DER JUDASKUSS - Herbert Adams - E-Book

DER JUDASKUSS E-Book

Herbert Adams

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  • Herausgeber: BookRix
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2021
Beschreibung

Adelaide war nicht dumm, sie hatte recht klare Erkenntnisse aus ihren Beobachtungen gewonnen. Als sie am nächsten Morgen nach unten kam, traf sie zuerst Pearl, die ganz ihren Erwartungen entsprach. So wurde ihr der Anfang nicht schwer gemacht. Sie küsste Pearl, fragte freundlich, ob sie gut geschlafen habe, und bat dann, ihre Wohnung ansehen zu dürfen. Pearl freute sich, ihr alles zeigen zu können. Sie gingen zur Tür im Parterre, die das junge Mädchen stolz mit dem eigenen Schlüssel öffnete. "Hast du keine Angst, hier unten so allein zu schlafen?", fragte Adelaide. Herbert Adams (* 1874 in Dorset, South West England; † 1958) war ein englischer Schriftsteller. Adams veröffentlichte beinahe sechzig Kriminalromane; viele unter seinem eigenen Namen, einige unter dem Pseudonym Jonathan Gray. Seine Leser – wie auch die Literaturkritik – verglichen Adams oft mit seiner Kollegin Agatha Christie. Der Roman DER JUDASKUSS erschien erstmals im Jahr 1955; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1956. Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

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HERBERT ADAMS

 

 

Der Judaskuss

 

Roman

 

 

 

 

Apex Crime, Band 200

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

DER JUDASKUSS 

ERSTER TEIL 

ZWEITER TEIL 

DRITTER TEIL 

 

 

Das Buch

 

Adelaide war nicht dumm, sie hatte recht klare Erkenntnisse aus ihren Beobachtungen gewonnen.

Als sie am nächsten Morgen nach unten kam, traf sie zuerst Pearl, die ganz ihren Erwartungen entsprach. So wurde ihr der Anfang nicht schwer gemacht.

Sie küsste Pearl, fragte freundlich, ob sie gut geschlafen habe, und bat dann, ihre Wohnung ansehen zu dürfen. Pearl freute sich, ihr alles zeigen zu können. Sie gingen zur Tür im Parterre, die das junge Mädchen stolz mit dem eigenen Schlüssel öffnete.

»Hast du keine Angst, hier unten so allein zu schlafen?«, fragte Adelaide.

 

Herbert Adams (* 1874 in Dorset, South West England; † 1958) war ein englischer Schriftsteller.  Adams veröffentlichte beinahe sechzig Kriminalromane; viele unter seinem eigenen Namen, einige unter dem Pseudonym Jonathan Gray. Seine Leser – wie auch die Literaturkritik – verglichen Adams oft mit seiner Kollegin Agatha Christie.

Der Roman Der Judaskuss erschien erstmals im Jahr 1955; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1956.

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

  DER JUDASKUSS

 

 

 

 

 

 

 

  ERSTER TEIL

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

Der junge Geistliche räusperte sich. »Da wir nun alle zusammen sind«, begann er, »will ich euch einen Brief vorlesen, den unser Vater mir geschrieben hat.«

»Achtung, Mädchen«, sagte Jasper vorwitzig, »unser geistlicher Bruder hat offenbar eine Botschaft von oben bekommen, die vielleicht wichtig ist.«

»Wo steckt Vater denn, Garnie?«, fragte Emerald, die Ältere seiner beiden Schwestern.

»Schreibt er nicht, wann er zurückkommt?«, wollte Pearl wissen, die jüngste von allen.

Garnet beantwortete ihre Fragen in der Tonart, die sie seine Pfarrerstimme nannten, räusperte sich noch einmal, hielt das Schreiben hoch und las:

 

»Mein lieber Garnet,

nun sind es schon bald drei Monate, seitdem ich euch verlassen habe, um mich von der Grippe zu erholen. Es war nett, dass ihr euch alle angeboten hattet, mich zu begleiten. Aber mir schien es doch das Beste, allein zu fahren, besonders da ich noch kein bestimmtes Ziel hatte und meine Entscheidung gern in aller Ruhe treffen wollte. Stets habe ich versucht, euch zur Selbstständigkeit zu erziehen, damit jeder seinen eigenen Lebensweg gehen kann, und ich glaube, das in gewissem Maß erreicht zu haben. Es wäre euch nicht dienlich gewesen, wenn ich euch an mich gebunden hätte.

Ich hoffe aufrichtig, dass ihr in dem, was ich euch jetzt eröffnen will, keinerlei Vorwurf erblicken werdet. Als eure Mutter vor vier Jahren starb, wart ihr ebenso traurig wie ich, habt aber gewiss gedacht, Radio, Kreuzworträtsel und ab und zu ein bisschen Kegeln oder Golf würden mein Leben für die mir noch verbleibenden Jahre ausfüllen. Doch da seid ihr im Irrtum! Die natürlichen Lebenswünsche hören im Alter von fünfzig Jahren noch nicht auf!«

 

»Worauf will er nur hinaus?«, warf Emerald ein. »Er ist doch siebenundfünfzig.«

Garnet ignorierte ihre Bemerkung. Er las weiter:

 

»Wie ihr aus meinen Postkarten erkannt haben werdet, bin ich weit herumgereist. Ich habe viele interessante Dinge gesehen und glaube sagen zu können, dass ich gesundheitlich wieder in bester Verfassung bin. Jetzt habe ich eine Dame kennengelernt, die mich bestimmt glücklich machen kann. Ich bin im Begriff, sie zu heiraten.«

 

Jasper pfiff durch die Zähne. Emerald rief wie ein Echo. »Sie zu heiraten?«

Und Garnet fuhr mit dem Brief fort:

 

»Ich will gar nicht versuchen, sie euch zu beschreiben, da ihr sie ja bald selbst sehen werdet. Wir gedenken in etwa vierzehn Tagen zu Hause zu sein. Den Tag der Ankunft werde ich euch telegrafisch mitteilen, sobald er feststeht. Hoffentlich werdet ihr sie um meinetwillen lieb haben, und ich vertraue darauf, dass ihr sie, wenn ihr sie erst genauer kennt, um ihrer selbst willen noch mehr lieben werdet.

