das ich in Istanbul hatte machen lassen. Es war kein besonders vorteilhaftes Bild. Sie wollte es trotzdem.

Am Abend kam ihre Familie zu Besuch. So zehn oder zwölf Personen. Es gab längst nicht genügend Stühle, nur Großvater und Großmutter konnten sitzen, aber man amüsierte sich. Sie redeten, sie lachten, sie zeigten mit dem Finger auf mich, und ich saß aufrecht im Bett und verstand nicht so recht. Ein Arzt wurde als Übersetzer hinzugezogen. Er gratulierte mir zur Verlobung.

Sie hieß übrigens Leila.

Leila und die Elephantiasis, eine Liebesgeschichte aus dem Südiran, die glücklich verlief, bis sich der Polizeichef von Zahedan einmischte. Er war ebenfalls Patient in diesem Krankenhaus. Er hatte von mir gehört und bestellte mich in sein Zimmer. Ein dicker Mann mit Schnauzer im Schlafanzug. Ich auch im Schlafanzug. Ebenfalls im Zimmer und im Schlafanzug ein kranker, in Persien halbwegs populärer Künstler. Der Künstler hatte den Job, den Polizeichef mit Witzen zu unterhalten oder auch mal was zu singen. Was mein Job werden sollte, wurde dem dicken Polizeichef irgendwann via Eingebung klar. Unter Schlafanzug-Brüdern schlug er vor, daß ich sein Stellvertreter werde. Also zweitmächtigster Polizist der Stadt. Dafür gäbe er mir seine Tochter zur Frau.

Es wurde Zeit, daß ich verschwand. Die Ärzte rieten ab. Sie wollten der Elephantiasis eine Überdosis verabreichen, sie wollten mich beobachten, sie wollten ganz sicher sein. Und meine Krankenschwester weinte, als ich meinte, ich sei nicht mehr krank. Wer kann Frauen weinen sehen? Ich weiß, daß es manche Männer können. Ich weiß aber auch, daß es Menschen gibt, die keine Seele haben. Denen sind Tränen von Haus aus egal. Mir nicht. Ich fuhr trotzdem.

Das Krankenhaus wollte keinen Pfennig sehen, sondern lediglich meine Unterschrift auf einem Stück Papier, auf dem zu lesen stand, daß ich gegen den Rat der Ärzte gehe. Ich unterschrieb das gern. Danach hieß es Abschied nehmen. Das gesamte Personal des Krankenhauses versammelte sich vor dem Portal, der Polizeichef, der Künstler, und jeder nahm mich in den Arm. Zum letzten Mal fühlte ich Leilas Busen beben. Zum letzten Mal.

Mit geheilten Beinen und gebrochenem Herzen ging ich die lange, wie mit dem Lineal gezogene Allee hinunter, die vom Portal des Krankenhauses bis zum Zentrum der Stadt führt, und winkte, bis mir fast die Hand abfiel. Ziel: der Bahnhof von Zahedan. Er ist, wie schon berichtet, an das Eisenbahnnetz des subindischen Kontinents angeschlossen. Jeden Montag um acht Uhr dreißig verließ der Taftan-Expreß die Stadt in Richtung Lahore. Ich kannte mich aus. Ich buchte dritter Klasse und suchte mir einen Waggon mit netter pakistanischer Großfamilie. Ich denke, jeder von uns hat das Recht auf eine zweite Chance.

Neulich im Heiligen Land

(Tel Aviv)

Me, I was in Tel Aviv. Ich hatte dort beruflich zu tun. Und was ich an Auslandsjobs besonders mag, ist der Feierabend. An der Rezeption empfahl man mir eine Diskothek, deren Name mir inzwischen entfallen ist (die Sache ist ein bißchen her), aber im Taxi wußte ich ihn noch. «No problem, Klaus», sagte der Fahrer. Er gab Gas, ich freute mich auf einen angenehmen Abend im mediterranen Klima, die Quatscherei begann.

«Zum ersten Mal in Tel Aviv, Klaus?» fragte der Taxifahrer.

«Nein, zum dritten Mal. Und ich heiße auch nicht Klaus.»

«Haha, das ist gut, du heißt nicht Klaus. Und du glaubst, damit kommst du durch, Klaus?»

Mir war es im Grunde egal, meinetwegen sollte ich Klaus für ihn sein, aber er machte sich geradezu einen Spaß daraus, jeden seiner Sätze entweder mit Klaus zu beginnen oder zu beenden.

«Hör mal», sagte ich, «wie heißt du?»

«Ich heiße Joschua, aber alle nennen mich Joschi. Schön, daß du danach fragst, Klaus.»

«O.k., Joschi, ich heiße Helge.»

Joschi schien langsam ärgerlich zu werden. Er könne verstehen, daß ich nicht immer und überall erkannt werden wolle, er habe Verständnis für das Menschenrecht auf Anonymität, aber ich solle ihn auch nicht für einen Neandertaler halten, der gerade aus der Höhle gekrochen sei. Er gehe oft ins Kino, strenggenommen sei er Cineast, und ich sei nun mal Klaus Kinski, da laufe das mit der Anonymität nicht. «Was soll man machen. Das ist der Preis des Ruhms, Klaus.»

Wir fuhren inzwischen nicht mehr durch das Zentrum von Tel Aviv, auf den Bürgersteigen tat sich kaum noch etwas, auf der Fahrbahn auch. Es sah nach Vorstadt aus, und es war nicht einmal Mitternacht. Ich fragte Joschi, wie er auf so ’nen Scheiß komme.

«Du siehst aus wie Klaus Kinski. Du sprichst Englisch wie Klaus Kinski