Natürlich habe ich ihr von euch allen erzählt, und sie freut sich schon sehr, euch kennenzulernen. Wir wollen unseren Haushalt genauso weiterführen, wie wir es gewohnt sind, bis der eine oder andere von euch eigenen Plänen folgt. Wir haben auch besprochen, wie ihr sie am besten nennen würdet. Da ich mir völlig klar darüber bin, dass euch niemand eure liebe Mutter ganz ersetzen kann, sind wir uns einig geworden, dass ihr sie am besten mit ihrem Vornamen anredet - Adelaide.

Wir senden euch herzliche Grüße, in der sicheren Erwartung, dass ihr uns nett empfangen werdet.

Euer euch liebender Vater

George Michelmore.«

 

Das Schweigen, das dem Ende des Briefes folgte, dauerte mehrere Sekunden. Jasper brach es zuerst. »Müssten wir nicht ein Glückwunschtelegramm schicken oder so etwas?«

»Er hat keine Adresse angegeben«, sagte Garnet. »Der Poststempel auf dem Kuvert lautet Saint Malo.«

»Ist er denn schon verheiratet, oder will er erst?«, fragte Emerald ziemlich entrüstet. »Er hätte uns doch Gelegenheit geben sollen, dabei zu sein. Warum bringt er sie nicht her und heiratet hier?«

»Es wäre ja recht ungewöhnlich, dass ein Mann zur Hochzeit seines Vaters geht, aber wenigstens an der kirchlichen Trauung hätte ich doch gern teilgenommen«, bemerkte Garnet.

»Armer Papa!«, murmelte Pearl. »Ich habe nicht geahnt, dass er sich so einsam fühlte. Wie oft habe ich mit ihm am Fernsehapparat gesessen. Jeden Gefallen hätte ich ihm getan, aber er hat mich nie um etwas gebeten.«

»Vielleicht brauchte er, was eine Tochter ihm nicht geben kann«, sagte Jasper.

»Ich hoffe nur, dass sie ihn glücklich macht«, erwiderte Pearl.

Die Zimmertür ging auf, eine hagere Gestalt in schwarzer Kleidung trat ein.

»Ich werde gleich den Kaffee bringen, wenn es recht ist«, sagte sie. »Geläutet hatten sie wohl noch nicht?«

»Wir haben einen tüchtigen Schreck bekommen, Nan«, erklärte Emerald. »Vater schreibt uns gerade, dass er sich wieder verheiratet hat.«

Nan ging auf die Sechzig. Nachdem sie alle Kinder mit großgezogen hatte, war sie als Haushälterin in der Familie geblieben. Sie setzte ihren Stolz darein, sich bei ungewöhnlichen Ereignissen im Haus niemals Erstaunen anmerken zu lassen.

»Wirklich? Darf ich fragen, mit wem?« sagte sie sachlich.

»Das hat er uns noch nicht gesagt«, antwortete Garnet. »Er will uns überraschen. In ungefähr zwei Wochen wollen sie kommen.«

»Dann werde ich hier gewiss überflüssig?«

»Wie können sie so etwas sagen, Nan!«, rief Pearl ganz hitzig. »Ohne sie kommen wir doch gar nicht zurecht, und jetzt brauchen wir sie noch mehr als bisher.«

»Vater schreibt, der Haushalt soll weiterlaufen, wie wir es gewohnt sind«, ergänzte Jasper.

»Na, dann werde ich jetzt also den Kaffee holen.«

Sie ging aus dem Zimmer, wo alle schweigend sitzen blieben, bis sie mit dem Tablett wiederkam. Emerald hatte den Brief an sich genommen, um ihn selbst noch einmal zu lesen.

Die jungen Menschen bildeten eine hübsche Gruppe. Jeder an einer Seite des kleinen Tisches sitzend, hatten sie eben ihr Abendessen beendet, nur Jasper gabelte sich noch einen halben Pfirsich aus der schweren Kristallschale und begoss ihn aus einem silbernen Kännchen mit dem letzten Rest Sahne.

Garnet, mit siebenundzwanzig Jahren der älteste, hatte dunkle Augen in einem fein geschnittenen Gesicht. Sein Blick war ernst, sein schmaler Körper ließ vermuten, dass er alle kirchlich vorgeschriebenen Fastenzeiten einhielt und das anscheinend gern. Jasper, der zu seiner Linken saß, hatte auch dunkle, aber schalkhaft zwinkernde Augen. Emerald hätte als schön gelten können bis auf den hart wirkenden Mund und ihre unzufriedene Miene.

Pearl, das Baby der Familie, eben zweiundzwanzig geworden, war entschieden hübsch. Sie glich einem Bild von Jean Baptiste Greuze, doch aus ihren großen dunkelblauen Augen leuchteten mehr Temperament und Frohsinn, als dieser Künstler gemeinhin auf den Bildern seiner reizenden jungen Mädchen zum Ausdruck brachte.

Das Zimmer war nicht überladen, aber kostbar möbliert. Stühle und Kredenz von Chippendale oder einem Schüler des Meisters. Auf dem blitzblank polierten Tisch aus dunklem Mahagoni lagen Geschirrdeckchen aus wertvollem Leinen. Der Raum war fast kahl; das einzige Bild, über dem Kamin, stellte eine schöne Frau dar, die verstorbene Mutter der versammelten Kinder.

Garnet trug Pfarrerskleidung mit einem schwarzen Rock, die Mädchen hatten leichte Kleider mit kurzen Ärmeln an, Jasper trug ein Tweedjackett, ein farbiges Hemd und blaue Cordhosen. Nach Ansicht vieler Leute sollte er sich häufiger das Haar schneiden lassen.

Nan brachte den Kaffee herein, stellte ihn auf den Tisch und ging stumm hinaus.

»Höchst merkwürdig«, bemerkte Emerald, als sie wieder unter sich waren, »was Vater da schreibt. Dass er uns keine Vorwürfe machen will, klingt ja, als wollte er sich entschuldigen. Und ein Foto hätte er doch wohl mitschicken können. Keine Andeutung, ob sie jung oder alt ist, ledig oder Witwe.«

»Mich macht sein Hinweis auf die sogenannten natürlichen Lebenswünsche neugierig«, sagte Jasper. »Meint ihr, dass unser verehrter Herr Vater sich mit dem Gedanken trägt, eine zweite Familie zu gründen?«

»Um Himmels willen!«, rief Emerald. »Das wäre ja beinah unanständig.«

»Och, ein Baby im Haus könnte ganz lustig sein«, meinte Pearl.

»Vielleicht hat Adelaide schon selbst Kinder?«, gab Jasper zu bedenken.

»Das hätte Vater dann wohl doch erwähnt«, versicherte Garnet. »Ich glaube, wir dürfen annehmen, dass sie im selben Alter ist wie er.«

»Woraus schließt du das?«, fragte Emerald.

»Aus dem Namen. Adelaide! Nach dem Namen lassen sich, wie die Tauflisten zeigen, die Menschen zeitlich ganz gut einstufen. Augenblicklich sind Jacqueline, Jill, Elizabeth und Margaret am beliebtesten. Vor ungefähr zwanzig Jahren waren Pamela, Patricia und Phyllis die große Mode, und davor Dorothy oder Doris, soviel ich weiß, nach dem Titel eines Theater-Stücks. Clarissa, Agnes und Amelia waren schon vorher in Mode, aber Adelaide muss noch älteren Datums sein. Es hat einmal eine Königin dieses Namens gegeben.«

»Ja, die Gemahlin Wilhelms des Vierten, die vor ungefähr hundert Jahren starb«, sagte Emerald, denn Geschichte war ihre Stärke.

»Demnach nimmst du also an, dass unsere Adelaide - oder vielmehr die unseres Vaters - dick, blond und so gegen fünfzig - sein muss«, warf Jasper ein.

»Ja, das ist meine Meinung«, nickte Garnet.

»Mir scheint diese Logik aber nicht überzeugend«, sagte der jüngere Bruder. »Natürlich hast du mehr Erfahrung. Ich glaube, du hast schon sechs - oder waren es sieben - Kinder getauft. Auch nicht nur weibliche. Du übersiehst aber wohl die Tatsache, dass viele nach altjüngferlichen Tanten genannt werden, von denen etwas zu erwarten ist, oder sogar nach einer steinalten Großmutter. Also hält deine Generationen-Theorie einer schärferen Prüfung nicht stand.«

»Ich habe dieses Thema studiert«, sagte Garnet erhaben. »Wir wissen ja gar nicht, ob sie Engländerin ist«, meinte Emerald. »Wenn er sie in Saint Malo kennengelernt hat, kann sie doch auch Französin sein. Königin Adelaide war übrigens eine Deutsche.«

»Auch die Möglichkeit, eine amerikanische Stiefmutter zu bekommen, kannst du nicht ganz ausschließen«, fügte Jasper hinzu. »Ob ihr es glaubt oder nicht, ein Kunsthändler in Saint Malo hat eins meiner Bilder an einen Amerikaner verkauft.«

»Was sollen wir denn nur den Leuten erzählen?«, wollte Emerald wissen. »Wir stehen ja ganz dämlich da, wenn wir nicht die einfachsten Fragen beantworten können.«

»Weshalb überhaupt den Leuten etwas erzählen?«, fragte Pearl. »Wenn wir sie sehen, werden wir im Bilde sein. Unseren Papa werde ich weiter lieb haben, auch wenn es keine Überraschung wird.«

»Kleine Kinder und Säuglinge sprechen die Wahrheit«, murmelte Jasper. »Ich glaube, das Kind hat recht.«

»Vielen Dank, eisgrauer Alter«, gab Pearl zurück.

»Ich stimme Jasper zu«, sagte Garnet. »Nan habt ihr es ja erzählen müssen, weil sie alles vorbereiten soll, aber sagt ihr, sie möchte vorläufig darüber schweigen, bis wir Genaueres wissen.«

 

 

 

Zweites Kapitel

 

 

Waren die Michelmores schon an sich eine ungewöhnliche Familie, so fiel auch ihre Wohnung aus dem üblichen Rahmen. Das Haus war verhältnismäßig klein als, George Michelmore es kaufte, es wurde durch den Anbau von zwei rechtwinklig vorspringenden Flügeln vergrößert. Da der Bau mit der Fassade nach Süden lag, war der Name Sonnenbucht recht passend.

Die Flügel enthielten je zwei Wohnungen. So hatte jedes der vier Kinder ein komplettes Appartement, mit Wohnzimmer, Schlafzimmer, Badezimmer und einer kleinen Küche erhalten. Alle Wohnungen hatten gesonderte Eingänge, die oberen waren über schmale Treppen erreichbar.

Esszimmer und Diele im Mittelbau benutzten die Kinder gemeinsam, wenn sie Lust hatten, zusammen zu sein. Im Übrigen konnten sie in ihren eigenen Wohnungen schalten und walten, wie es ihnen behagte und auch ungestört ihre Berufe ausüben.

Garnet, dem ältesten Sohn, gefiel diese Anordnung sehr. Er hatte eine Parterrewohnung, über ihm hauste Jasper mit seinen künstlerischen Ambitionen. Der erfreute sich eines Ateliers mit Nordfenstern.

Von den Mädchen wohnte Emerald im oberen Stock des anderen Flügels. Sie war Schriftstellerin, wenn auch bisher von ihren Arbeiten nur wenig veröffentlicht worden war.

Als Pearl volljährig wurde, hatte sie den Schlüssel für die damals noch freie vierte Wohnung erhalten. Sie war stolz auf ihre Räume. Besonders häuslich veranlagt, widmete sie einen großen Teil ihrer Zeit ihrem Vater oder Nan, die mit vollem Namen, soweit man sich erinnerte, Hannah Wood hieß. Pearl besaß einen Scotch Terrier, ihren treuen Wächter und Begleiter Sandy.

Nach der Vereinbarung mit dem Vater war jeder zur Instandhaltung und Sauberkeit seiner Wohnung selbst verpflichtet. Die Mädchen machten das natürlich gern selbst, während Garnet und Jasper hin und wieder für Aufwartung ein paar Schillinge an Mrs. Hopkins zahlen mussten, die täglich als Aushilfe ins Haus kam.

Vom Vater erhielt jedes Kind ein festgesetztes Monatsgeld. Da sie selbst für Essen, Licht und Heizung keine Kosten hatten, reichte der Betrag für das Notwendige aus, gestattete ihnen aber auf die Dauer kein ganz müßiges Leben. Sie sollten selbstständig werden, sich einen Beruf nach eigenem Geschmack wählen und sich ihren Lebensunterhalt verdienen.

Wenn jemand dem Vater darauf hinwies, dass seine Kinder durch dieses Leben in halber Abhängigkeit später leicht in Schwierigkeiten geraten könnten, so pflegte er zu antworten, das sei hier weniger wahrscheinlich, als wenn sie allein auf eigene Faust in einer Großstadt leben müssten.

Die Sonnenbucht war eins der wenigen großen Häuser des Dorfes Beckford. Es lag ungefähr anderthalb Kilometer von der Küste entfernt, etwa in der Mitte zwischen Felixstowe und Aldeburgh in Suffolk.

George Michelmore war stolz auf die Einteilung seines Hauses und erklärte jedem, der es hören wollte, die Zeit der großen Residenzen sei vorbei, doch für ihn werde es nie schwierig sein, Mieter für seine separierten Wohnungen zu finden.

Die Nachricht von seiner zweiten Eheschließung war den Kindern in die Glieder gefahren. Ihre Mutter hatte, solange sie lebte, stets viel Interesse für kirchliche Fragen und das gesellige Leben der Einheimischen bekundet. Nachdem sie gestorben war, zog der Vater sich mehr und mehr zurück. Es wäre ihnen nie in den Sinn gekommen, dass er vielleicht ein ganz neues Leben beginnen wollte. Vermutlich rechneten sie überhaupt nicht mit der Möglichkeit, dass er seine Theorien von Eigenleben und Unabhängigkeit auch auf sich selbst anwenden könnte.

Nach einigen Tagen kündigte ein Telegramm aus Paris das Ende der Ungewissheit an:

 

Ankommen Freitag zum Dinner.

Herzlichst,

George und Adelaide

 

»Das verlangt nicht unbedingt nach dem gemästeten Kalb«, bemerkte Jasper. »Welches Festmahl wäre der Heimkehr eines Verlorenen Vaters wohl angemessen, Garnie?«

»Hammelbraten«, antwortete Emerald anstelle des Bruders.

»Da er am Freitag erscheint, würde ich Fisch vorziehen«, sagte Garnet, »aber ich sehe ein, dass es ein besonderer Anlass ist.«

»Und ob!«, rief Pearl. »Wir müssen etwas ganz Extrafeines auf den Tisch bringen!«

Als Nan über die bevorstehende Ankunft informiert wurde, erklärte sie in ihrer typischen Seelenruhe, sie könne eine Gans beschaffen.

»Nein, das gefällt mir gar nicht«, sagte Jasper. »Sieht ja aus wie eine Anspielung. Ein paar Enten halte ich für zünftiger. Übrigens isst Vater fast genauso gern Entenbraten wie ich.«

Somit war die Frage geklärt. Pearl befasste sich noch mit Lieblingsblumen und besonderen Dekorationen und überredete insgeheim Nan, einen Hochzeitskuchen mit Mandelcreme und reichem Zuckerguss zu backen. Jasper, der Sekt für das Wichtigste hielt, freute sich, in Vaters Keller noch etliche Flaschen vorzufinden. Emerald beteiligte sich nicht an den Vorbereitungen, als missbillige sie die ganze Sache.

Endlich war der große Tag da. Alle waren aufgeregt. Eine neue Frage stellte sich.

»Wo und wie wollen wir sie empfangen?«, fragte Garnet.

»Wir werden uns in der Diele aufhalten und sie durch Nan melden lassen«, schlug Emerald vor.

»Den Vater im eigenen Haus anmelden!«, protestierte Jasper. »Du bist wohl verrückt. Er wird einfach hereinkommen, selbstverständlich.«

»Was ihr andern machen werdet, weiß ich nicht — ich jedenfalls werde sie am Tor erwarten«, erklärte Pearl.

Schließlich taten sie das alle. Und erlebten eine große Überraschung. Die Jungvermählten kamen von London per Auto. Als der Wagen bremste, sprang ihr Vater gleich heraus, braun gebrannt und viel elastischer, als sie ihn zuletzt gesehen hatten. Er half seiner Begleiterin beim Aussteigen. Eine junge Frau, nur wenig älter als sie selbst - die schönste Frau, die sie bisher zu Gesicht bekommen hatten.

»Das ist Adelaide«, sagte er.

Einen Augenblick schwiegen die vier. Sie war so gänzlich anders, als sie sich die Frau vorgestellt hatten. Dann sprang Pearl vor, warf ihrem Vater die Arme um den Hals und küsste ihn.

»Willkommen zu Hause, Papa!«, rief sie. »Ich hoffe, ihr werdet beide recht glücklich.«

»Ich danke dir, Kind«, gab er lachend zurück. »Adelaide, dies ist Pearl, unser Nesthäkchen.«

Adelaide ergriff Pearls Hände, zog sie an sich und küsste sie.

»Auch ich danke dir«, sagte sie weich.

Nachdem so das Eis gebrochen war, küsste Emerald ihren Vater und bot ihrer Stiefmutter eine Wange zu zärtlicher Berührung.

»Hier ist Garnet«, sagte der Vater, indem er seinen Ältesten bei der Hand nahm. »Er ist ein leuchtendes Beispiel für uns alle.«

»Ich glaube, einen Geistlichen habe ich noch nie geküsst«, sagte Adelaide lächelnd. »Darf ich?« Und sie tat es.

»Jasper, unsere künstlerische Hoffnung.«

Jasper wartete nicht, bis er gefragt wurde, er küsste sie auf beide Wangen.

»Aufrichtig willkommen!« strahlte er, und lachend und plaudernd gingen alle ins Haus.

Emerald sagte, um ihre Rolle als Hausfrau - zum letzten Mal? - zu betonen,

»Das Essen wird in einer halben Stunde serviert. Darf ich euch erst etwas zu trinken anbieten? Dann könnt ihr euch noch umziehen, wenn ihr wollt.«

Jasper reichte den Sherry herum und brachte einen passenden Trinkspruch aus.

Erst als sie am Tisch saßen, hatten sie richtig Gelegenheit, ihr neues Familienmitglied genau zu betrachten. Sie war tatsächlich in jeder Hinsicht schön.

Golden schimmerndes Haar mit natürlichen Wellen, ein wunderbar zarter Teint, Augen von tiefstem Grau, ein kleines Gesicht mit einem hübschen Mund und tadellosen Zähnen. Das einzige Zeichen kosmetischer Nachhilfe war das kräftige Rot ihres Lippenstifts, das dem sonst unglaublich unschuldig wirkenden Gesicht einen Zug von Weltklugheit verlieh. Außer dem Ehering trug sie nur eine Perlenkette und ein Armband mit Brillanten.

Nan wurde ihr vorgestellt, als sie das Essen hereinbrachte. Adelaide stand auf, schüttelte ihr die Hand und sagte, sie habe schon gehört, wie gut Nan zu ihnen allen gewesen sei.

Nach einer köstlichen Suppe gab es vortrefflich gebratene Seezungenfilets. Die Unterhaltung, anfangs stockend, drehte sich um Nichtigkeiten. Als Jasper mit dem Sekt kam, wurden die Gespräche bald lebhafter.

»Wo habt ihr denn geheiratet?«, wollte Emerald wissen. »Und weshalb habt ihr uns nicht eingeladen?«

»Ach, es ging alles so in Eile«, antwortete Adelaide lachend. »George war nämlich ungeduldig, es zog ihn nach Hause, und ein paar Tage wollten wir ja auch noch in Paris bleiben.«

»Und wo fand die Trauung statt?«, wiederholte Emerald.

»In der Kathedrale von Saint Malo, aber in aller Stille. Ich habe keine Verwandten.«

»Ich kenne in Saint Malo einen Kunsthändler«, sagte Jasper, »der muss ein wahres Genie sein, denn er hat eins meiner Bilder verkauft.« Eine Tatsache, die er nur zu gern hervorhob.

»Ein Genie, das Gutes zu schätzen wusste«, kam die Antwort. »Wie heißt der Mann?«

»Lanier. Hat einen kleinen Laden in der Nähe der Kathedrale.«

»Du musst mir deine Bilder einmal zeigen«, sagte sie. »Ach, ihr kommt mir alle so herrlich klug vor. Du bist, soviel ich weiß, Schriftstellerin?«, fragte sie Emerald.

»Allerdings bis jetzt - im Gegensatz zu Jasper - ohne einen Gönner, richtiger ohne einen Verleger«, bekam sie zur Antwort.

»Eine Menge guter Artikel und Geschichten von ihr sind schon in Zeitungen erschienen«, nahm Pearl für sie Partei, »und ihr Buch wird, wenn es fertig ist, bestimmt ein Erfolg.«

»Ich schreibe es gemeinsam mit einem Bekannten, dem also, falls es veröffentlicht wird, ein Teil des Lobes zusteht«, erklärte Emerald.

»Schon immer habe ich gern wissen wollen, wie solche Zusammenarbeit vor sich geht«, bemerkte Adelaide. »Schreibt ihr da jeder abwechselnd die Kapitel, oder gibt einer die Schilderungen und der andere die Dialoge?«

»Das kommt ganz auf die Absprache an«, erwiderte Emerald auffallend kühl.

Garnet war bisher sehr still gewesen. Er wagte seine erstaunlich hübsche Stiefmutter kaum anzuschauen und meinte, ihren kühnen Ausschnitt missbilligen zu müssen. Doch Adelaide ließ ihn nicht außer Acht.

»Predigst du hier in der Gemeinde?«, fragte sie ihn.

»Nein«, sagte er, »ich bin zweiter Pfarrer in Torbury, dem nächsten Dorf.«

»Der Pfarrer - er heißt Forbes Fortescue - müsste eigentlich schon in den Ruhestand treten«, ergänzte Pearl. »Alle Arbeit überlässt er sowieso Garnie.«

»Ausgenommen die Predigten«, fügte Jasper listig hinzu. »Dem alten Knaben macht es immer noch Spaß, sonntags zu reden, was, Garnie? Dieselben Geschichten, die er schon seit Jahren von sich gibt.«

Garnet wurde verlegen, doch sein Vater lenkte das Gespräch in andere Bahnen.

»Wer hat denn den prächtigen Kuchen gebacken?«, fragte er, mit einem Blick auf das kunstvolle Gebilde mitten auf dem Tisch.

»Ich«, antwortete Pearl errötend.

»Sieht ja sehr verlockend aus, doch ich bezweifle, dass wir jetzt noch in der Lage sind, ihn in Angriff zu nehmen.«

»Aber du und - und Adelaide, ihr müsst ihn doch anschneiden, auch wenn ihr nur eine Krume davon esst. Nan hat mir beim Teig geholfen, also wird er schon schmecken.«

»Selbstverständlich schneiden wir ihn an«, sagte Adelaide lachend. »Ich sagte ja schon, dass ihr eine prächtige Familie seid. - Ein Geistlicher, eine Schriftstellerin, ein Kunstmaler und eine Zuckerbäckerin. Wie ich euch alle beneide!«

Zu ihren weniger feinen Reizen gehörte die seltsame Art, wie sie sich die Lippen leckte, indem sie nach jedem Satz, den sie sprach, ihre kleine Zunge vorschob. Ihre Bemerkung über die Talente in der Familie gab Emerald die Gelegenheit, auf die sie schon gewartet hatte.

»Was hast du denn vor der Hochzeit getan?«, fragte sie.

»Ich? Hoffentlich werdet ihr euch meiner nicht schämen. Ich war in einem Friseursalon tätig. Da hat George mich kennengelernt.«

»Was hatte er denn in einem Friseursalon zu suchen?«, fragte Jasper grinsend.

»Ich wollte mir die Haare schneiden lassen«, erwiderte sein Vater. »Als ich vom Henkerstuhl auf stand, sah ich das Entzückendste - sah ich Adelaide. Mir wollte keine passende Anrede einfallen, aber sagen musste ich etwas. So fragte ich sie, ob sie meine, dass ich mit einem Bart besser aussähe.«

»Was ich entschieden verneinte«, rief Adelaide lachend. »Jedenfalls verkaufte ich ihm ein wohlriechendes Rasierwasser.«

Alle lachten. »Moderne Liebestränke«, murmelte Jasper.

Emerald fragte, »Bist du gebürtige Französin? Englisch sprichst du ja fehlerfrei.«

»Ich bin in England geboren, aber meine Mutter war Französin. Mein Vater wurde bei der Invasion in der Normandie getötet, und seitdem wohnten wir dort. Als meine Mutter starb, ermöglichten mir meine Englischkenntnisse, eine Stellung zu finden, da die Gegend vorwiegend von englischen und amerikanischen Touristen besucht wird.«

Im großen Ganzen verlief das Hochzeitsmahl recht vergnüglich. Zum Abschluss wurde der Festkuchen von dem jungen Paar mit einem riesigen Messer angeschnitten, und Pearl bekam das wohlverdiente Lob für ihre Konditorkunst.

Nachher versammelte die Familie sich in der Diele. Emerald fragte Adelaide, in der geheimen Hoffnung, eine schwache Stelle zu finden, ob sie singen könne.

»So unfreundlich, meinen Gesang loszulassen, will ich lieber nicht sein«, antwortete ihre Stiefmutter lächelnd. »Ein wenig Klavierspielen kann ich.«

Alle baten sie, etwas vorzuspielen. Das Klavier war gut und Adelaide trug ein paar Stücke von Grieg und Chopin sehr gelungen vor. Pearl, die eine angenehme Stimme hatte, sang einige Lieder. Danach wollten sich ihr Vater und Adelaide unbedingt zurückziehen, da sie einen sehr langen Tag hinter sich hatten.

 

»Na, was haltet ihr von ihr?«, fragte Emerald, als die vier endlich allein waren.

»Unser Vater hat sich ja einen veritablen Pfirsich gepflückt«, sagte Jasper. »Wie er das bloß fertiggebracht hat! Die Frau muss ich malen.«

»Einen Pfirsich aus einem Friseurladen!«, höhnte Emerald. »Was meinst du, Garnie?«

»Ich erlaube mir kein Urteil, bis ich sie besser kennengelernt habe«, entgegnete er.

»Ich finde sie einfach entzückend«, sagte Pearl.

»Das sieht dir ähnlich«, entrüstete sich ihre Schwester. »Allein diese ordinäre Art, wie sie die Zunge herausstreckt!«

»Wahrscheinlich nur, weil sie nervös war«, meinte Pearl erklären zu müssen. »Ich wäre das jedenfalls in dieser Situation.«

»Nervös? Die? Keine Spur. Sie hat ihre Chance gewittert und zugegriffen. Ich möchte wetten, es gibt in ihrer Vergangenheit dunkle Punkte, von denen wir nie erfahren werden. Armer Papa! Ich kann mir nicht denken, dass er mit ihr glücklich werden wird, noch dazu in so einem stumpfsinnigen Nest wie hier!«

»Ach, lass ihr doch Zeit«, sagte Jasper und fügte grinsend hinzu, »Oder bist du bange, dass sie dir deinen Busenfreund abspenstig macht, wie?«

»Sei nicht so albern!«, rief Emerald ärgerlich, ging hinaus und knallte die Tür zu.

 

 

 

Drittes Kapitel

 

 

Adelaide war nicht dumm, sie hatte recht klare Erkenntnisse aus ihren Beobachtungen gewonnen.

Als sie am nächsten Morgen nach unten kam, traf sie zuerst Pearl, die ganz ihren Erwartungen entsprach. So wurde ihr der Anfang nicht schwer gemacht.

Sie küsste Pearl, fragte freundlich, ob sie gut geschlafen habe, und bat dann, ihre Wohnung ansehen zu dürfen. Pearl freute sich, ihr alles zeigen zu können. Sie gingen zur Tür im Parterre, die das junge Mädchen stolz mit dem eigenen Schlüssel öffnete.

»Hast du keine Angst, hier unten so allein zu schlafen?«, fragte Adelaide.

»Über mir schläft doch Emerald, und außerdem habe ich eine Klingel zu Vaters Räumen. Und Sandy bewacht mich.« Sie zeigte Adelaide ihren kleinen Hund, der den Familienzuwachsneugierig beschnupperte.

Die Räume waren nicht groß und sehr zierlich möbliert. Nach einem Blick in Schlafzimmer und Bad ließen sie sich im Wohnraum nieder.

»Weißt du, Pearl, ich hatte schreckliche Angst vor euch allen.«

»Vor uns? Warum denn?«

»George hat mir doch erzählt, wie klug ihr seid, und da dachte ich mir, ihr würdet sicher annehmen, ich hätte ihm sozusagen eine Falle gestellt, weil ich ja erheblich jünger bin als er. War das für euch eine Überraschung? Gewiss habt ihr gedacht, ich sei ungefähr gleichaltrig mit ihm?«

»Na ja, er schrieb uns nicht gerade viele Einzelheiten.«

»Ich weiß. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte er mehr schreiben sollen, doch er hielt es so für besser. Ich liebe ihn und glaube, ihn glücklich machen zu können, besonders wenn ihr mir helft. Ich möchte richtig zu euch gehören. Ob Nan mich als Eindringling betrachtet?«

Pearl zögerte mit der Antwort. »Sie mag anfangs ein bisschen schwierig sein, bis sie sich an die neuen Verhältnisse gewöhnt hat. Sie hat uns doch alle von klein auf betreut und hing sehr an unserer Mama.«

»Ich verstehe. Willst du ihr bitte von mir sagen, dass ich es gern sehe, wenn sie alles weitermacht wie bisher? Ich werde ihr das auch selbst noch sagen, aber wenn du nachhilfst, glaubt sie mir vielleicht eher. Ich bin eigentlich ein furchtbar fauler Mensch und deshalb nur froh, wenn ich mich auf sie verlassen kann.«

»Du wirst uns doch Papa nicht wegnehmen?«

»Aber nein, liebes Kind! Allerdings hat er mir gesagt, ihr hättet alle genug mit euch selbst zu tun.«

»Ich nicht, zum Beispiel.«

»Aber die andern, nicht wahr? Womit beschäftigst du dich denn?«

»Ach, mit wenig. Ich bin eben der schlichte Hausfrauentyp. Mir macht es Spaß, ein Heim zu haben und es hübsch einzurichten. Wenn Papa mich nicht brauchte, bin ich viel bei Nan gewesen, schon weil ich so gern koche.«

»Wie fein - nur ein bisschen einsam, so ein Leben, ja? Du bist aber durchaus nicht schlicht, sondern sehr hübsch. Hast du viele Verehrer?«

Pearl wurde rot. »Ein paar gute Freunde, ja.«

»Na, selbstverständlich. Bitte vergiss nicht, liebe Pearl, dass ich dir in jeder Weise zur Seite stehen will, wenn du mir das erlaubst. Ich wünschte, ich hätte eine kleine Schwester wie dich, aber ich war allein, als meine Eltern starben. Wenn George mit mir auf Reisen geht, wie er vorhat, musst du wenigstens ab und zu mitfahren, ja?«

»Falls er einverstanden ist.«

»Das wird er bestimmt sein. - Der Tod eurer Mutter war für ihn ein furchtbarer Schlag. Da er immer so viel über eure Selbstständigkeit geredet hat, meinte er, er sei für niemanden mehr wichtig. Von dieser Einbildung müssen wir beide ihn kurieren.«

Sie unterhielten sich eine Weile sehr vertraut. Dann erkundigte Adelaide bei Pearl, ob es wohl Jasper recht sei, wenn sie ihn jetzt besuchen würde.

»Aber sicher«, antwortete sie. »Er hat die obere Wohnung im anderen Flügel. Soll ich hingehen und ihm melden, dass du kommst?«

»Nein, ich gehe direkt zu ihm.«

 

Die offene Tür zur Wohnung Jaspers ließ erkennen, dass er zu Hause war. Adelaide stieg die Treppe hinauf und klopfte an die Tür, hinter der sie nach der Anlage des Hauses das Wohnzimmer vermuten konnte.

»Herein!«

Als sie eintrat, saß er mit einem Zeichenblock auf den Knien in einem Clubsessel.

»Störe ich dich?«, fragte sie.

»Durchaus nicht«, sagte er, indem er aufstand, um ihr einen Stuhl bereitzustellen. »Ehrlich gesagt, ich versuchte gerade, dich zu zeichnen, doch es ist nichts geworden.«

Er riss das Blatt vom Block und warf es in den Kamin.

»Darf ich das nicht sehen?«

»Auf keinen Fall. Wir Maler pflegen die ersten Entwürfe unseren Opfern nicht zu zeigen. Ich hoffe, du gibst mir Gelegenheit, dich richtig zu malen.«

»Wäre mir eine Ehre«, entgegnete sie lächelnd.

Im Atelier herrschte Unordnung, wie so häufig bei Künstlern. Auf einer Staffelei stand ein fast vollendeter Halb-Akt, an der Wand lehnten zwei oder drei Gemälde, mit der Rückseite zum Zimmer. Auf einem Sessel lag eine Mappe, die wahrscheinlich Skizzen enthielt. Farben, Paletten und Pinsel lagen auf dem Tisch und in den Regalen herum.

»Was hast du gestern Abend von uns gedacht?«, fragte Jasper.

»Um mit einem Zitat zu antworten, Nicht die Hälfte hat man mir vorher gesagt.«

»Klingt etwas rätselhaft, doch wir dürften dasselbe behaupten. Wir hatten jemand in - wie soll ich es ausdrücken? - in reiferem Alter erwartet.«

»Daher wart ihr enttäuscht, wie?«

Jasper grinste. Er hatte das Gefühl, mit ihr gut auskommen zu können. »Möchtest du gern ein Kompliment hören?«

»Aber nein doch! Ihr müsstet bemuttert werden und dieser Aufgabe scheine ich euch wohl nicht gewachsen zu sein?«

»Versuchen kannst du es immerhin. Heute früh, ehe ich aufstand, hatte ich eine wunderbare Idee, wie ich dich gern malen möchte.«

»Nun?«

»Das Bild müsste heißen: Guten Morgen. Du sitzt im Bett und reckst die Arme über dem Kopf.«

»Den Mund zum Gähnen weit aufgerissen?«

»Oh, nein, nur lieblich lächelnd. Dein Nachthemd gleitet dir von der Schulter...«

»Je weiter es rutscht, umso besser vermutlich?«

»Ja«, sagte Jasper eifrig. »Bis auf die Hüften, wenn es dir nichts ausmacht.«

»Bedaure, aber das muss ich ablehnen. Was sollte dein Vater dazu sagen?«

»Vater weiß Kunst und Schönheit zu würdigen.«

»In den Begriff sind wir beide also eingeschlossen, wie?«

»Er kennt meine Arbeit. Und von dir habe ich ja gestern Abend genug gesehen.«

»Du meinst, mein Kleid enthüllte zu viel? Das tut mir leid, ich hatte es euch zu Ehren angezogen, weil es mein Schönstes ist.«

»In dem Kleid möchte ich dich malen.«

»Wenn er einverstanden ist, sehr gern.« Sie blickte die Gestalt auf der Staffelei an. »Wie bekommst du denn sonst deine Modelle?«

»Das ist nicht ganz einfach. Es gibt sie natürlich auf Kunstschulen in Mengen, aber Modelle hierherkommen lassen wird eine verflixt teure Sache.«

»Ich hoffe, du wirst mit ihnen nicht intim?«

»Nein, Mammi«, sagte er spöttisch, »darüber wächst man bald hinaus, denn schließlich zählt nur die Arbeit, und beides lässt sich schlecht vereinen. Ein Modell, das heißt, ein berufliches Modell, ist für den Maler eine seelenlose Gestalt. Die stellst du so hin, wie du sie sehen willst, und denkst an sie als Mensch überhaupt nicht. Pearl ist mir sehr behilflich gewesen, sie hat für das da gesessen.«

Er wies zur Staffelei.

»So? Das macht ihr nichts aus?«

»Warum sollte es? Ich bin doch ihr Bruder. Sie hat hübsche Formen und versteht auch Spaß. Natürlich habe ich den Bildern andere Köpfe aufgesetzt.«

Adelaide stand auf und betrachtete das Bild genauer. Jasper malte gewiss nicht schlecht, Farbe und Strich waren vortrefflich.